FRÄULEIN KELLERS GEHEIMNIS - Alea Raboi - E-Book

FRÄULEIN KELLERS GEHEIMNIS E-Book

Alea Raboi

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Beschreibung

Ein Inspektor aus Zürich sucht Ruhe und Frieden am Bodensee. Doch dann wirft das friedliche Kreuzlingen seine Maske ab, und eine gar unheilvolle Seite zeigt sich. Ruedi Mayerhans, noch ganz der Großstadtkriminalist, wird kurz nach seiner Ankunft gefordert: Ein angesehener Fabrikbesitzer verschwindet, und dann taucht auch noch eine Frauenleiche auf. Ganz der alte Haudegen, stürzt er sich ins Getümmel, mit einer ungewöhnlichen Partnerin an seiner Seite; einer Grundschullehrerin. Dieses ungleiche Gespann begibt sich in einen tödlichen Strudel aus Lügen und Betrug. Für Ruedi ist eins schnell gewiss: In dieser beschaulichen Ortschaft am Bodensee hat jeder seine kleinen und großen Geheimnisse... FRÄULEIN KELLERS GEHEIMNIS ist ein spannender Whodunit-Krimi der Schweizer Schriftstellerin Alea Raboi (Jahrgang 1981).

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


 

 

 

 

ALEA RABOI

 

 

FRÄULEIN KELLERS

GEHEIMNIS

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

FRÄULEIN KELLERS GEHEIMNIS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

Achtundzwanzigstes Kapitel 

Danksagung 

Impressum

 

Copyright © 2023 by Alea Raboi/Signum-Verlag.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Cover: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected]

 

Das Buch

 

 

Ein Inspektor aus Zürich sucht Ruhe und Frieden am Bodensee. Doch dann wirft das friedliche Kreuzlingen seine Maske ab, und eine gar unheilvolle Seite zeigt sich. Ruedi Mayerhans, noch ganz der Großstadtkriminalist, wird kurz nach seiner Ankunft gefordert: Ein angesehener Fabrikbesitzer verschwindet, und dann taucht auch noch eine Frauenleiche auf. 

Ganz der alte Haudegen, stürzt er sich ins Getümmel, mit einer ungewöhnlichen Partnerin an seiner Seite; einer Grundschullehrerin. Dieses ungleiche Gespann begibt sich in einen tödlichen Strudel aus Lügen und Betrug. 

Für Ruedi ist eins schnell gewiss: In dieser beschaulichen Ortschaft am Bodensee hat jeder seine kleinen und großen Geheimnisse... 

 

Fräulein Kellers Geheimnis ist ein spannender Whodunit-Krimi der Schweizer Schriftstellerin Alea Raboi (Jahrgang 1981). 

  FRÄULEIN KELLERS GEHEIMNIS

 

 

 

 

 

 

 

Für Sven, der nicht nur gut aussieht,

sondern mich auch bei den absurdesten Ideen unterstützt.

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Schaudernd zog Ruedi Mayerhans die Schultern bis zu den Ohren hoch, formte so einen schützenden Kokon um seinen fröstelnden Nacken. Er stand vor seinem neuen Heim, ein kleines Häuschen am Bodensee. Die winterliche Kälte biss in seine Wangen, doch die Aussicht auf Ruhe und Frieden zauberten ihm ein Lächeln über das von dem harten Leben gezeichnete Gesicht. Seine Hand fuhr in die Tasche seiner dunkelbraunen Wollhose, zückte einen Schlüssel hervor und schob diesen in das Schloss. Bevor er die Tür öffnete, betrachtete er das Häuschen von außen noch einmal genau. Ein charmantes, wenn auch etwas in die Jahre gekommenes, kleines Riegelhaus mit einem steilen, schneebedeckten Dach und Fenstern, die zum Zentrum des Dorfs hinausblickten. Er hatte die Natur immer geliebt und diese malerische Szene erfüllte ihn mit einer Art friedlichen Leichtigkeit, die er lange nicht gespürt hatte. 

Als er die Tür öffnete, ließ er seinen Blick durch das kleine, urige Wohnzimmer wandern, den Blick auf den Kamin, dessen Feuer bereits entfacht war und eine wohlige Wärme verbreitete. Die hiesige Grundschullehrerin hatte ihm das Häuschen verkauft und versprochen, dass ein warmes Feuer auf ihn warten würde, wenn er kommt. Die Immobilie gehörte einst ihrem Vater, der es an Urlauber vermietet hatte, doch nachdem er vor einem halben Jahr seinem Krebsleiden erlegen war, hatte Klara Fischer sich dazu entschlossen, das kleine Haus am See zu verkaufen.  

Die Möbel waren einfach, doch sie versprühten eine warme, gemütliche Atmosphäre, die ihn sofort heimisch fühlen ließ. 

Nachdem er sich ein wenig aufgewärmt hatte, entschied er sich, erst einmal das Dorf zu erkunden. Er griff nach seinem schwarzen Fedora, wischte routinemäßig über die Krempe und positioniere ihn leicht schief aus seinem Kopf. Das beeindruckte die Damenwelt, wie er unlängst festgestellt hatte. Er streifte seinen dunklen Lodenmantel über und machte sich auf den Weg.  

Nur wenige Leute waren unterwegs, und Ruedi nahm einen Moment Zeit, um das beschauliche Treiben zu beobachten – Kinder, welche auf dem Marktplatz spielten, Händler, die ihre Waren feilboten, und die Dorfbewohner, die ihren täglichen Erledigungen nachgingen. Mehr war nicht los. 

Die kalte Brise veranlasste Ruedi Mayerhans, seine Hände in die tiefe Geborgenheit seiner Manteltaschen zu tauchen – sein Widerstand gegen die frostigen Temperaturen.

Er warf einen eingehenden Blick auf die Grundschule, vor der er für einen Augenblick stehengeblieben war. Einmal atmete er tief durch, dann begab er sich in das Gebäude.

Mit dem Klang von Kinderstimmen, die aus den Schulzimmern in den Flur hallten, wanderte er durch den langgezogenen, breiten Korridor, bis sein Blick auf die Tür mit der Nummer drei fiel. Ein handgemaltes Schild kündigte den Raum von Fräulein Klara Fischer an.

Ruedi klopfte zögerlich an die hohe Holztür. Bei dem leisen Öffnen, schallten ein Schwall warmer Luft und das lebhafte Gemurmel der Kinder aus dem Zimmer. Vor ihm erstreckte sich ein kleines, dennoch helles Klassenzimmer mit einer hohen Decke. An den Wänden hingen farbenfrohe Zeichnungen und die Tafel an der Vorderseite des Raums war mit Rechenaufgaben vollgeschrieben. Er nahm seinen Hut ab.

Vorne mittig, auf einem altersschwachen Lehrerpult, stand eine Frau. Sie war eine attraktive junge Frau, flammend rote Haare, die sie locker zusammengesteckt hatte und deren Strähnen frech in ihr Gesicht fielen. Fahle Haut, keine Falten. Schlank war sie, aber nicht zu sehr. Sie trug ein einfaches, aber stilvolles Kleid – eine dunkelblaue Wollrobe, die bis zu den Knöcheln reichte, ihre Taille betonte und mit einem kleinen silbernen Broschenknopf an der Kragenlinie verziert war. Über dem Kleid trug sie eine weiß gemusterte Schürze, die offensichtlich Schutz vor Kreide, Tusche und anderen Gefahren des Lehrerberufs bot. Ihre flachen Schuhe waren kaum sichtbar unter dem langen Saum des Kleids, wurden jedoch durch das Ausbleichen des Leders und die abgelaufenen Absätze deutlich.

In ihrer Hand hielt sie eine Kreide, mit der sie gerade dabei war, eine komplexe Formel an die Tafel zu schreiben.

Bei seinem Eintritt hielt sie inne, drehte sich zu ihm um und lächelte ein wenig breiter.

Ihr gesamtes Auftreten war eine Kombination aus praktischer Eleganz und Autorität. Es war klar, dass sie sowohl die Respektsperson als auch die geliebte Bezugsperson für die Kinder in ihrem Klassenzimmer war.

»Verzeihen Sie für die Unterbrechung. Fräulein Fischer?«, begann er, in einer Mischung aus Höflichkeit und Bescheidenheit. »Ich bin Ruedi Mayerhans. Wir haben wegen des Hauses am See telefoniert.«

Das Lächeln der Lehrerin wurde etwas breiter. »Ah, ja, Herr Mayerhans. Schön, Sie persönlich kennenzulernen«, entgegnete sie mit einem anerkennenden Nicken.

Ruedi fühlte eine instinktive Wertschätzung für die junge Frau, die ihm ein neues Daheim vermittelt hatte. »Ich wollte vorbeischauen und mich persönlich für Ihre Hilfe bedanken. Das Haus ist wirklich bezaubernd.« 

Ihr Lächeln strahlte eine herzliche Wärme aus, die sich angenehm von der kalten Wintertemperatur abhob. »Es sieht so aus, als hätten Sie Ihren perfekten Rückzugsort gefunden, Herr Mayerhans. Ich hoffe, Sie werden sich dort wohlfühlen.« 

»Davon gehe ich aus, Fräulein Fischer«, erwiderte er lächelnd und schob seinen zurück auf den Kopf. »Ich freue mich auf das Leben in dem idyllischen Häuschen. Obgleich ich reichlich zu tun haben werde, wenn auch ruhiger als bisher. Ich danke Ihnen nochmal für alles.« 

»Was arbeiten Sie denn?«, fragte sie voller Neugierde und fügte rasch hinzu: »Wenn ich fragen darf.« 

»Ich bin Inspe...« Ruedi stoppte abrupt. Nein, er war kein Inspektor mehr. »Ich bin Wachtmeister bei der hiesigen Polizei.« 

Beeindruckt fixierte sie ihn. »Also dann, Wachtmeister Mayerhans, ich wünsche Ihnen in Ihrem neuen Zuhause alles Gute.« 

Er hob seine Hand zum Abschied und verließ das Schulhaus. Die Begegnung mit Klara Fischer hatte ihm den Tag versüßt und ihm genug Wärme geschenkt, um gut durch die Kälte zu kommen. Er schlenderte weiter, wollte seine neue Heimat noch weiter erkunden. 

Er senkte seine Schultern ein wenig, als er die imposante Silhouette am Horizont entdeckte. Ein kolossales Backsteingebäude, das sich wie ein riesiger, schlafender Riese unter dem weißen Schleier des Winterhimmels ausstreckte. Neugierig beschleunigte er seine Schritte und trat näher. 

Eine mittelgroße Plakette, befestigt an einer der massiven Säulen des Eingangstores, zeigte den Namen der Fabrik an: Johann Schmidt Textilmanufaktur, eingraviert in einer stilvollen, geschwungenen Schrift. Die Tafel war leicht vom Zahn der Zeit angegriffen, aber die Worte waren noch klar und deutlich lesbar. 

Im sanften Licht der Wintersonne wirkte das Gebäude fast friedlich, als ob es sich auf einen langen Schlaf vorbereitete. Doch Ruedi wusste, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm war, dass es morgen wieder brummen würde mit der Energie duzender fleißiger Arbeiter, bereit, einen weiteren arbeitsreichen Tag zu beginnen. Mit einer Hand tief in der Manteltasche vergraben und den Hals in den Schultern versteckt, schlenderte er an der Fabrik Johann Schmidts vorbei. Johann Schmidt, so hieß der Industrielle Deutsche, der noch rechtzeitig vor Kriegsbeginn in die Schweiz geflüchtet war und hier innert kürzester Zeit sein Imperium aufgebaut hatte. Indes war er aus der schweizerischen Textilindustrie nicht mehr wegzudenken. Ruedi hatte sich gut über Kreuzlingen informiert, den Heimatort seines Großvaters. Als es sicher war, dass er in Zürich nie wieder als Inspektor würde arbeiten können, war die Entscheidung nach kurzer Recherche schnell gefallen.

Der Abend hielt Einzug, und mit ihm legte sich eine eisige Kälte wie eine bleierne Decke über Kreuzlingen. Sein Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Winterluft.

Schnellen Schrittes kehrte er in sein neues Zuhause zurück, wo er sich ein Glas Portwein genehmigte. Die Flasche hatte er von seinem alten Freund Aldo geschenkt bekommt, der vor einigen Monaten nach Porto zurückgekehrt war. Das Versenden hatte ein Vermögen gekostet. Aldo hatte nur die Mittel gehabt, die Flaschen zu kaufen, nicht aber sie zu versenden.

Ruedi entfachte das Feuer, sank in den Sessel, zündete sich eine Zigarette an und ließ den Tag Revue passieren. Während das Feuer knisterte und die Flammen ihre Schatten über seine neue Stube warfen, spürte er, wie die Ruhe auf ihn zu wirken begann. An seinem ersten Tag in Kreuzlingen hatte er schon einiges erlebt. Er hatte die Textilfabrik von Johann Schmidt gesehen und war in der Grundschule gewesen, um sich bei der Hausverkäuferin Klara Fischer für dieses wunderbare Kleinod zu bedanken.

Als er schließlich auf seinem Stuhl eindöste, hatte er keine Ahnung, wie sehr sich sein Leben in naher Zukunft verändern würde.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Den Morgen hatte er verschlafen. Nach dem Mittagessen und zwei Gläsern Portwein, setzte Ruedi seine Erkundungstour fort und fand sich schließlich vor einem charmanten Gebäude, das im warmen Glanz seines alten, goldenen Emblems leuchtete. Das geschnitzte Schild kennzeichnete es als Gasthaus Zum Goldenen Engel. 

Ein erster Eindruck offenbarte vielversprechende Aspekte des Interieurs. Die Gaststätte zeichnete sich durch eine geräumige Umgebung mit hohen Decken und uralten Holzbalken aus, die noch die Wucht der Jahre trugen. An den Wänden hingen alte Schwarz-weiß-Bilder, Zeugen vergangener Tage, die die Geschichte des Orts und seiner Bewohner leise erzählten. Rustikale Tische und Stühle, in gleichmäßigen Reihen aufgestellt, waren über den Raum verteilt, während ein Feuer den Kreislauf sanfter, wohliger Wärme erzeugte. Das Gasthaus donnerte vor Leben und festlichen Gesprächen, ein pulsierender Mittelpunkt der Gemeinschaft, der von der resoluten Besitzerin, Hannelore Müller, geführt wurde, das erfuhr Ruedi bei seinem ersten Besuch. 

Hannelore war eine Frau von beeindruckender Statur und Persönlichkeit. Ihre dunkelbraunen, toupierten Haare kurz um ihr rundes Gesicht geschnitten. Hannelore war mit einer hellblauen Schürze bekleidet, die ihre breiten Hüften bedeckte. 

Ruedi ließ seinen Blick weiter durch die Gaststube schweifen. Auf den Tischen standen Mandarinen, in denen Nelken eingestochen waren, oben mittig steckte in jeder Frucht eine schmale weiße Kerze. Neben dem Tresen stand ein Radiogerät mit einem hellen Holzgehäuse, aus dem Ella Fitzgerald zu hören war.  

»Wer zum Teufel ist der Fremde?«, murmelte hörbar einer der Gäste, ein alter Mann namens Friedrich, wie Ruedi später erfuhr, der am anderen Ende des Tresens saß und den Neuankömmling durch seine dicken Brillen entgegenblickte. 

»Das ist wohl der Neue aus dem Haus von Klara«, antwortete ein anderer, während er langsam sein Bierglas leerte.

»Der neue Wachtmeister«, flüsterte Hannelore.

Ruedi ignorierte das Gemurmel und trat näher an den Tresen heran. Hannelore nahm gerade einen Bierkrug vom Haken der Zapfanlage, als sie aufschaute und sein Lächeln bemerkte.

»Guten Tag, Herr Wachtmeister. Was kann ich Ihnen bringen?«, begrüßte sie ihn herzlich. Ihre Stimme war eine angenehme Überraschung, tief und ausdrucksvoll, laut genug, um die rauesten Stimmen zu übertönen.

»Eine Mahlzeit und ein helles Bier, bitte«, antwortete Ruedi, dazu ein aufmunterndes Nicken.

»Es gibt Rösti und Bratwurst heute.«

»Sehr gut, das nehme ich gerne.«

Mitten im Hauptgeschäft erledigte Hannelore ihre Arbeit mit erstaunlicher Geschicklichkeit und setzte trotz des arbeitsreichen Mittagstischs ein bemerkenswert warmes Lächeln auf. Ruedi nutzte die Wartezeit, um den Raum weiter zu beobachten. Er sah die muntere Menge an den Tischen engagiert in Gesprächen, ältere Herren jassten am Stammtisch, eine dicke Wolke aus Zigarettenqualm hing über ihnen. Ruedi schälte sich aus seinem Mantel und hängte ihn auf den Garderobenständer, den Hut legte er auf die Ablage darüber, wo sich die Hüte der Gäste aneinanderreihten. Er fuhr herum und setzte sich an den Tresen.

 

»Was verschlägt Sie in unser Dorf, Herr Wachtmeister, wenn ich fragen darf?«, unterbrach Hannelore seine Gedanken, als sie mit einem vollen Teller und einem zweiten frisch gezapften Bier zurückkam.

»Ich bin gerade erst in das kleine Häuschen direkt am See gezogen. Das urige«, antwortete Ruedi und nahm einen Schluck von seinem Bier. Der erste Schluck war immer der wichtigste, dachte er, als das kalte Bier seine Kehle hinab rutschte.

»Aus Zürich?«

»Unüberhörbar«, meinte er leichthin.

»Klaras Häuschen hat mir schon immer sehr gefallen«, sagte sie, als sie sich auf den Hocker neben ihn setzte und ihre Arme auf dem Tresen verschränkte. »Es ist ein besonderer Ort. Es hat im Laufe der Jahre viele Geschichten gehört. Ich hoffe, es bereitet Ihnen so viel Freude wie den Menschen, die vor Ihnen dort waren. Und fühlen Sie sich geehrt, Herr Mayerhans, stimmt's?«

Er nickte und wunderte sich, wie gut das Buschtelefon hier funktionierte.

»Sie sind der Erste, der darin wohnt. Alle anderen waren immer nur für ein paar Tage gekommen, und im Krieg fundierte es als erste Station im Thurgau für geflüchtete Juden aus Deutschland.«

Betroffen hielt Ruedi inne.

»Möchten Sie mir meine Frage nicht beantworten?«, fragte Hannelore keck.

»Natürlich, bitte verzeihen Sie. Ich war Inspektor in Zürich und...«

»Und?«

»Nun, ich wollte es ein wenig ruhiger haben. Man hat mir nahegelegt, in den Thurgau zu ziehen.«

»Um hier als Wachtmeister zu arbeiten?«

Abermals nickte Ruedi.

»Na, was es nicht alles gibt, heutzutage. Wissen Sie, normalerweise sind sie zu viert, aber seit längerem sind sie nur noch zu dritt.«

Ruedi konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Hier ist es wohl ziemlich ruhig.«

»Ach, wissen Sie«, begann Hannelore und setzte sich unaufgefordert auf den Hocker neben Ruedi, »es ist nicht mehr so wie früher. Die Kriminalität ist hier gewiss nicht so hoch wie in Zürich, aber sie steigt auch bei uns. Der Krieg hat alles verändert. Wir waren einmal ein friedliches Dorf, jetzt ziehen immer mehr Menschen hierher. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird Kreuzlingen eine Stadt sein. Denken Sie an meine Worte, Herr Wachtmeister. Denken Sie an meine Worte. Eine Stadt werden wir sein. Gut, dass mein Hanspeter das nicht mehr miterleben muss, Gott hab ihn selig.« Sie bekreuzigte sich. »Mein Hampi würde sich im Grabe umdrehen.«

Er sah sie an und hob sein Glas in einer stillschweigenden Zustimmung.

Entgegen seiner Hoffnung machte Hannelore keine Anstalten, ihn in Ruhe essen zu lassen. Stattdessen delegierte sie einem jungen Mädchen die Aufgabe, die Gäste zu bedienen.

»Wissen Sie, mein Hampi und ich, wir waren so glücklich miteinander«, fuhr sie launig fort, nachdem sie ihm bereits ausführlich und minuziös von seinem Krebstod erzählt hatte. »Er hat mir morgens immer aus der Zeitung vorgelesen. Ach, war das schön. Wissen Sie, alle haben ihn gemocht. Alle.«

Ruedi fuhr eine Gabel nach der anderen in den Mund und schluckte das Essen den Schlund hinunter. Er wollte nur noch weg.

»Der Hanspeter, also nicht meiner, der vom Rösli, wissen Sie, der hat meinen Hanspeter nicht gemocht. Mein Hampi hat immer gesagt; Hannelore, er ist nur eifersüchtig auf uns. Wissen Sie, Rösli und ihr Hanspeter waren nicht so glücklich wie mein Hampi und ich.«

In Ruedi brodelte es.

Wenn sie jetzt nicht geht, dann...

Er hatte den Satz nicht zu Ende gedacht, als ein Gast am Stammtisch ihre Gesellschaft verlangte.

Dankend schickte Ruedi ein stilles Stoßgebet gen Himmel. Leerte in Ruhe seinen Teller, trank das Bier fertig und bezahlte bei dem Mädchen. Freundlich verabschiedete er sich noch von Hannelore mit einem Armwinken aus sicherer Distanz und dankte ihr für die köstliche Mahlzeit.

---ENDE DER LESEPROBE---