Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Weihnachtskrimi am Chiemsee Besinnliche Ermittlungen bei Plätzchen und Glühwein. Frau Maiers 6. Fall Frau Maier kann mit Weihnachten nicht besonders viel anfangen. Ihr Interesse am alljährlichen Christkindlmarkt steigt allerdings, als ihr Bekannter, der Privatdetektiv Wolfgang Woitschak, ausgerechnet zwischen den Buden ein Verbrechen wittert. Er ist überzeugt, dass seiner Cousine Renate genau dort etwas zugestoßen ist. Und so lässt Frau Maier sich dazu überreden, Plätzchen zu verkaufen und ganz nebenbei ihr Umfeld unter die Lupe zu nehmen. Schnell werden ihr zwei Dinge klar. Erstens: Auf diesem Markt zeigen nicht alle ihr wahres Gesicht. Und zweitens: Zwischen Christbaumkugeln und Glühwein ist die Stimmung alles andere als besinnlich … Doch auch privat ist Frau Maier gefordert, denn plötzlich gibt es nicht nur einen, sondern sogar zwei Männer in ihrem Leben – Eifersuchtsdrama inklusive. »Frau Maier geht ein Licht auf« spielt ausschließlich am Chiemsee und auf der Insel Frauenchiemsee. Ihre Bekanntschaft aus ihrem letzten Fall »Frau Maier macht Dampf«, der Privatdetektiv Wolfgang Woitschak (Woitschi), kommt für Ermittlungen auf den Weihnachtsmarkt auf die Insel Frauenchiemsee.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Jessica Kremser wuchs am Chiemsee auf. Zum Studium der englischen und italienischen Literatur und der Theaterwissenschaften zog sie nach München, wo sie seitdem lebt. Mit „Frau Maier fischt im Trüben“ gab sie 2012 ihr Debüt als Kriminalschriftstellerin.
Von Jessica Kremser bereits erschienen:
Frau Maier fischt im Trüben (2012)
Frau Maier hört das Gras wachsen (2013)
Frau Maier sieht Gespenster (2015)
Frau Maier wirbelt Staub auf (2018)
Frau Maier macht Dampf (2021)
Jessica Kremser
PENDRAGON
In liebevoller und dankbarer Erinnerung an Uschi B.
Ich habe extra ein paar Insider für dich eingebaut und ich weiß genau, wie du darüber gelacht hättest.
Erstes Kapitel: Mittwoch
Zweites Kapitel: Donnerstag
Drittes Kapitel: Freitag
Viertes Kapitel: Samstag
Fünftes Kapitel: Sonntag
Sechstes Kapitel: Montag
Epilog: 24. Dezember
Kennen Sie eigentlich das Stockholm-Syndrom? Das ist wirklich urspannend, ich sag’s Ihnen. Ich schaue doch so gerne True Crime. Und da war einmal ein Fall, da ging es um das Stockholm-Syndrom. Das bedeutet, dass …
Sie schauen jetzt so genervt? Stört es Sie, wenn wir uns ein bisserl unterhalten? Es ist doch sonst recht fad hier drin, finden Sie nicht?
Also, jedenfalls geht es darum, dass jemand entführt wird. Oder als Geisel genommen. Oder irgendwo eingesperrt. Ich muss noch mal nachlesen, ob das nur für Geiseln und Entführungen gilt, oder …
Egal. Jedenfalls wird jemand gefangen gehalten. Und dann passiert es: das Stockholm-Syndrom. Etwas Irrsinniges ist das, denn die Person, die eingesperrt wird, also das Opfer, verliebt sich gewissermaßen in denjenigen, der sie bewacht, also den Täter …
Oh je, Sie müssen sich nicht erschrecken! Keine Sorge. Ich habe jetzt nur mal so allgemein gesprochen. Ich habe nicht gemeint, dass ich mich in Sie … Also nein, keine Sorge. Da wäre mir auch der Altersunterschied zu groß.
Das kleine Licht im Fenster leuchtete beharrlich in die dunkle Welt hinaus. Frau Maier blieb einen Augenblick am Gartentürchen stehen. Sie hatte vergessen, die Kerze auszupusten – also sollte sie nicht zu lange draußen bleiben. Eine Kerze durfte man niemals unbeaufsichtigt lassen, das hatte der Vater ihr schon früh eingeschärft. Seine Angst vor dem Feuer hatte sich über unsichtbare Kanäle irgendwie auf Frau Maier, die damals noch ein winziges Baby gewesen war, übertragen. „Im Krieg stand alles in Flammen. Alles“, hatte er ihr später oft erzählt. Frau Maier konnte sich weder an den Krieg noch an die Flucht mit ihrer Mutter erinnern. Aber an ein überwältigendes Gefühl von Furcht und Heimatlosigkeit, das sie in den Erzählungen ihres Vaters gespürt hatte, erinnerte sie sich noch ganz genau.
Das Haus war in der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen, obwohl außer der Kerze im Fenster auch noch das Licht in der Küche brannte. Frau Maier ließ immer ein Zimmer hell beleuchtet, wenn sie abends das Haus verließ, dann fühlte sich das Heimkommen weniger einsam an.
Vom Gartentor aus waren es nur wenige Schritte bis zur kleinen Böschung, die zum See hinabführte. Fast jeden Abend, bei fast jedem Wetter, zog es Frau Maier noch einmal hierher. Hierher ans Ufer des Sees, der jetzt in der Dunkelheit einem riesengroßen, tiefen, schwarzen Tintenfass ähnelte.
Ein kalter Abendwind trieb leichte Wellen vor sich her, sodass ein sanftes Rauschen die Stille unterbrach. Frau Maier atmete tief ein. Die Luft im Winter schmeckte eisig, ein wenig rau, ein wenig rauchig. Sie betrachtete die schwarze Weite und stellte sich vor, wie es wohl unter der Wasseroberfläche aussehen mochte – in dieser tiefen, stillen und heimlichen Welt. Die silbrigen Fische würden in Winterstarre stumm verharren, die Schlingpflanzen träge vor sich hindösen. Und dann, von irgendwoher, würden vielleicht helle Gestalten mit langen, fließenden Haaren durchs dunkle Wasser angeschwommen kommen, sich mit ihren Fischschwänzen durch die Algen schlängeln und mit ihren silbernen Haaren sanft an den Fischen vorbeistreifen …
Ein leises Tuten riss Frau Maier aus ihren Gedanken. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete die vielen glitzernden Punkte auf der anderen Seite des Sees. Sie wusste, dass das Tuten zum Dampfer gehörte, der die Inseln ansteuerte, aber sie konnte seine Scheinwerfer nicht ausmachen. Die anderen funkelnden Lichter überstrahlten zu dieser Jahreszeit alles: Auf einer der Inseln fand ein Christkindlmarkt statt, der Massen an Touristen und Städtern anzog und für lange Schlangen an den Dampferstegen sorgte. Die Lichterketten, die bis hierher sichtbar waren, schmückten die Buden und Stände, die Gehwege und Häuser – doch Frau Maier beeindruckte das kein bisschen. Sie mochte weder Menschenansammlungen noch Christkindlmärkte. Überhaupt stand sie mit der sentimentalen Stimmung rund um Weihnachten auf Kriegsfuß. Seit ihre Eltern nicht mehr lebten, hatte sie jedes Weihnachten allein verbracht und nie mehr einen Christbaum aufgestellt. Ihre Freundin Elfriede hatte sie letztes Jahr eingeladen, mit ihr und ihrer Schwester zu feiern – doch das Allerletzte, was Frau Maier wollte, war, aus Mitleid irgendwo als fünftes Rad am Wagen unter einem fremden Baum zu sitzen. Nein, sie wollte mit jemandem feiern, den sie liebte. Und der sie liebte.
Aber wer war das?
Die Kälte kroch durch die Maschen ihrer Strickjacke in ihren Körper. Sie schüttelte sich ein wenig und ging mit energischen Schritten, soweit das ihr schmerzendes linkes Knie zuließ, zurück ins Warme und machte sich ausnahmsweise einen Tee. Normalerweise trank Frau Maier immer nur Kaffee, aber Elfriede hatte ihr einen Adventstee mit Pflaume-Zimt-Geschmack vorbeigebracht und dazu noch einen selbst gemachten Adventskranz.
„Na gut“, brummte Frau Maier und betrachtete den Teebeutel ein wenig skeptisch. „Dann versuchen wir es mal mit der Weihnachtsstimmung.“
Die Kerze auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer war schon weit heruntergebrannt und ziemlich viel Wachs war auf den Untersetzer geflossen. Schnell pustete Frau Maier sie aus. „Keine Kerze unbeaufsichtigt lassen“, mahnte die Stimme ihres Vaters aus dem Halbdunkel des Raumes. Oder war das in ihrem Kopf? „Hast ja recht“, flüsterte Frau Maier zurück.
Plötzlich glaubte sie, eine Bewegung draußen im Garten wahrzunehmen. Sie stand still und trat noch näher an die Scheibe. Nichts zu sehen.
Frau Maier öffnete das Fenster und lehnte sich ein wenig hinaus in die Dunkelheit des Dezemberabends, der sich schon wie tiefste Nacht anfühlte. Da! Ein Rascheln, eindeutig. Es kam aus dem Garten, aus Richtung der Hecke. Sie spähte angestrengt dorthin, doch im Stockdunklen war absolut nichts zu erkennen.
Sie lauschte noch ein paar Sekunden, doch alles blieb still. Trotzdem spürte Frau Maier dieses Kribbeln im Nacken, das Gefahren eigentlich ziemlich verlässlich anzeigte. Auf ihren Armen breitete sich eine Gänsehaut aus.
„Kein Wunder, bei der Kälte“, murmelte sie und zog rasch den Kopf zurück, um das Fenster zu schließen. Doch in diesem Moment schnellte etwas aus der Dunkelheit nach oben. Nach oben zum Fenster, nach oben zu ihr. Frau Maier erschrak fast zu Tode und stolperte ein Stück zurück, da erkannte sie zwei grüne Augen, die sie anfunkelten. Die Katze nahm nonchalant auf dem Fensterbrett Platz und leckte sich die weiße Vorderpfote, die an ihrem ansonsten schwarzen Körper wie ein weißer Strumpf aussah.
„Ja, spinnst du jetzt völlig?“, schimpfte Frau Maier. „Was ist denn in dich gefahren, dich so im Dunkeln anzuschleichen? Das machst du doch sonst nie!“ Die Katze hob den Kopf und bedachte Frau Maier mit einem weiteren eindringlichen, aber ungerührten Blick. Du denkst, du kennst mich. Träum weiter, las Frau Maier darin. Genauso gut konnte der Blick allerdings auch heißen: Ich hoffe, du hast wieder einen Vorrat meines Lieblingsfutters eingekauft.
Bei Katzen konnte man nie wissen.
Der Wind trägt Kirchenglocken durch den Ort
Den Duft von Schnee, von Wald, von Träumen
Die Lichter glänzen an den Bäumen
Und mancher wartet auf ein leises Wort
Frau Maier lag auf dem Sofa und betrachtete die heruntergebrannte Kerze auf dem Fensterbrett. Wieso dachte sie plötzlich an dieses Gedicht, das ihr Vater so oft zur Weihnachtszeit aufgesagt hatte? Wehmütig und nachdenklich hatte er dabei oft geklungen, deshalb hatte Frau Maier das Gedicht als Kind nicht gemocht. Kein Kind will, dass die Eltern wehmütig sind. Und doch waren die Zeilen jetzt auf einmal in ihrem Kopf. Wie ging es weiter?
Ein Wort der Hoffnung, Trost und Liebe …
Wer würde dieses Wort an Weihnachten wohl zu ihr sagen? Das Wort der Hoffnung, der Liebe?
Auf ihrem Bauch schnurrte die Katze und fühlte sich an wie ein Wärmekissen mit Vibrationsfunktion. Aus müden, schweren Augen blinzelte sie Frau Maier zu. „Ja“, murmelte Frau Maier und kraulte die Katze sanft hinter dem Ohr. „Du wirst für mich das Wort der Liebe maunzen, ich weiß.“
Woher kam die lästige Träne in ihrem Augenwinkel? Frau Maier wischte sie energisch weg. Es musste an dieser kitschigen Vorweihnachtszeit liegen, dass sie so sentimental wurde.
Ein Klingeln ließ die Katze empört hochfahren. Sie legte die Ohren an und sträubte das Fell. Frau Maier brauchte einen kleinen Moment, bis sie begriff, dass das Geräusch von ihrem Handy kam. Es war für sie nach einem ganzen Leben ohne Telefon immer noch ungewohnt, dass sie plötzlich eines hatte. Und dass auch noch jemand anrief! Sie setzte sich etwas mühsam auf und griff nach dem Smartphone, das auf dem Beistelltisch lag.
Wolfgang Woitschak ruft an verkündete das Display. Sie runzelte die Stirn. Sie hatte Wolfgang Woitschak – oder Woitschi, wie er sich selbst nannte – vor Kurzem in einem Wellnesshotel in Österreich kennengelernt. Elfriede bezeichnete ihn seitdem als Frau Maiers Kurschatten, was diese sehr erboste. Ihre Dementis stachelten Elfriede allerdings erst recht an, noch mehr Kurschatten-Witze zu reißen. Tatsächlich hatte Woitschi Frau Maier durchaus das eine oder andere Kompliment gemacht und ihr immer wieder Nachrichten geschrieben. Aber das hatte Frau Maier ihrer Freundin selbstverständlich verschwiegen.
„Hallo?“, meldete sie sich ein wenig unsicher. Hoffentlich machte der ihr jetzt kein Liebesgeständnis am Telefon oder sonst irgendetwas in dieser Richtung.
„Küss die Hand, gnädige Frau“, ertönte Wolfgang Woitschaks Wienerisch aus dem Telefon. Frau Maier lächelte wider Willen. Diese höflichen Umgangsformen gefielen ihr schon sehr gut, das musste sie zugeben. Allerdings verging ihr das Lächeln bei den nächsten Worten sofort wieder.
„Kann ich, äh, darf ich, also – könnte ich bei Ihnen vorbeikommen?“, stammelte Wolfgang Woitschak verlegen. Frau Maier hörte, dass in seiner Stimme noch etwas anderes als Verlegenheit mitschwang. Angst? Aufregung? Sorge? Sie konnte es nicht genau benennen. Weil sie schwieg, ergänzte er: „Ich brauche Ihre Hilfe. Es geht um die Renate.“ Frau Maier verdrehte die Augen. Na bravo. Jetzt wollte der plötzlich Beziehungstipps von ihr! „Also in Beziehungsfragen bin ich wirklich nicht die Richtige …“, begann sie, doch Woitschi fiel ihr ins Wort: „Nein, nein, es geht nicht um Beziehungsprobleme. Es geht um etwas, womit Sie sich außerordentlich gut auskennen, verehrte Frau Maier.“
Er senkte seine Stimme, als hätte er Angst, jemand könne ihn belauschen und flüsterte. „Es geht um ein Verbrechen.“
Mit diesem Wort hatte er sofort ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit – wie er sehr wohl wusste. Sie hielt die Luft an und hoffte, er würde noch mehr dazu sagen, doch sie hörte nur ein sanftes Rauschen im Hintergrund. Moment mal, das klang ja genauso wie … Frau Maier horchte genauer hin. Das klang wie … „Wo sind Sie?“, fragte sie scharf.
„Ich stehe in Kauzing auf dem Parkplatz am Dampfersteg. Direkt am See.“
Sie ließ sich in die Sofakissen sinken und schloss die Augen. Er ist in Kauzing! Bis jetzt hatte sie ihn in sicherer Entfernung in Wien vermutet.
„Frau Maier, ich komme jetzt zu Ihnen. Wir haben einen Fall“, verkündete Wolfgang Woitschak in dem für ihn typischen, ein wenig wichtigtuerischen Tonfall.
„Nein, ich bin nicht auf Besuch eingestellt und habe noch zu tun“, protestierte Frau Maier, aber es kam keine Antwort.
Wolfgang Woitschak hatte aufgelegt. Und das bedeutete: Er würde in fünf, maximal zehn Minuten hier aufschlagen.
Einen Moment lang blieb Frau Maier einfach liegen. Wir haben einen Fall. Also, der hatte wirklich Nerven! Nur, weil sie ihm im Wellnesshotel bei einem Auftrag geholfen – und, wenn man ehrlich war, einen Fall für ihn gelöst hatte – war sie doch noch lange nicht seine neue Assistentin. Er war doch der feine Herr Privatdetektiv! Er hatte doch die ganze Expertise, wie er so gerne betonte.
Darüber hätte sie noch hinwegsehen können, immerhin war sie viel zu neugierig, um nicht erfahren zu wollen, um welches Verbrechen es ging und was die geheimnisvolle Renate damit zu tun hatte. Worüber sie aber nicht hinwegsehen konnte, war die Tatsache, dass er sie hier in ihrem Haus so einfach überfiel.
Jeglicher Besuch stresste Frau Maier, aber spontaner Besuch war am schlimmsten. Nicht umsonst wohnte sie hier so einsam, im Wäldchen am See, außerhalb des Dorfes. Sie wollte ihre Ruhe, wollte in ihrem Reich allein sein und wollte ganz bestimmt nicht, dass irgendwelche Leute so viel Persönliches von ihr wussten. Und eine Wohnung oder ein Haus, das war sehr persönlich! Wenn Frau Maier bei jemandem zu Besuch war, dann konnte sie danach anhand der Einrichtung und Dekoration ein genaues Psychogramm des Bewohners oder der Bewohnerin erstellen. Und sie wollte keinesfalls, dass das jemand bei ihr tat.
„Na bravo“, knurrte sie, schob die verdutzte Katze beiseite und stand vom Sofa auf. Wie eine Furie wirbelte sie in den nächsten Minuten durchs Haus, doch die meiste Zeit davon rannte sie ziel- und planlos hin und her. Bei ihr sah es sowieso immer ordentlich aus, sie musste gar nicht aufräumen. Und sie konnte wohl schlecht noch schnell alle persönlichen Gegenstände verstecken. Oder?
Sie sah sich im Wohnzimmer um. Das Foto ihrer Eltern. Elvis im verschnörkelten Bilderrahmen. Die LP-Sammlung beim Plattenspieler. Der Polen-Bildband neben dem Sofa. Das Hochzeitsgeschirr ihrer Mutter in der Vitrine. Ihr Teddybär, der die Flucht mit ihr überlebt hatte und jetzt auf ihrem Sessel wohnte. Sollte sie das alles schnell in eine Kiste packen?
Sie seufzte. Nein, dafür blieb keine Zeit. Also legte sie die karierte Wolldecke zusammen, schüttelte die Sofakissen auf, räumte die Winterstiefel weg und trug das Tablett mit dem Adventstee in die Küche. Sie sah sich prüfend um. Vom Zustand der Zimmer her sprach nichts gegen einen Spontanbesuch. Anders sah es bei ihr selbst aus. Sie stellte sich vor den Spiegel an der Garderobe. In ihrer Schlabberhose, der Strickjacke und mit den verwuschelten Locken sah sie nicht ganz so aus, wie sie gerne ausgesehen hätte. Sie setzte an, nach oben zu rennen, um sich umzuziehen, doch auf der dritten Stufe blieb sie stehen.
Nein, was sollte das überhaupt? Sie musste sich nicht schick machen. Weder für Wolfgang Woitschak, noch für sonst irgendjemanden. Das hier war ihr Haus und sie konnte darin herumlaufen, wie sie wollte. Gestärkt von diesem Gedanken öffnete sie schwungvoll die Tür, als es klingelte.
Woitschi riss sich die Cordkappe vom Kopf und deutete einen Diener an. „Frau Maier, Sie sehen wie immer bezaubernd aus“, sagte er.
Jetzt musste Frau Maier lachen und ein kleiner Teil ihres Ärgers über die spontane Störung verflog. „Sie lügen wirklich schlecht“, erwiderte sie, trat zur Seite und ließ ihren Gast herein.
Wenig später saß der Spontanbesuch aus Wien in Frau Maiers Küche und trank Wein, während sie eine Lachslasagne vorbereitete. Die Zutaten hatte sie eigentlich gekauft, weil sie in der kommenden Woche Dr. Frank Schön bekochen wollte. Sie hatte den jungen Psychologen vor einigen Jahren kennengelernt, als sie unten am See über eine Leiche gestolpert war. Seitdem besuchte er sie regelmäßig und sie hatten ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut. Und sein Lieblingsessen war Frau Maiers Lachslasagne. „Ich komme natürlich hauptsächlich wegen Ihnen. Aber schon auch wegen der Lachslasagne“, hatte er ihr beim letzten Besuch mit einem Augenzwinkern gestanden. Jetzt würde Woitschi in den Genuss dieses Essens kommen, schließlich musste sie Gäste, egal ob gebeten oder ungebeten, stets ordentlich bewirten. So, wie sie es gelernt hatte. Ihre Mutter würde sonst im Grab rotieren.
„Jetzt sagen Sie mir endlich, welches Verbrechen Sie vorhin am Telefon gemeint haben“, drängte Frau Maier, während sie die Béchamelsoße anrührte.
Der Woitschi zuckte zusammen und blickte sich um. Was glaubte der denn? Dass sich irgendwelche Spione in ihrem Küchenschrank versteckt hielten?
„Es geht um die Renate. Sie ist weg.“
Frau Maier probierte die Soße. Perfekt. Sie fing an, die Lasagne in die Auflaufform zu schichten. „Weg? Was meinen Sie damit?“
„Na ja, ich erreiche sie nicht, sie meldet sich nicht, ihr Handy ist ausgeschaltet.“
Frau Maier seufzte innerlich, ließ sich aber nichts anmerken. Das klang in ihren Ohren auf jeden Fall nach Beziehungsstress und nicht nach einem Verbrechen.
„Und ich nehme an, Sie haben schon versucht, sie zu Hause anzutreffen. Einfach mal bei ihr zu klingeln?“, fragte sie vorsichtig. „Nach einem Streit kann es ja sein, dass man sich zurückzieht und wartet, dass der Partner … also ich nehme an, Sie haben gestritten?“ Frau Maier wurde ein wenig rot, weil ihr solche Beziehungsgespräche wirklich unangenehm waren, und verteilte höchst konzentriert den Käse auf der obersten Schicht.
Woitschi schwieg einen Moment lang. „Nein, nein wir haben uns nicht gestritten“, beteuerte er dann. „Die Renate ist meine Cousine und wir stehen uns sehr nahe. Wir haben beide keine Geschwister und sind seit unserer Kindheit unzertrennlich. Und wir haben auch beide keine eigenen Kinder, das hat uns irgendwie noch mehr zusammengeschweißt. Wenn die anderen mit ihren Familien in den Urlaub gefahren sind oder gemeinsam Weihnachten gefeiert haben, dann hatten wir uns immer gegenseitig.“ Frau Maier schluckte. Dieses Gefühl kannte sie nur zu gut und sie konnte sich plötzlich genau vorstellen, wie wichtig diese Frau für Wolfgang Woitschak war. Er wischte auf seinem Handy herum und hielt ihr ein Foto hin. „Meine kleine Cousine. Das war letztes Jahr, an ihrem 60. Geburtstag.“
Frau Maier ging zum Tisch und betrachtete das Bild. Sie mochte die Frau darauf auf Anhieb, denn sie lachte so fröhlich, dass man mitlachen wollte. Ihre Augen blitzten und die vielen Lachfalten schienen ein Hinweis darauf zu sein, dass sie wohl nicht nur für Fotos ein freundliches Gesicht machte. Sie trug eine schwarze, nietenbesetzte Lederjacke und hielt ein randvolles Sektglas in die Höhe. „Sie ist nur drei Jahre jünger als ich, aber in der Kindheit kam uns der Altersunterschied riesig vor“, sagte Woitschi. „Jetzt spielen die drei Jahre natürlich keine Rolle mehr.“
Wenn du dich da mal nicht täuschst, dachte Frau Maier. Vor drei Jahren hat mein Knie noch nicht bei jedem Schritt gezwickt. Aber sie sagte nichts. Das würde er dann in ihrem Alter schon noch selbst merken.
Woitschi betrachtete das Foto seiner Cousine mit einem liebevollen Lächeln und seufzte. „Und weil Sie gefragt haben, ob ich versucht habe, die Renate zu Hause anzutreffen: Das geht ja eben nicht, weil sie gar nicht in Wien ist.“
Frau Maier stellte die Form mit der fertig geschichteten Lasagne in den Backofen und setzte sich zu Woitschi an den Tisch. „Ja, wo ist sie denn?“, hakte sie ein wenig ungeduldig nach. Sie konnte es nicht leiden, wenn man Leuten alles aus der Nase ziehen musste.
„Hier am See. Auf der Insel. Sie hat einen Stand auf dem Christkindlmarkt. Und deshalb bin ich hier.“
Bitte … bitte hören Sie ganz kurz auf zu reden. Ich muss zur Ruhe kommen und das kann ich nicht, wenn Sie ständig über dieses Oslo-Syndrom reden. Und über Ihr Motorrad und Ihre Plätzchen und alles andere … Ich muss mich auf meinen Auftrag konzentrieren, verstehen Sie? Es ist einfach so: Sie oder ich. Wenn ich es nicht bald hinkriege, Sie … Also wenn ich es nicht schaffe, Sie zum Schweigen zu bringen, dann bin ich dran. Verstehen Sie? Ich weiß nicht, was ich machen soll.
In dieser Nacht schlief Frau Maier sehr schlecht. Der Gedanke daran, dass unter ihr im Wohnzimmer ein Gast – noch dazu ein beinahe fremder Mann – schlief, verunsicherte sie so sehr, dass sie sich ständig unruhig hin und her wälzte. Außerdem gingen ihr pausenlos und wild durcheinander die Gespräche des vorangegangenen Abends durch den Kopf. Die Renate verkauft schon seit Jahren auf verschiedenen Weihnachtsmärkten mit großem Erfolg ihr österreichisches Gebäck, hatte Woitschi erzählt. Wiener Busserl. Linzer Stangerl. Rahmzipferl.
Frau Maier wälzte sich auf den Bauch und versuchte, eine entspannte Position zu finden, aber sie fand keine Stellung, in der ihr Nacken nicht schmerzte.
Sie war so glücklich, dass sie dieses Jahr einen Stand auf der Insel ergattert hat, dort wollte sie schon lange hin.
Irgendwie tickte der Wecker auf dem Nachtschränkchen heute unangenehm laut. Sollte sie ihn in die Schublade verbannen? Frau Maier fing an, Schäfchen zu zählen, doch bereits beim fünften Schaf schweiften ihre Gedanken wieder ab.
Sie ist gut angekommen, alles ist problemlos gelaufen, sie hat die ersten Tage super verkauft – und dann plötzlich: Schweigen. Nichts mehr. Handy aus.
Die Stimme des Detektivs hatte an dieser Stelle leicht gezittert und Frau Maier hatte wirklich Angst gehabt, dass er anfangen könnte, zu weinen. Sie hatte ihm schnell Wein nachgeschenkt und die Schachtel mit den selbst gemachten Schnaps-Pralinen aus dem Schrank geholt.
Frau Maier strampelte die Bettdecke weg. Sie schwitzte. Mit weit geöffneten Augen starrte sie an die Zimmerdecke.
Das geht nicht mit rechten Dingen zu, das spüre ich. Ich habe da als erfahrener Detektiv einen ziemlich guten Riecher, wissen Sie.
Pah! Der gute Riecher vom Woitschi war garantiert nichts gegen ihren Instinkt für Gefahr und gegen ihre Art, mit allen Sinnen die Hinweise auf ein Verbrechen wahrzunehmen. Und in diesem Moment sagte ihr das Kribbeln auf den Armen, dass Wolfgang Woitschak mit seiner Vermutung wohl leider richtig lag.
Von draußen drangen ein Knacken und Rascheln an ihr Ohr. Frau Maier setzte sich im Bett auf. Bestimmt die Katze. Vielleicht ein anderes Tier. Oder?
Sie stand auf und trat ans Fenster. Draußen herrschte absolut undurchdringliche Finsternis. Obwohl ihr gerade so heiß gewesen war, fror Frau Maier jetzt so sehr, dass sie zitterte. Schnell kroch sie wieder ins Bett und unter die warme Decke.
Wir fahren auf die Insel. Morgen früh gleich.
Der Woitschi hatte gar keine Antwort abgewartet. Für ihn war es eine beschlossene Sache, dass sie mitkam. Er wusste leider, dass sie viel zu neugierig war, um sich das entgehen zu lassen. Er kannte sie eben doch schon ein bisschen. Sie hob die Decke an, um mehr Luft zum Atmen zu haben.
Apropos kennen. Am Ende war das Gespräch plötzlich noch sehr unangenehm geworden. Weiß eigentlich niemand Ihren Vornamen?, hatte der Woitschi unvermittelt gefragt und sie aus seinen lebhaften Augen hinter der runden Brille aufmerksam betrachtet. Doch, natürlich, hatte sie geantwortet. Meine Freundin Elfriede zum Beispiel. Die arbeitet schließlich bei der Sparkasse und hat mein Konto eingerichtet. Dafür braucht sie ja meinen Vornamen.
Der Woitschi hatte geschwiegen und eine Weile lang nachdenklich seinen Schnurrbart gezwirbelt. Habe ich das richtig verstanden? Ihre Freundin weiß Ihren Vornamen nur wegen einer Kontoeröffnung – aber zu Ihnen sagt sie nach wie vor Frau Maier? Ihr war heiß geworden und sie hatte sich geärgert, dass sie sich plötzlich so dumm vorkam …
Frau Maier setzte sich im Bett auf, schüttelte ihr Kopfkissen und versetzte ihm einen groben Schlag mit der Handkante. „So ein Depp“, murmelte sie. „Nur, weil er die Lachslasagne vom Frank bekommen hat, muss er doch nicht selbst gleich wie ein Psychologe daherreden.“ Sie ließ sich zurück aufs Kissen fallen. Irgendwann schlief sie ein, aber sie träumte unruhig von Sparkonten, Adventskränzen und Wiener Busserln. Zum Glück wusste sie nicht, dass der Morgen noch viel unangenehmer werden würde als der vorangegangene Abend.
Als es hell wurde, stand Frau Maier auf und lauschte von der Tür ihres Schlafzimmers aus aufmerksam in ihr Haus hinein. Von unten drang sanftes Schnarchen zu ihr herauf. Wunderbar. Also bestand wenigstens keine Gefahr, dass sie dem Woitschi im Nachthemd begegnen würde, sobald sie den sicheren Hafen ihres Schlafzimmers verließ. Schnell schlich sie ins Bad und machte sich in Blitzgeschwindigkeit fertig. Man konnte ihr Badezimmer nicht absperren (wozu auch?) und sie war sehr nervös, als sie sich das Nachthemd über den Kopf zog. Doch alles blieb ruhig. Erst, als sie vollständig bekleidet in der Küche stand, der Kaffee bereits durch die Maschine gelaufen und der Frühstückstisch gedeckt war, erschien Woitschi mit kleinen, verschlafenen Augen und in einem gestreiften Satinpyjama. Kein bisschen verlegen setzte er sich an den Tisch und ließ sich einen Kaffee von Frau Maier einschenken.
Und genau in diesem Moment klingelte es. Sie hätte fast den Kaffee verschüttet, so erstaunt war sie. Wer wollte denn jetzt am Morgen schon etwas von ihr, die Post kam doch viel später? Sie öffnete die Tür – und hatte erst eine Papiertüte und dann Andreas’ lächelndes Gesicht vor sich. Wie immer, wenn sie seine blauen Augen sah, schlug ihr Herz schneller. Andreas Hofer war seit dem Karli wirklich der erste und einzige Mann, der so etwas in ihr auslöste und …
„Ich gehe mal schnell ins Bad“, ertönte eine sonore Stimme in diesem Moment hinter ihr, und Andreas wurde blass.
„Du hast Besuch?“, fragte er nach einem Moment der Stille.
„Ja, ein Bekannter aus dem Urlaub …“, begann Frau Maier, aber Andreas unterbrach sie sofort. „Ein Bekannter, der dich hier besucht und bei dir übernachtet? Noch nicht einmal ich durfte jemals bei dir übernachten, und dabei dachte ich, dass wir beide … also du und ich, wir sind doch …“
Er brach ab und drehte sich um. Noch bevor Frau Maier irgendetwas einfiel, was sie hätte sagen können, hatte er bereits den Garten mit großen Schritten durchquert, das Gartentor hinter sich zugeschmissen und war verschwunden.
Frau Maier stand einen Augenblick lang einfach nur reglos da und starrte auf die Papiertüte, die sie automatisch entgegengenommen hatte. Sie schaute hinein: zwei Käsestangen von ihrem Lieblingsbäcker. Langsam ging sie zurück in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
War das gerade wirklich passiert? Ein Eifersuchtsdrama in ihrem Haus, in ihrem Leben? „Es ist eben nie zu spät. Für nichts“, murmelte sie und trank einen Schluck Kaffee. Er war kalt und schmeckte bitter.
In diesem Augenblick steckte Woitschi seinen Kopf in die Küche: „Dieser Herr duzt Sie, das ist schon einmal sehr interessant“, verkündete er und die frisch gezwirbelten Enden seines Schnurrbartes zitterten ein wenig.
Frau Maier beschloss, darauf einfach nichts zu antworten.
Auf dem Weg zum Dampfersteg schwieg Frau Maier beharrlich und ließ den Privatdetektiv reden. Er zog beschwingt seinen Rollkoffer hinter sich her und kommentierte die Landschaft, lobte den See und die Berge in den höchsten Tönen und war insgesamt blendender Laune. Offenbar überwog der Tatendrang gerade die Sorge um seine Cousine.
Frau Maier hingegen war noch zu verdattert über das, was sich gerade in ihrem Haus abgespielt hatte, und außerdem hatte sie wegen ihrer schlaflosen Nacht insgesamt schlechte Laune. Erst, als sie auf dem Dampfer unter Deck im Fahrgastraum saßen und der Woitschi ihr einen Kaffee vor die Nase stellte, kam sie wieder ein wenig zu sich.
„Folgendes“, sagte der Privatdetektiv und machte ein besonders wichtiges Gesicht. „Ich schaue mich in der Unterkunft von meiner Cousine um. Und Sie nehmen ihren Stand auf dem Christkindlmarkt unter die Lupe.“
Frau Maier hätte sich fast am Kaffee verschluckt. „Wie bitte?“
„Na selbstverständlich, ich weiß doch, wie gut Sie darin sind, Spuren zu entdecken“, bekräftigte Woitschi und bemühte sich, nicht gönnerhaft zu klingen – was ihm leider nicht ganz glückte. „Und wir müssen uns die Arbeit aufteilen, dann kommen wir schneller vorwärts.“
So, so, dachte Frau Maier, aufteilen, aber sie sagte nichts, sondern trank noch einen Schluck Kaffee und schaute aus dem Fenster, wo graue Wellen am Dampfer vorbeischwappten.
„Gestern war ich schon im Büro des Veranstalters und habe mir die Schlüssel für den Stand von der Renate geholt“, teilte Woitschi ihr beiläufig mit. „Ich habe ihm gesagt, dass ich übernehme.“
„Dass Sie übernehmen? Was denn?“ Frau Maier starrte ihn verständnislos an.
„Na, den Stand natürlich, was denn sonst?“ Woitschi lächelte milde und fügte freundlicherweise noch einige erklärende Worte hinzu: „Ich habe gesagt, dass meine Cousine unpässlich ist und zurück nach Wien musste. Und dass ich bereits erfahren bin im Umgang mit … äh … Christkindlmärkten.“
Im Umgang mit Zipferln und Busserln, dachte Frau Maier, aber sie schwieg wieder. Sie wusste, dass ihr Schweigen beim Woitschi unweigerlich einen noch größeren Redefluss provozieren würde, und genau so war es.