Fräulein Steiff - Maren Gottschalk - E-Book

Fräulein Steiff E-Book

Maren Gottschalk

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Beschreibung

Ein starker Wille, Humor und eine ausgeprägte Neugier – schon als kleines Mädchen will die 1847 im schwäbischen Giengen geborene Margarete die Welt erobern. Selbst nachdem sie unheilbar an Kinderlähmung erkrankt und nie wieder wird laufen können, lässt sie sich den Lebensmut nicht nehmen. Entschlossen folgt sie ihrem Ziel, unabhängig zu sein, und setzt nicht nur ihren Wunsch durch, Schneiderin zu werden, sondern eröffnet auch ein florierendes Filzgeschäft. Und dann kommt der Tag, der alles verändern wird: Margarete näht aus einer spontanen Laune heraus ein Nadelkissen in Gestalt eines Elefanten. Als sie es ihrem kleinen Neffen in die Hände legt, scheint das Tier auf magische Weise zum Leben zu erwachen - und da hat Margarete plötzlich eine Idee …

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Seitenzahl: 458

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Buch

Ein starker Wille, Humor und eine ausgeprägte Neugier – schon als kleines Mädchen will die 1847 im schwäbischen Giengen geborene Margarete die Welt erobern. Selbst nachdem sie unheilbar an Kinderlähmung erkrankt und nie wieder wird laufen können, lässt sie sich den Lebensmut nicht nehmen. Entschlossen folgt sie ihrem Ziel, unabhängig zu sein, und setzt nicht nur ihren Wunsch durch, Schneiderin zu werden, sondern eröffnet auch ein florierendes Filzgeschäft. Und dann kommt der Tag, der alles verändern wird: Margarete näht aus einer spontanen Laune heraus ein Nadelkissen in Gestalt eines Elefanten. Als sie es ihrem kleinen Neffen in die Hände legt, scheint das Tier auf magische Weise zum Leben zu erwachen – und da hat Margarete plötzlich eine Idee …

Weitere Informationen zu Maren Gottschalk finden Sie am Ende des Buches.

MAREN GOTTSCHALK

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Juni 2022

Copyright © der Originalausgabe 2022 by Maren Gottschalk

Copyright © dieser Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Panther Media GmbH / Alamy Stock Photo

CN · Herstellung: ast

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27163-3V004

www.goldmann-verlag.de

Für Clara, Sonja und Felix. Und für ihre Gefährten Mäh, Rakete und Orka.

Inhalt

Fräulein Steiffs Freunde, Verwandte und Bekannte

Prolog – Der verletzte Teddy

1879 – Elefäntle

1849 – Das Kind kann nicht laufen

1883 – Das Filz-Versandt-Geschäft

1853 – Ein Sturz ins Wasser

1884 – Erinnerung an Mignon

1856 – Zur Kur in Wildbad

1890 –1892 – Die Filztiere kommen!

1862 –1868 – Das Ungeheuer und die Schneiderin

1897 – Eine richtige Fabrik

1868 –1877 – Viele Hochzeiten und eine Werkstatt

1903 –1907 – Bären im Jungfrauenaquarium

1907 – Das Geschenk

Das Zebra und der Knopf – Anmerkung der Autorin

Dank

Autorin

Fräulein Steiffs Freunde, Verwandte und Bekannte

Historische Personen

Familie

Maria und Friedrich Steiff, Eltern

Pauline Röck und Marie Häussler, beide geb. Steiff, Schwestern

Emilie Häussler, Tochter von Marie

Fritz Steiff, Bruder, Baumeister

Anna Steiff, seine Frau

Paul, Richard, Franz, Lina, Eva, Hugo, Otto, Marie, Ernst, ihre Kinder

Bartholomäus und Anna Maria Hähnle, Großeltern

Apollonia, Ursche und Susanna Hähnle, Tanten, Schwestern der Mutter

Anna-Marie Glatz, Cousine, Tochter von Apollonia

Adolf Glatz, ihr Mann

Hans Hähnle, Stief-Cousin und Filzfabrikant

Lina Hähnle, Frau von Hans, Gründerin des Bundes für Vogelschutz

Johanna Röck, Freundin und Betreuerin (»Wärterin«), Schwägerin von Pauline

Katharina Schnapper, erste angestellte Näherin

Familie Werner aus Ludwigsburg

Dr. August Herrmann Werner, Arzt, Leiter der Kinderheilanstalt und Gründer der Herrnhilfe

Karoline Werner, seine Frau

Josepha (eig. Maria), ihre älteste Tochter

Erfundene Personen

Mina und August Lechner, Bankiersehepaar (Stuttgart)

Johannes Balthasar Hansen, Kaufmann (Hamburg)

Berta, Mathilde (Schulfreundinnen aus Giengen)

Agathe, Emma, Guste, Babette, Angestellte der Spieltierfabrik (Giengen)

Malwine Fetzer, Kontoristin (Giengen)

Prolog Der verletzte Teddy

Es ist eher ein Wimmern als ein lautes Weinen, das durch das geöffnete Fenster dringt. Margarete hebt den Kopf und lauscht. Wenn ein Kind weint, geht ihr das nahe. Das war schon seit jeher so. Vielleicht, weil sie selbst keine Kinder hat und keine Chance, sich daran zu gewöhnen. Wenn sie so viele blutende Knie, aufgeschrammte Ellbogen und geprellte Nasen mit einem nassen Tuch hätte kühlen müssen wie ihre Schwägerin Anna, die immerhin neun Kinder aufgezogen hat, könnte sie einem weinenden Kind wohl gelassener begegnen. Jedoch hat sie im Umgang mit ihren Nichten und Neffen so viel gelernt: Kinder müssen nicht jedes Mal einen großen Kummer haben, um herzzerreißend zu schluchzen. Sie weinen auch vor Wut oder aus Trotz, weil sie ihren Willen nicht kriegen. Ein gequetschter Finger kann einen Heulkrampf ebenso auslösen wie ein Stück Wurst, das der Hund dem Kind aus der Hand schnappt. Sogar aus Langeweile kann ein Kind weinen oder aus Enttäuschung, weil ihm etwas nicht gelingen will. Und wenn der Jammer groß genug ist, wirkt auch das Weinen verzweifelt.

Aber dieses Weinen ist anders. Es klingt unsagbar traurig. Margarete ist sicher, dass dem Kind etwas Ernstes zugestoßen sein muss, etwas zutiefst Verstörendes. Sie rollt den Stuhl ans Fenster, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Wo ist dieses Kind, das so erbärmlich leidet? Niemand ist zu sehen – und doch hört sie das krampfartige Einatmen, das Schniefen und Jammern so klar, als sei das Kind nur wenige Meter entfernt. Es muss direkt unter ihrem Fenster stehen, dort, wo der Eingang zur Filz-Spielwaren-Fabrik ist.

Nun, irgendwer wird das arme Ding schon trösten, denkt Margarete und wendet sich wieder den Papieren auf dem Schreibtisch zu. Doch sie kann sich nicht konzentrieren. Das Wimmern will gar nicht aufhören, und es kommt ihr vor, als sei sie die Einzige, die es hört. Sie greift nach der Glocke.

»Fräulein Steiff?« Kontoristin Malwine Fetzer steckt den Kopf durch die Tür. Margarete fragt sich, ob die junge Frau das noch einmal lernen wird, hereinzukommen und die Tür hinter sich zu schließen und nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben, als hätte sie keine Zeit für die Chefin. Zum Glück erinnert sich Malwine in diesem Moment an eine frühere Mahnung, betritt das Zimmer und drückt die Tür hinter sich zu.

»Unten steht ein Kind und weint zum Gotterbarmen, hört das denn keiner außer mir?«

Malwine geht zum Fenster.

»Ich sehe niemanden.«

»Pssst! Spitz doch die Ohren!«

Beide Frauen lauschen angestrengt.

Aber auch Margarete registriert jetzt nur noch das genervte laute Atmen und Räuspern der Kontoristin.

Malwine zuckt die Achseln. »Nichts.«

»Bitte, geh trotzdem hinunter und schau, ob ein Kind vor der Tür steht. Wenn ja, schick es zu mir rauf.«

Ein paar Minuten später schiebt Malwine ein Mädchen von etwa sechs Jahren unsanft in Margaretes Kontor. Es ist barfuß und trägt ein schmuddeliges graues Kleid, das schon mehrfach gekürzt und wieder ausgelassen worden ist, wie man an den Saumrändern sehen kann. Die Schürze war vielleicht einmal weiß, aber nun ist sie allenfalls sandfarben, soweit man das erkennen kann, denn das Mädchen knüllt sie fest mit den Händen zusammen.

»Wie heißt du?«, fragt Margarete.

Das Mädchen schnieft und flüstert: »Marta.«

»Und wer sind deine Eltern?«

»Prinzing«, lautet die gehauchte Antwort.

»Aha, die Prinzing-Babette ist deine Mutter! Die arbeitet doch für mich«, sagt Margarete freundlich.

Jetzt mischt Malwine sich ein: »Heute nicht.«

»Ist sie krank?«, fragt Margarete zum Kind gewandt.

Marta nickt.

»Weinst du deshalb?«

Kopfschütteln.

»Warum dann?«

Das Kind senkt den Kopf, und seine kleinen braunen Hände krallen sich fest in die Schürze.

»Nun red halt und gib dem Fräulein Steiff gefälligst Antwort«, herrscht Malwine sie an.

Marta weicht einen Schritt zurück und stößt dabei an den Tisch hinter ihr. Sie scheint noch kleiner zu werden.

»Geh nur wieder ins Kontor«, sagt Margarete zu Malwine, »ich komm schon zurecht.« Zum Kind sagt sie: »Hast du Hunger? Soll ich die Malwine bitten, dir etwas zu essen zu geben?«

Marta blickt Margarete kurz an, aber sie schüttelt abermals den Kopf.

Malwine, deren Mund jetzt dünn wie ein Strich ist, geht und schließt die Tür hinter sich.

»Magst du mir sagen, was dir solchen Kummer macht?«

Die freundliche Ansprache bewirkt, dass Martas Tränen erneut fließen. Auch ihre Nase läuft, und die Hände zucken, als wolle sie sich durchs Gesicht wischen, aber sie behält sie fest um die Schürze gelegt.

Und jetzt versteht Margarete auch, warum.

»Magst du mir zeigen, was du in der Schürze trägst? Du hast da doch was?«

Marta schaut Margarete an. Ihre Augen sind tiefblau und schwimmen in Tränen. Die dunklen Wimpern klumpen vor Nässe zusammen.

»Nun? Du brauchst keine Angst zu haben, ich will es dir doch nicht wegnehmen.«

Vorsichtig zupft das Mädchen an der Schürze.

Margarete sieht zuerst ein Plüschohr, dann eine Pfote.

»Oh! Du hast ein Bärle darin. Was für ein hübsches Ohr. Hast du den im letzten Jahr zum Weihnachtsfest bekommen?«

Jedes Jahr schenken sie den Kindern ihrer Angestellten ein Steiff-Tier, und Margarete weiß genau, wann welches Tier an der Reihe war.

Marta nickt und deckt den Bären gleich wieder mit der Schürze zu.

»Darf ich ihn nicht sehen?«

Das Mädchen rührt sich nicht.

»Hm, schade. Wie heißt er denn?«

»Teddy.«

»Richtig, so heißen jetzt viele unserer Bären. Sie sind nach einem berühmten Mann in Amerika benannt. Wusstest du das?«

»Nein.«

»Weißt du, ich freu mich ja immer, meine Tierkinder wiederzusehen, auch wenn sie jetzt bei anderen Menschen wohnen. So wie bei dir. Ich will doch wissen, ob es ihnen gut geht.«

Martas Augen weiten sich vor Schreck.

»Und du willst mir deinen Petz wirklich nicht zeigen? Vielleicht kenne ich ihn?«

Die Lippen des Mädchens beginnen zu zittern.

»Er ist tot«, flüstert sie.

»Was?« Margarete fährt auf. »Bist du sicher? Das glaub ich nicht.«

Marta greift die Schürze mit der rechten Hand. Mit der linken wischt sie sich durchs Gesicht und verschmiert dabei den Dreck. Ihre Schultern beben.

Margarete holt tief Luft. »So leicht stirbt doch ein Bärle aus Giengen nicht. Zeig mal her. Bestimmt kann ich ihm helfen!«

Zögernd wickelt Marta das Kuscheltier aus, streicht immer wieder darüber, gibt es aber nicht aus der Hand. Aber Margarete sieht auch so, dass der arme Kerl von oben bis unten ziemlich zerfetzt ist.

Kurz fühlt sie Wut in sich aufsteigen. Warum passen die Kinder nicht besser auf ihre Spieltiere auf? Dann beherrscht sie sich. Das Mädchen wird kaum schuld daran sein, dass sein Bär so zugerichtet worden ist.

»Der hat arge Schmerzen, das sehe ich. Da würde ich auch weinen an deiner Stelle. Was ist ihm denn passiert?«

Wieder verzieht sich das Gesicht des Mädchens.

»Das war der Brutus vom Nachbarn.«

»Der aus der Obertorstraße? So ein großer schwarzer Hund? Ja, das sieht böse aus. Aber dein Teddy ist nicht tot, der ist nur in Ohnmacht gefallen vor Schreck. Und das ist ganz gut so, dann merkt er nichts, wenn ich ihn zusammenflicke. Komm her, ich mach ihn wieder heile.«

Sie öffnet die Schublade und stöbert darin herum, bis sie ein Stück Filz findet. Sie faltet es und legt es auf den Tisch.

»Leg den Petz hierher, damit er ausruht, ich suche solange Nadel und Faden zusammen. Und du gehst nach nebenan zur Malwine und sagst ihr, sie soll ihre Gutsle-Dose öffnen. Das hätte ich so bestimmt.«

»Darf ich nicht hierbleiben?«

»Besser nicht. Wenn der Arzt näht, müssen die Eltern immer rausgehen, glaub mir, das war schon so, als ich so alt war wie du. Komm heute Nachmittag wieder. Dann kannst du den Teddy mitnehmen. Und sag der Babette gute Besserung von mir.«

Als Marta zur Tür geht, dreht sie sich um.

»Und er wird wieder gesund?«

»Versprochen. Nur eine Narbe wird er wohl behalten.«

Marta lächelt zum ersten Mal. »Das macht nichts, ich habe auch eine. Hier.« Sie hält Margarete ihren linken Unterarm hin, der eine lange tiefrote, schlecht verheilte Narbe trägt. »Ich hab den Teddy schon früher einmal aus dem Maul vom Brutus reißen wollen, da hat er mich gebissen. Der Teddy war ganz schleimig von seiner Spucke. Aber sonst ist ihm nichts passiert. Diesmal kam ich zu spät.«

Schaudernd wendet sich Margarete dem malträtierten Plüschbär zu. Ich sollte mit dem Hundebesitzer reden, nimmt sie sich vor. Es wird einige Zeit brauchen, den Petz zu flicken. Einfacher wäre es, dem Mädchen einen neuen Bären zu schenken. Aber das kommt natürlich nicht infrage. Marta würde es sofort merken. Denn auch dieses Häuflein Fell hat eine Seele, jedenfalls in den Augen seiner Besitzerin. Das darf man nicht übergehen. Ich sollte eine Sprechstunde für verletzte Spieltiere einrichten, denkt Margarete und beißt den Faden ab. Wenn es einen Puppendoktor gibt, muss es auch einen Doktor für unsere Tiere geben. Wir könnten die alte Werkstatt dafür nutzen. Mit einem Lächeln fädelt sie den festen Zwirn ein.

Sie braucht eine gute Stunde, bis sie den Bären ordentlich zusammengeflickt hat. Der Riss über Brust und Bauch ließ sich besser schließen als erwartet, aber am Hals hat der Teddy jetzt eine kahle Stelle. Armer Kerl, denkt Margarete und setzt ihn vor sich auf den Tisch. Was mache ich jetzt? Mit einer Schleife ist dir wahrscheinlich nicht geholfen, und ich kann dir ja keinen Kragen …. aber warum eigentlich nicht?

Sie lächelt und wendet sich mit Schwung zu ihrem Schrank. In der dritten Schublade liegt es, ihr altes Püppchen. Sie hatte es mit in die Fabrik genommen, weil sie es für ihre jüngste Großnichte mit neuen Kleidern ausstatten lassen wollte. »Entschuldige«, sagt Margarete zu der Puppe, die sie mit großen blauen Augen anstarrt, »aber du musst mir helfen.«

Sie löst eine Schleife am Nacken und nimmt der Puppe die kleine weiße Halskrause ab. Prüfend streicht sie über die Lochstickerei. Sie ist ein bisschen vergilbt, aber das wird Martha kaum stören. Als sie den Kragen um den Hals des Bären gelegt und die Bänder in seinem Nacken geschlossen hat, ist sie zufrieden. Festlich sieht der Teddy damit aus, vielleicht sollten sie Halskrausen in Serie produzieren? Für ihre Hände ist das inzwischen zu kniffelig, aber die jungen Frauen in der Fertigung würden diese kleinen Krägelchen im Nu nähen.

Margarete setzt den Bären wieder auf den Tisch und nickt ihm zu. »Jetzt freust du dich, hab ich recht?«

Als Marta ihren Teddy nachmittags in die Arme schließt, strahlt sie Margarete glücklich an. »Danke«, stammelt sie, »danke, liebe … liebes Fräulein Steiff. Auch von meiner Mama soll ich schön grüßen …« Verlegen zupft sie an der Halskrause und schaut fragend zu Margarete.

»Die darf er behalten, der arme Petz, auf den Schrecken. Und jetzt musst du gut auf ihn aufpassen. Und halt dich von Hunden fern. Du darfst dir noch ein paar Gutsle bei der Malwine aus der Dose nehmen. Und dann geh heim.«

Marta knickst und lässt den Teddy mit beiden Pfoten winken. »Auf Wiedersehen, Fräulein Steiff! Und vielen, vielen Dank …«

Margarete schließt die Tür hinter ihr und atmet tief durch.

Jetzt bin ich doch wirklich auf meine alten Tage noch zur Doktorin für Teddybären geworden. Wenn ich daran denke, wie das alles angefangen hat … Eigentlich wollte ich doch nur ein Elefäntle für die Anna nähen.

1879 Elefäntle

Die letzten Stiche sind die schwierigsten. Das Tier hat seine endgültige Form gefunden. Straff spannt sich die Filzhaut über den Körper aus weicher Scherwolle, die sie durch eine kleine Öffnung am Rücken hineingeschoben hat. Aber schon quellen die ersten Fasern wieder hervor, und nur mit Mühe gelingt es Margarete, sie nach innen zu stopfen und gleichzeitig die Naht mit einer Reihe winziger Stiche zu schließen. Sie vernäht den Faden, drückt das Tier dann fest zusammen und sticht die Nadel zuletzt noch einmal quer hindurch, bis sie am Bauch zum Vorschein kommt. Dort schneidet sie den Fadenrest so knapp wie möglich ab. Als sie das Tier freigibt, dehnt sich der Bauch, so als müsse es einmal tief Luft holen. Dabei verschwindet das Ende des Fadens in dem prallen, kleinen Körper.

Sie stellt den Elefanten vor sich auf den Tisch. Er ruht auf seinen vier Filzfüßen, stemmt die vorderen Beine in Richtung Rüssel, während die hinteren in der Verlängerung des Rückens einen sanften Bogen bilden.

Margarete überlegt einen Moment, schließlich öffnet sie die Pappschachtel mit den kleinsten Porzellanknöpfen, die sie hat. Normalerweise verziert sie damit das Mieder eines Kleids oder eine Damenmanschette. Sie wählt zwei glänzende schwarze Knöpfchen aus und näht sie seitlich am Kopf fest, darunter bildet sich eine Delle, wie eine Augenhöhle. Jetzt schaut der Elefant sie an.

»Das wird was«, murmelt sie zufrieden. »Aber Stoßzähne musst du wohl auch noch haben.«

Ihr Finger gleitet suchend über die Anleitung in dem aufgeschlagenen Modejournal. Knöcherne Stricknadeln heißt es darin. Nun, davon hat sie zum Glück genug. Margarete schiebt den Rollstuhl vom Arbeitstisch zum Schrank. Da sie selbst nicht gerne strickt, muss sie mehrere Schubladen aufziehen, bis sie den Lederköcher mit den Stricknadeln ihrer Schwestern findet. Sie fischt eine heraus, bricht sie in zwei Teile und schiebt sie vorsichtig rechts und links neben dem Rüssel durch die Filzhaut, sodass die Spitzen nach vorne zeigen.

Mit schräg gelegtem Kopf schiebt sie den kleinen Elefanten ein wenig von sich fort und betrachtet ihn. Er scheint zu lächeln, und sie lächelt zurück. Er ist perfekt geworden. Gut, dass sie Filz genommen hat statt Futterbarchent, wie im Journal angegeben. Für ein Nadelkissen ist der griffige Wollfilz besser. Fast wirkt er sogar wie echte Elefantenhaut, obwohl sie den sahnefarbenen Ton gewählt hat, von dem sie gerade einiges übrig hat. Aber weiße Elefanten soll es ja auch geben, hat sie vor vielen Jahren in der Biologiestunde gelernt. Es war auch richtig, den Körper mit Scherwolle und Filzresten zu füllen, statt mit Werg. Deshalb ist der Elefant so weich und leicht, und es macht Freude, ihn in die Hand zu nehmen.

Eine hübsche Satteldecke will sie ihm noch auflegen, damit klar ist, wo man die Nadeln hineinstechen soll.

»Bist halt a Schwäbin«, sagt Margarete zu sich selbst, »kannst ja nicht anders. Alles muss zu was gut sein. Auch so ein kleiner, netter Kerl wie der hier.«

Sie nickt ihm zu: »Du darfst dich ruhig als Nadelkissen nützlich machen, Elefäntle.«

Das halbrunde Stück blauen Filz hat sie schon vorher zurechtgeschnitten und näht es jetzt rasch auf dem Rücken des Dickhäuters fest. Dann fällt ihr noch etwas ein: Sie könnte mit ein paar hellen Glasperlen ein Muster auf die Decke sticken, eine Blume oder ein Blatt. Oder einen Buchstaben … vielleicht sogar ein A und ein S für Anna Steiff. Dann bekäme das Geschenk für ihre Schwägerin eine persönliche Note. Vielleicht fertigt sie dem Tierchen noch eine stabile Unterlage aus Filz. Anna hat ein rundes, flaches Nähkörbchen, es könnte in der Mitte stehen und über die Nähseide wachen. Je länger sie darüber nachdenkt, desto besser gefällt ihr die Idee. Es ist ein hübsches und zugleich praktisches Geschenk.

»Gretle, noch bei der Arbeit?« Ihr Bruder Fritz klopft an die Tür und öffnet sie im selben Moment.

»Herein«, ruft Margarete vorwurfsvoll.

Fritz grinst reumütig und deutet auf seinen dreijährigen Sohn. »Er war’s. Er hat die Tür geöffnet, ohne die Antwort abzuwarten, stimmt’s?« Paul antwortet nicht, sondern rennt zu seiner Tante und will auf ihren Schoß klettern.

»Nein, Paul, jetzt nicht, zuerst muss ich die Nadeln wegräumen, damit du dich nicht pikst. Hast du überhaupt saubere Hände?«

Der Junge drückt sich einen Moment fest an sie, dann rückt er ab und hält ihr seine Handflächen hin. Mit gespielt strenger Miene inspiziert sie die Hände und dreht sie um.

»Ich helf dir, Tante Gretle.«

»Das ist aber nett! Du darfst die Filzreste auf dem Tisch zusammenlegen, sortiere sie nach Farben und mach ordentliche Stapel.«

»Es hat schon sechs geschlagen. Und übrigens ist heute Sonntag.« Fritz schaut sich um und registriert die versandfertigen Pakete in der Ecke. »Da hast du mal wieder viel geschafft. Morgen bring ich die Sachen zur Bahn. Ist das alles für Sigle?« Die Firma Sigle en gros aus Stuttgart verkauft seit zwei Jahren Margaretes Filzwaren. Unterröcke, Sofakissen, Bettwandtaschen und andere »unnütze« Dinge, wie Fritz gerne sagt. »Immerhin bezahlen die Leute gutes Geld dafür«, kontert seine Schwester dann, »so ganz unnütz sind sie also nicht.«

Jetzt blickt sie mit Stolz auf die Stapel. »Ja, das meiste ist für Sigle. Aber es sind noch Pakete für ein paar private Kundinnen in Stuttgart und Ulm dabei. Die könntest du morgen auch aufgeben. Alles ist bereits fertig adressiert. Katharina ist vor einer Stunde erst nach Hause gegangen.«

»Wie lieb, dass sie dir auch bei den Päckle hilft. Es war eine gute Entscheidung, die Katharina Schnapper einzustellen. Aber hast du etwa den ganzen Sonntag in der Werkstatt geschafft?« Fritz hockt sich neben die Schwester und streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht. »Ganz unordentlich siehst du aus, so dulden wir dich nicht beim Abendessen mit den Großeltern heute Abend, oder was meinst du?« Er dreht sich zu seinem ältesten Sohn um. »Paul?« Der Junge reagiert nicht. Er hat die Filzreste aufgeräumt und steht schon an der Tür, aber sein Blick fixiert den Elefanten. Er starrt ihn an, dann die Tante, dann wieder das Tier.

Margarete hebt den Elefanten hoch.

»Schau mal, was ich hier habe.«

Paul kommt langsam zurück. Konzentriert richtet er den Blick auf das Tier und merkt nicht, dass er dabei auf ein Stück Filz tritt, das auf dem Boden liegt.

»Was ist das, Tante?«

»Siehst du doch, ein Elefäntle.«

»Was ist ein Elefäntle?«

»Dummer Kerl, ein großes Tier aus Afrika«, sagt sein Vater und lacht. »Ich habe dir einen aufgemalt, als du wissen wolltest, wer das stärkste Tier auf der Welt ist. Hast du das schon vergessen?«

Paul steht jetzt vor Margarete. Sie wackelt mit dem Elefanten hin und her, aber er greift nicht danach.

»Beißt der?«

»Nein, Paul, der beißt nicht. Der soll die Nadeln für deine Mama aufbewahren, damit sie nicht lange danach suchen muss.«

»Aber die spitzen Dinger …«

»Das sind Stoßzähne. Damit kann der Elefant seine Freunde vor bösen Feinden beschützen.«

»Mich auch?«

»Sicher.«

Paul nimmt den Elefanten vorsichtig in die Hand und schaut ihn an. Dann hält er ihn vor sein Gesicht, als wolle er Zwiesprache mit ihm halten.

Leise sagt der Junge: »Ich heiße Paul, und wie heißt du?«

Margarete will dem Jungen gerade vorschlagen, sich einen Namen auszudenken, da spricht Paul weiter.

»So? Elefäntle heißt du! Willst du mein Freund sein?« Er hält sich den Rüssel ans Ohr und lauscht. Strahlend verkündet er: »Elefäntle sagt, er will mit mir spielen. Tante Gretle, darf ich ihn behalten?«

Paul wartet die Antwort nicht ab und läuft aus dem Zimmer. Sie hören ihn auf der Treppe rufen: »Komm, ich nehm dich mit zu den Großeltern, das wird dir gefallen …«

Fritz beobachtet seine Schwester. Sie hat einen seltsamen Gesichtsausdruck, als sei sie überrascht und zufrieden zugleich.

»Was hast du mit meinem Sohn gemacht?«

Sie hebt die Schultern. »Frag das Elefäntle.«

»Soll das etwa ein neues Produkt sein? Willst du jetzt auch noch Elefäntle nähen?«

»Aber nein, das ist nur ein Nadelkissen für Anna. Zum Geburtstag. Ich hab den Schnitt im Journal entdeckt und wollte es einmal ausprobieren. Ich finde es hübsch. Aber das ist nichts zum Verkaufen.«

»Denk ich auch. Wer bezahlt schon Geld für so was.«

In den nächsten Tagen näht Margarete aber doch noch drei weitere Filzelefanten und versteckt zwei davon in dem Korb, den sie am Adventssonntag zu ihrem Cousin Hans Hähnle und seiner Frau Lina mitnimmt. Die beiden wohnen mit ihren Kindern ebenfalls in Giengen, nur ein paar Straßen von der Ledergasse entfernt, wo Margarete noch immer bei den Eltern lebt, obwohl sie schon zweiunddreißig Jahre alt ist. Hähnles haben ein schönes Haus an der Marktstraße, das Fritz für sie gebaut hat. Fritz Steiff ist Werkmeister wie sein Vater.

Hans Hähnle hingegen, Sohn des reichen Klingelmüllers, besitzt den Ehrgeiz und Spürsinn eines Unternehmers. Schon vor zwanzig Jahren hat er die Woll-Filz-Manufaktur von Giengen gegründet. Damals war er so jung, dass er sich vorzeitig für volljährig hatte erklären lassen müssen, um das Geschäft überhaupt tätigen zu dürfen. Die ersten Jahre waren hart, und manchmal sah es so aus, als würde das ganze Unternehmen scheitern. Doch Filz wurde mit der Zeit immer beliebter, und Hans hat bereits Filzfabriken in Süddeutschland und Österreich angekauft. Er träumt davon, alle seine Unternehmen zu den »Vereinten Filzfabriken« zu fusionieren.

Bei den Hähnles gibt es heute Suppe, Spätzle und Maronenkuchen für die Erwachsenen, die Kinder haben zuvor in der Küche ihr Abendbrot bekommen. Fine, das junge Mädchen, das im Haushalt hilft, trägt nach dem Essen das Geschirr ab und legt ein festes Filztuch über den Tisch. Fritz Steiff, der seine Schwester zu den Verwandten gebracht hat und zum Essen geblieben ist, nimmt Margaretes Zither aus dem Korb, wickelt sie aus dem karierten Küchentuch, legt sie vor der Schwester ab und zieht vorsichtig das Stück Samt weg, das die Saiten schützt. Die Hähnles haben Margarete gebeten, das Adventssingen zu begleiten, eine Tradition, die Lina Hähnle aus ihrer Heimat in Sulz am Neckar mitgebracht und die ihr Mann liebgewonnen hat. Außerdem kann er ihr nur selten einen Gefallen abschlagen und will, dass in Giengen alles so ist, wie sie es sich wünscht. Als die Söhne Eugen und Otto hereinkommen, stürzen sie sich auf Margarete und wollen mit ihr spielen, aber Hans Hähnle befiehlt ihnen, sich auf die Bank vor dem Kachelofen zu setzen. Er und Fritz tragen die Krippe, die tagsüber in der Ecke auf einer Holzkiste steht, in die Mitte des Zimmers, und Eugen, mit sechs Jahren der Ältere, darf die Adventskerzen anzünden, streng beobachtet vom vierjährigen Otto, der sich danach sehnt, diese wichtige Aufgabe eines Tages übernehmen zu dürfen. Der Kerzenschein taucht die Szene vor dem Stall in warmes Licht. Margarete freut sich über die Umhänge der Hirten, die sie vor Jahren selbst genäht hat. An manchen Stellen blitzt unter dem Saum eine goldene Borte hervor. In ein paar Wochen werden drei der fünf Hirten ihre derben Leinenkleider ablegen und sich in die Heiligen Drei Könige verwandeln. Auf diese Weise spart man sich weitere Holzfiguren, und es reicht, wenn zwei Hirten an der Krippe stehen. Auch die königlichen Gewänder stammen aus Margaretes Werkstatt. Hoffentlich haben sie sich über den Sommer gut gehalten und keine Mottenlöcher bekommen. Lina ist keine perfekte Hausfrau und könnte durchaus vergessen haben, Mottenkugeln zwischen die Gewänder ihrer Krippenfiguren zu legen. Wenn man sie so anschaut, wie sie zärtlich ihr jüngstes Kind im Arm hält, den wenige Monate alten Hermann, dann wird Margarete einmal mehr klar, dass Lina für solche Dinge nicht den Kopf hat. Die junge Mutter hat sich mit dem Säugling in eine Ecke des Zimmers zurückgezogen. Von dort ermahnt sie die beiden anderen mit sanfter Stimme, nicht herumzuzappeln und leise zu sein. Die Jungen schaukeln im Schneidersitz auf der Ofenbank und schauen erwartungsvoll zu Margarete.

Sie schiebt sich den Zitherring über den rechten Daumen und beginnt mit dem ersten Lied, »Macht hoch die Tür«. Auf die Noten braucht sie nicht zu schauen, stattdessen beobachtet sie die vertrauten Gesichter ihrer Verwandten, die mit geschlossenen Augen die Musik genießen oder mit versonnenem Blick die Krippenszene betrachten.

Margarete entspannt die Schultern und spürt, wie leicht es ihr heute fällt, die Finger der linken Hand fest auf die Saiten zu legen, während die rechte die Saiten zupft. Jedes Mal, wenn sie den hellen, freundlichen Klang ihres Instruments hört, denkt sie, dass es ein Wunder ist: Ausgerechnet sie hat als Einzige von vier Geschwistern ein Instrument gelernt. Ausgerechnet die »lahme Gret«, die seit ihrer Kindheit nicht laufen kann und die im rechten Arm nur wenig Kraft besitzt, hatte es sich mit vierzehn Jahren in den Kopf gesetzt, Unterricht im Zitherspiel zu erhalten.

»Was kommt als Nächstes«, hatte ihre Mutter damals gefragt, als sie vom Herzenswunsch der Tochter erfuhr, »Seiltanzen? Sollen wir die Kreuzer nicht gleich aus dem Fenster werfen? Dann könnte der blinde Hugo sie finden und sich dafür eine warme Decke kaufen.«

Das tat weh, aber Margarete war zu diesem Zeitpunkt bereits geübt darin, solche Bemerkungen an sich abprallen zu lassen. Außer ihr selbst litt niemand so sehr unter ihrer Schwäche wie die Mutter, das wusste sie sehr gut. Maria Steiff sagte solche Dinge, um sich Luft zu machen. Das Gute daran war: Es bereitete Margarete auf das vor, was Nachbarn und Bekannte ihr im Laufe der Jahre sagen würden, direkt ins Gesicht oder auch hinter ihrem Rücken. Es war wie eine Impfung, sie konnte sich wappnen, indem sie lernte, eine hässliche Bemerkung zu übergehen und weiter auf ihr Ziel zuzusteuern.

»Lass mich doch, Mutter, man kann nie genug lernen, und wer weiß, wozu es mir einmal nützen kann. Du beklagst dich, wenn ich herumsitze, ohne etwas zu tun, aber ich kann doch nicht immer und immer häkeln oder nähen. Ich muss doch auch mal etwas Schönes für mich machen. Und seitdem die Schwestern aus dem Haus sind, habe ich so viel weniger Freude. Warum darf ich dann nicht das Zitherspielen lernen? Heißt es nicht ›Müßiggang ist aller Laster Anfang‹? Dann lass mich etwas Schönes lernen, selbst wenn ich gerade mal nichts Ordentliches schaffe.«

Dagegen hatte die Mutter nicht viel sagen können, trotzdem war sie weiterhin nicht einverstanden. Es war der Vater, der die Sache schließlich in seiner ruhigen Art entschied.

»Soll sie es probieren. Der Sautter schuldet mir noch Geld. Die erste Rate kann er mit ein paar Unterrichtsstunden für das Gretle abarbeiten.«

Herr Sautter leitete die Städtische Musikschule von Giengen, eine Institution, die der erfolgreiche Kammersänger Johann Melchior Hähnle seiner Heimatstadt gestiftet hatte. Es war die erste Einrichtung in Deutschland, die kostenlosen Musikunterricht erteilte, allerdings waren Mädchen nicht zugelassen. Steiff traf also eine Abmachung mit Sautter: Er kam zum Unterricht in die Ledergasse, aber weil die Mutter die beiden nicht in Ruhe arbeiten ließ, holte der Lehrer das Mädchen bald nur noch ab, um den Unterricht in seinem eigenen Haus abzuhalten. Es war ein hartes Stück Arbeit, bis sie so weit gekommen war, dass sie sich traute, vor anderen zu spielen und Lieder zu begleiten. Tag für Tag, Woche um Woche hatte sie geübt und war manchmal so verzweifelt gewesen, dass sie überlegte, das Vorhaben aufzugeben. Die Saiten mit der linken Hand zu greifen lernte sie schnell, aber das Zupfen mit der rechten fiel ihr schwer. Meist fing der rechte Arm nach kurzer Zeit an zu zittern, und sie bekam Krämpfe, die bis in die Schulter zogen. Aber weil es so schwierig gewesen war, die Erlaubnis der Mutter zu erhalten, wollte Margarete nicht zu schnell aufgeben.

Hilfe kam von unerwarteter Seite. Tante Ursche, die Schwester ihrer Mutter, beherrschte das Spiel auf der Zither schon lange. Zuerst war sie beleidigt, dass sie nicht mehr die Einzige in der Familie sein sollte, die aufspielen konnte. Doch als sie sah, wie Margarete sich abmühte und ihr vor Anstrengung die Schweißperlen auf die Stirn traten, verspürte sie Mitleid und übte mit ihr. Von Ursche lernte Margarete ein paar einfache Weisen, mit denen sie aber große Wirkung erzielte. Und als beide einmal zusammen musizierten, war niemand stolzer auf Margarete als ihre Mutter.

Es sprach sich bald herum, dass die »lahme Gret« Musik machen konnte, und daraufhin wurde sie noch öfter eingeladen als zuvor. Bei Gleichaltrigen war Margarete ohnehin beliebt, weil sie lustig war und schön erzählen konnte. Man vergisst leicht, dass man eigentlich Mitleid mit ihr haben müsste, dachte sich manch einer in Giengen, weil die jüngste Steiff-Tochter selbstbewusst war und nie jammerte. Man nannte sie ein tapferes Mädle. Und nun musste sie zu ihren Besuchen auch immer das Instrument mitbringen. Nach ein paar Jahren war sie sogar gut genug, um selbst Anfänger zu unterrichten. Die ersten Kreuzer, mit Zither-Stunden verdiente, erfüllten Margarete mit einer tiefen Zufriedenheit. Sie konnte es sich jetzt sogar leisten, neue Stücke in ihr Notenbuch schreiben zu lassen. Es füllte sich schnell mit Kirchenliedern, Tanzweisen, Märschen, Küchenliedern und Ländlern.

Nach dem ersten Lied beginnen Eugen und Otto auf der Bank hin und her zu rutschen und sich zu boxen.

»Still sitzen«, befiehlt Margarete, »sonst spiele ich nicht weiter. Wenn ihr brav seid, habe ich nachher noch eine Überraschung für euch.«

Sie lässt sich Zeit mit dem Vorspiel für das nächste Lied und gibt mit dem Kopf ein Zeichen, als alle in die erste Strophe einfallen sollen.

Während sie spielt, wandert ihr Blick durch die Stube. In den Fenstern zum Garten steht jeweils ein Teller mit einem Apfel, in den Lina eine Kerze gesteckt hat. Vor jedem Teller liegt ein Tannenzweig mit roter Schleife. Mehr Dekoration gibt es nicht. Lina Hähnles Geschmack unterscheidet sich komplett von dem aller anderen Frauen in Giengen. »Ich bekomme keine Luft, wenn auf jedem Tisch und jeder Kommode etwas steht, auch wenn es hübsch ist«, hatte sie Margarete einmal anvertraut, »ich brauche Platz, eigentlich ist mir dieses Haus schon zu eng.«

Bei Hähnles hängen keine Troddeln oder Quasten an den Sofas, es gibt keine Zeitungshalter aus Filz, keine Körbchen und Spitzendeckchen. Für Lina sind das alles Staubfänger. Damit hat sie zwar nicht unrecht, denkt Margarete, aber nicht nur sie selbst lebt ja von solchen Artikeln, die das Haus verschönern. Auch die Filzfabrik von Linas Mann verlässt sich darauf, dass die Menschen immer mehr Dinge anschaffen, selbst wenn es zum Teil nutzloses Zeug ist. Außerdem erwartet man doch bei wohlhabenden Leuten wie Hähnles ein paar Nipptischchen mit Kerzenleuchtern und versilberten Dosen oder kleinen Figürchen. Stattdessen findet man nur Stiche von Waldvögeln an den Wänden, und die einfarbigen Vorhänge musste Margarete nach Linas eigenen Entwürfen mit Schmetterlingen und exotischen Vögeln besticken.

Lina ist für ein großes Haus bestimmt, denkt Margarete oft, für eine Villa, wie ihre Freundin Mina sie in Stuttgart führt, mit Dienstboten und vornehmen Gästen, mit Diners und Bällen. Vielleicht kommt das ja eines Tages noch, wenn Hans seinen Traum wahr macht und die Filzwerke noch weiter vergrößert. Es ist etwas Sonderbares an Lina. Sie liebt ihre Kinder, aber sie sucht sich ständig Aufgaben außerhalb des Hauses. So kümmert sie sich um die Familien der Arbeiter aus der Filzfabrik, besucht Kranke und Familien, die in Not sind, sogar diejenigen, die ihr Mann entlassen hat. Es kommt ihr vor, als könne Lina kein Elend in ihrer Nähe ertragen. Das ist ein schöner Zug von ihr, denkt Margarete, als sie sieht, wie liebevoll Lina ihren Säugling anschaut und seine kleinen Hände küsst. Aber sie kann die Dinge auf Erden nicht verändern, alles bleibt doch so, wie Gott es eingerichtet hat.

Doch sie hütet sich, die Frau ihres Cousins zu kritisieren. Zum einen, weil sie sie sehr gern hat. Zum anderen, weil sie schließlich selbst eine Frau ist, die immer wieder die Grenzen, die man ihr gesetzt hat, überschreitet. Wenn es nach den Vorstellungen des Pfarrers gegangen wäre, der sie konfirmiert hatte, müsste sie immer noch als Lohnnäherin in Giengener Familien arbeiten, wie sie es bis vor zwei Jahren tat. Noch schlimmer war die Aussicht, in einer Anstalt zu leben, wo sie den ganzen Tag Bettzeug für Kranken- oder Armenhäuser nähen, Kerzendochte zwirbeln oder andere stumpfsinnige Dinge tun würde. Lina hat ihr erzählt, dass die Frauen in solchen Häusern wie Gefangene untergebracht sind und auch kein eigenes Geld haben. Sie schlafen in großen Sälen und haben keinen Platz, der ihnen allein gehört, außer dem schmalen Bett und einem kleinen abschließbaren Kasten für persönliche Dinge. Menschen, die nicht für sich sorgen können, landen in solchen Heimen.

Stattdessen hat Margarete eine Werkstatt aufgemacht und vor zwei Jahren sogar ein eigenes Filzgeschäft gegründet. Sie ist eine selbstständige Geschäftsfrau, keine Abhängige. Die Firma Sigle in Stuttgart kauft alles, was sie ihnen schickt, und bietet es in ihrem Kaufhaus und in einem Katalog an. Trotzdem darf Margarete nebenher noch so viel private Kundschaft beliefern, wie sie will. Den Filz bezieht sie von Cousin Hans Hähnle, daher hat sie immer die beste Qualität in allen Farben und Stärken. Fritz und Hans haben sie gut beraten. Ich kann mich glücklich schätzen, meine Familie und meine Freunde wie eine Festung um mich zu haben, denkt sie, und ihr wird dabei warm ums Herz. Nein, sie muss nicht fürchten, in eine Anstalt abgeschoben zu werden.

Mit der Gründung des Filzgeschäfts hat Margarete sich auch zu ein paar anderen Entscheidungen durchgerungen. Während sie mit abwesendem Lächeln den Applaus ihrer Zuhörer entgegennimmt und eine neue Seite in ihrem Notenbuch aufschlägt – jetzt ist ihr mehr nach einem fröhlichen Winterlied zumute –, denkt sie daran, wie ihre Mutter sie ungläubig angestarrt hatte, als sie hörte, Margarete würde Katharina Schnapper als Näherin einstellen. Außerdem hatte sie im selben Jahr eine Magd in Dienst genommen, die ihr als Wärterin bei der täglichen Körperpflege und anderen Dingen des Alltags zur Hand gehen sollte. Seitdem ist sie nicht mehr auf die Hilfe der Mutter angewiesen. Jeden Tag gratuliert sich Margarete dazu, der mütterlichen Bevormundung und Aufopferung entronnen zu sein, war diese doch mit Nörgelei, lauten Seufzern und mal stummen, mal deutlich geäußerten Vorwürfen verbunden.

Worüber die Giengener sich damals jedoch richtig aufgeregt hatten, war weder die Wärterin noch die Näherin, sondern die Holzrampe, die sie an der Gartenseite ihres Elternhauses bauen ließ. Noch bevor das Holz vollständig vom Wagen abgeladen war, kamen die Nachbarn zum großen Palaver zusammen, denn bei den Steiffs gab’s endlich mal was zu sehen. Eine dreißig Meter lange Rampe mit Kehre, die es Margarete möglich macht, selbstständig oder zumindest sitzend im Rollstuhl das Haus verlassen und wieder betreten zu können. Nie wieder wollte sie sich huckepack aus der eigenen Stube tragen lassen, hatte sie sich geschworen. Manche hielten sie für übergeschnappt.

Nein, Margarete ist die Letzte, die Lina Hähnle dafür kritisieren würde, dass die ihren eigenen Kopf hat. Die Freundin träumt von einem Haus am Fuß des Schießbergs, dort will sie am liebsten auch ein Stück Wald haben und es den Tieren und Pflanzen schenken. Der Mensch soll sich dort einfach, wie sie es nennt, »heraushalten«.

»Aber Lina«, sagte Margarete verwundert, als sie von dem Plan hörte, »der Wald und der Mensch – das ist doch eine Freundschaft. Wir sind auf Holz und Reisig angewiesen, und der Wald freut sich, wenn wir ihn besuchen. Wer hört denn die Vögel singen, wenn wir nicht dort spazieren?«

»Unsinn«, entgegnete Lina, »der Wald braucht uns nicht. Glaubst du denn, die Vögel singen für uns? Sie singen füreinander. Wenn Hans mir eines Tages ein Stück Wald schenkt, werde ich es umzäunen und niemanden hineinlassen. Es wird sein wie im Paradies. Von dort sind die Menschen auch verstoßen worden.«

In Margaretes Ohren klang das seltsam, aber sie widersprach nicht. Lina ist zweifellos sehr klug. Sie liest wissenschaftliche Journale und dicke, schwierige Bücher, und am Ende würde sie wohl noch studieren wollen, denkt Margarete manchmal, aber vielleicht würde sie es nicht so weit treiben. Und überhaupt ist den Frauen das ja gar nicht erlaubt.

Als Margarete nach dem nächsten Lied ihr rechtes Handgelenk massiert, wissen Eugen und Otto, dass die Tante eine Pause macht. Jetzt hält es sie nicht mehr auf der Ofenbank, sie stürzen zu ihr und fragen nach der Überraschung. Margarete greift mit geheimnisvoller Miene unter das Tuch im Korb, zieht die Hand aber nicht heraus. »Was glaubt ihr denn, wer sich hier versteckt hat?« Die Kinder lachen voller Vorfreude, ihre Wangen sind von der Wärme des Ofens und der Kerzen gerötet. Doch dann verzieht Otto sein Gesicht, als wolle er gleich anfangen zu heulen, also lässt Margarete ihn nicht länger warten. Sie holt die beiden Filzelefanten hervor. Ihre Satteldecken sind grün und dunkelblau.

Vier Kinderhände strecken sich ihr entgegen und schauen überrascht auf die weichen Tiere mit den freundlichen Augen. Die Jungs stammeln einen Dank und setzen sich – die Rücken zu den Erwachsenen gewendet – vor den Ofen, um ihre Beute zu betrachten und die Größe der beiden Tiere zu vergleichen. Dann krabbeln sie mit den Elefäntle, die sie über den Boden laufen lassen, zu den Eltern, um sie ihnen vorzuführen. Margarete hört die begeisterten Rufe und behält die Jungen im Auge. Eugen tastet über die spitzen Stoßzähne und beginnt dann, einen unsichtbaren Feind zu bedrohen und den Elefanten mit großem Getöse gegen ein Stuhlbein anrennen zu lassen. Gott sei Dank hält das Spielzeug das aus. Schließlich galoppiert Eugen mit Gejohle hinter das Sofa, um sich vor dem Gegner zu verstecken. Margarete dreht sich nach Otto um. Der Vierjährige drückt seine Nase an das Spieltier. Dann küsst er das Elefäntchen ab, von den großen Ohren bis zu den Füßen. Als er dem Tier etwas zuflüstert, ist Margarete wie gebannt. Fritz, der sie gerade in diesem Moment etwas fragt, erhält als Antwort nur eine abwehrende Bewegung. »Warte«, sagt sie leise und wendet den Blick nicht von dem Jungen ab. Etwas an der Art, wie er das Elefäntle liebkost, wühlt sie auf. Ihr Herz klopft wild, so wie sie es auch bei bestimmten Liedern in der Kirche fühlt. Sei nicht so gefühlig, Margarete, schilt sie sich und zwingt sich, nicht mehr zu den Kindern zu sehen und sich an dem Gespräch der Erwachsenen zu beteiligen. Es geht mal wieder um neue Methoden in der Filzproduktion, aber sie ist nicht bei der Sache und schaut doch wieder zu den Jungen hinüber. Die beiden spielen friedlich und lassen die Tiere jetzt auch miteinander sprechen. Eugens Elefäntle erklärt dem von Otto, wo sie heute schlafen werden.

Als Lina sich zu ihr setzt, greift sie nach Margaretes Hand. »Deine Elefäntle, die sind schön. Die haben irgendwas … ich weiß nur nicht was.«

Margarete zögert. Dann sagt sie mehr zu sich selbst als zur Freundin: »Ich weiß es auch nicht so genau. Nur ist es wohl so: Sobald ein Kind das Tier in die Hand nimmt, wird es lebendig.«

Zurück in der Ledergasse sitzt Margarete noch eine Weile in der Werkstatt und blickt vom Erkerfenster, das der Vater eigens für sie eingebaut hat, auf die dunkle Straße. Sie schiebt den Rollstuhl zum Arbeitstisch und holt das letzte Elefäntle heraus, das ihr noch geblieben ist. Vorsichtig, als könne sie dem Tier wehtun, drückt sie es an ihr Gesicht, so wie Otto es gemacht hat. Es riecht nach Wolle, und winzige Fasern kitzeln sie an der Nase. Obwohl sie sich lächerlich dabei vorkommt, hält sie es sich ans Ohr, aber das Elefäntle spricht nicht zu ihr. Sie stellt es zurück auf den Tisch und streicht ihm über den glatten Rücken. Hat es ihr da gerade zugezwinkert? Laut fragt sie: »Was ist dein Geheimnis, Elefäntle? Ich sollte es doch erfahren dürfen, ich hab dich doch genäht. Die Idee mit dem Nadelkissen scheint dir nicht so zu gefallen. Du willst lieber ein Spieltier sein, hab ich recht?« Sie stupst es zart mit der Fingerspitze an und wartet einen Moment. »Die Kinder schließen dich sofort ins Herz«, erklärt sie dem Elefäntle. »Warum? Weil du so hübsch bist? So weich? Oder weil du einen so freundlich anschaust?«

Sie stützt die Ellenbogen auf den Tisch und legt das Kinn auf die Hände. Nun starrt sie das Elefäntle von oben an. Man kann doch nichts von ihm lernen, überlegt sie, ein Filztier bietet keine sinnvolle Beschäftigung, wie es Puppen tun oder Zinnsoldaten. »Leider bist du unnütz«, sagt sie bedauernd, »du bist nur ein kleiner Elefant. Weich und lieb bist du ja. Und du kannst zuhören. Mehr aber nicht.«

Der Schein der Petroleumlampe spiegelt sich in den schwarzen Porzellanknopfaugen, und wieder sieht es so aus, als zwinkere das kleine Tier.

Muss alles einen Nutzen haben?, scheint es zu fragen. Kann ich nicht einfach nur das sein, was du gerade nicht begreifen willst? Die Kinder haben es sofort erkannt. Ich bin ihr Freund.

Margarete merkt, dass ihre Augen feucht werden, und sie tupft die Tränen mit dem Elefäntle weg. Wie gerne würde sie dafür sorgen, dass jedes Kind auf der Welt einen Freund haben könnte, der immer da ist und dem man alles sagen möchte, was man auf dem Herzen hat. Einen Freund, den man einfach nur liebhaben kann.

»Aber das ist unmöglich«, sagt sie traurig, »so viele Elefäntle kann ich ja gar nicht nähen.«

1849 Das Kind kann nicht laufen

Maria Steiff ist mit den Nerven am Ende. Jetzt brüllt der Fritz schon wieder in seinem Körbchen, das zweijährige Gretle sitzt oben in der Stube ganz allein auf einem Kissen unterm Tisch, das Essen für die Großen und ihren Mann ist noch nicht fertig, und ihr ist seit heute morgen so übel, als wäre sie wieder guter Hoffnung. Zu allem Überfluss klopft es jetzt auch noch an der Tür. Vielleicht ist es die Eier-Enni. Maria fällt ein, dass sie dringend Eier kaufen muss, denn die Hühner ihrer Mutter legen zurzeit schlecht, und vielleicht hat die Enni auch die guten Kräuter wieder im Sack, mit denen sie Tee für das Gretle kochen kann.

»Ja! Ich komm sofort!« Sie rührt schnell den Brei einmal um, er steht schon auf dem Tisch und muss nur noch abkühlen, aber auf die Suppe muss sie aufpassen, die darf nicht überkochen. Feuchter Küchendampf legt sich auf Arme und Nacken, und als der Fritz noch lauter jammert, schießt ihr die Milch ein. Sie greift sich den Säugling und zerrt hektisch die Schleife am Mieder auf, um ihm die Brust zu geben. Erschöpft sinkt sie auf einen Schemel. »Jetzt wart halt!«, ruft sie wütend, als es erneut klopft, worauf Fritz vor Schreck die tränennassen Augen aufreißt und gleich wieder anfangen will zu weinen, aber dann lässt er es doch und trinkt gierig. Maria fährt dem Kind über die verschwitzte Stirn. Es ist einfach alles zu viel. Die vier Kinder, das Haus mit dem großen Gemüsegarten, dazu die Buchhaltung für das Baugeschäft ihres Mannes, am Abend noch flicken, waschen und kochen, das kann doch niemand schaffen. Sanft packt sie den Fritz und legt ihn sich über die Schulter, schiebt die Suppe vom Feuer und geht zur Tür. Es ist nicht die Eier-Enni, sondern Ursche, ihre Schwester.

»Du kommst gerade recht, kannst du mir helfen?«

»Ich muss gleich wieder heim, wollte dir nur schnell etwas zeigen.« Ursche führt als unverheiratete Tochter den Haushalt der Eltern und verdient sich durch Näharbeiten einiges dazu. Einmal im Jahr geht sie zu Fuß von Giengen nach Ulm, wo sie bei ihren Freundinnen neue Techniken lernt. Manchmal schicken diese ihr auch Anleitungen, die sie aus Modejournalen ausgeschnitten haben. Ursche schreibt sie sorgfältig ab und sendet sie anschließend zurück. Nie würde sie auf die Idee kommen, selbst ein Journal zu abonnieren, dafür ist sie zu sparsam.

Maria Steiff setzt sich wieder auf den Küchenhocker und gibt Fritz die andere Brust. Ursche schlüpft neben sie auf die Küchenbank und breitet ein mehrfach gefaltetes Papier auf dem Tisch aus. Ob das Gretle oben in der Stube auch brav ist?, überlegt Maria Steiff kurz. Aber was kann das Kind schon anderes machen, als brav sein mit den lahmen Beinen? Also lässt sie sich von der Ursche zeigen, wie man Manschetten mit Häkelspitze verschönern kann.

Margarete sitzt oben in der Stube auf einem alten grünen Kissen, das die Mutter mit weichen Stoffresten statt mit Stroh gestopft hat. »Damit das Kind einen Platz hat, auf dem es auch bleiben möcht«, hatte sie ihrem Mann erklärt, »ich kann ja nicht immer neben ihm stehen.«

Das Sonnenlicht fällt schräg durch das kleine Fenster und malt ein helles Rechteck auf den Dielenboden. Margarete streckt die Hand danach aus und lässt dabei das geknotete Taschentuch fallen, auf dem sie in der letzten halben Stunde herumgekaut hat.

Dass die Mutter sie nur kurz abgesetzt hat, um den Brei zu kochen, hat sie mit ihren zwei Jahren noch nicht verstanden. Ungeduldig wartet sie auf deren Rückkehr. Als es unten scheppert und die Mutter etwas ruft, horcht sie auf. Unwillkürlich schiebt Margarete ihre Hand zum Mund, aber das tröstende Tuch ist nicht mehr da, und sie blickt sich suchend um. Ihr Blick fällt auf den hellen Fleck. Sie beugt sich in seine Richtung und kippt dabei zur Seite. Geschickt dreht sie sich auf den Bauch und robbt über die Dielen. Als sie ihr Ziel erreicht, legt sie die linke Hand auf das leuchtende Viereck, aber sie kann den Lichtstrahl nicht in die Hand nehmen.

»Mama?« Margarete lauscht, aber es kommt keine Antwort. Sie schiebt sich weiter über den Boden und steuert in die Richtung, aus der das Klappern nach oben dringt. Die Tür steht offen, doch die Schwelle hält sie auf. Nur mit großer Anstrengung schafft sie die Hürde und liegt kurz darauf im oberen Flur. Der Geruch des Holzofens schlägt ihr entgegen, vermischt mit würziger Suppe und den Kamillesträußen, die im Flur zum Trocknen hängen. Margarete hat noch keinen Namen für diese Düfte, sie folgt weiter den Geräuschen. Wieder hört sie die Stimme der Mutter, und die Sehnsucht treibt sie an. Mit ganzer Kraft zieht sie sich über den Boden. Als ihr Oberkörper mit Schwung über die oberste Treppenstufe gleitet, stürzt sie ab, schlägt mit dem Kopf auf, mit den Ellenbogen, den Knien, und noch einmal trifft es ihren Kopf. Verkeilt und verdreht bleibt sie auf halber Treppe liegen. Sie ist so überrascht, dass sie einen Moment lang mit großen Augen ins Dunkle starrt, bevor sie den Schmerz spürt und zu schreien beginnt.

»Gretle, um Himmels willen! Du sollst doch oben bleiben. All das Blut, das Blut!« Die Mutter hebt sie hoch, drückt sie an sich, greift sich ein Tuch und presst es auf die aufgeschlagene Lippe, pustet dem Kind ins Gesicht, befiehlt Ursche, sich um Fritz zu kümmern.

Später liegt Margarete im Bett, rechts und links sitzen die Schwestern Marie und Pauline. Sie tupfen liebevoll die verbeulte Stirn, die Nase und die gequollene Lippe mit einem nassen Stofffetzen ab, halten die kleinen feuchten Hände fest, streicheln Margaretes Wangen.

»Das Gretle hat so einen Dickschädel, das hat sich nicht mal was gebrochen, als es die Treppe hinuntergepurzelt ist«, heißt es von dem Tag an in der Familie Steiff. Jedes Mal, wenn sie in den nächsten Wochen durch die Stube robbt, wird ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. »Nein, Gretle, du nicht. Du bleibst schön, wo du bist.« Diesen Satz hört sie so oft, dass sie eine Zeit lang glaubt, ihr Name sei »Neingretledunicht«. Doch ihr Drang, sich von dem Platz, an den man sie setzt, wegzubewegen, wird immer stärker. Es ist wie ein Reflex, und sie krabbelt sofort los.

Mit vier Jahren weiß sie: Türen sind Feinde und Menschen potenzielle Verbündete, denn sie können Margarete tragen, von hier nach da, vor allem aus dem Haus heraus, auf die Gasse oder auf die Wiesen und Hänge rund um Giengen. Margarete will dort sein, wo die anderen sind. Sich still an einem Ort, auf einem Kissen beschäftigen zu müssen, während die Geschwister draußen toben, ist für sie die schlimmste Strafe. Erst viel später wird ihr klar, wie viel Mühe sie der Mutter gemacht hatte, weil sie jahrelang gegen jede geschlossene Tür kämpfte. Da sie es nicht mit Armen und Beinen tun konnte, stemmte sie sich mit Worten dagegen, mit Entschlossenheit und mit endlosen Diskussionen, die ihre Mutter erschöpften und wütend machten.

Margarete erinnert sich als Erwachsene nicht mehr an die Krankheit, die der Lähmung vorausgegangen ist. All das hatte man ihr aber so oft erzählt, dass sie es wie eine Bildergeschichte vor sich sieht.

Mit eineinhalb Jahren hatte sie alleine stehen können und wagte die ersten Schritte an der Hand ihrer Schwestern. Sie war ein kerngesundes Kind, fröhlich und neugierig und hatte schon begonnen, die ersten Wörter zu sprechen. Doch an einem Abend im Januar 1849 bekam sie hohes Fieber, und ihr Hals schwoll so stark an, dass sie kaum noch schlucken konnte. Der ganze Körper muss ihr wehgetan haben, denn sie ertrug es nicht, berührt zu werden. Apathisch lag sie in ihrem Bettchen, weder Hals- noch Wadenwickel verschafften ihr Linderung.

Für die Mutter begann eine anstrengende Zeit. Fritz war erst wenige Wochen zuvor im Dezember geboren, das Weihnachtsfest und die Jahreswende hatte man mit der ganzen Familie im großelterlichen Gasthaus Kanne begangen, es war viel zu tun, und Maria Steiff war schon am Ende ihrer Kräfte, bevor Margarete krank wurde.

»Gretle, was für ein Sorgenkind du doch immer warst. Erst diese schlimme Krankheit, das Fieber so hoch, dass man eine Suppe hätte kochen können, wenn du nur die Ärmchen um den Topf gelegt hättest. Und nachher bist du ständig mit den Beinchen weggeknickt und konntest nicht mehr aufstehen.«

Das Fieber verschwand, die Lähmung blieb. In dem einen Fuß hatte sie gar kein Gefühl mehr, im anderen nur noch ein bisschen, aber nicht genügend, um zu stehen. Tief in Margaretes Erinnerung vergraben ist der Anblick der Mutter, die sie an den Armen rüttelt und sie anschreit: »Steh auf, Gretle, steh jetzt gefälligst auf!« Ihr Gesicht rot und heiß wie ihr eigenes.

Es folgten Besuche bei Ärzten. Sie wurde auf kalte Metalltische gesetzt, befühlt und beklopft. Dann ließ man sie auf den Boden nieder, wollte ihr beim Aufstehen helfen. Und jedes Mal gab es einen Erwachsenen, der allen Ernstes meinte, er müsse dem Kind nur ein verlockendes Bonbon zeigen, damit es auf seinen kurzen Beinen zu ihm laufen würde. »Schau, Gretle, schau, was ich hier habe. Willst du das Zuckerle haben? Ja? Möchtest du?«

Sie hatte immer genickt. Denn sie wollte ja. Sie wollte das Bonbon oder den Kuchen, den feinen Stein und das Kätzchen, alles, womit man sie lockte. Vor allem hätte sie gerne laufen wollen, aber es sollte nie wieder sein. Die Diagnose »spinale Kinderlähmung« kannten die meisten Ärzte 1849 noch nicht.

Sie verschrieben Tropfen und Salben, Kräuter, Wickel, stärkende Tees, kühle Abreibungen. Zuerst kauften die Eltern jede Medizin, die verordnet wurde. In Ulm zeichnete ein junger Arzt, der in Berlin studiert hatte, sogar spezielle Schuhe für Margarete, die der Schuster Edelmann, ihr Nachbar, extra für sie anfertigte. Ein anderer riet zu durchblutungsfördernden Bürsten, mit denen die Nerven in den Fußsohlen stimuliert werden sollten. Nichts von allem half, und bald erklärte Maria Steiff, das Geld sei zu schade für das »unnütze Glump«. Es gab Tage, da war die Mutter so wütend und aufgebracht über die Belastung, die Margaretes Krankheit für sie darstellte, dass sie das Kind packte und zur Kirche trug, wo sie es unsanft neben sich auf die Bank setzte. Sie selbst presste die schweißnasse Stirn auf die gefalteten Hände. »Herrgott, was hast du mit mir vor? Was soll ich tun mit diesem Kind? Warum bestrafst du mich?« Einmal kam der Vater ihnen nach und redete eindringlich auf die Mutter ein. Liebevoll trug Friedrich Steiff seine Tochter zurück in die Ledergasse. Er wickelte sie in ein Schaffell, denn es war ein sehr kalter Winter damals.

Giengen an der Brenz liegt am Rand der Ostalb, etwa dreißig Kilometer nördlich von Ulm. Seine Bürger sind stolz auf die lange Geschichte ihrer Stadt. Schon 1391 wurde Giengen zur freien Reichsstadt erklärt, unterstand damit direkt dem deutschen König oder Kaiser und mauserte sich, von Privilegien begünstigt, zu einem Zentrum der Textilherstellung. Als die Stadt im Dreißigjährigen Krieg fast völlig abbrannte, verlor sie auch ihre Reichsunmittelbarkeit. 1803 wurde Giengen zu Württemberg geschlagen und seitdem vom Oberamt in Heidenheim verwaltet, was zu einem Konkurrenzverhältnis der beiden Orte führte. Giengen hatte bald wieder einen Ruf als Textilstadt. Neben ausgezeichneten Leinwandwebern gab es eine Garnsiederei, eine Walke und eine Bleiche im Ort. Tuche aus Giengen wurden mit einem »G« gezeichnet, in der ganzen Region ein anerkannter Beweis für gute Qualität. 1806 arbeiteten 167 Giengener Handwerker im Textilgewerbe. Der Bauernstand war weniger vertreten, weil die meisten Handwerker selbst ein paar Stück Vieh besaßen, in ihren Gärten Obst und Gemüse zogen und oft ein eigenes kleines Feld außerhalb der Stadtmauer bestellten. Der Markt von Giengen war immer gut besucht, und die Zahl der Schilderwirtschaften, in denen eigenes Bier gebraut und ausgeschenkt wurde, stieg auf sechzehn. Eine davon gehörte Margaretes Großvater Bartholomäus Hähnle, der in der Marktstraße den Gasthof Kanne führte. Seine Tochter Maria heiratete 1838 den Maurermeister Johann Georg Wulz und bezog mit ihm ein Haus in der Ledergasse. Leider schien die Ehe unter keinem guten Stern zu stehen. Ihre beiden Kinder starben im ersten Lebensjahr, und bald darauf fiel Wulz beim Arbeiten vom Dach der Kannenwirtschaft und war sofort tot. Maria erbte die Lizenz für den Handwerksbetrieb, durfte das Geschäft aber selbst nicht führen. Das übernahm ihr erster Geselle Friedrich Steiff. Er und Maria heirateten 1843 und bekamen nacheinander drei Töchter, Marie, Pauline und 1847 Margarete. Ein Jahr später wurde Fritz geboren.