Frau Maier ermittel (Vol.2) - Jessica Kremser - E-Book

Frau Maier ermittel (Vol.2) E-Book

Jessica Kremser

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Beschreibung

FRAU MAIER SIEHT GESPENSTER Eigentlich hätte Frau Maier allen Grund zufrieden zu sein, denn sie hat eine neue Arbeitsstelle gefunden - im prächtigen Schloss auf einer Insel im Chiemsee. Doch kaum hat sie ihren Dienst angetreten, stolpert sie auch schon über Ungereimtheiten - und bald auch über eine Leiche. Und damit nicht genug: Frau Maier wird das Gefühl nicht los, ständig Gespenster zu sehen. Denn wer könnte die Gestalt sonst sein, die ihr als König Ludwig II. verkleidet nachstellt? Und wer flüstert ständig ihren Namen? Frau Maier will sich keinesfalls in die laufenden Ermittlungen einmischen, aber sie hat für Verbrechen einfach eine zu gute Nase und ihre Neugierde ist mehr als geweckt. Auch der dritte Fall von Frau Maier ist mit viel Humor und hoher Spannung garniert. Aber Vorsicht: Suchtgefahr! FRAU MAIER WIRBELT STAUB AUF In ein paar Tagen hat Frau Maier Geburtstag. Jetzt, da sie endlich Freunde hat, ein Grund zum Feiern. Doch dann findet sie auf einem Parkplatz die Leiche eines angesehenen Bürgers des Dorfes und die Lust aufs Feiern vergeht ihr. Eigentlich wollte Frau Maier sich ja aus Kriminal­fällen heraushalten - wenn da nur nicht ihr untrügliches Gespür wäre. War es der fremde Mann, der sich neuerdings im Dorf aufhält und von dem keiner weiß, wer er ist? Oder liegt das Motiv in der Vergangenheit des Opfers? Als ein zweiter Mord passiert, muss Frau Maier unbedingt weiter ermitteln und gerät in große Gefahr.

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Impressum

+Frau Maier sieht Gespenster+ Originalausgabe Veröffentlicht im Pendragon Verlag Günther Butkus, Bielefeld 2015 © by Pendragon Verlag Bielefeld 2015 Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Eike Birck, Günther Butkus Herstellung und Umschlag: Uta Zeißler, Bielefeld +Frau Maier wirbelt Staub auf+ Originalausgabe Veröffentlicht im Pendragon Verlag Günther Butkus, Bielefeld 2018 © by Pendragon Verlag Bielefeld 2018 Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Eike Birck Herstellung und Umschlag: Uta Zeißler, Bielefeld Umschlagfoto: Raquel Pedrotti

Jessica Kremser

Frau Maier ermittel (Vol.2)

Inhalt

Frau Maier sieht Gespenster

Titelblatt

Widmung

Erstes Kapitel - Mittwoch

Zweites Kapitel - Donnerstag

Drittes Kapitel - Freitag

Viertes Kapitel - Samstag

Fünftes Kapitel - Sonntag

Sechstes Kapitel - Montag

Siebtes Kapitel - Dienstag

Achtes Kapitel - Mittwoch

Neuntes Kapitel - Donnerstag

Zehntes Kapitel - Freitag

Elftes Kapitel - Samstag

Zwölftes Kapitel - Sonntag

Dreizehntes Kapitel - Montag

Vierzehntes Kapitel - Eine Woche später

Frau Maier wirbelt Staub auf

Titelblatt

Widmung

Erstes Kapitel Mittwoch

I

II

III

IV

V

Zweites Kapitel Donnerstag

I

II

III

IV

V

Drittes Kapitel Freitag

I

II

III

IV

V

Viertes Kapitel Samstag

I

II

II

III

IV

V

VI

Fünftes Kapitel Sonntag

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Sechstes Kapitel Montag

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

Siebtes Kapitel Dienstag

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

Achtes Kapitel Mittwoch

I

II

III

IV

V

VI

VII

Neuntes Kapitel Donnerstag

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Zehntes Kapitel Freitag

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

Elftes Kapitel Samstag

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

Zwölftes Kapitel Sonntag

I

II

III

IV

V

VI

VII

VI

VII

Frau Maier ermittelt in ihrem 3. und 4. Fall

Jessica KremserFrau Maier sieht GespensterEigentlich hätte Frau Maier allen Grund zufrieden zu sein, denn sie hat eine neue Arbeitsstelle gefunden - im prächtigen Schloss auf einer Insel im Chiemsee. Doch kaum hat sie ihren Dienst angetreten, stolpert sie auch schon über Ungereimtheiten - und bald auch über eine Leiche. Und damit nicht genug: Frau Maier wird das Gefühl nicht los, ständig Gespenster zu sehen. Denn wer könnte die Gestalt sonst sein, die ihr als König Ludwig II. verkleidet nachstellt? Und wer flüstert ständig ihren Namen? Frau Maier will sich keinesfalls in die laufenden Ermittlungen einmischen, aber sie hat für Verbrechen einfach eine zu gute Nase und ihre Neugierde ist mehr als geweckt. Auch der dritte Fall von Frau Maier ist mit viel Humor und hoher Spannung garniert. Aber Vorsicht: Suchtgefahr!Jetzt lesen
Frau Maier wirbelt Staub aufIn ein paar Tagen hat Frau Maier Geburtstag. Jetzt, da sie endlich Freunde hat, ein Grund zum Feiern. Doch dann findet sie auf einem Parkplatz die Leiche eines angesehenen Bürgers des Dorfes und die Lust aufs Feiern vergeht ihr. Eigentlich wollte Frau Maier sich ja aus Kriminal­fällen heraushalten - wenn da nur nicht ihr untrügliches Gespür wäre. War es der fremde Mann, der sich neuerdings im Dorf aufhält und von dem keiner weiß, wer er ist? Oder liegt das Motiv in der Vergangenheit des Opfers? Als ein zweiter Mord passiert, muss Frau Maier unbedingt weiter ermitteln und gerät in große Gefahr.Jetzt lesen

Jessica Kremser · Frau Maier sieht Gespenster

Jessica Kremser wurde in Traunstein geboren und wuchs am Chiemsee auf. Zum Studium der englischen und italienischen Literatur und der Theaterwissenschaften zog es sie nach München, wo sie heute als Redakteurin für verschiedene Zeitschriften schreibt.

Von Jessica Kremser bereits erschienen:

Frau Maier fischt im Trüben (2012)

Frau Maier hört das Gras wachsen (2013)

Jessica Kremser

Frau Maier sieht Gespenster

Für Vroni

(im Inseljargon: Alter Ego)

und zur Erinnerung an eigentlich sowieso schon unvergessliche Inselzeiten.

Mit besonderem Dank an Mama, Hanne und Herbie, die mir mit Babysitter- und Cateringdiensten das Schreiben dieses Buches ermöglicht haben.

Und mit bestem Dank an die Anwältin, den Kastellan und den Arzt meines Vertrauens für Auskünfte über Scheidungen, Königsmäntel und Gehirnerschütterungen.

Erstes Kapitel Mittwoch

I

Der erste Donnerschlag kam mit solcher Wucht, dass Frau Maier zusammenzuckte, obwohl sie ihn erwartet hatte. Nach so vielen Jahren am großen See kannte sie alle Wetterkapriolen eines heißen Sommers.

Sie blieb stehen und schaute in den Himmel. Die dunklen Wolken zogen wie von Peitschenhieben getrieben im Eiltempo vor die gleißende Sonne, die von einem schwarzen Rand umgeben war. Das Wasser hatte sich in Sekundenschnelle von einem leuchtenden Blau in ein bedrohliches Grau verwandelt, und die ersten Wellen rollten auf das Ufer zu. Ein dicker Regentropfen traf Frau Maier direkt auf die Stirn.

„Na bravo“, brummte sie und ging schnell weiter. Doch auch so war ihr Tempo vergleichsweise gemächlich – eine alte Frau ist schließlich kein D-Zug, dachte sie und schnaubte im gleichen Moment verächtlich. Woher kam eigentlich dieser blöde Spruch? Alte Frau. Alt. „Alt ist ein dehnbarer Begriff “, brummte sie und versuchte, die jetzt dicht herunterprasselnden Regentropfen zu ignorieren.

Der Tag war heiß und schwül gewesen, aber durch das Unwetter hatte sich die Luft abgekühlt.

Frau Maier spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete. Ein greller Blitz erhellte den dunklen Himmel direkt hinter dem Kauzinger Kirchturm. Der nächste Donner rollte dunkel grollend aus der Ferne heran und entlud sich genau in dem Moment, in dem Frau Maier die schwere Kirchentür erreicht hatte.

II

In der Kirche war es kühl und still. Der Regen prasselte zwar auf das Dach, aber er wurde zu einem gleichmäßigen, gedämpften Rauschen, das die anderen Geräusche der Außenwelt abschirmte, und die Kirche zu einem ruhigen Hafen in stürmischer See machte.

Frau Maier bekreuzigte sich. Nur aus alter Gewohnheit oder aus Überzeugung? Sie wusste es schon seit Jahren nicht mehr genau. Aber das Bedürfnis, in einer Kirche zu sein, war stark gewesen. Langsam ging sie durch den Mittelgang auf den Altar zu. Täuschte sie sich, oder sah die Marienstatue dort vorne heute irgendwie ernster aus als sonst?

„So ein Schmarrn“, flüsterte Frau Maier, kniete sich trotz der Schmerzen in ihrem Bein kurz hin und setzte sich in die vorderste Bank. Sie schloss die Augen und atmete tief durch.

„Alles ist in bester Ordnung“, murmelte sie. „Alles ist in bester Ordnung.“

Sie öffnete die Augen wieder und bildete sich ein, dass sie ruhiger atmete als vorher.

„Es ist ja nur wegen der Katze“, raunte sie der ernsten Madonna zu. In diesem Augenblick zuckte hinter dem Kirchenfenster ein Blitz über den Himmel, gefolgt von einem gewaltigen Donnerschlag.

„Ist ja gut“, seufzte Frau Maier. „Du sollst nicht lügen, ich weiß.“

Und vor allem sollst du keiner Marienstatue direkt ins Gesicht lügen, fügte sie in Gedanken hinzu.

Na gut. Sie musste den Tatsachen also ins Auge sehen. Seit sie das Angebot angenommen hatte, war sie wieder da. Die Unruhe. Die Unruhe, die Frau Maier, die eigentlich die Ruhe in Person war, ganz deutlich zu verstehen gab, dass etwas nicht stimmte.

III

Das Angebot, auf der Insel zu arbeiten, war eigentlich gut. Sehr gut sogar. Jetzt im Hochsommer strömten die Touristen ins große Schloss, und Aushilfen wurden gebraucht, um alles in Schuss zu halten. Eine ehemalige Kollegin aus dem Kurhotel hatte Frau Maier den Job vermittelt.

Natürlich hatte ihre größte Sorge sofort der Katze gegolten. Denn auf der Insel standen für Arbeitskräfte Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung, und es wäre wesentlich einfacher, dort zu schlafen, um den Dienst in aller Frühe antreten zu können. Aber Frau Maier wollte nicht auf der Insel übernachten. Sie wollte die Katze nicht alleine lassen. Elfriede, ihre Bekannte aus der Sparkasse in Kauzing, hatte zwar sofort angeboten, sich zu kümmern, aber Frau Maier war nicht wohl bei dem Gedanken. Die Katze hatte schließlich noch nie ohne sie auskommen müssen. Also hatte sie mit ihrem neuen Arbeitgeber beim Vorstellungsgespräch vereinbart, dass sie mit dem Schiff zwischen Kauzing und der Insel hin- und herfahren würde, und nur in Ausnahmefällen – wenn sie für eine Veranstaltung abends oder für eine Frühschicht gebraucht wurde – auf der Insel übernachten würde. Insofern war alles gut.

Eigentlich.

„Es ist normal, vor dem ersten Arbeitstag nervös zu sein“, beruhigte sich Frau Maier zum vielleicht hundertsten Mal. „Vor allem, wenn man so eine komische, alte Schachtel ist wie ich, die Angst vor Menschen hat“, fügte sie hinzu.

Die Mutter Gottes verzog keine Miene.

„Du hättest jetzt ruhig widersprechen können“, merkte Frau Maier an. Sie starrte auf die flackernden Opferkerzen vor der Madonna. Einatmen, ausatmen.

Doch so sehr sie auch versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass alles normal war: Sie wusste ganz genau, dass das nicht stimmte. Sie wusste ganz genau, dass die Unruhe eine andere Sprache sprach.

Der Regen prasselte immer noch gleichmäßig auf das Kirchendach. Das Gewitter war vorbeigezogen, der Donner grollte nur noch leise in der Ferne. Allmählich entspannte sich Frau Maier doch ein kleines bisschen. Nur, dass die Madonna immer noch so ernst dreinschaute, irritierte sie ein wenig. Na gut, was soll’s, dachte sie. Sie wird schon wissen, warum.

Doch dann, gerade, als sie sich etwas mühsam aus der Kirchenbank aufgerappelt hatte, hörte sie es.

„Frau Maier!“ Ein Flüstern, hinter ihr. „Frau Maier!“ Eindringlich. Aber auch ein kleines bisschen spöttisch. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Sie fuhr herum. Niemand war zu sehen. Der Kirchenraum war düster, wegen des schlechten Wetters. Aber einen Menschen hätte sie doch bestimmt auch im Halbdunkel erkannt?

Oder?

Konnte sich oben im Chorraum jemand versteckt haben?

Frau Maier spürte Panik in sich aufsteigen, als sie an den Maskenmann damals im Kilianskircherl dachte. Er hatte sie verfolgt, beobachtet und belauert, weil sie ihm zufällig in die Quere gekommen war, als er eine Leiche verschwinden lassen wollte. Und im kleinen Kircherl, ganz abgelegen und einsam, da hatte er dann schließlich versucht, sie … Zusammenreißen. Sie biss die Zähne zusammen und ging langsam den Mittelgang entlang. Dabei spitzte sie ihre Ohren so sehr sie nur konnte.

Doch da war kein Flüstern mehr. Und als sie den Ausgang erreicht hatte, war sie sicher, dass da auch nie eines gewesen war. Wer bitteschön sollte sich auch in der Kirche verstecken und ihren Namen flüstern? Wer bitteschön hatte überhaupt gewusst, dass sie gerade jetzt in der Kirche war? Und wenn ihr jemand gefolgt wäre, dann hätte sie schließlich das Geräusch der schweren Türen hören müssen. Und, vor allen Dingen: Warum um alles in der Welt sollte jemand in der Kirche ihren Namen flüstern?

IV

Ihr war so, als könne sie das Gewitter, das sich im Abzug befand, noch spüren, und sie ging so schnell sie nur konnte durch das Dorf in Richtung See. Sie fühlte sich gehetzt. Oder verfolgt? War es wirklich nur das Gewitter, das sie in ihrem Rücken spürte? Und in ihrem Nacken, wo sich ein leichtes Kribbeln ausbreitete? Oder war da noch etwas anderes …

Frau Maier drehte sich schnell um. Doch die Straße hinter ihr war leer.

Frau Maier. Dieses Flüstern. Da hatten ihr das Rauschen des Regens und die Geräusche des fernen Unwetters doch tatsächlich einen Streich gespielt.

Solche Vorkommnisse beunruhigten Frau Maier. Denn wenn sie sich auf etwas verlassen musste, dann waren das ihre fünf Sinne und ein klarer Verstand. Sie lebte immerhin alleine in ihrem kleinen Haus am See, und sie war auch völlig alleine für sich verantwortlich. Da konnte sie sich keine Hirngespinste leisten! Und was, wenn es doch eine Alterserscheinung war …

„Nichts da!“, schimpfte sie laut. „Du regst dich jetzt ab und denkst nicht über dein Alter nach!“

Manchmal musste Frau Maier sehr streng mit sich selbst sein. Das half.

Fast immer.

Heute leider nicht. Als Frau Maier am See angekommen war und den Weg am Ufer entlang zu ihrem Haus ging, spürte sie sie immer noch. Die Unruhe.

Der See lag nach dem Gewitter da, als wäre nichts gewesen und auch der Himmel sah aus, als könne er kein Wässerchen trüben. Spiegelglatt und hellblau, alle beide. Sie blieb stehen und schaute lange aufs Wasser hinaus. Sie atmete langsam ein und aus und versuchte, die Ruhe des Sees in sich aufzunehmen. Dann ging sie weiter und zwang sich zu einem gemächlichen Tempo. Doch gerade, als sie den kleinen Wald, in dem ihr Haus stand, erreicht hatte, war es wieder da. In ihrem Kopf.

Frau Maier!

V

Manchmal war es im kleinen Haus am See schon ein bisschen einsam, auch wenn Frau Maier sich das nur ungern eingestand. Vor allem an Tagen wie diesen. An Tagen, an denen die Unruhe zu Besuch kam, und sich als ungebetener Gast in jedem Zimmer breitmachte.

Frau Maier lag auf dem Sofa, neben sich einen Stapel Kochbücher. Nichts konnte sie so gut ablenken wie das Schmökern in einem Kochbuch, wenn sie sich jedes Rezept in Gedanken auf der Zunge zergehen ließ. Doch heute lag Die große Fischküche bereits seit einer Viertelstunde auf ihrem Schoß und sie hatte erst einmal umgeblättert.

Frau Maier seufzte. „So wird das nichts.“ Sie setzte sich langsam auf. Sie würde die Katze noch einmal rufen. Dann hätte sie wenigstens Gesellschaft. Vorhin hatte sie sich nicht blicken lassen. Vermutlich hatte sie das Gewitter an einem trockenen Fleckchen verschlafen und sparte sich ihre Kräfte für eine weitere, spannende Sommernacht auf.

Es klingelte an der Haustür. Frau Maier zuckte zusammen. Immer noch. Obwohl sie sich in letzter Zeit so bemüht hatte, offener zu werden und Freundschaften zu schließen – sie rechnete nie mit Besuch. Offenbar brauchte sie sehr lange, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass einfach so mal jemand zu ihr kommen könnte. Auch ohne Einladung.

„Du bist manchmal ganz schön langsam“, bemerkte sie, während sie aufstand und zur Tür ging – und wunderte sich nur ganz kurz darüber, dass sie gerade zu ihrem eigenen Gehirn gesprochen hatte.

„Frau Maier!“ Dr. Frank Schön sah wie immer ein bisschen verlegen aus, aber Frau Maier hatte längst gelernt, sich davon nicht täuschen zu lassen. Frank war schließlich wesentlich weniger harmlos, als er aussah, und auch wesentlich weniger schüchtern. Beides hatte der Psychologe mit den blauen Augen und der vernachlässigten Frisur, seit sie ihn kannte, schon mehrfach unter Beweis gestellt. Damals, als sie die Leiche im See entdeckt hatte, und die Polizei ihr nicht hatte glauben wollen, da war Dr. Frank Schön, der Polizeipsychologe, zu ihr geschickt worden. Er hatte eigentlich feststellen sollen, dass sie nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Frau Maier war bis heute überzeugt, dass man sie dann in ein Heim eingewiesen hätte. Aber Frank Schön hatte Mut bewiesen und Frau Maier bescheinigt, dass sie sehr wohl all ihre Sinne beisammen hatte Er hatte ihr geholfen. Damals, und seitdem immer wieder.

„Alles in Ordnung?“, fragte er jetzt, legte den Kopf ein wenig schief und sah Frau Maier aufmerksam an.

„Natürlich, was sollte denn nicht in Ordnung sein?“, erwiderte Frau Maier schnell und bemerkte erst, als es schon zu spät war, wie barsch ihre Antwort klang.

Frank sagte nichts. Er zog nur fast unmerklich seine Augenbrauen etwas höher und – täuschte sie sich, oder umspielte der Hauch eines Lächelns seine Lippen? Der Hauch eines wissenden Lächelns?! Zusammenreißen, dachte Frau Maier, als sie zur Seite trat und Frank ins Haus winkte.

Sie ließ sich nicht gerne durchschauen. Genauer gesagt hasste sie es, sich durchschaut zu fühlen. Die unerschütterliche, gefasste Haltung – wenigstens nach außen hin – hatte sie sich vor vielen, vielen Jahren angeeignet und seitdem lange trainiert und perfektioniert. Eigentlich. Aber Frank hatte die unheimliche Fähigkeit, immer die richtigen Fragen zu stellen. Und immer zur richtigen Zeit aufzutauchen. So wie jetzt, als sie sich einsam und unruhig gefühlt hatte.

„Kaffee?“, fragte sie.

„Immer gerne!“

Als Frau Maiers alte Kaffeemaschine endlich unter viel Geächze und Gegurgel zwei Tassenfüllungen produziert hatte, setzten sich Frank und Frau Maier ins Wohnzimmer.

Frank ließ sich mit einem Seufzer auf das Sofa sinken.

„Anstrengender Tag?“, fragte Frau Maier. „Komplizierte Fälle?“

„Frau Maier“, sagte Frank und das spitzbübische Lächeln, das Frau Maier so liebte, blitzte in seinem ansonsten so harmlosen Gesicht auf. „Wollen Sie mich aushorchen? Das ist doch meine Aufgabe.“ Und noch bevor Frau Maier etwas erwidern konnte, beugte Frank sich vor und sah sie ernst an. „Irgendetwas stimmt doch nicht. Sie sind angespannt.“

Diese Psychologen! Frau Maier wand sich innerlich. „Ich fange morgen eine neue Arbeit an“, antwortete sie lächelnd.

So. Das würde Frank jetzt erst einmal zufriedenstellen. Man musste einem Psychologen immer ein wenig Futter geben, zum Nachdenken und Besprechen, dann konnte man noch unangenehmere Fragen vermeiden. So viel hatte Frau Maier im Umgang mit Dr. Frank Schön bereits gelernt. Vom Flüstern in der Kirche und von der Unruhe würde sie ihm ganz bestimmt nichts erzählen!

Frank musterte sie eindringlich mit seinen blauen Augen. Frau Maier zwang sich, nicht auf dem Sofa hin und her zu rutschen, was ihr sehr schwerfiel. Frank lehnte sich zurück und trank einen Schluck Kaffee.

„Aha“, sagte er dann, und zog seine Augenbrauen noch ein winziges Stück höher nach oben. „Wo denn?“

„Im Schloss, drüben auf der Insel. Da werden jetzt zur Hochsaison zusätzliche Reinigungskräfte gebraucht. Frau Leitner aus dem Kurhotel hat mir die Stelle verschafft.“

Kurze Pause. Frank nickte. Er lächelte. Dann sagte er: „Warum haben Sie eigentlich aufgehört im Kurhotel zu arbeiten?“

Frau Maier zuckte zusammen. So etwas Blödes. Das Flüstern und die Unruhe hatte sie umgehen können, aber jetzt hatte sich Frank zielsicher das nächste unangenehme Thema herausgepickt. Ein sehr unangenehmes Thema. Sie dachte an Hape, den Koch. Sie dachte an einen großen Eisbecher. Mit viel Sahne. Sie dachte an …

„Was hat denn diese leichte Rötung in Ihrem Gesicht zu bedeuten? Heraus mit der Sprache, Frau Maier, was ist da passiert?“

Frank hatte sich jetzt weit vorgelehnt und sah Frau Maier unverwandt und gespannt an. Ein Blick auf ihn genügte, und Frau Maier tat etwas für sie ganz und gar Ungewöhnliches: Sie kapitulierte. Er würde sich von dieser Fährte nicht mehr abbringen lassen, so viel stand fest.

„Da war ein Kollege“, sagte sie leise, ohne Frank anzusehen.

„Da war ein Gehege?“ Franks Stimme klang ein wenig belustigt, aber als Frau Maier schnell aufblickte, war sein Gesicht vollkommen ernst.

„Nein.“ Sie räusperte sich. „Da war ein Kollege. Ein Kollege “, wiederholte sie noch einmal laut und deutlich. Es entstand eine längere Pause. Sie drehte ihre Kaffeetasse in den Händen. Wo war eigentlich die Katze, wenn man sie mal brauchte, um lästige Psychologen aus dem Konzept zu bringen? Die Katze machte Frank immer nervös, er hatte kein Händchen für Katzen.

„Und dieser Kollege war mehr als ein Kollege?“ Franks Stimme war jetzt ganz sanft. So redet er also mit seinen Patienten, dachte Frau Maier, und musste plötzlich lachen. Was soll’s, ich erzähle es jetzt einfach.

„Nein, dieser Kollege wollte gerne, dass wir mehr sind als nur Kollegen. Aber ich wollte das nicht. Und dadurch wurde die gemeinsame Arbeit für mich …“ Sie suchte nach dem passenden Wort. „Anstrengend.“

Frau Maier atmete tief durch. Erstaunlich! Es war gar nicht schwer gewesen, das zu erzählen. Und tatsächlich fühlte es sich sogar gut an, sie war richtig erleichtert. Als Frank nach einer weiteren Tasse Kaffee aufstand, um sich zu verabschieden, da hatte Frau Maier das Gefühl, dass sich auch die Unruhe verabschiedet hatte.

VI

Das Wasser glitzerte verführerisch im goldenen Abendlicht. Obwohl sich die Luft seit dem Gewitter am Nachmittag nicht mehr auf hochsommerliche Temperaturen erwärmt hatte, konnte Frau Maier der Versuchung nicht widerstehen.

Sie drehte sich um. Niemand zu sehen.

Die Böschung hinter ihr war dicht bewachsen, vom Gehweg aus, der durch das Wäldchen führte, konnte sie niemand beobachten. Schnell zog sie sich bis auf die Unterwäsche aus und watete ins Wasser hinein. Die Steine unter ihren Füßen spürte sie kaum. In dieser Hinsicht war sie eine echte Einheimische. Auch, wenn sie nicht hier geboren worden war, sondern erst als kleines Mädchen in das Dorf am großen See gekommen war. Während die Touristen alljährlich seltsame Verrenkungen aufführten, wenn sie ohne Badeschuhe über die großen Kieselsteine ins Wasser gingen, merkte man ihr die lebenslange Übung an.

Mit einem wohligen Seufzer ließ sich Frau Maier in die Fluten gleiten. Das Wasser war frisch und sie hatte das Gefühl, dass seine Kühle und Klarheit in jede Pore ihrer Haut drang. Sie schloss die Augen und merkte, wie ihre Schwimmzüge immer gleichmäßiger wurden, ihr Atem immer ruhiger. Nach einer Weile machte sie die Augen wieder auf und blinzelte ins Abendlicht hinein. Tausend Edelsteine funkelten direkt vor ihr auf der Wasseroberfläche. Sie drehte sich auf den Rücken und schaute in den Himmel hinauf.

Die neue Arbeitsstelle, die Unruhe, das Flüstern – all das war jetzt ganz weit weg. Der See hatte ihre Sorgen weggespült.

Als sie sich wieder umdrehte, sah sie den Abenddampfer aus der Ferne Kurs auf Kauzing nehmen. Morgen früh würde sie das erste Schiff nehmen, um auf die Insel zu fahren. „Alles ist gut“, flüsterte sie.

Für einen kurzen Moment spürte sie ein starkes Verlangen zu tauchen, und unter Wasser zu schwimmen. Ihren ganzen Körper mit Kühle zu umgeben und sich frei und schwerelos zu fühlen. Sie zögerte und schaute auf das dunkle, klare Wasser.

Nein, heute nicht. Langsam schwamm sie zurück. Ob sie sich jemals trauen würde, wieder zu tauchen? Endlich wieder einmal – seit damals?

Zweites Kapitel Donnerstag

I

Der See glänzte in der Morgensonne wie ein glattes, blaues Juwel. Die Luft, die Frau Maier auf dem Oberdeck umspülte, war morgendlich frisch.

Es war erst acht Uhr und der Dampfer dementsprechend menschenleer. Kurz hatte sie am kleinen Kiosk unter Deck gezögert, weil es gar so gut nach Kaffee geduftet hatte, aber beim Blick auf die Preisliste hatte sie sich dieses Vergnügen verkniffen. Touristenpreise. Sie beschloss, ab morgen immer eine Thermoskanne mit frischem Kaffee für den Arbeitsweg einzupacken.

Der Fahrtwind trieb Frau Maier die Tränen in die Augen, aber sie wollte sie auf keinen Fall zumachen. Zu schön war dieser Anblick. Sie wollte keine Sekunde davon verpassen. Die Berge kamen mit jedem Meter, den sich das Schiff durch den See pflügte, näher und der Himmel war wolkenlos.

In diesem Moment fühlte sich Frau Maier stark und zuversichtlich. Die Stelle auf der Insel anzunehmen, das war sicher eine gute Entscheidung gewesen. Und sie würde mit den Kollegen dort schon klar kommen.

Hätte Frau Maier gewusst, was sie auf der Insel erwartete, hätte sie die Dampferfahrt an diesem frühen Sommermorgen vermutlich weitaus weniger genossen.

II

Einundzwanzig, zweiundzwanzig, zweiundzwanzigeinhalb – das Baby in dem Wagen zählte nur halb. Oh mei, oh mei, ging das heute schleppend. Wahrscheinlich, weil es mitten in der Woche war. Oder weil es noch relativ früh am Morgen war. Wie blöd die Frau mit dem bunt gemusterten Regenschirm, der aus ihrer Handtasche ragte, und dem kleinen Mann mit dem Bart hinter ihr fast die Augen ausstach, schaute. Muffig. Gelangweilt. Und das im Urlaub. Oh mei, oh mei. Achtundzwanzig, neunundzwanzig – und immer noch nichts, was eine Notiz auch nur annähernd wert gewesen wäre.

III

Frau Maier holte tief Luft. Durch das Schloss schwebte ein ganz besonderer Geruch. Was war es? Das Holz? Die Stoffe? Der Staub? Oder alles zusammen?

Langsam ging sie durch die prächtigen Räume. Einmal, ein einziges Mal war sie schon hier gewesen. Damals, zu ihrer Erstkommunion. Da hatten ihre Eltern ihr einen Ausflug auf die Insel geschenkt. Sie erinnerte sich noch, wie aufgeregt sie gewesen war. Wie sie gestaunt hatte über die vielen Spiegel und Kerzen. Wie fröhlich ihre Mutter ausgesehen hatte und wie fest ihr Vater ihre Hand gedrückt hatte, als sie sich ehrfürchtig an ihm festgeklammert hatte. Frau Maier spürte, wie ihre Kehle eng wurde und ihre Augen brannten. Sie schluckte. Schnell weitergehen, schnell an etwas anderes denken.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung. Auch heute, so viele Jahre später, versetzte sie das Schloss in Staunen. Und es kam ihr unwirklich vor, dass sie jetzt ganz alleine durch die menschenleeren Zimmer wandeln durfte.

„Schauen Sie sich in Ruhe um“, hatte Herr Schachner lächelnd gesagt. „Schließlich müssen Sie Ihren Arbeitsplatz erst einmal kennen lernen.“

Oliver Schachner war ihr neuer Chef. Er kümmerte sich um den reibungslosen Ablauf im Schloss – und dazu gehörte auch, dass er die Putzhilfen und Schlossführer zum Dienst einteilte. Frau Maier kannte ihn bereits vom Vorstellungsgespräch, und auch heute war er wieder so freundlich und höflich zu ihr gewesen wie damals.

„Mein neuer Arbeitsplatz …“, wiederholte Frau Maier. Das klang wirklich komisch. Ein prunkvoller Arbeitsplatz. Unwirklich.

Geh’ leise, denn Du gehst auf meinen Träumen. So lautete ein berühmtes Zitat des Königs, der das Schloss hatte erbauen lassen. Sie hatte es gerade erst unten im Foyer in einem Prospekt gelesen. Jetzt, als sie über diese Worte nachdachte, lief sie unwillkürlich auf Zehenspitzen weiter.

Im großen Spiegelsaal hielt Frau Maier die Luft an. Viele Dinge, die einem als Kind riesengroß und beeindruckend erschienen, schrumpften im Lauf der Jahre auf ein enttäuschendes Normalmaß zusammen. Dieser Saal nicht. Er war auch heute noch riesengroß. Die Spiegel erstreckten sich an beiden Seiten über die volle Länge, in ihnen schienen tausende von Kerzen zu winken. Das Gold überall leuchtete in der Morgensonne, die sich im Kristall der vielen Lüster brach. Ein Zimmer voller Gold und Juwelen, dachte Frau Maier. Eine riesige Schatzkammer.

Plötzlich glaubte sie, hinter sich eine Bewegung wahrzunehmen. War da jemand im Nebenraum? Eine ihrer neuen Kolleginnen? Das wäre gut, denn allmählich musste sie sich daranmachen, ihre Materialien zum Putzen aus dem Abstellraum zu holen, und sie hätte gerne jemanden dabei, der ihr alles zeigen konnte.

Sie warf einen Blick in den Nebensaal. Niemand zu sehen. Doch plötzlich stutzte sie. Auch die Türen waren komplett verspiegelt, und da sie auf beiden Seiten offen standen, konnte Frau Maier sich von allen Seiten sehen. Wie in einem Spiegelkabinett. Kritisch musterte sie ihre Rückenansicht. So richtig vorteilhaft saß diese Hose nicht. Vielleicht könnte sie sich vom ersten Gehalt einmal eine neue …

Ihr stockte der Atem. In einem der Spiegel hatte sie jetzt ganz deutlich eine Gestalt gesehen. Aber es war keine ihrer Kolleginnen gewesen. Es war ein Mann gewesen. Groß. Dunkelhaarig. Und – Frau Maier zwickte sich kurz – er hatte einen blauen Samtmantel um die Schultern getragen. Mit weißem Pelz gefüttert … „Hermelin“, murmelte sie. Der Königsmantel. Blauer Samt und weißer Hermelin. Sie hatte ihn vor zehn Minuten unten im Museum gesehen.

Sie fuhr herum. Doch wieder war niemand zu sehen und es war ganz still im großen Spiegelsaal. Frau Maier schloss kurz die Augen. War sie übermüdet? Sie hatte vor Aufregung kaum geschlafen und heute Morgen vielleicht eine Tasse Kaffee zu viel getrunken. Oder hatte sie gerade unbewusst an den Mantel gedacht und dann …

„Sie müssen Frau Maier sein, oder?“, sagte da eine freundliche Stimme hinter ihr. Frau Maier zuckte leicht zusammen. Was war nur los in diesem Schloss? Entweder sie sah Menschen, die nicht da waren, oder sie übersah die, die tatsächlich da waren. Zusammenreißen.

„Ja, richtig, ich bin die Neue.“ Frau Maier streckte lächelnd ihre Hand aus, und die junge Frau mit den lustigen Sommersprossen und dem rötlichen Pferdeschwanz ergriff sie und sagte: „Ich bin die Veronika. Veronika Mittermaier. Alle nennen mich Vroni.“

„Mich nennen alle Frau Maier“, sagte Frau Maier.

Falls Vroni sich wunderte, dass Frau Maier ihren Vornamen für sich behielt, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie lachte kurz und erwiderte: „Die Frau Maier und die Frau Mittermaier, das passt doch. Soll ich Ihnen zeigen, wo Sie alles finden, was Sie hier zum Putzen brauchen?“

Dankbar nahm Frau Maier das Angebot an. Sie hatte ja sowieso jemanden gesucht, der sie einweisen konnte, aber jetzt war sie doppelt dankbar für die Ablenkung. Sie musste sich schleunigst wieder dem Hier und Jetzt widmen und die Vision im blauen Samtmantel verdrängen. Leider klappte das nicht sehr lange.

Als Frau Maier kurze Zeit später gewissenhaft die vielen Quadratmeter glänzenden Parketts im Spiegelsaal wischte, konnte sie sich nicht richtig auf die Arbeit konzentrieren. Immer wieder hielt sie inne und lauschte. Was war das? Ein leises Klirren von Kristall, verursacht durch einen Lufthauch? Die Fenster waren alle geschlossen.

Ein Säuseln, ein Wispern? Oder eine sanftes Schleifen – zum Beispiel von Samt über Parkett? „Jetzt reiß dich bitte endlich zusammen!“, schimpfte Frau Maier energisch mit sich selbst. Offenbar lauter als beabsichtigt, denn postwendend kam eine Antwort aus der Richtung des Schlafgemachs: „Haben Sie mich gerufen, Frau Maier?“

„Nein, nein, alles in Ordnung, Frau Mitterm… Vroni, meine ich!“

Doch es war nicht in Ordnung. Was hatte sie da vorhin nur gesehen? Sie war doch nicht verrückt! Oder vielleicht doch? Ein kleines bisschen?

Nein, natürlich nicht. Da war jemand gewesen. Und auch jetzt … Sie spürte doch, wenn jemand sie beobachtete. Ihr Mund wurde trocken. Sie spähte erneut in alle Spiegel, aber es war niemand zu sehen. Und die Vroni schien ja auch nichts zu bemerken. Oder?

Frau Maier fasste sich ein Herz. Alles war besser, als für den Rest des Tages oder noch viel länger darüber zu grübeln, ob sie all ihre Sinne beisammen hatte. Rasch ging sie zu ihrer neuen Kollegin und sagte sofort, bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte: „Da gibt es doch etwas, was ich noch fragen wollte. Vorhin, im Spiegelsaal, da habe ich jemanden gesehen. Also eine Person, die …“ Jetzt zögerte Frau Maier doch kurz. Wie erklärte sie, dass sie jemanden im Samtmantel des Königs gesehen hatte, ohne vollkommen irre zu klingen?

Sie brauchte sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen, denn Vroni hakte ein: „Sie haben jemanden gesehen, der so aussah, wie unser König?“ Sie lachte über Frau Maiers verdutztes Gesicht. „Ich hätte Sie gleich warnen sollen, das tut mir leid. Das ist nur der Konny.“

„Der Konny?“, wiederholte Frau Maier lahm.

„Ja, der Freiberger Konrad. Einer der Hilfsgärtner hier auf der Insel. Er ist ein bissl …“

Vroni tippte sich mit bedeutungsvoller Miene ein paar Mal leicht an die Stirn.

Frau Maier nickte verständnisvoll und hoffte, die Vroni würde noch etwas mehr erzählen. Ihre Hoffnung wurde nicht enttäuscht.

„Er hat den König schon immer unheimlich verehrt, wissen Sie. Er weiß auch alles über ihn, hat alle Biografien und so was gelesen. Man kann ihn alles fragen, wirklich alles. Beeindruckend. Na ja, und dann ist das Ganze ein bisschen … aus dem Ruder gelaufen.“

Frau Maier zog fragend die Augenbrauen hoch. Zum Glück schien Vroni sehr gerne zu reden. Eine sympathische junge Frau, fand Frau Maier.

„Der Konny hat eine ganz schwere Zeit gehabt. Trennung von seiner Frau und so. Sie verstehen schon.“

Frau Maier fand, es war der falsche Zeitpunkt, um zu erläutern, wie gut sie das verstand. Sie nickte nur.

„Und da hat er sich dann nur noch in seine Traumwelt vom König geflüchtet. Hat von nichts anderem mehr geredet. Hat sich eigenhändig einen blauen Mantel geschneidert und sich daheim als König verkleidet. Und irgendwann hat er dann angefangen, morgens im Schloss in seiner Verkleidung herumzuschleichen.“ Vroni seufzte mitleidig.

Frau Maier fiel ein riesiger Stein vom Herzen. „Und ich dachte schon, ich sehe Gespenster!“, rief sie und lächelte Vroni an. Dann wurde sie wieder ernst.

„Aber ansonsten kann er alleine leben – und arbeiten?“

„Ja, freilich!“ Vroni nickte eifrig. „Er ist ja nicht verrückt oder so. Er spinnt halt nur bissl. Aber er ist sehr nett.“

Noch einmal fühlte Frau Maier Erleichterung. Es war gut zu wissen, dass der Mensch, der da durchs Schloss schlich, sehr nett war.

„Na dann passt ja alles. Dann wische ich mal weiter“, sagte sie und drehte sich um.

„Ach, Frau Maier“, sagte die Vroni da, und es klang verlegen.

„Ja?“

„Vielleicht erwähnen Sie das Ganze nicht beim Chef, wenn es geht.“

Als sie Frau Maiers fragenden Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu: „Er hat das mit dem Kostüm nicht so gerne. Einmal ist der Konny einer Gruppe von Touristen begegnet und eine Oma ist furchtbar erschrocken.“

Das war vermutlich so eine Oma wie ich, dachte Frau Maier.

„Na ja, und wir hier im Schloss, also die meisten von uns, haben beschlossen, den Konny nicht zu verpetzen. Er macht ja nichts Schlimmes und er tut uns irgendwie leid.“ Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Sie müssen natürlich nicht lügen, wenn er Sie fragt“, fügte sie schnell hinzu. Sie hatte wohl gerade bemerkt, dass sie sich der Neuen ziemlich ausgeliefert hatte, und dass die sie sofort beim Chef anschwärzen konnte, wenn sie wollte. „Aber von sich aus müssen Sie es ja nicht unbedingt erwähnen?“, fügte sie mit etwas unsicherer Stimme hinzu.

„Ich sage nichts“, versprach Frau Maier mit fester Stimme. „Ich finde das sehr nett von Ihnen und den anderen Kollegen.“ Sie nickte und ging zurück in den Spiegelsaal.

Und Veronika Mittermaier wusste in diesem Moment, dass die Neue richtig in Ordnung war. Eine freundliche, rundliche Omi mit grünen Augen und vielen Lachfalten. Sie lächelte, als sie sich wieder an die Arbeit machte.

IV

Die Sommersonne wärmte ihr Gesicht. Frau Maier schloss die Augen und lauschte dem gleichmäßigen, beruhigenden Brummen der Schiffsmotoren. Sie spürte jeden einzelnen Knochen – in so einem Schloss gab es doch eine Menge zu putzen.

Der erste Tag war gut verlaufen und sie war erleichtert. Der Chef war nett und die Vroni auch. Mit den anderen hatte sie noch nicht viel zu tun gehabt. Sie dachte an die Erscheinung in den Spiegeln, an die Figur im Hermelinmantel. Der Freiberger Konny, er ist ein bisschen … Sie sah Vronis mitleidiges Gesicht vor sich und spürte trotz der Wärme eine Gänsehaut auf ihren Armen. Der Konny hat eine schwere Zeit gehabt… Und dann hat er sich in seine Traumwelt geflüchtet.

Wie knapp war sie selbst eigentlich an so einem Leben vorbeigeschlittert? Immerhin hatte sie auch viele Jahre lang eine Trennung nicht verwinden können, hatte sich im Dorf abgesondert, hatte ganz alleine in ihrer eigenen Welt gelebt, nur mit der Katze, ihren Kochbüchern und den Schallplatten von Elvis Presley.

„So ein Schmarrn“, brummte Frau Maier. „Immerhin habe ich mir nie einen Elvis-Anzug geschneidert.“ Plötzlich fiel ihr ein, dass sie nicht alleine war. Schnell machte sie ihre Augen auf, aber offensichtlich hatte der Dampfer ihr Selbstgespräch übertönt. Die japanischen Touristen neben ihr verzogen jedenfalls keine Miene.

V

Die Katze schnurrte und schnurrte. Sie konnte gar nicht mehr aufhören. „Mei, hast du mich so vermisst?“, flüsterte Frau Maier und kraulte abwechselnd die beiden schwarzen Ohren. Sie hoffte, dass die Katze nicht merkte, wie froh sie war, dass zuhause jemand auf sie wartete. Sie wollte das arme Tier schließlich nicht unter Druck setzen. Aber ihr Herz hatte vor Freude schneller geklopft, als sie die kleine schwarz-weiße Gestalt vor der Haustür hatte sitzen sehen. Das Haus am See hatte still und friedlich ausgesehen. Still und friedlich und einsam – wenn da eben nicht die Katze gewartet hätte.

Jetzt lagen sie zusammen auf dem alten Cordsofa und hörten Elvis. Heartbreak Hotel. Wie bei all ihren Lieblingsliedern hatte Frau Maier auch bei diesem Lied den Text mit einem alten Englisch-Wörterbuch Wort für Wort ins Deutsche übersetzt. Wenigstens so ungefähr. Bei diesem Lied war es nicht sonderlich schwer gewesen. So lonely, sang Elvis wieder und wieder. So einsam. Im so lonely, Ich bin so einsam. They’re so lonely, they could die. Sie sind zum Sterben einsam. Frau Maier spürte wieder die Gänsehaut. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass der Text dieses Liedes auf einem Abschiedsbrief basierte. Auf dem Abschiedsbrief eines Menschen, der aus Einsamkeit Selbstmord begangen hatte. Sie dachte an den Konny. An Vronis Stimme: „Und dann die Trennung von seiner Frau …“

Langsam stand sie auf und ging zum Regal. Zur Schublade mit den Tischdecken. Sie tastete ganz tief unten im Stapel nach etwas Hartem, Eckigem. Sie zog es hervor und hielt die Luft an. Wie lange hatte sie das Bild nicht mehr angeschaut?

Der junge Mann auf dem Foto strahlte. Strahlte sie an. Hielt ihr einen Fisch entgegen. Stolz war er, und glücklich. Wie lange war das her? 40 Jahre? Länger? Karli. Der Fischer. Der Fischer-Karli. Ihr Fischer.

Frau Maier schloss kurz die Augen und plötzlich war da ein Gesicht direkt vor ihr. Ein blasses Gesicht. Ausgemergelt, mit Augenringen. „Maria“, flüsterte sie, und spürte, wie eine Träne über ihr Gesicht kullerte. Aber sie weinte nicht, weil der Karli damals die Maria geheiratet hatte. Nicht mehr. Sie weinte, weil die Maria todkrank war. Der Karli hatte es ihr selbst gesagt. Es wird nimmer lang gehen. Genau das waren seine Worte gewesen.

Sie erinnerte sich auf einmal so lebhaft daran, wie ihre Mutter damals die Krankensalbung vom Pfarrer bekommen hatte, dass sie den Geruch des Öls in der Nase hatte. Sie schüttelte sich. Tod, Tod, Tod. Konnte sie denn an nichts anderes denken?

They’re so lonely, they could die, sang Elvis.

Die Maria wird sterben, dachte Frau Maier. Und der Karli wird einsam sein. Aber auch nicht einsamer, als wir alle drei es schon ein Leben lang waren. Jeder auf seine Weise.

Selbst schuld, alle drei. Der Karli, die Maria und ich. Der Karli, die Maria und ich. Eine zweite Träne löste sich langsam aus ihrem Augenwinkel und tropfte auf die Nase der Katze. Die schüttelte sich und nieste. Und Frau Maier stand auf und stellte die Musik ab.

Drittes Kapitel Freitag

I

Auch der starke Kaffee in der Thermoskanne, den Frau Maier morgens auf dem Dampfer getrunken hatte, hatte sie nicht vollkommen wiederherstellen können. Sie hatte schlecht geschlafen und wirr geträumt. Der Refrain von Heartbreak Hotel hatte unangenehm laut und penetrant in ihrem Kopf gedröhnt, gelegentlich unterbrochen von einer Stimme, die eindringlich „Frau Maier!“ flüsterte.

Erst jetzt, beim Putzen, entspannte sie sich, und fühlte sich zunehmend wohl in ihrer Haut. „Putzfrau aus Leidenschaft“, brummte sie. Die vertrauten Tätigkeiten, das Wischen, Saugen und Kehren, beruhigten sie. Und sie liebte es, sorgfältig zu arbeiten und sich anschließend am Ergebnis zu erfreuen. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Putzstellen gehabt, aber diese hier war mit Abstand die Aufregendste.

Hingebungsvoll polierte Frau Maier den goldenen Thron im Beratungssaal. Sie stellte sich vor, sie hätte auch einen Beratungssaal. In dem würde sie Dr. Frank Schön empfangen. Da könnte er ihr dann im großen Stil Ratschläge erteilen. Sie schmunzelte. Doch im nächsten Moment stutzte sie. Was war das? War da etwas kaputtgegangen? Sie erschrak. Hatte sie etwas falsch gemacht?

Die filigran geschnitzte Krone, die die Lehne des Thrones am höchsten Punkt zierte, hatte einen Riss. Eindeutig. Vorsichtig strich Frau Maier mit dem Finger darüber. Eigenartig. Das war kein zufälliger Riss, sondern eher eine ganz feine Naht. So, als hätte jemand die Krone entfernt und wieder angeklebt. „Wahrscheinlich wurde da etwas restauriert“, überlegte sie. „Oder der Thron sah schon immer so aus.“

Aber sie glaubte nicht so recht daran. Irgendwie sah der Riss komisch aus. Sie beschloss, sofort den Chef darauf aufmerksam zu machen. Am Ende bliebe das Ganze sonst noch an ihr hängen! Sie versuchte, Gedanken an riesige Schadensersatzforderungen gar nicht erst aufkommen zu lassen, als sie mit klopfendem Herzen durch die Räume des Schlosses eilte, um ihren Chef zu finden. Sie hatte das Schlafgemach bereits durchquert, als sie wie angewurzelt stehen blieb. Vor lauter Eile schien ihre Wahrnehmung ein wenig hinterherzuhinken – aber hatte sie da im Augenwinkel nicht gerade blauen Samt und weißen Hermelin gesehen? Neben dem Bett? Auf dem Boden?

Frau Maier ging langsam zurück. Sie wusste nicht, warum, aber plötzlich klopfte ihr Herz noch viel schneller als vorher. In ihrem Nacken kribbelte es verdächtig. Mit angehaltenem Atem betrat sie das Schlafzimmer. Ja, neben dem Bett lag tatsächlich blauer Samt auf dem Boden. Er war nicht sofort zu erkennen, weil der Bettüberwurf ebenfalls aus blauem Samt war und direkt in den Stoff auf dem Boden überging. Aber auf dem Boden, da war auch weißer Pelz – und einer der schweren, goldenen Kerzenleuchter lag direkt daneben.

Frau Maier erstarrte. Neben all den anderen Dingen, die ihr heute Morgen durch den Kopf gegangen waren, hatte sie überhaupt nicht mehr an den verrückten Gärtner gedacht. Jetzt kehrte er mit einem Paukenschlag in ihr Bewusstsein zurück.

Der weiße Hermelin saugte sich gerade mit Blut voll. Und das Blut floss direkt aus dem Kopf vom Freiberger Konny.

II

Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig. Wieder nichts Interessantes dabei heute. Siebenundzwanzig – hatte die Frau keinen Spiegel daheim? Achtundzwanzig, neunundzwanzig … Wobei, irgendwie war es ja schon interessant gewesen, vorhin. Diese Person. Was wollte die schon wieder hier? Dreißig, einunddreißig. Herumschnüffeln? Sie sollte sich besser nicht mit ihm anlegen. Achtunddreißig. Er hatte hier alles im Griff. Vierzig. Wo hatte dieser Tourist denn diesen scheußlichen Hut her? Wahrscheinlich dachte er, das sei original bayerische Tracht. Einundvierzig, zweiundvierzig. Manche Leute sind so was von blöd.

III

Die Vroni war zum Glück im Speisezimmer gewesen und sie wusste auch, wie das interne Telefon funktionierte. Sie hatte sofort den Chef gerufen, und der hatte den Notarzt und die Polizei verständigt. Jetzt hieß es warten. Bis sie auf der Insel ankommen würden, würde es eine Weile dauern.

Einer der jungen Schlossführer, Medizinstudent und Rettungssanitäter, war sofort geholt worden. Er verdiente sich während der Semesterferien Geld für sein Studium auf der Insel. Er hatte sich neben den Konny gekniet und – so war es Frau Maier vorgekommen – ewig dort unten gekauert. Dann hatte er sich langsam aufgerichtet und den Kopf geschüttelt. Seine Hand war voller Blut gewesen.

Sie saßen im Aufenthaltsraum für das Personal. Niemand sagte etwas. Der Chef, Oliver Schachner, war fast so bleich wie der Freiberger Konny. Die Vroni weinte. Frau Maier versuchte, ruhig zu atmen, aber ihre Hand, mit der sie ihre Kaffeetasse umklammert hielt, zitterte. Die anderen Putzhilfen und Schlossführer waren auch zusammengetrommelt worden, denn die Polizei würde mit jedem sprechen müssen. Niemand sagte es, aber jeder wusste es: Das war kein Unfall gewesen. Der schwere Kerzenleuchter war nicht von alleine auf dem Kopf vom Konny gelandet.

Als Oliver Schachners Handy klingelte, zuckten alle zusammen. „Die Polizei ist jetzt da, ich muss sie in Empfang nehmen. Bitte bleiben Sie hier“, sagte er streng und verschwand.

IV

Trotz des Ernstes der Lage und trotz der Tatsache, dass sie gerade eine Leiche entdeckt hatte, konnte Frau Maier nicht umhin, sich zu fragen, wer wohl der ermittelnde Kommissar sein würde. Fiel die Insel noch in den Zuständigkeitsbereich vom Brandner?

Frau Maiers Hände zitterten stärker. Kommissar Brandner. Zweimal schon war sie ihm bei Ermittlungen in die Quere gekommen. Er hielt sie für eine schrullige Alte, die nicht ganz zurechnungsfähig war, und die zudem verdächtig oft über irgendwelche Leichen stolperte. Und ganz ehrlich: Allmählich konnte sie es ihm schon gar nicht mehr übel nehmen. Warum schon wieder?, fragte sie sich. Warum schon wieder ich?

Seit ihrer ersten Begegnung damals in Kauzing, als sie die Leiche am See gefunden hatte, war Frau Maier überzeugt davon, dass der Brandner nur darauf wartete, sie einzusperren. Ins Gefängnis. Oder noch schlimmer, in die Klapsmühle. Dabei war es nun wirklich nicht ihre Schuld gewesen, dass die Leiche genau vor ihrem Haus abgelegt worden war. Und dass der Täter sie wieder entfernt hatte, bevor die Polizei eingetroffen war.

Die Tür öffnete sich. Herr Schachner kam mit einem kleinen, dünnen Mann herein. Frau Maier schätzte ihn auf Anfang vierzig. Er hatte Geheimratsecken und sah sympathisch aus. Und vor allem war er nicht der Brandner. Frau Maier atmete auf. „Das ist Kommissar Förster“, sagte der Chef. „Er möchte sich mit jedem von Ihnen einzeln unterhalten.“

V

Das Verhör mit Kommissar Ralf Förster und seinem jungen Kollegen hatte im Büro des Chefs stattgefunden und war sehr kurz gewesen. Frau Maier hatte noch einmal beschrieben, wie sie die Leiche entdeckt hatte, und dann einige Fragen beantwortet. Nein, ihr war niemand begegnet. Die Vroni war die erste Kollegin gewesen, die sie getroffen hatte – aber erst nach dem Fund. Nein, sie hatte auch nichts gehört. Keinen Schlag, keinen Schrei, keinen Aufprall. Nein, sie war dem Freiberger Konny nie begegnet, das hier war erst ihr zweiter Arbeitstag im Schloss. Ja, sie wusste von seiner Angewohnheit, im Hermelinmantel durchs Schloss zu gehen, und nein, ansonsten wusste sie gar nichts über ihn. Und ja, sie würde sich melden, wenn ihr doch noch irgendetwas einfallen würde.

Als Frau Maier das Büro verließ, war sie erleichtert. Der Kommissar war freundlich und höflich gewesen. Kein Vergleich zum Brandner. Erst, als sie den Aufenthaltsraum schon wieder erreicht hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie am Morgen ja doch etwas Eigenartiges entdeckt hatte. Den Riss im Thron. Sie überlegte. Musste der Kommissar das wissen? Es hatte ja nichts mit dem Tod vom Konny zu tun. Und es handelte sich eigentlich um etwas, was nur die Schlossverwaltung etwas anging. Sie beschloss, es Herrn Schachner zu sagen. Er konnte dann selbst entscheiden, ob er dem Kommissar davon erzählen würde.

„Das ist aber schön, so eine aufmerksame Mitarbeiterin zu haben!“, sagte Oliver Schachner einige Minuten später und nickte anerkennend. Zum ersten Mal an diesem Morgen zeichnete sich auf seinem Gesicht die Andeutung eines Lächelns ab. „Wenn ich Sie hätte testen wollen, ob Sie gründlich putzen – den Test hätten Sie eindeutig bestanden!“

Frau Maier konnte nicht umhin, sich zu freuen. Sie wurde nicht allzu oft gelobt, und sie musste zugeben, dass es sehr guttat. Gleichzeitig machte es sie aber auch verlegen, und sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Der Chef sagte nichts mehr, daraus schloss sie, dass er wohl auf eine Antwort von ihr wartete.

Frau Maier gab sich einen Ruck. „Da bin ich aber froh, ich hatte schon Angst, dass ich etwas falsch gemacht habe. Oder dass ich mir da etwas eingebildet habe. In meinem Alter sieht man schon mal Gespenster, wissen Sie. Und ich habe dann auch noch so eine lebhafte Phantasie …“ Frau Maier verstummte und spürte, wie ihr heiß wurde. Was redete sie da nur für einen Blödsinn?

Oliver Schachner betrachtete sie einen Moment lang etwas nachdenklich, dann sagte er: „Keine Sorge, das hat alles seine Richtigkeit, Frau Maier.“ Aus der Nähe betrachtet sah er weniger jung aus als aus der Ferne, er war vermutlich Mitte oder Ende vierzig. Für einen Chef immer noch jung, dachte Frau Maier. Er hatte sehr freundliche, braune Augen und trug eine randlose Brille. „Der Thron ist restauriert worden und die Krone musste dazu abgenommen werden.“

Frau Maier nickte erleichtert. Keine Schadensersatzforderungen. Immerhin etwas an diesem schwarzen Tag. Herr Schachner sah nervös auf seine Uhr.

„Entschuldigen Sie bitte, Frau Maier, ich muss wieder los. Die Polizei wartet. Und das Schloss kann heute nicht für die Besucher geöffnet werden, da gibt es noch viel zu regeln. Fahren Sie einfach heim und kommen Sie morgen früh ganz normal wieder zu Ihrem Dienst.“ Er hatte sich schon einige Schritte entfernt, als er noch einmal kehrtmachte. „Ach ja, und noch etwas. Könnten Sie vielleicht morgen auf der Insel übernachten? Nach Feierabend muss die Cafeteria mal wieder gründlich geputzt werden, und da brauchen wir Hilfe.“

Frau Maier traute sich nicht zu sagen, dass sie lieber zuhause schlafen wollte, und nickte stattdessen. Es war beim Vorstellungsgespräch schließlich so vereinbart worden, und Frau Maier hielt sich immer an Vereinbarungen.

VI

Auf dem Weg zur Anlegestelle für den Dampfer klingelte es plötzlich schrill direkt hinter Frau Maier. Sie fuhr zusammen. Sie war völlig in Gedanken gewesen.

Veronika Mittermaier stieg vom Rad ab und schob es neben Frau Maier her. Sie sah ziemlich verweint und mitgenommen aus. Eine Weile sagten beide nichts, dann meinte die Vroni leise: „Was für ein Leben. Erst das mit seiner Frau, dann die ganze Spinnerei mit dem König und jetzt so ein Ende. Gerade mal 47 Jahre alt durfte er werden und …“ Sie brach den Satz ab, weil ihre Stimme bedrohlich zitterte.

Frau Maier fiel einfach nichts Tröstliches dazu ein, deshalb schwieg sie weiter. They ’re so lonely, they could die. Der Refrain des Liedes war wieder da. Zum Sterben einsam.

Sie hatten jetzt den kleinen überdachten Warteraum am Steg erreicht und setzten sich auf eine Bank. Es war mittlerweile schon um die Mittagszeit, aber der Raum war menschenleer und sehr ruhig. Heute stiegen keine Touristen auf der Insel aus, dafür sorgten offenbar zwei Polizeibeamte in Uniform, die sich vorne am Steg positioniert hatten.

„Hoffentlich legt überhaupt ein Dampfer an, damit wir hier wegkommen“, sagte Frau Maier.

„Ja, der Herr Schachner hat gesagt, die wissen Bescheid, dass die Angestellten wieder aufs Festland müssen“, antwortete die Vroni.

Frau Maier fasste sich ein Herz. Ihre Neugier war einfach zu groß. „Was war denn da genau mit der Frau vom Freiberger Konny?“, fragte sie.

„Die hat ihn furchtbar behandelt, so schaut es aus“, antwortete die Vroni, und Frau Maier war erstaunt, dass die freundliche junge Frau zu so einem scharfen verächtlichen Tonfall fähig war. „Sie hat ihn erst ausgenommen so gut es eben ging und ihn dann verlassen. Nichts hat sie ihm gegönnt. Sie residiert in der schönen Wohnung drüben auf dem Festland, und er musste hier im alten Kutscherhäusl hausen. Die Fenster schließen nicht, es ist feucht, der Strom fällt ständig aus. Aber für ihn war das gut genug, in ihren Augen.“ Die Vroni schnaubte wütend. „Und als er dann die Scheidung wollte …“

„Er wollte die Scheidung?“, fragte Frau Maier. Bisher hatte es für sie eher so geklungen, als sei die Trennung von der Frau ausgegangen.

„Ja, aber dazu kam es nicht, weil …“

In diesem Moment zischte eine kalte Stimme direkt hinter ihnen: „Du kleines Miststück, was erzählst du denn da?“

Frau Maier und Vroni fuhren herum. Hinter ihnen stand eine große, stattliche Frau mit sehr blond gefärbten Haaren. Wie aus dem Nichts war sie aufgetaucht. Vermutlich hatte sie hinter der großen Anzeigetafel mit den Abfahrtszeiten der Schiffe gestanden. Ihr Gesicht war wutverzerrt und deshalb nicht besonders schön. Ihre Lippen waren sehr rot geschminkt.

Die Vroni zuckte zwar zusammen, aber sie versuchte, sich zu behaupten. „Ich sage nur die Wahrheit. Wenn Ihnen das nicht passt, kann ich auch nichts machen.“

„Wenn mir das nicht passt? Wenn mir das nicht passt???“ Die Stimme der wütenden Frau wurde bedrohlich laut.

Zum Glück sah Frau Maier, dass die beiden Polizisten auf den Lärm aufmerksam geworden waren, und in ihre Richtung kamen. Keinen Augenblick zu früh, denn tatsächlich packte die Frau die Vroni an ihrer Jacke und zog sie von der Bank hoch. Frau Maier sprang auf und wollte schützend den Arm um ihre junge Kollegin legen, aber die Polizisten waren schneller. Mit einem routinierten Handgriff hatte einer der beiden die Furie unter Kontrolle. „Jetzt mal ganz ruhig“, sagte der andere. „Wo ist denn das Problem?“

„Das Problem?“, schnaubte die Furie. Dann legte sie plötzlich den Kopf in den Nacken und lachte schallend. „Es gibt kein Problem. Und wissen Sie warum? Weil mein Mann tot ist. Der arme Irre. Endlich habe ich dieses Problem nicht mehr am Hals.“

Frau Maier erschrak und sie konnte spüren, dass auch die Vroni und die beiden Polizisten unwillkürlich einen Schritt vor Sylvia Freiberger zurückwichen.

„Was denn?“, lachte die. „Schockiert Sie das? Ich wurde doch hierher zitiert, damit der Kommissar mit mir sprechen kann. Und da muss man die Wahrheit sagen, dachte ich jedenfalls.“ Ihre Stimme klang spöttisch. „Und die Wahrheit ist: Ich bin sehr froh, dass mein Mann tot ist. Das können Sie gleich zu Protokoll nehmen.“

Und mit diesen Worten stapfte sie hoch erhobenen Hauptes in Richtung Schloss davon.

VII

Als Frau Maier an diesem Abend vor Elfriede Grubers Haus stand, fühlte sie sich schlecht. Sie war müde und alles tat ihr weh. Aber es war mehr als nur die Müdigkeit, die ihr in den Knochen steckte. Es war ein äußerst unangenehmes und aufdringliches Unbehagen.

Sie war vom Dampfersteg aus nach Hause gegangen, um den Zweitschlüssel für ihr Haus am See zu holen, hatte eine Tasse Kaffee getrunken und sich mit schweren Beinen und schweren Herzens wieder auf den Weg gemacht. Obwohl sie sich viel lieber auf ihr altes Cordsofa gelegt hätte. Oder am liebsten gleich ins Bett. Die Decke über den Kopf ziehen und einfach schlafen. Alles vergessen. Und die Unruhe hinter sich lassen.

Es war noch hell und die abendliche Sommerluft war warm und weich. Frau Maier streckte die Hand aus, um die Klingel neben dem Schild mit dem Namen Gruber zu drücken. Sie ließ die Hand wieder sinken. Aus dem Nachbargarten drangen der Geruch von Grillfleisch und Gelächter zu ihr herüber. Ein roter Sonnenschirm leuchtete durch die Hecke.

Frau Maier zuckte zusammen.

Eine rote Pfütze. Ein weißer Kragen, der sich langsam blutrot färbte. Ein grellrot geschminkter Mund.

„Frau Maier!“ Elfriede Gruber streckte den Kopf aus dem Küchenfenster im Erdgeschoss. „Ich habe Sie kommen sehen. Warum klingeln Sie denn nicht?“ Sie lachte und schloss das Fenster wieder. Wenige Sekunden später öffnete sie die Tür. „Kommen Sie rein. Ich habe mir gerade eine Brotzeit auf der Terrasse hergerichtet. Wollen Sie mitessen?“

„Nein, danke, ich …“

„Keine Widerrede.“ Elfriede Gruber zog Frau Maier am Arm mit sich, und ehe sie noch einmal protestieren konnte, saß sie schon auf einem weich gepolsterten Gartenstuhl und hatte einen Teller Wurstsalat vor sich.

Sie wollte sich freuen. Immerhin war es ein wunderschöner Abend. Immerhin liebte sie Wurstsalat. Immerhin hatte Elfriede sie zum Abendessen eingeladen. Elfriede, deren Putzfrau sie einmal gewesen war, und die inzwischen eine gute Bekannte für sie geworden war. Beinahe eine Freundin. Ihre erste echte Freundin.

Sie wollte sich freuen, aber sie konnte es nicht.

Sie rutschte auf dem weichen Kissen hin und her und starrte auf ihre Gabel. Elfriede erzählte von einem anstrengenden Kunden in der Sparkasse. Frau Maier ließ ihren Blick über die Terrasse schweifen. In einem Blumentopf steckte ein rotes Windrad. Blutrot.

„Frau Maier?“ Elfriedes Stimme klang besorgt und Frau Maier fiel mit einem Schlag auf, dass schon einige Sekunden lang niemand gesprochen hatte. Sie schaute auf.

Elfriede musterte sie aufmerksam. „Was ist denn los?“ Und als keine Antwort kam, fügte sie hinzu: „Und warum sind Sie eigentlich vorbeigekommen? Ich habe ganz vergessen zu fragen. Ich habe mich einfach nur gefreut, Sie zu sehen.“ Sie lächelte, und Frau Maier fühlte sich plötzlich ein kleines bisschen besser.

„Ich wollte Ihnen meinen Schlüssel bringen“, erklärte sie.

Elfriede zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Sie haben doch angeboten, nach meiner Katze zu schauen, wenn ich auf der Insel übernachten muss“, ergänzte Frau Maier.

„Ja, natürlich, sehr gerne! Wie ist die neue Arbeit überhaupt? Entschuldigen Sie, ich erzähle nur von mir, und dabei haben Sie ja den neuen Job.“

„Das macht nichts. Also hier ist der Schlüssel und das Futter steht in der Küche …“

„Das weiß ich doch. Frau Maier, ist wirklich alles in Ordnung? Wie ist es denn im Schloss?“

„Sehr … interessant …“ Frau Maier stockte. Sie überlegte fieberhaft. Sollte sie Elfriede erzählen, was passiert war? Sie musste doch allmählich denken, dass es nicht mit rechten Dingen zugehen konnte, dass Frau Maier ständig über Leichen stolperte. Zuerst die Leiche im See, direkt vor ihrem Haus. Dann die Geschichte im Kurhotel. Und jetzt schon wieder.

Die Vorstellung, dass Elfriede etwas Schlechtes von ihr denken könnte, war für Frau Maier fast noch schlimmer als das Bild vom Freiberger Konny mit dem Loch im Kopf. Aber wenn sie jetzt nichts sagte, dann würde Elfriede es morgen in der Zeitung lesen. Sie holte tief Luft.

„Es ist etwas passiert. Es gab eine Leiche im Schloss.“ Sie schaute Elfriede in die Augen. „Es wurde ein Mitarbeiter umgebracht.“

Elfriede schaute sie mit großen Augen an, aber sie sagte eine Weile nichts und dann einfach nur: „Wie bitte?“

„Sie werden es morgen in der Zeitung lesen können. Es stimmt wirklich.“ Frau Maier zog die Schultern hoch. „Es ist schrecklich“, flüsterte sie.

„Aber wer? Und warum?“ Elfriede flüsterte ebenfalls. Sie schien es immer noch nicht glauben zu können.

„Ein Gärtner. Aber wer es war, das weiß noch niemand. Das müssen wir jetzt herausfinden. Also die Polizei, die muss das herausfinden. Die Polizei.“ Frau Maier merkte, dass sie stotterte.

„Frau Maier!“ Elfriede holte tief Luft. „Sie machen bitte gar nichts. Versprechen Sie mir das. Zweimal haben Sie sich schon in große Gefahr gebracht, irgendwann geht das auch einmal schief !“

Frau Maier stand ein wenig ungeschickt auf und fegte dabei eine Gabel vom Tisch. Sie fiel mit einem lauten Klirren auf den Boden. Frau Maier hob sie hastig auf und ignorierte das Stechen in ihrem Knie.

„Ja, natürlich, Sie haben Recht!“ Sie lächelte Elfriede zu, aber es fühlte sich wie eine Grimasse an. „Ich mische mich nicht ein.“

An der Tür hielt Elfriede Frau Maier am Arm fest. „Bitte, Frau Maier, ich meine es ernst“, sagte sie eindringlich. „Ich …“ Sie stockte kurz und wirkte, wie so oft, ein bisschen verlegen. „Ich mache mir Sorgen um Sie.“ Und sie zog Frau Maier an sich und drückte sie kurz.

„Dafür gibt es keinen Grund, versprochen. Es wird nichts Schlimmes mehr passieren und die Polizei hat alles im Griff“, antwortete Frau Maier mit fester Stimme und machte sich auf den Heimweg.

Bei jedem Schritt spürte sie, wie das Unbehagen noch stärker wurde. Dafür gibt es keinen Grund. Es wird nichts Schlimmes mehr passieren. Ihre eigenen Worte verfolgten sie. Und ihr dämmerte, dass sie Elfriede vermutlich gerade angelogen hatte. Ziemlich sicher sogar.

Viertes Kapitel Samstag

I

Am nächsten Tag sah auf der Insel auf den ersten Blick alles ganz normal aus. Das Schloss strahlte im Morgenlicht, und die Brunnen davor sprudelten fröhlich vor sich hin. Das Wasser, das zurück in die Becken plätscherte, wurde von der Sonne in Fontänen aus Gold und Silber verwandelt.

Drinnen hielt der Chef eine Ansprache an das Personal. „Die Polizei hat auf Hochtouren gearbeitet und bereits die Spuren gesichert und den Tatort reinigen lassen.“ An dieser Stelle stockte er kurz, vermutlich dachte er an die große rote Pfütze, die langsam zum weißen Hermelin geflossen war …

Frau Maier schüttelte sich und konzentrierte sich wieder auf den Chef. Er sah sehr müde aus und seine Handbewegungen wirkten fahrig. „Die Schlossverwaltung hat das Okay bekommen, den Betrieb heute wieder aufzunehmen. Natürlich werden die Besucher Sie vermutlich nach den, äh …“ Er stockte wieder. „… nach den Vorkommnissen fragen. Gestern kam es ja schon im Radio und heute steht es in den Zeitungen. Und im Internet findet man natürlich auch alles Mögliche darüber. Ich halte Sie alle an, keine Auskünfte zu geben, und sich nicht an wilden Spekulationen zu beteiligen. Und nur zu Ihrer Information: Es gibt auch nichts zu spekulieren. Es gibt noch keinen Verdächtigen. Die Polizei ermittelt in alle Richtungen.“

Das hat er sich aber schön gemerkt, dachte Frau Maier. Dieser Satz kam in jedem Krimi vor. Kein Verdächtiger. Und was bitteschön war die Furie, die offen zugegeben hatte, wie froh sie über den Tod ihres Mannes war? War das etwa kein Motiv?

Der Tonfall des Chefs wurde jetzt schärfer. „Sollte ich jemanden dabei erwischen, dass er mit Besuchern über den Fall spricht, gibt es eine Abmahnung.“

In die Stille hinein, die auf seine Worte folgte, sagte plötzlich Veronika Mittermaier: „Und was ist mit dem Konny? Wird der einfach so vergessen? Gibt es nicht mal eine kleine Trauerfeier, irgendetwas?“ Obwohl ihre Stimme zitterte, klang sie gleichzeitig wütend. Zustimmendes Gemurmel machte sich unter den Kollegen breit und Oliver Schachner sah verlegen aus, als er sagte: „Ja, natürlich. Natürlich. Sie haben Recht. Ich werde da etwas veranlassen.“ Mit diesen Worten verschwand er in seinem Büro und zog die Tür schnell hinter sich zu.

II

Dreiundsiebzig, vierundsiebzig, fünfundsiebzig. Unglaublich. Jeder Zweite starrte auf sein Handy. Sechsundsiebzig, siebenundsiebzig. Sie war heute die Nummer vier gewesen. Achtzig, einundachtzig. Im Auge behalten. Auf jeden Fall.

III

Frau Maier ging langsam die Treppe nach oben in den ersten Stock. Sie musste heute wieder den Spiegelsaal wischen. Fünfundsiebzig Meter Parkett – das sollte genügen, um mich zu entspannen, dachte sie. Sie atmete den typischen Schlossgeruch aus Holz, Samt und Staub ein. Wie traurig, dass dieser wunderschöne Arbeitsplatz ab jetzt für immer überschattet sein würde.

Sie stand im Spiegelsaal, den Wischer bereits in der Hand. Aber sie konnte nicht anfangen. Sie sah in die Richtung des Gangs, der zum Schlafzimmer führte. Und sie wusste, dass sie noch einmal dorthin gehen musste. Sie lauschte, ob vielleicht ein anderer Kollege in einem der Nebenräume war, aber sie hörte niemanden.

Das Schlafgemach sah so aus, als wäre nichts geschehen. Nur einer der beiden schweren Kerzenleuchter, die auf der Kommode gestanden hatten, fehlte. Bestimmt hatte die Polizei ihn mitgenommen.