Frau Helbing und die schwarze Witwe - Eberhard Michaely - E-Book

Frau Helbing und die schwarze Witwe E-Book

Eberhard Michaely

4,0

Beschreibung

Wurstwaren sind natürlich nicht ganz dasselbe wie abgerissene Knöpfe. Trotzdem steht für Frau Helbing außer Frage, dass sie Herrn Aydin – der Arme hat Magen-Darm – in seiner Änderungsschneiderei vertreten wird. Schließlich kennt sie sich in den Räumlichkeiten im Hamburger Grindelviertel bestens aus: Früher war dort nämlich ihre Fleischerei untergebracht. Frau Helbing fühlt sich pudelwohl, die meisten Kundinnen kennt sie noch von früher. Allerdings ist die Zeit nicht stehen geblieben: Viele von ihnen sind inzwischen verwitwet, und der neue Hausbesitzer, der hochnäsige Robert Weidenfels, spricht plötzlich von Mieterhöhung. Herr Aydin droht, sein Geschäft zu verlieren, und die langjährigen Bewohner können sich vielleicht bald ihr Zuhause nicht mehr leisten. Ein richtiger Immobilienhai, dieser Weidenfels! Doch noch in derselben Nacht kommt der Hausbesitzer ums Leben – ein Verkehrsunfall. Aber stimmt das wirklich? Für die passionierte Krimileserin Frau Helbing steht fest: Das war Mord – und sie wird dem Täter auf die Schliche kommen.

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Eberhard Michaely

Frau Helbing und die Schwarze Witwe

Oktopus

1

Frau Helbing war sehr besorgt. Zum wiederholten Mal sah sie auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor elf. Normalerweise öffnete Herr Aydin sein Geschäft um zehn. Meist war er sogar schon früher da und saß bereits hinter einer seiner Nähmaschinen, wenn die ersten Kunden den Laden betraten. Noch nie hatte Frau Helbing hier vor verschlossener Tür gestanden. Vergeblich klopfte sie mit den Fingerknöcheln gegen das Glas und drückte die Klinke.

»Hallo?«, rief sie. »Hallo?«

»Guten Morgen«, hörte Frau Helbing von der anderen Straßenseite.

Marie, die schräg gegenüber ein Blumengeschäft betrieb, war auf Frau Helbing aufmerksam geworden. Sie stand vor ihrem Schaufenster und goss einige Stauden, die sie auf den Gehweg gestellt hatte.

»Herrn Aydin habe ich heute noch nicht gesehen«, rief sie.

»Das ist aber seltsam«, sagte Frau Helbing.

Marie zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ihren Pflanzen zu.

»Sehr seltsam sogar«, murmelte Frau Helbing.

Herr Aydin war sehr korrekt. Und vor allem auch zuverlässig. Niemals würde er ohne triftigen Grund seine Arbeit vernachlässigen. Frau Helbing wusste das. Seit vielen Jahren war sie mit dem Schneider befreundet. Sie kannte ihn gut. Er hatte damals das Ladenlokal übernommen, in dem Frau Helbing mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann vierzig Jahre lang eine Schlachterei geführt hatte. »Helbing, Fleisch und Wurstwaren« war in den sechziger und siebziger Jahren eine Institution im Hamburger Grindelviertel gewesen. Aber die Konkurrenz durch die Supermärkte und das veränderte Einkaufsverhalten der Kunden hatten die Gewinnmargen immer weiter schrumpfen lassen. 2003 hatten die Helbings den Laden schließlich aufgeben müssen.

Herr Aydin hatte anschließend in den Räumen eine Änderungsschneiderei eingerichtet. Die Geschäftsidee war lukrativ. Über einen Mangel an Aufträgen hatte er sich nie beschweren können. Auch deshalb, weil heute kaum noch jemand nähen konnte, wie Frau Helbing festgestellt hatte. Sie wusste von Kundinnen, die zu Herrn Aydin kamen, um abgerissene Knöpfe an einer Bluse anbringen zu lassen. Wegen eines Knopfs zum Schneider gehen! Frau Helbing konnte darüber nur den Kopf schütteln. Sie selbst hatte noch Handarbeit in der Schule gehabt.

Ob Herr Aydin vielleicht überfallen worden war? Frau Helbing spähte durch die Schaufensterscheibe. Um besser sehen zu können, legte sie die flache Hand zwischen ihre Stirn und das Glas. Der Laden war gereinigt und aufgeräumt. Picobello wie immer, dachte Frau Helbing. Sie mochte es nicht leiden, wenn Geschäfte einen ungepflegten Eindruck machten. Was sollten denn die Kunden denken, wenn sie Läden mit schmierigen Fenstern und dreckigen Böden betraten? Der Kiosk von Uwe Prötz in der Grindelallee stand exemplarisch für so eine Dreckbude. Bei Herrn Aydin dagegen sah es aus wie in einem gepflegten Wohnzimmer. Frau Helbing war gerne hier. Regelmäßig besuchte sie den Schneider, trank ein Glas türkischen Tee, den er ihr stets anbot, und plauschte ein wenig über dies und das. Herr Aydin hatte immer ein offenes Ohr für sie. Und gute Ratschläge obendrein. Vor allem aber war er zu den Öffnungszeiten stets vor Ort. Normalerweise jedenfalls.

Frau Helbing wurde langsam nervös. Sie erinnerte sich an ihre Patentante, die einen Herzinfarkt erlitten hatte. Mindestens einen Tag musste die arme Frau zu Hause auf dem Küchenboden gelegen haben, bis sie schließlich von Nachbarn entdeckt worden war. Vielleicht war dem Schneider etwas Ähnliches zugestoßen. Es musste einen wirklich wichtigen Grund geben, warum er nicht in seinem Geschäft war.

Entschlossen machte sich Frau Helbing auf den Weg zu Herrn Aydins Wohnung. Auch wenn sie ihn noch nie privat besucht hatte, kannte Frau Helbing seine Adresse. Die Hartungstraße war gleich um die Ecke.

Das ganze Viertel war Frau Helbing vertraut. 1942 war sie hier geboren und dem Stadtteil verbunden geblieben. Ihr ganzes Leben hatte sich im Wesentlichen westlich der Außenalster abgespielt. Größere Reisen hatte sie nie unternommen. Einmal hatte sie mit Hermann einen Ausflug ins Rothaargebirge gemacht. Außerhalb Deutschlands war sie nie gewesen.

Zweimal musste sie klingeln, bis sich Herr Aydin endlich mit schwacher Stimme über die Gegensprechanlage meldete. Frau Helbing atmete erleichtert auf.

»Helbing hier. Geht es Ihnen gut?«, fragte sie.

Statt einer Antwort summte der Türöffner.

»Oha«, sagte Frau Helbing, als sie Herrn Aydin an der Wohnungstür gegenüberstand.

So hatte sie ihn noch nie gesehen. Bleich war er, wie Schmierkäse. Ausgezehrt und kraftlos schien er sich gerade so auf den Beinen halten zu können. Der türkischstämmige Schneider war eigentlich ein Bild von einem Mann. Gepflegt und immer gut gekleidet. Wie aus dem Ei gepellt, dachte Frau Helbing oft, wenn sie ihn sah. Aber jetzt, in dieser schlabberigen Schlafanzughose und dem Feinrippunterhemd sah er fürchterlich derangiert aus.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie entsetzt.

»Magen-Darm«, antwortete Herr Aydin knapp und würgte ein bisschen.

»Darf ich reinkommen?«, fragte Frau Helbing.

Es war eine rhetorische Frage, denn sie griff Herrn Aydin unter den Arm und zog ihn, ohne eine Antwort abzuwarten, in den Flur. Sie wusste, was nun zu tun war. Widerstandslos ließ sich Herr Aydin zu seinem Sofa geleiten.

»Hinlegen«, sagte Frau Helbing knapp.

Sie spülte den Putzeimer mit dem Erbrochenen aus und brachte einen feuchten Lappen, um seine Stirn zu kühlen.

»So«, sagte sie. »Ich werde mich jetzt um Sie kümmern.«

Herr Aydin krümmte sich wie ein Embryo. Offensichtlich plagten ihn noch immer Magenkrämpfe.

»Ich muss in den Laden«, sagte er mit schwacher Stimme. »Es ist viel zu tun.«

»Nichts da«, sagte Frau Helbing resolut. »Sie bleiben schön hier liegen. Wahrscheinlich können Sie nicht mal die Straße überqueren, ohne umzufallen.«

Sie öffnete ein Fenster, um den säuerlichen Geruch abziehen zu lassen.

»Was haben Sie denn gestern gegessen?«, fragte sie.

»Scholle«, sagte Herr Aydin und beugte sich sofort über den Eimer.

Lecker, dachte Frau Helbing. Scholle Finkenwerder Art könnte sie auch mal wieder kochen. Mit Bratkartoffeln und Speckstippe. Frau Helbing aß gerne Fisch. Herrn Aydin könnte sie dazu natürlich nicht einladen. Der würde die nächsten Wochen bestimmt nichts essen, was sich in einem Kutternetz verfangen hatte.

»Ich mache Ihnen mal eine Kanne schwarzen Tee. Sie müssen trinken«, sagte Frau Helbing und ging in die Küche.

Hier war alles ordentlich aufgeräumt und sauber. Und nicht nur oberflächlich. Auch hinter den Türen und in den Schubladen wurde regelmäßig und akribisch geputzt, stellte sie auf der Suche nach Teebeuteln fest. Tadellos, dachte sie anerkennend. Für einen Mann sogar Weltklasse.

Überhaupt fand sie die ganze Wohnung einladend und gemütlich. An Herrn Aydin war ihrer Meinung nach ein Innenarchitekt verloren gegangen.

Als sie mit der Kanne und einem Becher ins Wohnzimmer zurückkam, lag Herr Aydin nicht mehr auf seinem Sofa. Den Geräuschen nach zu urteilen, die aus dem Badezimmer drangen, war er noch nicht über den Berg. Magen-Darm war eine unangenehme Sache, wusste Frau Helbing, und es war höchst unwahrscheinlich, dass Herr Aydin bereits morgen wieder in seinem Laden stehen könnte. Von heute ganz zu schweigen.

Spontan beschloss Frau Helbing, ihren Freund nicht nur aufzupäppeln, sondern auch in seinem Geschäft auszu- helfen. Das war für sie eine Selbstverständlichkeit. Schließlich hatte sie heute nichts vor. Und morgen auch nicht. Tatsächlich hatte Frau Helbing selten Termine. Manchmal langweilte sie sich sogar ein bisschen. Früher waren die Stunden immer in Windeseile verstrichen, aber seit sie im Ruhestand war, schienen die Uhren langsamer zu gehen. Ihr einziges Hobby bestand darin, Kriminalromane zu lesen. Aber obwohl sie eine Menge dieser Bücher geradezu verschlang – und das auch gerne tat –, blieb an vielen Tagen noch Zeit übrig, die sie nicht so recht zu nutzen wusste. Eine Aufgabe kam ihr also nicht ungelegen.

»Ich kümmere mich um die Schneiderei, bis Sie wieder gesund sind«, sagte sie, als Herr Aydin sich in gebückter Haltung zurück zum Sofa schleppte.

»Auf keinen Fall. Das kann ich nicht von Ihnen verlangen«, sagte er.

»Sie verlangen auch nichts, ich biete Ihnen das an. Das ist ein großer Unterschied«, sagte Frau Helbing lächelnd. »Sie können nicht tagelang den Laden geschlossen lassen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Damit verärgern Sie nur Ihre Kunden.«

Herr Aydin dachte kurz nach.

»Wahrscheinlich haben Sie recht«, lenkte er schließlich ein. »Trauen Sie sich das zu?«

Frau Helbing legte eine Wolldecke über Herrn Aydin und wickelte das Ende stramm um seine Füße.

»Ob ich mir das zutraue?«, fragte sie mit amüsiertem Unterton. »In diesem Laden habe ich den größten Teil meines Lebens verbracht. Wahrscheinlich haben Sie gerade laufen gelernt, als wir damals die Schlachterei aufgemacht haben.« Frau Helbing grinste bis über beide Ohren. »Und wissen Sie was? Ich freue mich sogar. Es ist wie eine Zeitreise für mich.«

»Ich habe keine Sorge, dass Sie zu meinen Kunden nicht nett wären oder etwas falsch machen würden«, beeilte sich Herr Aydin klarzustellen. »Es ist nur so, dass ich Sie nicht überanstrengen möchte.«

»Machen Sie sich mal nicht so viele Gedanken. Haben Sie nicht kürzlich erst gesagt, ich wäre erstaunlich rüstig für mein Alter?«

»Ja, ja«, stammelte Herr Aydin. »Schon.«

Er haderte noch ein bisschen mit sich, schien aber im Grunde über Frau Helbings Angebot sehr froh zu sein.

»Es ist mir übrigens ein bisschen peinlich, dass Sie mich so sehen«, murmelte er zerknirscht.

»Hamburg sah nach dem Krieg schlimmer aus«, sagte Frau Helbing ungerührt. »Das wird schon wieder.«

Herr Aydin lächelte gequält.

»Neben der Tür hängt mein Schlüsselbund«, sagte er. »Sie können mich jederzeit anrufen.«

»Versprochen«, sagte Frau Helbing. »Am besten schlafen Sie jetzt. Heute Abend komme ich wieder vorbei. Dann gibt es Zwieback oder Haferflocken und gedrückte Banane. Außerdem bringe ich Kohletabletten mit. Vielleicht auch Wacholderbeeren. Es geht nichts über die guten alten Hausmittel. Es wäre doch gelacht, wenn wir Sie nicht wieder auf die Beine bekämen.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.« Herr Aydin seufzte erleichtert. »Im Kühlschrank ist übrigens ein Käsekuchen. Essen Sie den bitte. Ich mag nicht einmal daran denken.«

»Ein ganzer Käsekuchen?«, fragte Frau Helbing.

Der Schneider nickte. Frau Helbing kannte Herrn Aydins Schwäche für Süßes, war aber doch überrascht, dass er einen kompletten Kuchen in der Schneiderei vorrätig hielt.

»Ich lasse nichts verkommen«, sagte sie und rief zum Abschied: »Und Sie vergessen nicht zu trinken!«

Dabei versuchte sie, streng zu klingen.

Voller Elan machte sich Frau Helbing auf den Weg. Sie verspürte eine gewisse Aufregung. Es fühlte sich ein bisschen an wie früher, als der Weg zum Laden tägliche Routine war. Natürlich waren Hermann und sie nicht erst zur Mittagszeit, sondern immer schon um sechs Uhr morgens im Geschäft gewesen. Und sie würde auch nicht hinter der Wursttheke stehen, Mettbrötchen schmieren oder Brät für den Fleischsalat klein schneiden. Trotzdem: Allein die Tür der ehemaligen Metzgerei mit dem Originalschlüssel zu öffnen, hatte etwas Magisches für Frau Helbing. Sie hatte ein paar Tränen in den Augen, als sie den Grindelhof hinunterging. Und dann sah sie plötzlich im Geiste den alten Schriftzug über dem Schaufenster, die Würste an den Haken, und sie roch die Schweinebacken, die immer über Nacht im Rauch gehangen hatten. Sie dachte an das Eisenwarengeschäft, den Schuster und den Kohlenhändler, die damals in ihrer direkten Nachbarschaft angesiedelt gewesen waren und schon lange nicht mehr existierten. Frau Helbing wurde ein bisschen wehmütig. Als sie den Schlüssel im Schloss drehte, kam es ihr vor, als wäre sie gestern erst in den Ruhestand gegangen. So ein Leben ist so lang und doch so kurz, dachte sie.

Beim Öffnen der Tür ertönte ein zarter Gong, der ihr das Gefühl vermittelte, einen asiatischen Tempel zu betreten. Den hatte Herr Aydin anbringen lassen. Früher hatten sie hier eine Klingel mit dem brutalen Klang einer Kreissäge hängen gehabt. Das metallische Geräusch war einem durch Mark und Bein gegangen. Dabei hatten die gekachelten Wände wie ein Verstärker gewirkt. Es war eigentlich immer laut gewesen, erinnerte sich Frau Helbing. Laut und natürlich auch kalt. Wegen der Wurstwaren und des Fleischs. So eine Schlachterei war eigentlich ein ziemlich unbehaglicher Ort. Aber jetzt, nach der Renovierung, war der Raum gemütlich und hatte eine ganz andere Akustik. Auch optisch wähnte man sich eher in einem Wohnzimmer als in einem Schwimmbad. Tapete zierte die Wände, und der Boden war mit Teppich ausgelegt. Chic, hatte Frau Helbing gedacht, als sie vor vielen Jahren zum ersten Mal den Schneider besucht hatte. Herr Aydin hatte zweifelsfrei Geschmack.

Zielstrebig ging Frau Helbing in die hinteren Räume. Neben einer kleinen Küche und der Toilette gab es ein Lager. In mehreren Regalen hatte Herr Aydin dort seine Stoffe gestapelt. Frau Helbing fand es beeindruckend, wie viele unterschiedliche Textilien vorrätig waren, aber eigentlich interessierte sie sich mehr für die Garderobenständer mit den Kundenaufträgen, die hier ihren Platz hatten. Frau Helbing wollte vorbereitet sein. Schließlich konnte sie nicht erst stundenlang herumsuchen, sollte jemand mit einem Abholschein kommen und seine fertige Ware verlangen. Natürlich gab es ein System, stellte sie nach kurzer Zeit fest. Nichts anderes hatte sie von Herrn Aydin erwartet. An jedes Kleidungsstück war mit einer Sicherheitsnadel ein zartblauer Zettel mit einer Nummer geheftet. Die Notizen, die Herr Aydin sich darauf gemacht hatte, konnte Frau Helbing allerdings unmöglich entziffern. Seine Handschrift sah krakelig aus, als wäre ein Huhn über das Papier gelaufen. Das war aber egal. Entscheidend war ein umrandeter Haken, mit dem Herr Aydin die abholbereiten Stücke eindeutig gekennzeichnet hatte. Und den Preis, den er für seine Arbeit zu verlangen gedachte, hatte er direkt daneben notiert. Die fertigen Sachen hingen links, die anderen rechts. Das ist ja einfach, dachte Frau Helbing. Organisation war eben alles.

Gerade wollte sie in die Küche gehen und einen Blick in den Kühlschrank werfen, als der Gong dezent, aber deutlich zu vernehmen war.

»Kundschaft«, sagte Frau Helbing zu sich selbst, strich ihren Rock glatt und ging nach vorne.

2

»Was machen Sie denn hier?«

Robert Weidenfels stand zwischen Eingangstür und Zuschneidetisch. Er schien kurzfristig aus dem Konzept gebracht. Das konnte Frau Helbing ihm nicht verübeln. Wer hier eintrat, erwartete, Herrn Aydin zu sehen und niemanden sonst. Der Schneider hatte keine Angestellten. Er war selbstständig und somit auch ständig selbst vor Ort. Und soweit Frau Helbing das beurteilen konnte, waren seine Fehltage der letzten zehn Jahre bequem an einer Hand abzuzählen.

»Ich helfe hier aus«, sagte Frau Helbing erklärend.

Sie wusste, wer vor ihr stand. Auch wenn sie Robert seit Jahren nicht gesehen hatte, erkannte sie den Sohn ihrer ehemaligen Vermieter sofort. Albert und Hildegard Weidenfels gehörte das Haus, in dem die Schneiderei, beziehungsweise früher die Schlachterei, untergebracht war. Wahrscheinlich gehörte es noch immer Frau Weidenfels. Albert war schon vor Jahren gestorben, aber soweit Frau Helbing wusste, lebte Hildegard noch. Zurückgezogen in einem Seniorenheim. Robert war ihr einziges Kind. Frau Helbing mochte ihn nicht leiden. Schon als kleiner Junge war er ihr unsympathisch gewesen. Sie erinnerte sich genau an einen Nachmittag, an dem er ein Glas Kalbsfond aus einem Regal gezogen und es mitten in der Metzgerei auf den Boden geworfen hatte. Mit Absicht. Das hatte Frau Helbing an seinem hämischen Grinsen erkannt. Da war er erst drei Jahre alt gewesen. Auch wenn sich seine Mutter bei der Erziehung redlich Mühe gab, wusste Frau Helbing damals schon, dass sie sich an ihrem Sohn die Zähne ausbeißen würde. Robert wollte provozieren. Er hatte etwas Diabolisches an sich, obwohl er eigentlich ein Hänfling war. Eher klein und von schlanker Statur. Seine blonden, ins Rötliche tendierenden Haare und seine helle Haut mit den Sommersprossen verliehen ihm das Antlitz eines Fabelwesens aus der Mythologie. Aber eines dieser boshaften, heimtückischen Geschöpfe, vor denen man sich in Acht nehmen sollte. Frau Weidenfels hatte ab und an ihr Leid geklagt, wenn sie bei Frau Helbing eingekauft hatte und die beiden Frauen allein im Laden gewesen waren.

»Wo ist Herr Aydin?«, fragte Robert Weidenfels knapp.

»Krank«, entgegnete Frau Helbing ebenfalls kurz angebunden.

Was macht der Robert eigentlich?, fragte sie sich.

Nach der Schule war der junge Weidenfels erst mal im Ausland gewesen. Angeblich hatte er Philosophie an der Sorbonne studiert, hatte Frau Helbing gehört. Wo genau diese Sorbonne war, konnte sie nicht sagen, aber Frau Weidenfels hatte damals ein unglaubliches Gewese um dieses Studium gemacht. Der Sohn eines Arztes musste unbedingt einen Weg einschlagen, der dem Ansehen der Familie gerecht wurde. Wahrscheinlich hatte er aber nur das Geld seiner Eltern ausgegeben und sich ein schönes Leben gemacht. Davon war Frau Helbing jedenfalls überzeugt. Später hieß es, er arbeite in einer Werbeagentur. Frau Helbing konnte das nicht beeindrucken. Reklamemachen hatte ihrer Meinung nach etwas Unseriöses. Leuteveräppeln war das, nichts weiter.

»Und Sie schmeißen jetzt den Laden?«, sagte Robert mit einem spöttischen Unterton. »Vom Wurstverkauf bis zum Nähen ist es ja nur ein kleiner Schritt.«

»Ich helfe einem Freund«, sagte Frau Helbing ungerührt. »Es fühlt sich richtig an, etwas Gutes zu tun. Ich weiß nicht, ob du schon mal diese Erfahrung gemacht hast.«

Frau Helbings Stichelei perlte an Robert ab. Sie hätte sich auch gewundert, wenn dieser herzlose Junge plötzlich Mitgefühl oder auch nur ein leichtes Interesse an anderen Menschen zeigen würde.

»Sagen Sie diesem Türken mal, dass er sich bei mir melden soll«, erwiderte Robert herablassend. »Wenn ich bis morgen Abend nichts von ihm höre, kann er sich gleich einen anderen Laden suchen.«

»Einen anderen Laden suchen?«, fragte Frau Helbing verwundert.

Sie hatte keine Ahnung, was diese Bemerkung bedeuten sollte.

»Herr Aydin lässt sich nichts zuschulden kommen«, sagte sie, bemüht, die Fassung zu bewahren. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit der Miete in Verzug ist.«

»Miete«, sagte Robert verächtlich. »Meinen Sie damit diesen lächerlichen Unkostenbeitrag, den meine Eltern damals schon von Ihnen verlangt haben? Almosen nenne ich so was.«

Was für eine Frechheit, dachte Frau Helbing. Sie wusste nicht, wie viel Geld sie früher für die Lokalität bezahlt hatten. Um solche Angelegenheiten hatte sich immer Hermann gekümmert. Aber eine angemessene Pacht war monatlich auf das Konto der Weidenfels’ geflossen, das stand für Frau Helbing außer Frage. Und nie waren sie eine Zahlung schuldig geblieben. Niemals. Vor Aufregung konnte sie nur den Kopf schütteln.

»Sie sind echt von vorgestern«, sagte Robert überheblich. »Das hier ist Hamburg und kein Provinzkaff! Die Leute stehen für Ladenlokale wie dieses Schlange und sind bereit, angemessene Preise zu zahlen. Sehe ich aus, als wäre ich von der Wohlfahrt?«

Dann lachte er arrogant auf und machte auf dem Absatz kehrt. Rotzlöffel, dachte Frau Helbing, du eingebildeter Rotzlöffel. Sie verzichtete darauf, »Auf Wiedersehen« zu sagen.

In der Tür drehte sich Robert noch einmal um und sagte: »Ich bin froh, dass dieses Haus nicht mehr nach Fleisch stinkt, so wie früher.«

Dann war er auch schon auf der Straße.

Frau Helbing versuchte, sich nicht zu ärgern. Genau das hatte er ja beabsichtigt. Aber sosehr sie sich auch zusammenriss, es war schwer, diese ganzen Anfeindungen zu ignorieren.

»Du hochnäsiger, altkluger Nichtsnutz!«, schimpfte sie ihm wütend hinterher.

Sofort zuckte sie zusammen, weil der Klang des meditativen Gongs erneut den Raum erfüllte. Es war aber nicht Robert, der erbost über Frau Helbings Kommentar zurückkam, sondern Frau Nachtigall, eine Bewohnerin des Hauses und ehemalige Kundin der Helbing’schen Schlachterei. Frau Helbing kannte die Frau gut. Oft und gerne hatten sie geklönt, wenn wenig Kunden im Laden gewesen waren. Und sie erinnerte sich, dass damals niemand so viel Dicke Rippe gekauft hatte wie Frau Nachtigall. Mindestens einmal pro Woche. Zu Bohnen, Steckrüben oder einer einfachen sämigen Soße mit Kartoffeln passte das Vorderviertel des Schweins natürlich ganz hervorragend. In Hamburg war das ein typisches Fleisch zum Eintopf. Aber Frau Nachtigall schien geradezu davon besessen zu sein, bei all ihren Gerichten ein Stück dieses fetthaltigen Rumpfteils zu integrieren.

Im dritten Stock wohnte sie. Ihr Mann war, wie so viele Männer dieser Generation, bereits verstorben. Die leben einfach nicht so lange, hatte Frau Helbing schon oft gedacht. Es gibt viel mehr Witwen als Witwer. Statistisch haben Frauen fünf Jahre mehr Zeit, wusste sie. Aber warum das so war, konnte Frau Helbing nicht sagen.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte Frau Nachtigall.

Im Gegensatz zu Robert Weidenfels klang sie sehr erfreut, die ehemalige Ladeninhaberin hier anzutreffen.

»Kann ich bei Ihnen Dicke Rippe kaufen?«, fragte sie schmunzelnd.

Ihre Kochgewohnheiten scheint sie nicht abgelegt zu haben, dachte Frau Helbing.

»Die habe ich heute im Angebot«, scherzte sie und entspannte sich ein bisschen.

Anders als Robert war ihr Frau Nachtigall ein angenehmer Gast. An den Sohn und die Tochter ihrer ehemaligen Kundin konnte sie sich gut erinnern. Die Kinder hatten sich stets zu benehmen gewusst und sich artig bedankt, wenn Frau Helbing ihnen eine Scheibe Wurst über den Tresen gereicht hatte. Jetzt waren die beiden natürlich schon lange ausgezogen und hatten vermutlich selbst Nachwuchs.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Frau Helbing.

»Eigentlich bin ich nur mal reingekommen, weil ich Sie durch das Fenster gesehen habe. Es ist ungewöhnlich, dass Herr Aydin nicht hier ist.«

»Der ist krank«, sagte Frau Helbing. »Ich passe ein bisschen auf seinen Laden auf.«

»Das ist aber mal nett«, sagte Frau Nachtigall.

Eigentlich sagte sie »Daschamanett«, so wie eine echte Hamburgerin. Dann drehte sie kurz den Kopf, um zu prüfen, ob niemand sonst im Laden war, und sagte mit gesenkter Stimme: »Was hat der Robert eigentlich hier gewollt?«

Aha, dachte Frau Helbing. Tratschen wollte Frau Nachtigall also. Eigentlich kam ihr das zupass, denn auch sie selbst hätte gerne einige Dinge über Robert in Erfahrung gebracht. Und als Mieterin bekam Frau Nachtigall bestimmt viel von dem mit, was sich in diesem Haus so abspielte. Diese Chance wollte sie sich nicht entgehen lassen.

»Möchten Sie ein Stück Käsekuchen?«, fragte Frau Helbing und ging nach hinten, ohne eine Antwort abzuwarten. Frau Nachtigall würde so oder so Ja sagen.

Wenig später saßen die Frauen an Herrn Aydins Zuschneidetisch. Frau Helbing war überrascht, was sie zu hören bekam.

»Sie glauben nicht, was für eine Unruhe gerade in diesem Haus ist«, klagte Frau Nachtigall. »Der Robert hat allen Bewohnern gekündigt. Stellen Sie sich das mal vor!«

»Wieso denn das?«, fragte Frau Helbing ungläubig.

»Weil er gierig ist«, sagte Frau Nachtigall. »Er will die Wohnungen renovieren und dann für einen astronomischen Preis neu vermieten. Das kann sich ja keiner mehr leisten.«

»Aber er kann Sie doch nicht einfach vor die Tür setzen. Wie viele Jahre wohnen Sie jetzt hier? Vierzig?«

»Fünfundvierzig«, korrigierte Frau Nachtigall.

»Natürlich geht das nicht so einfach. Ich habe mich beim Mieterverein informiert. Aber Robert versucht, alle Bewohner des Hauses loszuwerden. Und das macht er sehr aggressiv. Die Hemmerlings sind schon ausgezogen. Die wollten sowieso in so ein Betreutes-Wohnen-Projekt. Und in die freie Wohnung ist sofort dieser Hagen gezogen.«

»Wer ist denn Hagen?«

»Ein unangenehmer Mensch. Offensichtlich ein Bekannter von Robert.« Frau Nachtigall beugte sich verschwörerisch vor. »Ein Rocker«, flüsterte sie.

»Ein Rocker?«

Frau Helbing riss entsetzt die Augen auf.

»Ja«, Frau Nachtigall nickte, »der kann einem richtig Angst machen. Nachts hört der so laut Musik, dass man nicht schlafen kann. Da tanzen die Teller im Schrank, sage ich Ihnen. Die Polizei war schon mehrfach hier. Aber das beeindruckt den nicht. Und Robert lässt ihn gewähren. Ich glaube, das ist Teil seines Plans, die Mieter zu vergraulen. Nachts laute Musik, abends ein Stromausfall oder Ähnliches. Das hat System.«

»Aber das Haus gehört doch noch Frau Weidenfels?«, fragte Frau Helbing interessiert nach.

»Schon«, sagte Frau Nachtigall. »Aber die ist ja komplett tüdelig.«

Damit formulierte sie salopp, dass die Hausbesitzerin geistig nicht mehr auf der Höhe war. Als Hamburgerin kannte Frau Helbing natürlich das Wort tüdelig.

»Vor einiger Zeit habe ich Frau Weidenfels im Heim besucht«, fuhr Frau Nachtigall fort. »Das war ein Drama, sag ich Ihnen. Die hat mich nicht mal erkannt. Völlig abwesend war die. Aber der Robert hat eine Vollmacht. Das ist das Schlimme. So richtig offiziell vom Notar. Der darf damit alles für seine Mutter machen. Alles!«

Dann steckte sie sich ein großes Stück Kuchen in den Mund.

»Lecker«, sagte sie.

Es klang wie »Egge«.

Frau Helbing war bestürzt. Solange sie denken konnte, war man in diesem Haus freundlich miteinander umgegangen. Zwischen Mietern und Vermietern hatte eine faire Vereinbarung gegolten. Der Preis für die Wohnungen und das Ladenlokal war angemessen gewesen, und im Gegenzug hatten sich die Weidenfels’ um alles gekümmert. Es hatte keinen Reparaturstau gegeben, das Treppenhaus war regelmäßig gestrichen worden, und nicht mal nach dem Einbau der Zentralheizung Ende der sechziger Jahre hatte es eine außerplanmäßige Mieterhöhung gegeben. Anständig, kam Frau Helbing in den Sinn. Alle hatten sich anständig verhalten, so wie es sich für ehrbare Hamburger Bürger gehörte. Früher war das eine Selbstverständlichkeit gewesen. Aber einer wie Robert, so ein rücksichtsloser und egoistischer Kerl, dachte natürlich nur an seinen eigenen Vorteil. Wahrscheinlich versuchte er, möglichst viel Geld mit diesem Haus zu machen, um selbst nicht arbeiten zu müssen, dachte Frau Helbing.

»Was macht der Robert eigentlich beruflich?«, fragte sie.

»Wenn man das wüsste«, antwortete Frau Nachtigall. »Viele sagen, er wäre in kriminelle Machenschaften verstrickt. Ich kann mir das gut vorstellen. Unter uns gesagt …« Sie drehte sich erneut kurz um und flüsterte: »Der hatte schon immer etwas Halbseidenes. Sie wissen schon. So was Zwielichtiges.«

Dann schüttelte sie sich angeekelt.

Frau Helbing nickte. Ob Verbrecher einfach als solche geboren werden und gar nichts für ihr skrupelloses Handeln können?, fragte sie sich manchmal.

»Jedenfalls hat er immer Geld«, fuhr Frau Nachtigall fort. Sie war gerade in Plauderlaune, und Frau Helbing ließ sie gewähren.

»Viel Geld sogar. Ich habe gehört, er hätte seinen Sportwagen in bar bezahlt. Einfach so die Scheine auf den Tisch geblättert. Und so ein Auto kostet ein Vermögen, sag ich Ihnen.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ein BMW Cabriolet. Ein entsetzlich protziges Ding. Aber morgens zur Arbeit gehen sieht man den Robert nicht. Der führt vielleicht ein Lotterleben. Bis in die Puppen schläft er manchmal.«

Frau Nachtigall beugte sich plötzlich weit über die Tischplatte und flüsterte: »Vielleicht macht er etwas ganz Schlimmes. Sie wissen schon. Geschäfte mit Drogen. Oder Prostitution. Zutrauen würde ich es ihm.«

Du meine Güte, dachte Frau Helbing, das sind ja schwere Vorwürfe, die Frau Nachtigall da in den Raum stellt. So etwas sollte man nicht ausposaunen, ohne es mit Beweisen untermauern zu können.

»Vielleicht sollten wir ihn mal beobachten«, sagte sie.

»Beobachten?«, fragte Frau Nachtigall.

»Nun, wenn er irgendwelchen dubiosen Geschäften nachgeht, ist das für die Polizei von Interesse. Aber Behauptungen helfen da nicht. Man muss genau wissen, was er macht, dann kann man ihm unter Umständen gezielt einen Knüppel zwischen die Beine werfen.«

»Ist das Ihr Ernst? Wir sollen ihn ausspionieren?« Frau Nachtigall bekam große Augen. »Wer weiß, wo der sich so rumtreibt.«

»Aber irgendetwas muss man ja unternehmen«, sagte Frau Helbing energisch. »Hat die Hausgemeinschaft einen Plan?«

Resigniert schüttelte Frau Nachtigall den Kopf.

»Eigentlich regen sich alle nur auf. Der Lehnert aus dem Dritten hatte schon mal im Zorn gesagt: ›Dem Robert wünsche ich den Tod.‹«

Frau Helbing zog erschrocken die Augenbrauen hoch.

»Aber das war natürlich nur so dahingesagt«, beschwichtigte Frau Nachtigall.