Frau Helbing und der Casanova aus Winterhude - Eberhard Michaely - E-Book

Frau Helbing und der Casanova aus Winterhude E-Book

Eberhard Michaely

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Beschreibung

Mit ihrem Weihnachtsgeschenk, einem Wassergymnastik-­Schnupperkurs, hat Frau Helbings Freundin Heide ins Schwarze getroffen. »Aqua Gym« macht nicht nur Spaß, schon nach wenigen Wochen fühlt sich Frau Helbing auch be­weglicher und hat sogar neue Freundinnen gefunden. Wenn nur Wolfgang Hoyer nicht wäre! Ein aufgeblasener Gockel, der nichts anderes im Sinn hat, als alleinstehenden älteren Damen nachzustellen. Seine Liaison mit der ehemaligen Schauspielerin Olga Suditzky scheint gerade erst beendet, da bändelt er schon mit Frau Helbings neuer Freundin Ingeborg Kappel an. Ob sie ein bisschen neidisch auf Ingeborgs zweiten Früh­ling ist?, fragt sich Frau Helbing. Da erhält sie einen Anruf von Olga Suditzky, die sie bittet, eine Tasche von Herrn Hoyer bei ihr abzuholen. Kurz darauf wird Suditzky tot in ihrer Wohnung gefunden – seit vierzehn Tagen liegt sie dort! Hat Wolfgang Hoyer seine Verflossene aus dem Weg geräumt? Wer hat Frau Helbing dann angerufen? Ihr rätselhafter fünfter Fall führt die pensionierte Fleischereifachverkäuferin in den Alsterpavillon und ins Thalia Theater.

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Seitenzahl: 218

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Eberhard Michaely

Frau Helbing und der Casanova aus Winterhude

Roman

Oktopus

1

»Nicht schlapp machen, Frau Helbing«, rief Meike und klatschte aufmunternd in die Hände, »noch zehn Sekunden.«

Frau Helbing atmete angestrengt. Die Übung hatte gar nicht so schwer ausgesehen, als Meike sie am Beckenrand vorgemacht hatte, aber die Hanteln, die abwechselnd nach oben gestreckt werden mussten, wurden mit der Zeit immer schwerer. Außerdem balancierte Frau Helbing auf einem Bein, und das Wasser ging ihr bis über die Hüfte.

»Links! Rechts! Links!«, rief Meike, eine drahtige Sportstudentin, in schneidigem Ton durch die Schwimmhalle. »Aus! Hanteln an den Beckenrand!«

Frau Helbing setzte ihren linken Fuß wieder auf den blau gefliesten Boden und ließ die Arme hängen. Schnell durchschnaufen, dachte sie. Aus Erfahrung wusste sie, dass Meike nur ganz kurze Pausen zwischen den Trainingseinheiten zuließ. Aber sie wollte sich nicht beschweren, schließlich war sie aus freien Stücken hier. Und die Wassergymnastik machte ihr sogar Spaß.

Ihre Freundin Heide hatte ihr einen Schnupperkurs zu Weihnachten geschenkt, nachdem Frau Helbing darüber geklagt hatte, in der dunklen Jahreszeit so wenig Bewegung zu haben. Ungern spazierte Frau Helbing in Planten und Blomen, ihrem Lieblingspark, wenn ihr der Sturm kalte Regentropfen ins Gesicht peitschte. »So ein Schwimmbad ist beheizt«, hatte Heide erklärt, »und beleuchtet, und du hast Gesellschaft, und der ganze Körper wird auf Vordermann gebracht …«

Die Flut von Argumenten hatte Frau Helbing überzeugt. Gleich in der zweiten Januarwoche hatte sie sich an einem Mittwochvormittag auf den Weg ins Kaifu gemacht und kam seither regelmäßig. »Kaifu« stand für Kaiser-Friedrich-Ufer, wusste Frau Helbing, und war auch der Name eines Schwimmbads, welches von der Rutschbahn aus, der Straße, in der sie wohnte, schnell zu erreichen war. Vor dem ersten Termin hatte sie allerdings noch eine Investition tätigen müssen. Ihr alter Badeanzug hatte sich spröde und ausgeleiert angefühlt, als sie ihn aus einer Schrankschublade zog. Den konnte sie nur noch als Putzlappen benutzen. Wahrscheinlich hätte er ohnehin nicht mehr gepasst. Als junge Frau war sie mit Hermann ein paarmal im Freibad gewesen. Da hatte sie noch eine beneidenswerte Figur gehabt. Später war ihr Körper ein bisschen aus der Form geraten. Auch deswegen war so ein »Aqua Gym«, wie Heide die Veranstaltung großspurig genannt hatte, natürlich hilfreich. Als Frau Helbing zusätzlich eine Badekappe kaufen wollte, hatte die Verkäuferin nur gelächelt.

»So etwas trägt man schon seit Ewigkeiten nicht mehr«, hatte sie gesagt.

In diesem Moment hatte sich Frau Helbing sehr alt gefühlt.

»Und weiter geht’s!«, rief Meike.

Die Sportstudentin war von der zackigen Sorte. Mehr als kurz Luft holen konnte man zwischen den einzelnen Übungen nicht. Ihrem durchtrainierten Körper nach zu urteilen, machte Meike selbst nie Pause.

Jetzt hatte sie eine andere Musik aufgelegt. Wiener Walzer tönte aus den Lautsprechern einer handlichen Musikanlage. Frau Helbing wusste mittlerweile, was das bedeutete, und legte sich eine der bunten Schwimmnudeln um die Hüfte. Alle Kursteilnehmer bildeten einen Kreis, bewegten sich im Uhrzeigersinn und vollführten dabei abwechselnd halbe Drehungen nach rechts und links.

Ingeborg Kappel und Gisela Vollmer waren auch wieder da. Die Damen waren ungefähr in Frau Helbings Alter, und von der ersten Stunde an hatte sich eine Freundschaft zwischen den drei Frauen angebahnt. Bereits zweimal hatten sie sich zum Kaffee verabredet, und jetzt, in der Karwoche, hatte Frau Helbing die beiden Damen zum Lammessen eingeladen. Darauf freute sie sich schon. Zu einem Ostersonntag hatte früher immer ein Lammbraten gehört. Seit Hermann, mit dem sie über vierzig Jahre verheiratet gewesen war, nicht mehr lebte, hatte Frau Helbing sich meist mit einer Lammbratwurst begnügt, was aber nicht ansatzweise das Gleiche war. Für das Essen mit ihren neuen Freundinnen hatte sie bei ihrem Schlachter bereits eine ausgebeinte Keule bestellt. Aus dem Knochen würde sie vorab einen Fond für die Soße einkochen und dann mit Rosmarin die Kartoffeln … Frau Helbing spürte, wie ihr jemand auf die Schulter tippte. Sie war in Gedanken gewesen und versperrte den anderen Kursteilnehmern, die ihre Oberkörper im Rhythmus der Musik von Johann Strauss hin- und herschwenkten, den Weg. Meike warf ihr einen tadelnden Blick zu.

Schnell reihte sich Frau Helbing hinter Ingeborg Kappel wieder ein und konzentrierte sich auf die Gymnastik. Die tat ihr nämlich richtig gut, hatte sie festgestellt. In den letzten Wochen hatte sie sich beweglicher gefühlt denn je. Schon morgens, wenn sie aus dem Bett stieg, verspürte sie nicht mehr dieses schmerzhafte Ziehen auf Höhe der Lendenwirbelsäule, das sie oft dazu gezwungen hatte, sich seitlich von der Matratze abrollen zu lassen. Und auch beim Waschen und Anziehen konnte sie nun leicht mit den Händen die Füße erreichen und stöhnte nicht mehr, weil ihr Schultergelenk sich auszukugeln drohte. Sie machte jetzt auch zu Hause ab und zu Übungen. Aqua Gym hin oder her, dehnen kann man sich auch ohne Wasser, hatte sie sich überlegt und ein kleines Sportprogramm in ihren Tagesablauf integriert. Noch vor dem Frühstück. Mit diesem Weihnachtsgeschenk hatte Heide ihr wirklich eine ganz große Freude bereitet.

Der Wermutstropfen dieses Kurses war für Frau Helbing Wolfgang Hoyer, der einzige Mann in der Gruppe. Herr Hoyer hielt sich für unwiderstehlich charmant und geistreich. Ständig machte er Scherze und versuchte die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Frau Helbing hielt ihn für einen Blender. Ihrer Meinung nach war er nur hier, um sein Selbstwertgefühl aufzupolieren und – quasi als Beifang – mit alleinstehenden Frauen in Kontakt zu kommen. Es war deutlich zu sehen, dass er den Bauch einzog, um schlanker und stattlicher zu wirken, was Frau Helbing als Gebärde der Balz deutete. Tatsächlich schien er gleich zu Anfang des Kurses erfolgreich gewesen zu sein. Er hatte sich des Öfteren mit Olga Suditzky getroffen, einer ehemaligen Schauspielerin, die dem Verfall ihres Körpers mit ein paar chirurgischen Eingriffen entgegengewirkt hatte. Das war nach Frau Helbings Meinung unübersehbar. Frau Suditzkys Haut spannte sich straff über den Wangen, und beim Lächeln bildeten sich keine Falten neben den Augen. Nie. Und das im Rentenalter!

Der ganze Kurs wusste von der Liaison, und hinter vorgehaltener Hand waren immer wieder Tuscheleien über Wolfgang Hoyer und Olga Suditzky zu hören gewesen. Auch Frau Helbing hatte sich zusammen mit Frau Vollmer und Frau Kappel bei einer Tasse Kaffee ausgiebig über das Thema »Beziehung im Alter« unterhalten, wobei ihre beiden neuen Bekanntschaften unterschiedlicher Meinung gewesen waren. Während sich Frau Kappel keinesfalls zu alt für eine neue Liebe wähnte, waren sich Frau Vollmer und Frau Helbing einig, mit ihrer jeweiligen Situation ein durchaus befriedigendes Dasein zu führen. Keinesfalls stand ihnen der Sinn danach, die Höhen und Tiefen einer romantischen Beziehung ein weiteres Mal zu erleben. Es wurden viele Argumente ausgetauscht, und am Ende wollte keine der Damen von ihrer Position abrücken.

Aber die Beziehung schien jetzt aus und vorbei zu sein. Jedenfalls kam Olga Suditzky schon seit zwei Wochen nicht mehr zur Wassergymnastik, und Wolfgang Hoyer zog wieder alle Register, um sich in Szene zu setzen. Zum Leidwesen von Frau Vollmer hatte er ganz offensichtlich Interesse an Ingeborg Kappel gefunden, und auch Frau Helbing war nicht entgangen, wie oft er dieser Frau einen Blick zuwarf und sich ihrer Aufmerksamkeit versicherte. Und Frau Kappel erwiderte die Avancen. Hier bahnte sich offensichtlich etwas an.

Langsam neigten sich die Veranstaltung und auch Frau Helbings Kondition dem Ende zu. Abschließend ließ Meike alle Teilnehmer noch zweimal langsam durchs Becken schwimmen.

Interessiert behielt Frau Helbing die beiden Turteltäubchen im Blick. Dabei kam ihr zupass, dass sie beim Schwimmen nie den Kopf unter Wasser tauchte.

Frau Helbing konnte nicht anders. Immer und überall versuchte sie Beobachtungen anzustellen. Das war ihrem Hobby geschuldet. Nachdem sie vor vielen Jahren in den Ruhestand gegangen war, hatte sie ihre Liebe zur Kriminalliteratur entdeckt. Dabei bevorzugte sie klassische Krimis, die zu einer Zeit spielten, die viele Leute als »alt« bezeichnen würden, Frau Helbing aber an ihre Jugend erinnerte. Krimis, in denen die Ermittler Trenchcoats trugen, Telefone mit Kabeln angeschlossen waren und Verdächtige anhand von Fingerabdrücken und nicht mithilfe ihrer DNA-Spuren überführt wurden. Während sie schmökerte, versuchte Frau Helbing stets, in Konkurrenz zu den Ermittlern, möglichst frühzeitig herauszufinden, wer das Verbrechen begangen hatte. Das machte ihr großen Spaß.

Frau Kappel und Herr Hoyer schwammen verdächtig nah nebeneinanderher und unterhielten sich angeregt. Ab und zu lachten sie. Frau Helbing entging nicht, dass Frau Vollmer ein bisschen abseits am Beckenrand stand und die beiden ebenfalls beobachtete. Sie schien sich aber nicht für ihre Freundin zu freuen, sondern hatte einen beleidigten Gesichtsausdruck. Frau Helbing glaubte bei genauerem Hinsehen sogar Eifersucht in Frau Vollmers Blick zu erkennen.

Aber warum? Hatte sie nicht klipp und klar geäußert, sie mache sich nichts aus Männern? Jedenfalls nicht mehr? Und dieser Hoyer sei ein aufgeblasener Gockel, dessen Absichten so leicht zu durchschauen seien wie eine frisch geputzte Brille. Warum sollte sie also eifersüchtig sein? Frau Vollmer konnte sich von Männern ja fernhalten, wenn sie wollte.

Frau Helbing machte jetzt mit dem Oberkörper Schwimmbewegungen, stieß sich aber mit den Fußballen vom Boden ab, um vorwärtszukommen. Hier im Nichtschwimmerbereich war das möglich, und so konnte sie problemlos und vor allem unauffällig alle Kursteilnehmer im Blick behalten. Einige hatten das Becken schon verlassen und waren im Duschraum verschwunden.

Adelheid Pollensiek war noch im Wasser und schwamm hinter Frau Kappel und Herrn Hoyer her. Vermutlich versuchte sie dabei dem Gespräch der beiden zu lauschen. Sie schien sehr neugierig zu sein. Frau Helbing kannte die Frau noch aus der Zeit, als die Schlachterei ein gut gehendes Geschäft gewesen war. Gleich bei der Kennenlernrunde am ersten Kurstag hatte sie gedacht: Das ist doch Frau Pollensiek aus der Bornstraße. Und tatsächlich stellte sich die Kursteilnehmerin als ihre ehemalige Kundin heraus.

Frau Pollensiek war aber nicht sehr gesprächig. Früher schon hatte sie nur das Nötigste gesagt oder nur genickt, wenn Frau Helbing sie freundlich begrüßt hatte. Du hast aber einen spröden Charme, hatte Frau Helbing oft gedacht, sie aber trotzdem freundlich bedient.

Außer Wolfgang Hoyer, Ingeborg Kappel, Gisela Vollmer und Adelheid Pollensiek war noch Gabi Sprengel im Becken. Frau Sprengel beobachtete und belauschte aber niemanden, sondern schwamm, und zwar auf dem Rücken liegend. Frau Helbing fand das beeindruckend. Frau Sprengel musste früher mal eine richtige Athletin gewesen sein. Nach den Kursen zog sie meist noch ein paar Bahnen durch das Wasser. Bestimmt erreichte sie nicht mehr die erforderliche Norm, um an olympischen Wettkämpfen teilnehmen zu können, aber es sah noch immer elegant aus, wie sie sich im nassen Element bewegte. Sie konnte Kraul-, Brust- und Rückenschwimmen. Früher habe sie auch Delphin beherrscht, hatte sie mal erzählt. Frau Helbing war ein solcher Schwimmstil nicht bekannt, aber er war bestimmt eleganter als dieses »Schwimmhüpfen«, das sie gerade zelebrierte.

Als sie sich umdrehte, waren Frau Kappel und Herr Hoyer nicht mehr zu sehen. Frau Helbing suchte intensiv, aber vergebens die Wasseroberfläche ab. Sie waren wie weggezaubert. Kurz nur hatte sie zu Frau Sprengel rübergesehen, und jetzt waren die zwei verschwunden. Aber nach wenigen Sekunden tauchten die Köpfe der beiden keine zwei Meter von Frau Helbing entfernt wieder auf. Frau Kappel und Herr Hoyer prusteten und lachten herzhaft. Gelöst wie zwei frisch verliebte Teenager wirkten sie. Sind wir hier auf Klassenfahrt?, dachte Frau Helbing ob dieser neckischen Ausgelassenheit.

Frau Vollmer verschwand in Richtung Umkleiden. Frau Helbing hatte jetzt auch genug Zeit im Wasser verbracht. Die Haut an ihren Fingerkuppen war schon ganz wellig, und außerdem bekam sie langsam Hunger.

Wirsingpfannkuchen standen heute auf ihrem Speiseplan. Ein letztes Mal für diese Saison hatte sie Wirsing gekauft. Anfang April war die Kohlzeit definitiv vorbei, und nach und nach wurden die vorgezogenen Pflanzen aus dem Gewächshaus feilgeboten. Von Mai bis Ende September waren die Auswahl an frischem, knackigem Gemüse, das direkt vor den Toren der Stadt gewachsen war, überwältigend und der Wochenmarkt ein Eldorado für leidenschaftliche Köchinnen und Köche. Der Frühling erschien Frau Helbing immer wie der Beginn einer wunderbaren kulinarischen Reise. Bald würde es auch wieder Spargel geben. Und frische Erbsen. Und Erdbeeren!

Bevor sie nach Hause ging, wollte Frau Helbing sich noch schnell den Chlorgeruch abwaschen. Die Duschen im Schwimmbad fand Frau Helbing ganz wunderbar. Alles war großzügig bemessen. Sie stand hier nicht so beengt wie in ihrer kleinen Wanne mit dem geblümten Vorhang, sondern hatte das Gefühl, in freier Natur unter einem Wasserfall zu stehen. Mit ausladenden Bewegungen seifte sie sich ein und drehte sich unter dem Strahl hin und her, als Frau Kappel durch die Tür trat. Frau Helbing überlegte, ob sie Frau Kappel auf ihr pubertäres Gehabe, welches sie eben beobachtet hatte, ansprechen sollte, entschied sich aber zu schweigen. So aufgekratzt, wie Frau Kappel war, würden die Informationen ohnehin gleich aus ihr heraussprudeln.

»Ich glaube, Wolfgang ist viel netter, als alle denken«, sagte Frau Kappel nach kurzer Zeit. »Und er scheint sich für mich zu interessieren.«

Bilde dir bloß nichts ein, hätte Frau Helbing gerne erwidert. Er interessiert sich für alle Frauen. Aber sie lächelte nur.

»So, wie er eben herumgetobt ist, kommt er mir vor wie ein kleiner Junge«, schwärmte Frau Kappel, die nun ebenfalls mit ihrer Seife hantierte.

Wie naiv bist du denn? Warte mal ab, bis er zum Angriff übergeht, dachte Frau Helbing und hatte sofort die Melodie von »In einen Harung jung und schlank« im Kopf. Frau Kappel benahm sich ihrer Meinung nach auch wie eine »olle Flunder«.

»Ich glaube, er ist gebildet und wohlhabend«, fuhr Frau Kappel fort.

Dann flüsterte sie: »Er hat mich zum Essen eingeladen.«

Ich habe dich auch zum Essen eingeladen, hätte Frau Helbing fast gesagt und merkte, wie sie ein bisschen eifersüchtig wurde. So musste es eben auch Frau Vollmer gegangen sein, als sie beleidigt am Beckenrand gestanden hatte.

Aber warum eigentlich?, fragte sich Frau Helbing. Gönn ihr doch einfach dieses Abenteuer. Frau Kappel war alt genug zu wissen, was sie tat. Und wenn sie Spaß mit diesem Hoyer wollte …

»Das klingt sehr aufregend«, sagte Frau Helbing. »Ich wünsche Ihnen jedenfalls ein vergnügliches Wochenende.«

Dann verschwand sie schnell in der Umkleide. Frau Kappels Frühlingsgefühle empfand sie als anstrengend. Andererseits war so ein Techtelmechtel auch beneidenswert. Das musste sie sich eingestehen. Verlockend geradezu. Aber man muss die Dinge zu Ende denken, fand Frau Helbing. So eine Affäre konnte nämlich ganz schnell vorbei sein, und die Emotionen konnten ins Gegenteil umschlagen. Dann stürzte man von einem Gipfel der Euphorie in ein Tal der Tränen. Frau Helbing wollte sich so etwas nicht antun.

Auf dem Heimweg grübelte sie darüber nach, ob sie wirklich mit ihrem Leben zufrieden war oder sich insgeheim eine Veränderung herbeisehnte. Aus Erfahrung wusste Frau Helbing, dass es immer Dinge gab, um die man andere Leute beneidete. Immer! Das Gras auf der Wiese hinter dem Zaun schien stets grüner zu sein. Egal, auf welcher Seite man stand. Deshalb war es wichtig zu sehen, was man hatte, nicht, was einem fehlte. Trotzdem sollte man hin und wieder seine eigene Situation ehrlich hinterfragen und nicht als unumstößlich hinnehmen.

Eine Schulter zum Anlehnen könnte sie schon ab und zu gebrauchen. Zumal sie schon seit vielen Jahren allein lebte. Aber an so einer Schulter hing ja auch immer ein Mensch, und das machte die Sache so kompliziert.

Genau genommen war sie auch nicht allein, denn seit einem halben Jahr hatte Frau Helbing eine Katze. Der alte Kater lag zwar immer nur im Ohrensessel und schlief, aber er war da. Das Gefühl, nach Hause zu kommen, war irgendwie anders, und Frau Helbing spürte die Verantwortung. Sie musste sich kümmern – Futter kaufen, das Klo sauber machen, zur Tierärztin gehen.

Chagall – benannt nach einem berühmten Maler – war perfekt. Er schnurrte und hörte sich geduldig an, was Frau Helbing zu sagen hatte. Er widersprach nicht, und er ließ sich kraulen. Er liebte es sogar, gekuschelt zu werden, und eigentlich ersetzte er eine Schulter.

Frau Helbing öffnete ihre Wohnungstür. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass alles so bleiben konnte, wie es war.

»Hallo Schatz!«, rief sie durch den Flur. »Ich bin wieder da!«

Chagall reagierte nicht, aber das hatte Hermann früher auch selten getan.

Frau Helbing ging gleich in die Küche und begann zu kochen.

2

Frau Helbing hatte alle Wirsingpfannkuchen aufgegessen. Und zwar in einer Geschwindigkeit, die für ihre Verhältnisse rekordverdächtig war. Das hing natürlich auch mit der anstrengenden Bewegung im Wasser zusammen, die sie am Vormittag absolviert hatte und die einem in die Jahre gekommenen Körper einiges an Energie abverlangte. Nach diesen Sportveranstaltungen hatte sie immer einen besonders großen Appetit.

Gerade stellte sie, satt und zufrieden, ihr Geschirr auf die Spüle, als das Telefon klingelte.

»Suditzky«, hörte sie, nachdem sie sich gemeldet hatte. »Olga Suditzky hier.«

Frau Helbing hätte überraschter nicht sein können. Was kann denn die verloren gegangene Olga aus der Wassergymnastik von mir wollen?, schoss es ihr durch den Kopf. Es hatte sich nicht angedeutet, dass Olga Suditzky die Nähe zu ihr suchen würde.

»Guten Tag, Frau Suditzkiy«, sagte Frau Helbing und war gespannt, welches Anliegen die pensionierte Schauspielerin wohl vortragen würde.

»Es ist mir ein bisschen unangenehm, Sie zu stören«, begann Frau Suditzky, »aber ich hätte eine große Bitte.«

»Was haben Sie denn auf dem Herzen?«, fragte Frau Helbing interessiert.

»Nun, mir ist zu Ohren gekommen, dass Herr Hoyer seine Fänge nach anderen Frauen ausstreckt. Ich bin wirklich enttäuscht von diesem Mann. Kaum habe ich angekündigt, mich für ein paar Wochen zurückzuziehen, scheine ich nicht mehr von Interesse für ihn zu sein.« Frau Suditzky seufzte. »Dabei habe ich mich ihm offenbart. Ich habe ihm den Schlüssel zu meinem Herzen auf einem Samtkissen dargeboten und …«

Schauspielerin, dachte Frau Helbing und fiel ihr ins Wort.

»Warum haben Sie sich denn zurückgezogen?«, wollte sie wissen.

Frau Suditzky senkte verschwörerisch die Stimme.

»Ich habe mich einiger kleinerer chirurgischer Korrekturen unterzogen, und in diesem Zustand kann ich mich beim besten Willen niemandem zeigen.«

Du meine Güte, wie oft lässt sie denn noch an ihrem Körper rumschnippeln?, dachte Frau Helbing. Jünger wird sie dadurch nicht. Das behielt sie aber für sich.

»Gute Besserung«, sagte sie. »Und was kann ich in dieser Situation für Sie tun?«

Frau Suditzky räusperte sich umständlich, bevor sie antwortete. Sie schien nach Worten zu ringen.

»Hier stehen noch diverse Habseligkeiten dieses Schwerenöters«, sagte sie dann. »Sie können sich vorstellen, dass mir der Anblick dieser kleinen Tasche mit persönlichen Dingen eines offenkundigen Schwindlers förmlich Schmerzen bereitet. Es ist unerträglich. Herrn Hoyers Gepäck stellt einen Fremdkörper dar, ein Geschwür, das ich unbedingt aus meinem Umfeld entfernt haben möchte.«

Oha, dachte Frau Helbing. Man hörte deutlich heraus, dass Frau Suditzky eine Schauspielschule besucht hatte. So, wie sie »Schmerzen« und »Geschwür« ausgesprochen hatte, konnte man glauben, die Frau liege im Sterben.

»Vielleicht darf ich Sie um einen Gefallen bitten«, fuhr Frau Suditzky fort. »Ich wohne ja nur ein paar Häuser von Ihnen entfernt, und wenn Sie so freundlich wären, Frau Helbing, die Tasche an sich zu nehmen, wäre ich Ihnen wirklich sehr verbunden.«

»Warum schicken Sie Herrn Hoyer seinen Kram nicht einfach mit der Post zurück?«, fragte Frau Helbing, die schon immer praktisch veranlagt gewesen war.

»Ich kann unmöglich die Wohnung verlassen!«, rief Frau Suditzky entsetzt auf. »Ich befinde mich im Stadium der Narbenpflege. Ich sehe aus wie zusammengeflickt!«

Das ist mir auch schon aufgefallen, dachte Frau Helbing und seufzte. Eigentlich wollte sie es sich in ihrem Ohrensessel bequem machen und ein bisschen lesen. Vielleicht sogar eine halbe Stunde schlafen.

Frau Suditzky ließ nicht locker.

»Ich glaube, ich werde noch ein paar Wochen an die Wohnung gefesselt sein«, sagte sie und wirkte dabei ein bisschen verzweifelt. »Bitte helfen Sie mir! Ich wohne in der Rutschbahn Nummer …«

»Ich weiß, wo Sie wohnen«, fiel ihr Frau Helbing ins Wort. Sie wollte nicht ewig mit Frau Suditzky telefonieren.

»Ich komme schnell rüber und befreie Sie von Ihrer Last«, sagte sie.

»Die Haustür ist tagsüber offen«, sagte Frau Suditzky, »und haben Sie bitte Verständnis, wenn die Wohnung verschlossen bleibt. Ich kann niemandem mein Gesicht zeigen. Die Tasche stelle ich auf die Fußmatte. Sie haben etwas gut bei mir!«

Dann legte sie auf.

»Frau Suditzky?«

Frau Helbing hätte gerne gefragt, was denn mit Herrn Hoyers Tasche passieren solle. Ungern wollte sie neben ihrem eigenen Sportbeutel noch ein zweites Gepäckstück in den nächsten Gymnastikkurs mitschleppen. Andererseits war ihr der Gedanke, dass Herr Hoyer seine Sachen bei ihr abholen würde, auch unangenehm. Diesen Mann wollte sie eigentlich nicht in ihrer Wohnung empfangen.

»Hallo?«, fragte sie noch mal, aber Frau Suditzky hatte das Gespräch tatsächlich beendet. Einfach so, ohne sich zu verabschieden. Hat man da noch Worte?, dachte Frau Helbing. Sie ärgerte sich ein bisschen über sich selbst. Sie hätte auch Nein sagen können, anstatt sich um den Finger wickeln zu lassen. Die Schauspielerin war schließlich keine Freundin. Nicht mal eine gute Bekannte. Frau Helbing kannte sie nur vom Sehen, und dass sie ebenfalls in der Rutschbahn wohnte, war reiner Zufall.

Trotzdem zog sie wieder ihre Straßenschuhe an. Frau Helbing fühlte sich an ihre Zusage gebunden, und außerdem interessierte es sie, was für ein Gepäckstück so ein Schürzenjäger bei seiner Geliebten deponiert hatte.

»Ich bin gleich wieder da!«, rief sie ins Wohnzimmer, ohne zu erwarten, dass Chagall in irgendeiner Weise reagieren würde.

Frau Helbing musste, um zu Frau Suditzkys Wohnung zu gelangen, nur schräg über die Straße gehen. Das waren keine hundert Meter Entfernung. Sie wusste das, weil ihr die hochgewachsene Schauspielerin mit ihrer extravaganten Kleidung oft aufgefallen war, schon lange bevor sie sich zusammen im Becken gedehnt hatten. Aber erst seit dem Gymnastikkurs kannte sie auch Namen und Beruf dieser auffälligen Erscheinung.

Die Haustür war tatsächlich nur angelehnt. Wie leichtsinnig, dachte Frau Helbing, wo doch immer wieder von Einbrüchen im Viertel berichtet wurde. Sie betrat das Treppenhaus und stieg bis in den vierten Stock, wo sie vor einer Wohnungstür eine kleine karierte Tasche stehen sah.

Frau Helbing stutzte, weil dieses Gepäckstück nicht so aussah, als ob es einem Mann gehörte. Männer bevorzugten eigentlich schlichte Stoffe und sportliche Schnitte. Die wollten maskulin erscheinen und nicht wie eine Dame durch die Gegend laufen. Frau Helbing hob die Tasche hoch und war überrascht, wie leicht sie war. Aber warum auch nicht, dachte sie. Was hat man denn dabei, wenn man zu seiner Geliebten fährt? Frische Unterwäsche, eine Zahnbürste, vielleicht Kondome. Sie stieg die Treppe wieder hinab, ohne an der Wohnungstür geklopft zu haben. Frau Suditzky würde ohnehin nicht öffnen, und außerdem roch es unangenehm streng auf dem Treppenabsatz. Frau Helbing hoffte, dass der Gestank nicht aus der Tasche kam.

Auf dem Bürgersteig blieb sie kurz stehen und spitzte die Ohren. Sie hatte die ganze Zeit über ein Ticken vernommen und merkte nun, dass es eindeutig aus dieser Tasche kam. Eine Bombe wird es wohl kaum sein, dachte sie, fragte sich aber neugierig, wovon dieses Geräusch wohl ausgehen könnte. Vielleicht von einem alten Wecker? Aber warum hätte Herr Hoyer so etwas einpacken sollen? Heutzutage hatten die Leute ja meist etwas Elektronisches auf dem Nachttisch stehen. Frau Helbing jedoch kannte noch Wecker zum Aufziehen, mit einem richtig lauten Uhrwerk. Nachsehen wollte sie aber nicht. Es war nicht ihre Art, in anderer Leute Sachen zu wühlen.

Wie ernährt sich Frau Suditzky eigentlich, wenn sie für mehrere Wochen das Haus nicht verlassen kann?, fragte sich Frau Helbing, als sie die Straße überquerte. Hatte sie vor ihrer Schönheitsoperation etwa Vorräte für einen längeren Zeitraum angelegt? Vielleicht bestellte sie auch bei einem dieser Lieferdienste. Nicht nur Pizza, sondern auch Tiefkühlkost und frische Lebensmittel ließen sich die Leute heutzutage ja bis an die Wohnungstür tragen, wusste Frau Helbing. Burger schienen sehr beliebt zu sein. Jedenfalls suggerierte einem das die Werbung. Und Sushi. Frau Helbing hatte gehört, das käme aus Japan. Kalter Reis mit rohem Fisch und scharfem Meerrettich. Zu ihrer Zeit hatte man so etwas jedenfalls nicht in Hamburg kaufen können. Und Burger hatte es damals auch nicht gegeben. Höchstens mal ein Rundstück warm.

Warum hat sie eigentlich ausgerechnet mich angerufen? Und wer hat ihr eigentlich gesteckt, dass der Hoyer mit Gisela anbandelt? Und wieso hat Frau Suditzky die Tasche nicht von einem Paketdienst bei sich zu Hause abholen lassen?

Frau Helbing hatte plötzlich viele Fragen im Kopf, und irgendwie kam ihr dieses Gewese, das Frau Suditzky um die ganze Sache gemacht hatte, sehr seltsam vor. Völlig übertrieben. Letztlich ist es aber auch nicht so wichtig, dachte Frau Helbing, als sie in ihrer Wohnung angekommen war. Sie stellte das tickende Gepäckstück im Flur neben der Garderobe auf dem Boden ab und ging direkt ins Wohnzimmer.

»So, mein Schatz. Jetzt muss ich mich mal ausruhen«, sagte sie und hob den Kater vom Ohrensessel.

Das machte sie nicht, um ihn zu vertreiben. Frau Helbing liebte es, sich auf das vorgewärmte Polster zu setzen und dann Chagall wieder auf ihren Schoß zu legen. Das fühlte sich viel kuscheliger an als eine Wärmflasche oder die elektrische Heizdecke, mit der sie in der kalten Jahreszeit abends ihre Matratze auf Temperatur brachte. Die Katze war nämlich nicht nur warm, sondern schnurrte auch beruhigend. Frau Helbing schloss die Augen und war gleich eingeschlafen.

Keine zehn Minuten später schreckte sie gleichzeitig mit Chagall hoch.

»Was? Was? Was?«, rief sie schlaftrunken und brauchte eine Weile, bis sie realisiert hatte, wo der Radau herkam.

Es klingelte laut in ihrem Flur. Sehr laut! Frau Helbing wusste nicht, was in ihrem Zuhause so ein unangenehmes Geräusch machen könnte. Es musste dieses tickende Ding von dem Hoyer sein. Kurz entschlossen stand sie auf und ging zur Garderobe. Chagall hatte sich bereits hinter dem Sofa verkrochen.

»Keine Angst!«, rief Frau Helbing und öffnete den Reißverschluss an Herrn Hoyers Tasche.

Ein großer roter Wecker kam zum Vorschein. Der hatte mit Sicherheit einige Jahrzehnte auf dem Buckel, erkannte Frau Helbing sofort. Echte Handarbeit und ohne Plastikanteil. Mit Glocken aus Metall, die von einem Hammer angeschlagen wurden. So etwas hatte Frau Helbing nicht mehr gesehen, seit Hermann in den achtziger Jahren einen Radiowecker angeschafft hatte. Sie wusste natürlich noch, wie man so ein Ding stumm schaltete. Beherzt drückte Frau Helbing einen Messingknopf auf der Oberseite des Gehäuses, und schlagartig kehrte wieder Ruhe in ihrer Wohnung ein.

»Damit kann man ja einen Bären aus dem Winterschlaf reißen!«, schimpfte sie vor sich hin.

Aber warum steckte Frau Suditzky so eine Krachmaschine in diese Tasche? Sie musste auch absichtlich die Zeit eingestellt haben. So einen altmodischen Wecker konnte man nicht Wochen im Voraus programmieren. Die Zeiger blieben nach zwei Tagen stehen, wenn er nicht aufgezogen wurde. Frau Helbing konnte das Gefühl, hier läge etwas im Argen, nicht ignorieren.