Frau Maier wirbelt Staub auf - Jessica Kremser - E-Book

Frau Maier wirbelt Staub auf E-Book

Jessica Kremser

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Beschreibung

In ein paar Tagen hat Frau Maier Geburtstag. Jetzt, da sie endlich Freunde hat, ein Grund zum Feiern. Doch dann findet sie auf einem Parkplatz die Leiche eines angesehenen Bürgers des Dorfes und die Lust aufs Feiern vergeht ihr. Eigentlich wollte Frau Maier sich ja aus Kriminal­fällen heraushalten - wenn da nur nicht ihr untrügliches Gespür wäre. War es der fremde Mann, der sich neuerdings im Dorf aufhält und von dem keiner weiß, wer er ist? Oder liegt das Motiv in der Vergangenheit des Opfers? Als ein zweiter Mord passiert, muss Frau Maier unbedingt weiter ermitteln und gerät in große Gefahr.

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Jessica Kremser · Frau Maier wirbelt Staub auf

 

Jessica Kremser wurde in Traunstein geboren und wuchs am Chiemsee auf. Zum Studium der englischen und italienischen Literatur und der Theaterwissenschaften zog es sie nach München, wo sie heute als Redakteurin für verschiedene Zeitschriften schreibt.

Von Jessica Kremser bereits erschienen:

Frau Maier fischt im Trüben (2012)

Frau Maier hört das Gras wachsen (2013)

Frau Maier sieht Gespenster (2015)

Jessica Kremser

Frau Maierwirbelt Staub auf

Für Väter und Söhne –für Papa und meine Söhne

Mit Dank an Bernd für die Nachhilfe in Geschichte.Und an die tollen Menschen bei den Seepferdchenfür den freien Kopf zum Schreiben.

Erstes KapitelMittwoch

 

I

„Alles voller Staub“, murmelte Frau Maier und strich mit dem Finger über die dicke Schicht auf der obersten Schachtel. Sie hob den Deckel an und nieste. Vorsichtig schlug sie das Tuch in der Schachtel zurück.

Da war es. Das alte Kaffeeservice ihrer Mutter. Unser Hochzeitsservice, hatte sie es genannt, und ihre Stimme hatte traurig geklungen. Als kleines Mädchen hatte Frau Maier nie verstanden, warum. Eine Hochzeit war doch etwas Schönes. Und das Kaffeeservice war auch schön. Weiß mit roten Blumen. Da gab es keinen Grund, traurig zu sein.

Alles handbemalt. Frau Maier hatte damals versucht sich vorzustellen, wer die beiden Tassen und die Untertasse, die vom Service noch übrig waren, wohl mit der Hand verziert hatte. Sie hatte sich einen alten Mann mit dicker Brille und langen Fingern vorgestellt. Dem einzigen Teller, der den Transport überlebt hatte, fehlte eine Ecke, aber er wirkte trotzdem noch sehr elegant.

Einmal hatte sie sich eine Tasse genommen und Kakao daraus getrunken. Da war ihre Mutter sehr böse geworden. Sie hatte den Kakao in den Ausguss geschüttet und Frau Maier aus der Küche geschickt.

Frau Maier, die damals noch nicht Frau Maier, sondern ein kleines Mädchen war, hatte lange geweint. Weil sie nicht verstand, was sie falsch gemacht hatte.

Und wegen des guten Kakaos, der einfach im Abfluss verschwunden war.

II

Es war Herbst, aber es war kein goldener Herbst. Die Blätter hatten sich zwar in prächtigen Gelbund Rottönen verfärbt, aber seit Tagen schon war es so düster, dass man die strahlenden Farben kaum wahrnahm. Es wehte ein kräftiger Wind, der Himmel war dunkel verhangen und immer wieder peitschten heftige Regenschauer über den See. Das Wasser war grau.

Es war ungewöhnlich kalt und Frau Maier fror, als sie sich auf den Weg ins Dorf machte. Sie schlug den Mantelkragen hoch. Aber es half nichts.

Sie hatte einen Termin mit Elfriede. Elfriede Gruber leitete die Filiale der Sparkasse in Kauzing, aber sie war in den letzten Jahren auch eine gute Bekannte geworden. Und sie hatte Frau Maier überredet, ein Sparkonto anzulegen. Darüber wollte sie jetzt anscheinend mit ihr sprechen. Obwohl ich nicht weiß, was es da zu besprechen gibt, dachte Frau Maier. Bei den paar Kröten, die auf meinem Konto liegen.

Auf dem kleinen Parkplatz direkt hinter dem Wäldchen, in dem Frau Maiers Haus sich befand, stand nur ein einziges Auto. Kein Wunder, bei diesem Wetter hatte niemand Lust auf Spaziergänge.

Elfriedes Büro war angenehm warm und eine dampfende Tasse stand schon bereit. Mit einem dankbaren Seufzer ließ sich Frau Maier in den Besucherstuhl sinken. „Ich würde Sie niemals hierherbitten, ohne einen Kaffee fertig zu haben“, sagte Elfriede lächelnd.

Obwohl die beiden Frauen sich in den letzten Jahren immer besser kennengelernt hatten, waren sie immer noch per Sie. Elfriede wartete darauf, dass Frau Maier ihr das Du anbot, denn sie war schließlich die Ältere. Und Frau Maier wartete darauf, dass Elfriede es ihr anbot, denn sie hatte keine Ahnung, wie man so etwas machte.

Frau Maier trank einen Schluck. „Gibt es ein Problem mit meinem Konto?“, fragte sie dann.

„Ein Problem?“, fragte Elfriede erstaunt. „Nein, überhaupt nicht. Warum denn?“

„Na ja, Sie haben mir doch geschrieben, dass wir uns deswegen zusammensetzen sollten.“

„Geschrieben habe ich, weil Sie noch immer kein Telefon haben.“ Elfriede sagte das in einem übertrieben vorwurfsvollen Ton, der spaßhaft klingen sollte, aber es war durchaus ein Funken Ernsthaftigkeit dabei. Sowohl sie als auch Dr. Frank Schön, der Psychologe, mit dem Frau Maier sich angefreundet hatte, drängten sie immer wieder, sich endlich ein Telefon installieren zu lassen. Und Frau Maier gingen allmählich die Argumente aus. „Ich brauche kein Telefon, mich ruft sowieso niemand an“ – das war immer ihr Standardsatz gewesen. Aber der stimmte nun nicht mehr. Denn offenbar gab es inzwischen schon zwei Menschen, die sie gerne anrufen wollten.

Elfriede räusperte sich. „Aber darum geht es ja heute nicht. Sondern um das Konto. Allerdings nicht, weil es ein Problem gibt. Das ist ein ganz normales Beratungsgespräch.“ Und sie begann, etwas über Zinsen, Kontoführungsgebühren und Laufzeiten zu erzählen. Frau Maier wollte wirklich zuhören und mitdenken, aber sie schaffte es nicht. Sie kannte sich mit Geld nicht aus, sie hatte eigentlich auch nie welches gehabt. Vom Erbe ihrer Eltern hatte sie das kleine Haus am See gekauft. Es bestand aus einem Wohnzimmer und einer Küche im Erdgeschoss, einem Schlafzimmer und einem Badezimmer im ersten Stock und dem winzigen, vollgestopften Dachboden, den Frau Maier gerade zu entrümpeln versuchte. In dieses Haus war jeder Pfennig geflossen, den sie jemals besessen hatte.

Am Ende des Gespräches stimmte Frau Maier allem zu, was Elfriede vorschlug, unterschrieb auf zwei Dokumenten und trank den letzten Schluck Kaffee. Er war inzwischen nur noch lauwarm.

„Ach, Frau Maier, Sie haben ja in zehn Tagen Geburtstag“, sagte Elfriede da plötzlich. Frau Maier erschrak. Sie war es nicht gewohnt, dass irgendjemand etwas Privates über sie wusste. Und an ihren Geburtstag hatte niemand mehr gedacht, seit ihre Eltern tot waren. Abgesehen vom Karli, aber das war etwas anderes.

„Woher wissen Sie das?“

„Es steht in meinen Unterlagen. Als Sie das Konto eröffnet haben, haben Sie Ihre Personalien angegeben.“ Elfriede sah Frau Maier aufmerksam an. „Was ist denn los? Habe ich etwas Falsches gesagt?“

Frau Maier schüttelte den Kopf und lächelte Elfriede an. Die lächelte zurück und fragte: „Also, wie feiern wir?“

„Feiern?“ Frau Maier wurde immer unsicherer. Sie hatte ihren Geburtstag seit Jahrzehnten nicht gefeiert. Einige Male im Laufe der Jahre hatte der Karli ihr versprochen, mit einer Flasche Sekt vorbeizukommen. Und jedes Mal war er nicht aufgetaucht. Weil er arbeiten musste. Oder weil die Maria sich schlecht gefühlt hatte.

„Da gibt es doch nichts zu feiern!“ Sie winkte lächelnd ab und hoffte, dass Elfriede die Sache damit auf sich beruhen lassen würde. Das Gegenteil war der Fall.

„Jeder Geburtstag ist ein Grund zu feiern. Sollen wir zum Griechen fahren? Sie waren doch schon einmal dabei und es hat Ihnen geschmeckt. Ich könnte noch die Helga und die Barbara einladen, mit denen verstehen Sie sich doch gut. Oder Doktor Schön?“ Elfriede sah sie erwartungsvoll an.

„Ja, vielleicht, mal sehen. Vielleicht mache ich auch eine kleine Feier zu Hause.“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, verfluchte sie sich selbst innerlich. Sie hatte das nur gesagt, um Elfriede vom Griechen abzulenken und um sie davon abzuhalten, weitere Pläne zu schmieden. Aber sie sah an Elfriedes begeistertem Gesichtsausdruck, dass sie einen Fehler gemacht hatte. „Was für eine herrliche Idee! Bei Ihnen ist es ja so gemütlich. Ich helfe Ihnen beim Vorbereiten. Sie überlegen schon einmal, wen Sie einladen wollen. Und ich komme nächste Woche für die genauere Planung vorbei.“

„Die Geister, die ich rief“, murmelte Frau Maier, als sie sich warm eingepackt wieder auf den Heimweg am See entlang machte. Irgendwie musste sie Elfriede bremsen. Aber da würde ihr bis zur nächsten Woche schon etwas einfallen. Im Moment musste Sie sich erst einmal darauf konzentrieren, nicht weiter darüber nachzudenken, warum ihr der Gedanke an eine Geburtstagsfeier eigentlich so unangenehm war.

III

Der Wind wirbelte die Blätter über den Parkplatz und ließ den See unter unruhigen Kräuselwellen zittern. Frau Maier senkte den Kopf und stemmte sich gegen eine kräftige Böe, die ihr entgegenwehte. Wo war eigentlich ihre warme Strickmütze? Sie konnte die Mütze nicht leiden, weil sie alle Locken plattdrückte und Frau Maier fand, dass das sehr unvorteilhaft aussah. Aber wenn der Ostwind über den See fegte, konnte man auf solche Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen.

Aus dem Augenwinkel registrierte sie, dass auf dem Parkplatz immer noch dasselbe Auto stand wie zuvor. Sie warf einen Blick auf das Nummernschild. Ein einheimisches Kennzeichen. Um diese Jahreszeit waren die meisten Touristen schon wieder abgereist. Sie wollte weitergehen, doch dann stutzte sie. Da saß ja jemand hinter dem Steuer! Das war ihr auf dem Hinweg gar nicht aufgefallen, weil sie das Auto nicht richtig angeschaut hatte. Oder hatte vorher noch niemand dort gesessen? Die Person hatte jetzt jedenfalls den Kopf auf das Steuer gelegt und machte offensichtlich ein Nickerchen. „Auch nicht verkehrt, bei dem Wetter“, murmelte Frau Maier und vergrub ihre eisigen Hände noch tiefer in ihren Manteltaschen.

Sie war froh, als sie ihr Haus erreicht und die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Jetzt schnell einen heißen Kaffee“, sagte sie zur Katze, die wie ein geölter Blitz mit ihr durch die offene Haustür gewischt war.

Die Katze gab keine Antwort. Sie war ein wenig beleidigt, weil sie so lange auf Frau Maier hatte warten müssen. Bei ungemütlichem Wetter schätzte sie das nicht. Doch als Frau Maier sich später, nach dem Abendessen, auf das Sofa sinken ließ, da konnte die Katze nicht widerstehen. Sie beschloss, dass sie lange genug beleidigt gewesen war und sprang mit einem Satz auf Frau Maiers Schoß, wo sie sich schnurrend zusammenrollte.

IV

You are always on my mind. Eines ihrer Lieblingslieder von Elvis Presley.

Sie verehrte Elvis, seit sie ein kleines Mädchen war. Ihr Blick fiel auf das gerahmte Foto von ihm, das ihn als jungen Soldaten zeigte. Es stand in ihrem Bücherregal. Während sie es vor einiger Zeit geschafft hatte, das Foto vom Karli in der Schublade tief unter den Tischdecken zu vergraben, hatte der King überdauert. „Und du wirst immer überdauern, keine Sorge“, flüsterte sie ihm zu. Sie flüsterte, um die Katze nicht zu stören, die immer noch auf ihrem Schoß lag.

You are always on my mind. Ich denke immer an dich.

Dinge, die man nicht vergessen konnte. Dinge aus der Vergangenheit, die niemals ruhten. Die keine Ruhe finden konnten. Welche Dinge waren das?

Frau Maier seufzte. Da gab es genügend. Doch heute Abend war das Bild, das ihr nicht aus dem Kopf ging, ein anderes. Es hatte nichts mit der Vergangenheit zu tun. Nichts mit ihren Eltern, dem Karli oder mit verpassten Chancen. Es war das Bild eines Mannes, der hinter dem Steuer eingeschlafen war und ganz alleine in seinem Auto auf dem ansonsten leeren Parkplatz saß. Warum verfolgte sie dieses Bild?

„Jetzt red dir bloß nicht wieder etwas ein!“, ermahnte sie sich mit lauter, fester Stimme. Die Katze sträubte das Fell am Rücken und sprang unwillig vom Sofa.

„Umso besser. Es ist sowieso Zeit fürs Bett“, brummte Frau Maier. Sie legte ihre karierte Wolldecke sorgfältig zusammen und machte sich daran, die Treppe zum Schlafzimmer hochzugehen. Die dritte Stufe von unten, die, die knarzte, ließ sie wie immer aus.

You are always on my mind, sang es in ihrem Kopf.

V

25. Januar 1945

Das Jahr hat nicht gut angefangen für uns. Die Liesl hat Husten und kann nicht schwer arbeiten. Jetzt muss ich noch mehr helfen. Die neue Familie war am letzten Sonntag im Gottesdienst. Alle haben sie angestarrt. Das kleine Mädchen hat mir leidgetan, aber die Mutter sagt, die versteht eh noch nichts. Sie kann zwar schon laufen, aber sie ist bestimmt noch ganz jung, meint die Mutter.

Er ist immer noch oben. Ich bringe ihm das Essen. Er redet kaum.

Zweites KapitelDonnerstag

 

I

Es war stockdunkel. Frau Maier war mit einem Schlag hellwach. Sie setzte sich im Bett auf. Was hatte sie geweckt? Sie lauschte in die Dunkelheit hinein. Der Wind pfiff um ihr Haus, der See und der Regen rauschten. Für jemand Fremden hätten das Rauschen des Sees und das des Regens vermutlich gleich geklungen. Nicht aber für Frau Maier, die seit so vielen Jahren direkt am See wohnte.

Sie tastete nach dem Lichtschalter ihrer Nachttischlampe. Ihr Mund war trocken, sie wollte etwas trinken. Sie warf einen Blick auf den altmodischen Wecker: kurz vor sechs. Frau Maier seufzte. Trotz ihrer warmen Bettdecke war ihr ein wenig kalt. Sie hatte keine Lust, aufzustehen, aber sie wusste ganz genau, dass sie keine Ruhe mehr finden würde. Sie fühlte sich seltsam angespannt.

Mit einem entschlossenen Ruck schwang sie die Beine aus dem Bett. Wenigstens standen davor wie immer ihre Pantoffeln, und der Bademantel lag griffbereit auf dem Schaukelstuhl. Schnell schlüpfte sie hinein. „Der wird auch immer enger“, brummte sie, als sie versuchte, ihn über dem Bauch mit dem Gürtel zuzubinden.

In der Küche brühte sie einen starken Kaffee auf. Als sie mit der dampfenden Tasse ins Wohnzimmer ging, hob die Katze verschlafen den Kopf. Sie hatte sich auf ihrem Lieblingsplatz, dem grünen Cordsessel, zusammengerollt. Sie sah Frau Maier erstaunt und ein wenig ungehalten an. Was sollte diese ungewohnt frühe Störung? „Ich weiß, ich weiß, es ist viel zu früh“, flüsterte Frau Maier und kraulte den schwarzen Kopf. „Ich kann nicht mehr schlafen, aber du schon. Ich mache auch das Licht wieder aus.“

Sie setzte sich im Dunkeln aufs Sofa und trank ihren Kaffee. Mit jedem Schluck wurden ihre Gedanken klarer, und mit jedem Schluck merkte sie, dass da eigentlich nur ein Gedanke in ihrem Kopf war. You are always on my mind.

Leise, um die Katze nicht zu stören, stand sie auf. Sie zog Gummistiefel und ihren Regenmantel an. Im kleinen Wandschrank tastete sie über dem Schuhregal nach der unvorteilhaften Wollmütze. Sie nahm ihre Taschenlampe aus dem Küchenregal und verließ geräuschlos das Haus.

II

Der Wind an ihren Beinen war eisig. Als Frau Maier den kleinen Weg durch das Wäldchen entlangeilte, fiel ihr ein, dass sie unter dem Regenmantel nur ihr Nachthemd und den Bademantel trug, Strümpfe hatte sie auch vergessen.

Egal. In spätestens zehn Minuten würde sie heißes Wasser in die Badewanne laufen lassen. Sie musste sich nur schnell vergewissern …

Frau Maier blieb wie angewurzelt stehen. Sie hatte den Parkplatz erreicht, und das Auto stand immer noch da. Ihr Mund war schon wieder trocken. Langsam ging sie auf das Auto zu.

Es wurde zwar allmählich hell, aber sie musste trotzdem ziemlich nahe an das Auto herangehen, um den Mann zu sehen. Sein Kopf lag noch immer auf dem Steuer. Konnte jemand so lange in dieser Haltung schlafen? Tief und fest? Vielleicht hatte er eine Schlaftablette genommen?

Frau Maiers Herz klopfte jetzt ganz schnell. Sie wusste, dass die Antwort eine andere war. Sie knipste die Taschenlampe an, richtete ihren Strahl aufs Autofenster und hatte den Eindruck, dass der Boden unter ihren Füßen nachgab. Sie schloss die Augen, aber alles um sie herum drehte sich. Schnell machte sie die Augen wieder auf.

Alles war immer noch unverändert, der Kopf, die offenen Augen, das graue, mit Blut verklebte Haar. Frau Maier stand stocksteif da. Sie konnte sich nicht bewegen. Da hörte sie ein Geräusch hinter sich und zuckte zusammen. Lautes Bellen. Zwei Hunde kamen auf den Parkplatz geschossen und rannten direkt auf sie zu, dicht gefolgt von zwei Gestalten in dunklen Regenjacken, die verzweifelt „Stopp!“ und „Aus!“ und „Bella! Nein!“ riefen. Frau Maier hatte sie nicht kommen hören: Wind, Regen und See waren zu laut. Als die beiden Gestalten sie erreicht hatten, erkannte Frau Maier, dass es zwei junge Frauen waren. „Entschuldigung, normalerweise hört die Bella aufs Wort …“, fing die eine an, doch Frau Maier unterbrach sie. „Haben Sie ein Handy?“, fragte sie. „Rufen Sie bitte die Polizei. In dem Auto sitzt ein toter Mann!“

Jetzt musterten die Frauen Frau Maier ein wenig skeptisch, doch diese drückte der einen ungeduldig die Taschenlampe in die Hand. „Bitte! Leuchten Sie ins Auto!“

Die verdutzte Frau tat es und schrie im gleichen Moment auf. „Ja, um Gottes willen! Sandra, das ist der Seitzinger Ferdl!“ Die Frau, die offenbar Sandra hieß, riss die Augen vor Schreck weit auf. Sie suchte hektisch in ihren Taschen.

„Ich habe mein Handy nicht dabei. Du?“

„So ein Mist, nein! Aber die Franzi vielleicht.“

Beide Frauen rannten los, und Frau Maier sah im grauen Licht der Morgendämmerung, dass sich eine dritte Gestalt mit Hund näherte. Sie beobachtete, wie die beiden anderen Frauen die Gestalt erreichten und heftig gestikulierten, und wie die Dritte im Bunde, vermutlich die Franzi, daraufhin ihr Handy zückte.

Frau Maier nutzte diesen Moment. Sie drehte sich um und ging so schnell sie konnte zurück in das Wäldchen und zu ihrem Haus.

III

Mit klopfendem Herzen saß sie in der düsteren Küche. Sie hatte das Licht nicht angemacht, und sie trug immer noch Gummistiefel und Regenmantel. Sie war wie gelähmt. You are always on my mind. You are always on my mind. Elvis sang immer lauter in ihrem Kopf. Und dort, in ihren Gedanken, war das Bild eines Mannes mit grauen Haaren und einem Loch im Kopf. Aber es war nicht dieses Bild, das Frau Maier am meisten Angst machte.

„Bitte nicht, bitte nicht“, flüsterte sie in die stille Küche hinein. Aber sie wusste, dass das Bitten nichts nutzte. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kommissar Brandner an den Tatort gerufen würde, war relativ hoch. Gott sei Dank hatte sie die Geistesgegenwart besessen, sich schnell aus dem Staub zu machen. Die drei Frauen mit den Hunden waren jetzt die Zeuginnen für die Polizei. Und wenn sie sehr viel Glück hatte, würden sie vielleicht gar nicht sagen, dass da noch eine alte Frau gewesen war …

Nein. Das war unrealistisch. Bestimmt würden sie es erwähnen und sich wundern, warum die Frau so plötzlich verschwunden war. Aber alte Frauen gab es in Kauzing viele. Es gab keinen Grund, warum der Brandner zu ihr kommen sollte. Ruhig bleiben. Ruhig bleiben.

Warum um alles in der Welt stolperte sie nur ständig über Leichen? Seit sie die Tote am See gefunden hatte, direkt vor ihrem Haus, war sie dem Kommissar Brandner suspekt. Und er hatte es nicht lustig gefunden, dass sie dem Täter schneller auf die Spur gekommen war als er. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass er sie ziemlich sicher für nicht ganz zurechnungsfähig hielt. Senil. Und Frau Maier war überzeugt: Er hätte sie damals am liebsten in irgendein Heim eingeliefert. Oder gleich eingesperrt. Und wenn sie ihm jetzt wieder in die Quere käme … Sie schüttelte sich.

„Frau Maier, wie stellen Sie sich das denn vor? Wie sollte Sie denn jemand gegen Ihren Willen, ohne ärztlichen Befund, irgendwo einweisen? Keine Sorge, das geht nicht“, hatte Frank versichert, als sie sich einmal getraut hatte, ihm von dieser Angst zu erzählen. Dr. Frank Schön war Psychologe, und er arbeitete immer wieder eng mit der Polizei zusammen. Kommissar Brandner hatte ihn damals zu Frau Maier geschickt, um sich ihre Unzurechnungsfähigkeit bescheinigen zu lassen. Aber Frank hatte nichts dergleichen getan. Er hatte sofort erkannt, dass Frau Maier alles andere als senil war – und sich seitdem mehr und mehr mit ihr angefreundet. Und außerdem schätzte er ihre Lachslasagne.

„Aber wenn der Brandner herausfindet, dass ich die Leiche gefunden habe und dann abgehauen bin, dann kann auch Frank mir nicht mehr helfen“, flüsterte sie.

Die Lähmung war auf einmal vorbei. Sie sprang auf und schlüpfte aus ihren Gummistiefeln und dem Regenmantel. Dann trug sie alles nach oben in den ersten Stock, außer Sichtweite. Sie zog sich schnell an, setzte eine neue Kanne Kaffee auf, deckte den Frühstückstisch und legte ein Buch darauf. Sie schlug irgendeine Seite auf und wartete.

IV

Es dauerte nicht lange. Zumindest hatte Frau Maier das Gefühl, erst ganz kurz am Küchentisch gesessen zu haben. Doch die Tasse in ihrer Hand war bereits kalt.

Langsam ging sie zur Haustür. Sie atmete tief durch und öffnete sie.

Kommissar Brandner musterte sie kühl. „So sieht man sich wieder“, sagte er.

„Ihnen auch einen schönen guten Morgen“, erwiderte Frau Maier. „Was verschafft mir die Ehre?“ Sie registrierte, dass der Kommissar allein gekommen war. Das erschwerte die Lage, denn so gab es keine Zeugen für das Gespräch. Der Brandner konnte ihr hinterher alles in den Mund legen. Trotzdem war Frau Maier plötzlich ganz ruhig. Sie war mit einem Mal wild entschlossen, eine gute Vorstellung abzuliefern. So musste sich eine Schauspielerin vor dem großen Auftritt fühlen: hoch konzentriert und aufmerksam, im Bewusstsein, dass sie es schaffen konnte, ihr Publikum zu überzeugen.

„Hier entlang, bitte!“ Sie deutete in die Küche. „Setzen Sie sich. Ich war gerade dabei zu frühstücken. Aber mein Buch ist so spannend, dass der Kaffee kalt geworden ist.“ Sie lächelte liebenswürdig. „Soll ich einen neuen machen?“

„Ich bin nicht zum Kaffeekränzchen da“, brummte der Brandner.

„Ach nein?“ Frau Maier konnte sich die kleine Provokation nicht verkneifen. Ein unmöglicher und humorloser Mensch, dieser Brandner, das hatte sie vom ersten Augenblick an gewusst.

Er ging nicht darauf ein, sondern nahm das Buch, das auf dem Küchentisch lag. „Sie haben also gelesen, ja? Wie lange schon?“

Frau Maier warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war erst halb acht. „Ich habe schlecht geschlafen“, erwiderte sie ruhig. „Ich war um halb sieben schon auf. Seitdem sitze ich hier.“

„Worum geht’s denn so in dem Buch?“, fragte der Brandner.

„Um die Fischküche Skandinaviens.“

„Ja, so etwas in der Art dachte ich mir schon bei einem Buch mit dem Titel Die Fischküche Skandinaviens.“ Der Brandner wurde ungeduldig. „Geht’s etwas genauer?“

Frau Maier war vorbereitet. „Es geht in dem Buch nicht nur um Rezepte. Dazwischen wird genau beschrieben, wie der Fischfang dort funktioniert, wie sich die Situation der Menschen, die davon leben, in den letzten Jahrzehnten verändert hat, und welche Traditionen mit den typischen Gerichten verbunden sind. Das interessiert mich.“

„Ach ja? Warum?“

Weil ein Fischer die Liebe meines Lebens ist, dachte Frau Maier. Oder weil er es einmal war? Sie überlegte.

Dann zuckte sie zusammen. Der Brandner hatte unvermittelt die Faust auf den Küchentisch donnern lassen. Frau Maier sah, dass sein Gesicht die für ihn typische, ungesunde rote Farbe angenommen hatte.

„Ich lasse mich von Ihnen doch nicht verarschen! Nicht von Ihnen!“ Bedrohlich leise fügte er hinzu: „Hier sind überall nasse Spuren. Sie können mir doch nicht erzählen, dass Sie heute noch nicht draußen waren.“

Frau Maier blieb vollkommen ruhig. „Ich habe nichts davon erzählt, weil Sie mich nicht danach gefragt haben. Gleich nach dem Aufstehen war ich kurz im Garten, um die Katze ins Haus zu holen. Wenn es regnet, schläft sie oft in der Hecke. Ich habe sie rein getragen, damit sie nicht nass wird.“

Der Brandner zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. Frau Maier hoffte, dass er sich nicht als Katzenkenner entpuppen würde, denn dann wüsste er natürlich sofort, dass diese Geschichte Unfug war. Mit der gleichen ruhigen Stimme fuhr sie fort: „Und apropos erzählen. Sie haben mir noch nicht gesagt, warum Sie überhaupt hier sind und warum Sie wissen wollen, was ich lese.“

Der Brandner schnaufte jetzt ziemlich laut, aber er riss sich zusammen. „Auf dem Parkplatz am Ende des Fußweges wurde eine Leiche gefunden.“

Frau Maier schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Es fiel ihr zu ihrer eigenen Verwunderung gar nicht schwer, Überraschung zu heucheln. Der Brandner sah sie regungslos an und fuhr fort: „Keine fünf Minuten von hier.“ Pause.

„Weiß man denn schon, wer es ist?“, fragte Frau Maier.

„Wenn ich es weiß, dann sind Sie die Letzte, die es erfährt, versprochen.“ Er wurde wieder lauter. „Waren Sie heute auf dem Parkplatz?“

Frau Maier schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht, sonst hätte ich es Ihnen doch schon erzählt. Ich war hier und habe …“

„… über Fische in Skandinavien gelesen, ich weiß.“ Die Stimme des Kommissars war frostig.

„Nein.“ Frau Maier schüttelte langsam den Kopf. „Das ist so nicht ganz richtig.“

Der Brandner horchte auf. Er sah sie aufmerksam an. Er witterte ein Geständnis.

„Es ging nicht um die Fische Skandinaviens, sondern um den Fischfang und die Fischküche.“ Frau Maier blieb weiterhin ruhig, aber der Kommissar konnte nicht mehr an sich halten. Zum zweiten Mal donnerte seine Faust auf den Tisch. Er stand auf und beugte sich vor. „Noch einmal: Ich lasse mich von Ihnen nicht verarschen. Drei Frauen haben die Polizei verständigt, aber sie waren nicht die Ersten am Fundort.“

„Ach nein? Wer war denn noch da?“ Frau Maier klang ehrlich interessiert.

„Eine alte Frau“, antwortete der Kommissar und betonte dabei jede Silbe. „Eine alte Frau, die dann verschwunden ist.“

„Sachen gibt’s!“ Frau Maier schüttelte den Kopf.

Der Kommissar wandte sich abrupt ab, ging zur Haustür, riss sie auf und trat ins Freie. Dann drehte er sich noch einmal zu ihr um. Bevor ihm noch etwas einfiel, sagte Frau Maier: „Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte. Sollten Sie noch einmal etwas wissen wollen, jederzeit gerne!“

Der Brandner musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. „Ich weiß, dass Sie dort waren. Und ich könnte die drei Frauen einfach hierher bestellen, dann könnten sie es mir bestätigen. Aber wissen Sie was: Dazu ist mir meine Zeit zu schade.“ Er schob sein Gesicht direkt vor das von Frau Maier. „Aber ich warne Sie. Kommen Sie mir nicht mehr in die Quere. Am besten nie mehr! Ich finde schon noch heraus, warum ausgerechnet Sie wieder einmal als Erste in der Nähe einer Leiche waren, das verspreche ich Ihnen.“

Er ging durch den Garten, aber er drehte sich noch einmal um. „Wissen Sie, warum ich mir so sicher bin, dass Sie es waren?“ Jetzt umspielte ein böses, kleines Lächeln seine Lippen. „Die Zeuginnen waren sich einig, dass die alte Frau ziemlich wirr aussah. Sie hatte nur Gummistiefel an. Unter dem Regenmantel schaute ein Bademantel hervor. Sie wirkte insgesamt sehr seltsam, und als sie verschwunden war, da fragten sich die drei Frauen, ob sie wohl noch ganz richtig im Kopf war. Und da wusste ich, dass Sie es waren.“

Dann war er weg.

So lange hatte sie sich vor weiteren Begegnung mit dem Brandner gefürchtet, und jetzt war sie vorbei. Frau Maier fühlte sich auf einmal schwach und musste sich setzen. Die letzten Worte des Kommissars hatten ihre beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt. Und natürlich hatte er Recht. Bei einem erneuten Treffen wüssten die Hundebesitzerinnen sofort, dass sie die Frau auf dem Parkplatz gewesen war. Die alte, verwirrte Frau.

Frau Maier schloss die Augen. Es schien ein Tag der unerfreulichen Begegnungen zu werden. Neben der Begegnung mit der Leiche und mit dem Brandner zählte auch die Begegnung mit einer unbekannten Seite von ihr selbst dazu.

Frau Maier machte die Augen wieder auf.

Sie war erschrocken darüber, wie leicht ihr das Lügen gefallen war.

Sie schloss die Augen wieder.

Es war ihr nicht nur leichtgefallen. Es hatte ihr sogar Spaß gemacht.

V

Putzen half immer. Gegen alles. Gegen die Unordnung und gegen das Chaos. Und gegen die Unruhe.

Frau Maier räumte den Tisch ab und spülte das Geschirr. Sie wischte die letzten Reste ihrer nassen Fußspuren weg. Obwohl sie schon fast wieder trocken gewesen waren, hatte der Brandner sie sofort bemerkt. Unsympathisch ist er, aber nicht dumm, dachte sie. Leider. Frau Maier seufzte. Wenn er dumm gewesen wäre, hätte sie sich nicht so vor ihm fürchten müssen. Die alte Angst kroch in ihr hoch. Auch, wenn sie die Sache mit dem Brandner besser gemeistert hatte als erwartet, die Fakten blieben: Sie hatte schon wieder eine Leiche entdeckt. Verdächtig. Sie hatte sich vom Fundort entfernt. Sehr verdächtig. Und sie hatte den Kommissar ziemlich dreist belogen. Höchst verdächtig!

Frau Maier schaute aus dem Küchenfenster. Im Garten bildete sich ein rot-gelber Teppich. Stündlich wurden immer mehr Blätter von den Bäumen gefegt. Sie segelten zu Boden und verschmolzen zu einem bunten Muster. Durch die immer kahler werdenden Äste konnte sie den See sehen. Grau. Wellig.

Frau Maier fror. Sie ging ins Wohnzimmer und hängte sich die karierte Wolldecke um die Schultern. Unschlüssig stand sie im Raum. Sie wollte sich nicht hinsetzen. Sie wollte aber auch nichts anderes machen. Sie wollte das Haus nicht verlassen. Sie wollte aber auch nicht alleine grübeln.

In dem Moment klingelte es wieder. Frau Maier schluckte. Hatte der Brandner doch die drei Frauen zur Gegenüberstellung hergebracht?

Langsam öffnete sie die Tür.

„Es ist unglaublich!“ Elfriede Gruber stürzte ins Haus. Sie war völlig außer Atem. „Auf dem Parkplatz vorne wurde eine Leiche gefunden.“

Frau Maier überlegte fieberhaft, ob sie zugeben sollte, dass sie das bereits wusste. Für diesen Moment wurde ihr die Entscheidung glücklicherweise abgenommen, denn die Elfriede redete sofort weiter. „Kennen Sie die Familie Seitzinger?“, fragte sie und ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. Frau Maier öffnete den Mund, aber wieder wartete Elfriede keine Antwort ab. „Blöde Frage, natürlich kennen Sie die Familie Seitzinger. Wer kennt sie nicht“, stellte sie fest.

Das stimmte. Frau Maier las zwar nur unregelmäßig die Lokalzeitung und hielt sich aus allen Angelegenheiten des Dorfes vollkommen heraus, aber die Wahlplakate, die seit einigen Wochen die Straßen säumten, waren nicht zu übersehen. Seitzinger Ferdinand, jr. stand darauf über dem Foto eines Mannes um die fünfzig mit rundlichem Gesicht. Und darunter Gemeinsam weiter vorwärts. Und das Logo irgendeiner Partei.

Elfriede flüsterte jetzt, obwohl – soweit Frau Maier die Lage überblickte – außer ihnen niemand da war: „Der Tote ist der Ferdinand Seitzinger. Also der Ferdl Seitzinger senior.“

Frau Maier wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, und entschied sich für: „Der Arme!“