Frida - Maren Gottschalk - E-Book

Frida E-Book

Maren Gottschalk

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Beschreibung

Ein mitreißender Roman über einen Wendepunkt in Frida Kahlos Leben – ihre Zeit in New York und Paris.

Schillernd, charismatisch, spektakulär: So präsentiert sich Frida Kahlo, als sie 1938 in New York ankommt. Ihre Ehe mit Diego Rivera ist an einem Tiefpunkt, doch sie ist fest entschlossen, ihren Lebenshunger in der Metropole zu stillen. Und es scheint ihr alles zu gelingen: Die erste Einzelausstellung ihres Lebens wird ein Triumph, sie schart Freunde und Bewunderer um sich und genießt es, Affären einzugehen – so auch mit dem Fotografen Nickolas Muray, für den sie schon seit langem tiefe Gefühle hegt. In diesen Monaten, die Frida Kahlo nach New York, Paris und schließlich zurück in ihre Heimat Mexiko führen, erobert sie Neuland und folgt unbeirrbar ihrem Weg – als Künstlerin und als Liebende.

Frida Kahlo – Ikone und Kultfigur mit einer riesigen Fangemeinde!

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Seitenzahl: 490

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Buch

Frida Kahlos Reise nach New York und Paris 1938/39 markiert einen Wendepunkt in ihrem Leben: Zum ersten Mal werden ihre Bilder außerhalb ihrer Heimat Mexiko präsentiert, und in beiden Metropolen bescheren ihr die Ausstellungen den Durchbruch: Endlich wird sie als eigenständige Künstlerin gefeiert und nicht nur als die Frau von Diego Rivera, Mexikos berühmtestem Maler, wahrgenommen. In New York trifft Frida Kahlo auch den Fotografen Nickolas Muray wieder, mit dem sie Jahre zuvor eine heimliche Affäre begonnen hat. Was nun zwischen den beiden entsteht, ist jedoch viel mehr als das. In diesen wenigen Wochen, die das Paar gemeinsam in New York verbringt, scheint es, als sei alles möglich. An seiner Seite könnte Frida einen Neuanfang wagen, denn die Ehe mit Diego ist zerrüttet. Doch bevor Frida eine Entscheidung treffen kann, muss sie sich der Frage stellen, wer sie ist und wer sie in Zukunft sein will. Will sie ihr Leben mit Leib und Seele der Kunst widmen? Wird sie stark genug sein, sich trotz ihrer körperlichen Beeinträchtigungen, die sie seit ihrer Jugend begleiten, für ein selbstbestimmtes Leben zu entscheiden? In Maren Gottschalks wunderbarem Roman erwacht die Legende Frida Kahlo zum Leben und begegnet uns als die facettenreiche Persönlichkeit und Frau, die bis heute eine riesige Fangemeinde fasziniert.

Maren Gottschalk

Frida

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Maren Gottschalk

Copyright © dieser Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Montasser Medienagentur, München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Victoria Villasana

CN · Herstellung: Han

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25580-0V002www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Claus

TEIL EINS

New York, 31. Oktober 1938

Als Frida an diesem Morgen aufwacht, fällt ihr Blick sofort auf den roten Rock, der neben dem Bett auf dem Boden liegt. Und sie sieht auch gleich den Riss. Zuerst denkt sie, es sei nur eine Falte, die einen Schatten wirft. Wie ein zerklüftetes Gebirge liegt ihr Tehuana-Rock auf dem Boden, der steife Baumwollstoff zu wild gezackten roten Felsen aufgetürmt. Als Julien gestern Nacht die Bänder an der Taille gelöst und ihr den Rock abgestreift hatte, war das Kleidungsstück in sich zusammengesunken, und Frida hatte es dort einfach liegen lassen. Ein schmaler blauer Streifen zieht sich durch das Stoffgebirge. Das Samtband stammt aus dem Lädchen von Señora Martínez in Coyoacán, und Frida hatte es an der Stelle aufgenäht, wo der Volant beginnt. Vom Bett aus wirkt die blaue Linie wie ein Fluss, der sich durch rote Täler und Schluchten windet und wieder auf die Anhöhe klettert, als brauche er die Gesetze der Schwerkraft nicht zu beachten.

Wenn das Wasser bergauf strömen kann, denkt Frida, dann kann sie heute ohne Schmerzen aufstehen. Sie wird sich waschen, ankleiden, frisieren und ohne Anstrengung die kleine Treppe hinter der Rezeption zum Frühstückssalon hinabsteigen. Über das Getuschel der Ladys mit ihren tristen Frisuren und den engen Kostümjacken wird sie ein strahlendes Lächeln breiten. Der nette Kellner mit der schiefen Nase wird ihr Toast und frisches Obst bringen und sie wie jeden Morgen freundlich anstarren. Sie wird den Toast buttern, solange er heiß ist, und beim Hineinbeißen wird ihr ein goldgelber Tropfen aus dem Mundwinkel zum Kinn laufen.

Sie wird … nein, sie wird nichts von allem tun. Sie weiß es, bevor sie die geringste Bewegung gemacht hat. Der Schmerz in ihrem Fuß ist eine Schlange. Jetzt schläft sie noch, aber sie wird erwachen, sobald sie auch nur einen Muskel anspannt. An manchen Tagen ist das so, sie spürt es gleich beim Aufwachen. Gestern fühlte sie sich gut, aber heute ist die Schlange da. Angelockt von der ungewöhnlichen Wärme, die seit Tagen auf Manhattan drückt. Die Vögel im Central Park spielen verrückt, weil sie sich nicht mehr auskennen. Ihre innere Uhr sagt ihnen, sie sollten sich vollstopfen, um den Winter zu überstehen, aber in der warmen Mittagssonne fangen manche von ihnen an, nach Nistplätzen Ausschau zu halten.

Frida will die Spanne ausdehnen, in der sie den Schmerz noch nicht spürt. Sie liegt auf dem Bauch und atmet flach, damit sie die Schlange nicht weckt. Die Bettdecke ist zu den Hüften heruntergerutscht, Gänsehaut kriecht über ihren Rücken. Mit den Augen tastet sie den Rand der Matratze ab, ihr Blick wandert wieder zum Boden, zum roten Gebirge mit dem blauen Fluss. Ein schöner Rock. Weit wie ein Zelt verbirgt er ihr verkürztes, dünnes Bein und den verdammten Fuß. Wenn sie den Rock auf die Wäscheleine hängt, knattert er wie ein Segel. Niemand weiß, dass sie eine geheime Botschaft in den Saum gestickt hat. Es ist ihr kleines Credo, eine Lebensversicherung für schlechte Tage.

Besser wäre es, wenn sie jetzt nicht zu den Zigaretten auf ihrem Nachtschrank greift, obwohl sie sich nach einem tiefen Zug sehnt. Aber wenn sie den Arm hebt, leiten ihre Muskeln diesen Impuls sofort an die Schulter und den Rücken weiter, von dort geht die Information an die Nerven in der Hüfte, weiter Richtung Oberschenkel, Knie, Waden. Und dann wird der Fuß wach, und die Schlange beißt zu.

Also bleibt sie liegen und horcht. Julien ist nicht mehr da. Es hatte nicht Julien sein sollen, letzte Nacht. Aber der andere war nicht gekommen. Wieder nicht. Seit einer Woche nichts von ihm, keine Zeile, kein Anruf, kein Besuch, obwohl er weiß, dass sie in New York ist und ihre Ausstellung morgen eröffnet wird. Er hatte die Bilder, die sie präsentieren wird, für sie fotografiert, damit sie die Aufnahmen nach Paris schicken kann, wo ebenfalls eine Ausstellung geplant ist. Aber aus irgendeinem Grund entzieht er sich ihr, und sie weiß nicht, warum. Also nahm sie gestern doch wieder Julien mit. Weil er es so sehr wollte und sie nicht allein sein kann an manchen Abenden. Gut, dass er jetzt weg ist, denn niemand sollte bei ihr sein, kurz bevor die Schlange aufwacht. Einzig den Koloss kann sie in diesen Momenten ertragen. Diego, Ehemann und Scheißkerl. Sie schlafen schon lange nicht mehr im selben Bett. Wenn er sich im Schlaf bewegte, geriet Frida wie ein Boot auf hoher See ins Schaukeln. Diego, das Monster, das sie zum Wahnsinn treibt. Carasapo nennt sie ihn, Froschgesicht. Aber es ist auch Diego, der sie so zart in seinen Armen halten kann, dass sie sich in einen Schmetterling verwandelt.

Aber das ist lange her. Sie sind schon lange kein glückliches Paar mehr. Und doch halten sie aneinander fest, weil sie etwas anderes verbindet als eine Heiratsurkunde.

Das Gebirge auf dem Boden verschwimmt vor ihren Augen, es sieht jetzt aus wie ein Stück Fleisch. Die Schlange ist wach. Frida stöhnt und dreht sich auf den Rücken. Jetzt ist es sowieso egal, ihr Fuß und das ganze rechte Bein brennen.

Sie setzt sich auf, lehnt sich an die Kissen, lässt den Kopf nach hinten sinken und seufzt. Immerhin das: Die Amerikaner bestücken ihre Hotelbetten mit dicken, weichen Kissen.

Sie nimmt das Röhrchen vom Nachttisch, schiebt sich zwei weiße Tabletten in den Mund, greift nach dem Wasserglas, es ist leer. »Mierda!« Das Glas fliegt auf den Boden, zerstört das Gebirge. Sie beugt sich hinab, wühlt in dem roten Stoff, findet darunter eine Flasche mit einem Rest Tequila. Die Schmerzen sind jetzt so stark, dass sie aufheulen möchte, sie spült die Tabletten runter, zündet sich eine Zigarette an, lehnt sich zurück, wartet, dass die Chemie in ihrem Blut die Schlange bändigt. Ein Bild flackert hinter ihren Augen. Sie sieht sich selbst auf der Erde liegen, aus ihrem Inneren wachsen Blätterranken, mit denen sie den Boden vergiftet.

Als die Schlange nach einer Weile betäubt ist, kehrt die Freude zurück. Der schwere Vorhang zwischen Schmerz und Welt hat sich gehoben, die Bühne ist hell erleuchtet, sie ist wieder im Spiel, verspürt Hunger und Durst. Erst jetzt dringen die Geräusche der Straße zu ihr, das Rauschen des Verkehrs, das Hupen der Busse, die Stimmen der Zeitungsverkäufer. Kisten werden abgeladen, Autotüren geschlossen, Kinder ausgeschimpft, Fahrräder gebremst. Frida atmet tief durch. Sie drückt die Zigarette aus und greift mit den Händen nach dem roten Rock auf dem Boden. Sie legt ihn sich aufs Gesicht, er riecht nach Heimat, nach Staub und nach der Würze des Marktes von Coyoacán. Sie schnuppert sich am Samtband entlang, hier riecht es nach Schnaps, dort nach Melone. Und da wie nasser Hund, vielleicht hat ihr kleiner Nackthund Herr Xolotl vor Kurzem noch seine dreckige Pfote daraufgelegt?

»Bist du wach?«

»Komm rein.«

In der Hotelzimmertür erscheint eine junge Frau. Vivian sieht aus wie ein Werbemodel aus einer Zeitschrift. Ein gleichmäßiges hübsches Gesicht, kurze gewellte hellblonde Haare mit einem tiefen Seitenscheitel. Sie hat schöne Zähne, die sie bei jedem Lachen ganz ungeniert zeigt, worum Frida sie beneidet. Vivian trägt gut sitzende Kostüme, und bevor sie das Hotel verlässt, holt sie ein Paar Lederhandschuhe aus der Manteltasche, das zu ihrem Halstuch passt. Die Familie hat lange versucht, ihr den Schauspielberuf auszureden, aber Vivian setzte sich durch und versucht nun, sich mit Jobs durchzuschlagen, abgesehen von gelegentlichen Schecks, die ihre Mutter heimlich schickt. Im Moment hat sie keine Proben und spielt daher Fridas »Hofdame«, wie sie es nennt. Dass Julien eigens jemanden engagiert, der sich um die Künstlerin kümmert, die er ausstellt, ist eine ungewöhnliche und großzügige Geste.

»Wie viel zahlt Julien dir dafür, dass du mich jeden Tag aus dem Bett wirfst?«

»Nicht viel, das meiste Geld bekomme ich, weil ich ihm erzähle, mit wem du ins Bett gehst … Darling, was für ein Chaos ist das hier?« Sie hebt Kleidungsstücke vom Boden auf, dann sieht sie Frida genauer an.

»Schmerzen? Hast du noch genug Tabletten? Im Schrank ist mehr, habe ich gestern geholt.« Sie schaut kurz nach, die Schachtel mit dem Nachschub ist noch da.

»Kannst du aufstehen? Da sind zwei Leute von der New York Times in der Lobby, was soll ich ihnen sagen?«

»Sie sollen warten. Ich brauch noch was.«

»Geh erst mal ins Bad, ich räume so lange auf. Und dann ziehen wir los.«

Vivian eilt geschäftig hin und her, während Frida sich vorsichtig dehnt und streckt, um herauszufinden, ob die Schmerzen wirklich verschwunden sind. Sie beneidet Vivian auch um die Mühelosigkeit, mit der diese sich nach ihrem rebozo bückt, dem sonnengelben Umhang mit den blauen Fransen. Sie faltet ihn, aber bevor sie ihn in den Schrank legt, fragt sie Frida: »Hast du eigentlich mitbekommen, was gestern hier los war? Die Sache mit War of the Worlds?«

Frida nickt. »Julien wusste davon und dass es nur ein Hörspiel war. Wir sind ganz gemütlich im Restaurant sitzen geblieben. Dort hat sowieso niemand Radio gehört. Gib mir den rebozo mal rüber, ich glaube, da haben sich ein paar Fransen verknotet.«

»Dann hattet ihr Glück! Ich war in der U-Bahn, als die Sendung lief, und als ich die Treppen zum Ausgang hochstieg, hätten mich ein paar Verrückte fast umgerannt. Die Leute sind in Panik in die U-Bahn geflohen, um Schutz zu suchen.«

»Vor Marsmenschen. Hahaha.« Frida gähnt.

Vivian faltet ein paar Oberteile von Frida und legt sie in den Schrank.

»Es klang wohl ziemlich echt. Viele haben tatsächlich geglaubt, dass wir angegriffen werden. Dieser Orson Welles ist offenbar ein Genie. Was hätten deine Leute in Mexiko gemacht, wenn es dort im Radio gelaufen wäre?«

Frida zündet sich eine neue Zigarette an.

»Sie hätten hola chicos gesagt und ihnen die Pyramiden in Teotihuacán zum Wohnen angeboten.«

»Komm schon. Im Ernst!«

Frida rekelt sich und fährt sich durch die offenen Haare. Sie sind verfilzt. Sie wird sie waschen müssen. Julien hat ganze Arbeit geleistet. Immer will er ihr die Haare kämmen.

»Na los. Nun sag schon.« Vivian steht vor ihr und wartet.

»Dios mío, ich weiß nicht, was meine Leute gemacht hätten. Mexikaner sind abergläubisch, aber nicht so voller Panik wie ihr Gringos.«

Vivian sieht sie zweifelnd an.

»Wenn du meinst. Jetzt steh besser mal auf, ich sag den Journalisten Bescheid, dass sie noch etwas warten sollen. Wir haben heute einiges vor, und morgen ist ein großer Tag.«

Allerdings, denkt Frida, während sie die Zigarette ausdrückt und keine Anstalten macht aufzustehen. Monatelang hat sie auf diesen Tag hingelebt. Ihre erste Einzelausstellung, fünfundzwanzig Bilder und alle von ihr. Eine richtige Ausstellung in New York, nicht irgendwo in der Provinz, sondern in einer der feinsten Galerien, die es in der Stadt gibt, bei Julien Levy. Auf der Einladung steht ihr Name in großen schwarzen Lettern. Sie ist so stolz darauf, dass sie Julien sogar den Zusatz verzeiht, den er unter ihren Namen in Klammern setzen ließ: »Frida Rivera«. Es war nicht abgesprochen, aber was soll’s, die meisten wissen ja, dass Diego ihr Ehemann ist. Sie solle sich nicht darum kümmern, hatte Diego ihr eingeschärft: »Die Journalisten werden versuchen, dich zu provozieren und als kleine Frau des großen Malers darzustellen, als Anhängsel, als Schmuckstück in meiner Sammlung. Geh nicht darauf ein. Sei stark, sei stolz, sei du selbst.«

Genau das hat sie vor. Sie wird den Tag am Schopf packen und alles herausschütteln, was an Glück darin verborgen ist. Und vielleicht wird sogar Nick morgen Abend da sein.

»Wozu hast du heute Lust?«, fragt Vivian.

»Essen, trinken, einkaufen, baden. Und ein bisschen Liebe.« Frida wickelt sich in die Bettdecke und steht vorsichtig auf. Es geht gut, der Schmerz ist kaum noch zu spüren. Sie setzt sich vor die Frisierkommode und zieht eine Kette aus dem bestickten Beutel, in dem sie ihren Schmuck aufbewahrt.

Im Spiegel begegnet sie Vivians Blick.

»Liebe gibt es erst wieder nach der Vernissage.« Vivian hält Fridas roten Rock in der Hand und betrachtet den Riss. »Du brauchst deine Kraft.«

»Nichts gibt mir so viel Kraft wie ein guter Liebhaber.«

»Wie schade, das ist richtig zerrissen. Soll ich das reparieren lassen?«

»Gib her, ich mach das selbst.«

»War das Julien?«

»Möglich. Er hat mich fotografiert.« Sofort bereut sie den Satz.

»Im Bett?«

»Nein. Aber nackt. Also … na ja … nur halb nackt. Aber behalte es für dich, das muss nicht jeder wissen.«

»Sei vorsichtig. Wenn dein Mann das erfährt, dreht er durch. Nach allem, was ich von ihm gehört habe.«

Frida dreht sich wütend zu ihr um.

»Hör mal, chica, das ist nicht deine Angelegenheit, oder? Sag du mir nicht, was ich zu tun habe!«

»Äh sorry, ich wollte nur …?«

»Was? Mir einen Rat geben? Bin ich nicht alt genug, um zu wissen, was ich tue? Und nur weil ich ein Krüppel bin …«

»Frida, du bist doch nicht …«

»… musst du mir nicht sagen, wann ich vorsichtig zu sein habe. Verstanden?«

»Schon gut.« Vivian geht zum Bett und hebt das Glas auf.

»Außerdem und weil es dich offenbar so sehr interessiert: Diego und ich sind nur noch Freunde. Dem ist egal, was ich mache.«

»Klar, Frida, tut mir leid.«

Frida atmet einmal tief durch. Sie schaut Vivian nicht an, als sie sagt: »Vergiss es. Geh doch schon mal runter, ich komme, so schnell ich kann.«

Vivian nickt und zieht leise die Tür hinter sich zu.

Frida lässt die Kette auf der Glasplatte des Frisiertischchens liegen und geht ins Bad. Die mattgelben Kacheln, abgesetzt mit einem schmalen schwarzen Streifen, glänzen edel und kostbar. Sie mag das Gefühl, eine antike Königin zu sein, wenn sie badet. Das Barbizon Plaza liegt an der 6th Avenue/58th Street, nur einen Block vom Central Park entfernt. Für eine überzeugte Kommunistin völlig unpassend, hätte sie früher gesagt, aber von Diego hatte sie gelernt, dass Kommunisten in den USA sogar weiße Dinnerjackets tragen dürfen, wenn sie bei den Kapitalisten etwas erreichen wollen.

Als Frida mit Diego vor sieben Jahren zum ersten Mal in New York war, konnte sie der Stadt nicht viel abgewinnen. Es kam ihr vor, als lebten die Menschen hier in Käfigen oder Backöfen. Sie hatte die Gesichter der alten Damen sogar als ungebackene Brötchen bezeichnet. Heute tut ihr das leid. Seit ihrer kleinen Flucht in die Staaten, kurz nach der Katastrophe, nach Diegos Verrat vor vier Jahren, hat sie New York ins Herz geschlossen. Inzwischen fühlt sie mehr Verständnis für seine Bewohner und bewundert ihre Kühnheit und ihren fast schon fanatischen Glauben an Fairness und Fleiß. Die New Yorker leiden außerdem an Rastlosigkeit und sind nicht glücklich, wenn sie nicht jede Woche mindestens eine Theaterpremiere und zwei Restaurantbesuche absolvieren können, ganz abgesehen davon, dass sie ständig ins Kino gehen und in Bars sitzen. Neue Bücher, Filme, Opern – alles gibt es hier im Überfluss. Und auch wenn es niemand schafft, immer up to date zu sein, so wollen die New Yorker wenigstens über alles reden können. Deshalb kaufen sie mehrfach am Tag eine Zeitung, und die Mitarbeiter der Feuilletons sind bei ihnen hoch angesehene Leute.

Frida findet, dass sie selbst sehr gut in die Stadt passt. Jeden Tag wandelt sie in ihren bunten Kleidern und mit Blumen oder Bändern im Haar durch die Straßen und freut sich, wenn die Leute ihr hinterherschauen. In New York gibt es ordentliche Cocktails, wenn auch nur selten gutes Essen, aber dafür sympathische, herzliche Menschen. Sie hat Freunde hier. Leute, mit denen sie abends trinken und denen sie mexikanische Lieder vorsingen kann. Außerdem wird sie ihre Bilder präsentieren und Kontakte zu Sammlern knüpfen. Deshalb hat sie sich auf die Reise gefreut. Wenn alles gut geht, wenn ihr Fuß und ihr Rücken mitmachen, wird sie bis zum Frühjahr hierbleiben.

Beim ersten Mal kam sie als Diegos kleines Mädchen nach New York, beim zweiten Mal als betrogene Ehefrau mit blutendem Herzen. Jetzt kommt sie als Eroberin: Frida Kahlo, die Malerin.

San Ángel, Frühling 1938

»Das ist ein Ritterschlag, mi amor«, sagt Diego, als sie ihm von Levys Angebot erzählt, ihre Bilder in seiner Galerie zu zeigen. »Das feiern wir, wir geben eine große Abschiedsparty, bevor du ins Gringoland fährst.« Sanft löst er die Hände des kleinen Affen Fulang-Chang von seinem Hals und setzt ihn auf den Tisch im Patio. Das Tier springt sofort zurück und umklammert Diegos Unterarm mit Händen und Füßen. Als Diego aufsteht und in die Küche geht, schwingt das Äffchen hin und her, seinen Kopf auf Frida gerichtet.

»Nimm die Teller mit, Dickwanst«, ruft Frida hinter ihm her, aber Diego reagiert nicht. Er holt zwei Gläser und eine Flasche Tequila und knallt sie auf den Tisch. Zwei Orangen kullern zum Rand des Tisches, auf dem sich Zeitungen stapeln und Arzneifläschchen zwischen Spielzeugen von Fulang-Chang liegen. An manchen Tagen ist ihnen jeder Anlass zu trinken recht. Und warum braucht es überhaupt einen Anlass? Es ist ein warmer Abend im Frühling, die Luft schmiegt sich weich und voller Düfte auf die Haut. Frida zieht die Blumenschale unter einer aufgeschlagenen Zeitung hervor und stellt sie in die Mitte des Tischs.

Ihre Schwester Cristina war mit den beiden Kindern gekommen und hatte die Post aus der Casa Azul mitgebracht. Sie hatten zusammen gekocht und gegessen, aber dann wurden die Kinder müde, und Cristina fuhr nach Hause. Jetzt sitzen Frida und Diego alleine am Tisch, heute ohne Besuch, ohne Menschen, die sie voneinander wegziehen könnten, wie es der Schiedsrichter im Boxring mit den Kontrahenten macht, wenn sie sich ineinander verkeilt haben.

Sie sind getrennt und verbunden in ihrem Atelierhaus, der Casa Estudio in San Ángel. Das Haus erregt immer noch Aufsehen. Ihr Freund Juan O’Gorman, Architekt und Maler, hatte ihnen diesen extravaganten kleinen Palast gebaut, der aus zwei Würfeln besteht. Diego bewohnt den größeren roten Kubus, Frida den kleinen blauen. Die Brücke zwischen den beiden Häusern ist versperrt, sie benutzen sie nicht mehr, seit jenem schrecklichen Tag, als Frida entdeckt hatte, dass Diego sie mit ihrer Schwester betrog. Frida war ausgezogen und wieder zurückgekehrt. Jetzt leben sie in einem ungeklärten Frieden, den sie sich jeden Tag wieder von Neuem erarbeiten müssen. Manchmal ist es nur ein halb garer Waffenstillstand, der immer wieder von kleinen Scharmützeln unterbrochen wird.

Diego schenkt ihnen beiden ein, steht auf und hebt sein Glas.

»Auf dich, Friducha. New York! Da musst du hin, mein Mädchen, unbedingt. Du wirst Sammler treffen, Kritiker, Künstler, Autoren, Verleger, Schauspieler! Lauter wichtige Leute! Ich könnte fast neidisch werden, aber ich kann jetzt nicht hier weg.« Seine Stimme hallt zwischen den beiden Kuben hin und her. »Du wirst es allen zeigen, ich weiß es!«

Breitbeinig steht er vor ihr, groß und wuchtig. Er fährt sich mit der einen Hand durch die drahtigen kurzen Haare, während die andere mit dem Glas herumfuchtelt und eine Referenz andeutet. Schließlich verbeugt er sich wie ein Zirkusdirektor und verzieht dabei seinen breiten Mund zu einem freundlichen Lächeln.

»Frida Kahlo, bitte schön, la reina,die Königin!«

Frida lehnt sich auf dem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Sie hat Schmerzen. Die vierte Operation ihres verdammten Fußes liegt erst wenige Wochen zurück. Diego hat sich wieder gesetzt und schenkt nach. Mit dem Glas in der Hand deutet er auf sie.

»Du hast eine eigene Sprache, einen ganz besonderen Stil. Deine Bilder sind voller Schmerz und Schönheit. Sie sind wahr!«

Sein Blick ist zärtlich. Ein wenig wie früher, denkt Frida. Diego ist freigiebig mit seiner Zärtlichkeit, er hat genug davon, sie wächst ihm aus den Fingern, den Augen, aus dem ganzen verdammten Mann. Und jede Schlampe holt sich was davon ab. Vor allem die Amerikanerinnen laufen ihm nach wie Hündinnen.

»Ich werde allen unseren Bekannten in New York schreiben«, fährt Diego fort, und seine Aussprache ist nicht mehr ganz akkurat, »damit sie zu deiner Ausstellung kommen, den Turners, den Rockefellers und überhaupt … Gib mir einen Zettel, ich mache eine Liste mit allen wichtigen Namen.«

»Ich weiß noch gar nicht, ob ich fahre.« Frida legt die Hände flach auf den Tisch und zählt ihre Ringe. Es sind sieben.

»Was? Bist du verrückt?«

»Vielleicht will ich gar nicht fahren.«

»Aber du … das ist deine Chance!«

»Du meinst, das ist deine Chance, panza? Wenn ich weg bin, kannst du hier herumvögeln, wie du willst, morgens, mittags und abends. Immer und überall, sogar hierher kannst du die Huren schleppen, in mein Haus und in mein Bett. Das ist es doch, worum es dir geht! Mich wegschicken, damit du endlich machen kannst, was du willst, du mieser Kerl. Froschgesicht, du kannst mich mal!«

Frida steht auf und humpelt zu ihrem blauen Kubus.

Diego schreit ihr hinterher: »Du mich auch, du Hexe! Ich weiß schon lange, dass du keine Gelegenheit auslässt, den Kerlen schöne Augen zu machen! Du bist mindestens so unersättlich wie ich. Du machst es nur heimlich. Und das ist noch schlimmer!« Er wirft eine Orange nach einem Kaktus am Rand des Grundstücks. Sie zerplatzt, und der Kaktus sieht aus, als habe man ihn verwundet. Diego wirft noch eine zweite Orange hinterher. »Du bist eine durchtriebene kleine Schlampe, das wissen alle! Und hast du nicht gesagt, wir sind jetzt Freunde? Redet man so mit einem Freund?«

Frida kommt zurück, und sie streiten weiter, wie sie es oft tun, ihr Vorrat an Schimpfwörtern ist groß. Sie trinken, schreien, schimpfen, er haut auf den Tisch, und sie wirft die Stühle um.

Am Ende sitzen sie sich müde gegenüber, an ihrem langen Tisch im Patio zwischen ihren Häusern, ihren Bastionen. Nur sie beide und das, was von ihrer Ehe übrig ist. Zwei wütende, enttäuschte Menschen, die sich nicht festhalten und nicht loslassen können. Diego reicht seine Hände zuerst über den Tisch. »Komm her, meine Süße, ich brauche dich, Frida, niña … Sei friedlich, kleine böse Frau, du weißt, dass ich gar nicht ohne dich sein kann …«

Er steht auf, greift nach ihr und zieht sie um den Tisch zu sich herüber, setzt sich wieder, hebt sie auf seinen Schoß und küsst sie. Sie nimmt sein Gesicht in die Hände und sieht ihn an. Es geht nicht mit ihm, und es geht nicht ohne ihn. Noch nicht.

»Gut, ich fahre nach New York und werde dort jedem erzählen, dass du ein Schwein bist.«

»Du sollst Bilder verkaufen und neue Bilder malen. Oder wenigstens ein paar Zeichnungen. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich will die Liste schreiben.«

Frida zieht das Tuch um ihre Schultern fester und geht um die beiden Häuser herum. Um den großen und den kleinen Kubus mit der toten Brücke. Ihr Freund, der Architekt, wusste es schon vor ihnen. Sie sind getrennt und verbunden auf ewig.

Der Mond scheint auf die beiden Würfel und die Kakteen, die entlang der Grundstücksgrenze wachsen. Sie stehen in einer ordentlichen Reihe, wie armlose, kopflose Soldaten.

»Die Armee der Verkrüppelten beschützt die Riveras, Gott sei uns gnädig«, seufzt Frida.

Als sie später in den Patio zurückkommt, ist Diego eingeschlafen und schnarcht. Sein Kopf liegt auf einem Brief. Frida zieht das Papier vorsichtig unter Diego hervor. Der Brief ist für einen Sammler, der ein paar Gemälde von Diego besitzt. »Sie müssen Fridas Ausstellung in der Galerie Levy besuchen, mein Freund«, liest sie jetzt, »ich empfehle sie Ihnen nicht als ihr Ehemann, sondern als großer Bewunderer. Ihre Bilder sind beißend und zart zugleich, hart wie Stahl und fein wie Schmetterlingsflügel.«

Frida streicht Diego über den Kopf. Sie holt eine Decke und legt sie über den schlafenden Riesen. Dann setzt sie sich und lehnt sich an ihn.

New York, 31. Oktober 1938

Als Frida und Vivian das Barbizon Plaza verlassen, sprechen die beiden Journalisten sie an. Ob sie Mrs Kahlo beim Stadtbummel begleiten dürfen? Ein paar Fragen stellen und Fotos machen?

Das Wetter ist auch heute wieder mild, Frida trägt nur ein grünes Wolltuch über einer roten Bluse und einem schwarzen Rock, der mit Blumen bestickt ist. Um den Hals hat sie eine lange silberne Kette gewunden, an der ein Anhänger aus Stein baumelt. Grinsend hält sie ihn Vivian vor die Nase.

»Gegen die Marsmenschen …«

Vivian reagiert nicht.

Frida hat die Haare straff nach hinten gekämmt und zu einem tiefen Knoten geschlungen. Sie trägt Stiefel, die sie beim letzten Besuch in der Elizabeth Street gekauft hat, genauso wie die kleine mit Glasperlen besetzte Tasche, die aus einem Trödelladen stammt und einmal einer reichen Dame beim Opernbesuch gedient haben könnte. Als ein feiner Nieselregen einsetzt, winkt Vivian ein Taxi heran, und sie fahren zu viert nach Little Italy, wo Frida Haarspangen und Likör kauft, während der Fotograf ein paar Aufnahmen von ihr macht und der Reporter mit Vivian flirtet. In dieser Gegend wirkt Frida nicht ganz so exotisch wie in Midtown oder Upper Manhattan.

Sie genehmigen sich einen Espresso an einem klebrigen Holztisch in der Mulberry Street. Frida lässt sich einen ordentlichen Schuss Amaretto in die Tasse geben und betrachtet die Szene zufrieden. Die Besitzer der schmalen Lädchen benutzen die Hausfassaden als Erweiterung ihrer Schaufenster und hängen Teppiche, Stühle, Tischdecken, Anzüge und Lederstiefel daran. Auf der anderen Straßenseite stehen dicht an dicht die Karren der Obst- und Gemüsehändler. Wenn zwei Pferdefuhrwerke aneinander vorbeifahren wollen, gibt es immer etwas zu sehen, besonders für die Matronen aus dem ersten Stock, die sich einen Schemel auf den Balkon gestellt haben und sich über die Straße hinweg kurze schrille Sätze zurufen, die wie Kommandos klingen, aber eigentlich nur verschlüsselter Klatsch sind. Kleine Kinder hocken in langen Hemdchen neben ihnen und verfolgen sehnsüchtig die Abenteuer der großen Geschwister auf der Straße. Ein Mann in Unterhemd und Hosenträgern raucht auf einem Balkon. Er folgt dem Ruf einer heiseren Frauenstimme ins Zimmer und zieht den Vorhang sorgfältig hinter sich zu.

Frida und ihre Begleiter gehen nach dem Espresso an den Marktkarren vorbei und essen gegrillten Fisch in einem Lokal direkt hinter den Ständen.

»Gestern war ich mit Julien in seiner Bank an der 5th Avenue. Plötzlich standen ein paar Kinder neben mir und fragten mich, wo der Zirkus sei, in dem ich auftreten würde.«

Die anderen lachen, aber ihr Blick sagt Frida, dass sie die Frage der Kinder für gar nicht so dumm halten.

Unter dem Tisch legt der Fotograf seine Hand auf Fridas Knie und lächelt. Frida schiebt die Hand weg und fragt, ob er Nickolas Muray kenne.

»Klar. Nicht persönlich. Ist ja ein richtiger Star. Fotografiert alle celebrities in der Stadt. Geschichte wie im Märchen, hab ich gehört. Kam mit nichts als ein paar Dollar nach New York, stammt irgendwo aus dem Osten, aus Europa, glaube ich …«

»Ungarn«, ergänzt Frida und bemerkt nicht, dass Vivian sie interessiert anschaut.

»Genau, irgendwo aus dem Osten. War damals ein armer Schlucker. Und … zack! Heute hat er ein großes Studio mit zig Angestellten. Jedes Hochglanzmagazin druckt seine Fotos. Der könnte sogar sein Klo fotografieren, und die Zeitungen würden es kaufen.«

»Was heißt das? Zack?« Fridas Augen haben sich verengt, ihre Stimme klingt ruhig, aber Vivian merkt, dass sie schon wieder wütend ist.

»Weiß nicht. Zack wie Glück? Schicksal? Wenn ich es wüsste, würde ich es sofort nachmachen, Mrs Kahlo.«

Frida steht auf und blickt dem jungen Mann ins Gesicht. Sie greift nach seinem Kinn und lächelt süß, während sie hart zufasst.

»Versuchen Sie es doch mal mit harter Arbeit, junger Mann. Mit Fleiß. Und mit Genialität. Dann klappt es mit Zack vielleicht auch bei Ihnen, wer weiß?«

Sie sieht sich nach ihrem Umhang und ihrer Tasche um.

»Ruf uns ein Taxi, Vivian.«

Auf der Fahrt Richtung Uptown fragt Vivian beiläufig: »Du kennst ihn, oder?«

»Wen?«

»Den Fotografen. Nickolas Muray.«

»Er ist ein Freund von uns. Jedes Jahr verbringt er ein paar Wochen in Mexiko. Aber dieser Idiot gerade …«, Fridas Hände zerknüllen unsanft ihren schönen Umhang, »… der kapiert überhaupt nicht, dass Nick für seinen Erfolg hart gearbeitet hat. Ich kann es nicht ausstehen, wenn so ein großmäuliger Wicht über Nick redet, als habe der nur Glück gehabt.«

»Ich hab ihn bei Julien getroffen. Guter Typ irgendwie. Aber schon ein bisschen alt.«

Frida schaut sie befremdet an. »Mit sechsundvierzig?«

Vivian verdreht die Augen. »Ich bin zwanzig!«

»Wenn du einen Mann wie Nick als ein bisschen alt bezeichnest, dann bist du wirklich ein Baby.«

Vivian schaut zum Fenster hinaus und zieht eine Grimasse. Hoffentlich bessert sich ihre Stimmung heute noch, denkt sie.

An der 5th Avenue, Ecke 54th Street steigen sie aus. Vivian tänzelt herum und ahmt dabei einen bekannten Slogan aus der Radiowerbung nach: »Drei Marken sind es, die auf der ganzen Welt jeder kennt: Singer Nähmaschinen, Coca-Cola und Elizabeth Arden. Und hier sind wir schon. Du willst einen neuen Lippenstift aus New York? Bitte schön! Es muss nicht immer Revlon sein.« Sie deutet auf die rote Tür des vornehmen großen Hauses.

Inzwischen hat es stark zu regnen angefangen, und sie stellen sich rasch unter die rote Markise vor dem Schaufenster. Frida schaut sich die Auslagen an, während Vivian ungeduldig von einem Bein aufs andere tritt. Ihre Riemchenpumps haben dünne Sohlen, und sie will schnell hineingehen.

»Die Lombard benutzt nur Produkte von Arden und sagt, sie seien fantastisch. Für Hollywood gibt es eine ganze Serie. Wir nehmen das im Theater auch … wenn gerade mal Geld da ist.«

Ein Portier öffnet ihnen die auffällige Tür, und sie stehen in einem eleganten Treppenhaus.

»Wir müssen in den ersten Stock, okay?« Frida nickt, und sie steigen die Treppe hinauf.

»Ich hab gesehen, dass du für deine Lippen Everything’s Rosy von Revlon benutzt. Die Farbe sieht toll bei dir aus. Aber Arden hat auch sehr schöne Rottöne.«

Frida spürt ihren rechten Fuß, ihr Knie, die Hüfte. Sie ist müde.

»Anmalen lasse ich mich von denen nicht, claro?«

Die Treppe mündet in einem ovalen Empfangsraum mit einem glänzenden schwarz-weißen Marmorfußboden. In der Mitte steht eine weiße Bodenvase mit roten Gladiolen. An der Wand hängt ein breiter Spiegel. Frida wirft einen Blick hinein. Sie und Vivian sehen aus wie zwei Puppen in einem Regal für Riesenkinder, eine mexikanische und eine amerikanische. Über der Tür steht »Elizabeth Arden – der Beautysalon«. Auch hier öffnet ein livrierter Türsteher mit einem Lächeln. Parfumduft schlägt ihnen entgegen. Frida blickt sich um, der Boden ist mit einem roten Teppich ausgelegt, und an der Decke hängen große milchweiße Lampen wie Hochzeitstorten. Gegenüber vom Eingang nimmt ein hoher Schrank mit Glastüren die ganze Wand ein. Darin sind die Produkte ordentlich aufgereiht wie in einem Museum. Auf der Theke davor Kristallflakons mit roten Etiketten. Seitlich lädt eine elegante Sitzgruppe in rot-weiß gestreiftem Chintz zum Sitzen ein. An den freien Wänden hängen Fotos von schönen Frauen, die verklärt in die Kamera lächeln oder mit geschlossenen Augen irgendeine Gesichtsbehandlung zu genießen scheinen, bei der Schwämme, Bürstchen oder seltsame Apparaturen aus Metall zum Einsatz kommen.

Da sich niemand vom Personal blicken lässt, geht Frida an der Wand entlang und studiert die Fotos. Ein sehr großer Abzug zeigt eine Gruppe von Frauen in Bademänteln, die andächtig einer Person im weißen Kittel lauschen. Sie hält ein Gerät in der Hand, das wie ein mit Draht umwickeltes Nudelholz aussieht. Darunter steht, die Dame im Kittel erläutere hier die Funktion eines Slimmers. Amerikanerinnen haben für alles ein Gerät, denkt Frida, sie kennt das aus den Küchen ihrer hiesigen Freundinnen. Was man in Mexiko mit Messern, Tontöpfen, Holz und einem einfachen Herd zubereitet, dafür braucht man in den USA mehrere elektrische Geräte.

»Das ist auf ihrem Landsitz bei Mount Vernon in Maine«, flüstert Vivian neben ihr. »Sie nennt ihr Anwesen jetzt Beautyfarm. Dort kannst du dich eine Woche lang verschönern lassen. Ist bestimmt sehr teuer.«

»Kann ich Ihnen helfen?«

Eine lächelnde Verkäuferin in einem schwarzen Kleid mit roten Knöpfen steht plötzlich hinter ihnen. Sie sieht wie ein Ladenmädchen bei Joaquín aus, wo es die leckersten Kuchen in Mexiko-Stadt gibt, aber Frida weiß, dass es keinen Zweck hat, sie nach einer Tasse Kaffee und dulces zu fragen.

Die kurz geschnittenen schwarzen Haare des Mädchens glänzen wie ein Helm aus Krähenfedern. Sie mustert Frida, und ihre Mundwinkel zucken dabei, als wüsste sie nicht, ob sie sie nach oben oder nach unten ziehen soll.

Als Vivian die pikierte Miene der Verkäuferin bemerkt, stellt sie sofort ihre lässigste Upper-East-Side-Hochnäsigkeit dagegen, flatternde Augenlider und schleppende Stimme. Ob die Verkäuferin so freundlich wäre, der bekannten mexikanischen Malerin Frida Kahlo eine Auswahl an roten Lippenstiften zu zeigen? Sie klingt gelangweilt, so als sei die Verkäuferin ein dummes Kind, und es wirkt. Das Mädchen nickt freundlich und deutet auf die Theke, aber Vivian steuert die Sitzgruppe an.

Frida will ihr folgen, aber als sie spürt, wie ihre Stiefel tief in den Teppich einsinken, bleibt sie für einen Moment stehen, fühlt die Weichheit des Bodens und genießt, wie er nachgibt. Wie schön müsste es sein, sich jetzt hinzulegen, mit ausgebreiteten Armen in das warme Rot zu sinken, den Hinterkopf weich gebettet, mit jedem Finger eine Rille zu graben. Im nächsten Augenblick ist sie bei Vivian.

Bevor sich die beiden setzen, geht die Tür auf, und eine helle Frauenstimme ruft: »Vivian! Also jetzt kenne ich dein Geheimnis!«

Eine Nixe schwimmt ihnen entgegen. Statt Fischschwanz trägt sie ein silbern glitzerndes Kostüm und einen aquamarinfarbenen Schal. Ihre Haare sind leuchtend rot, und ihre helle Haut schimmert, als stünde sie im Wasser. Frida kennt die Nixe, und sie weiß auch, dass sie schöne Beine hat, die sie auf einer Party vor zwei Jahren um Nick geschlungen hatte, als er zu betrunken war, um sich zu wehren. Nick trinkt kaum und raucht selten. Er ist verloren, wenn man ihm einen Cocktail zu viel einflößt.

Vivian begrüßt die Nixe mit einem Lächeln. Zu Frida, die sich auf das Sofa gesetzt hat, sagt sie: »Das ist Margaret Robinson, wir kennen uns von der Schauspielschule. Margaret, kennst du Frida Kahlo?«

»Selbstverständlich. Wir sind uns schon begegnet, vor ein paar Jahren.« Sie reicht Frida eine Hand, die in einem hellgrauen Wildlederhandschuh steckt. »Ich habe gehört, dass Sie morgen bei Julien ausstellen! Wenn ich es schaffe, komme ich natürlich.«

Vielleicht ist es freundlich gemeint, vielleicht auch nicht. Frida ist sich bei den Amerikanerinnen nicht immer sicher. Sie jonglieren gekonnt mit ihren höflichen Floskeln, während Frida sich nur auf ihren Instinkt verlassen kann, um zu ergründen, was eigentlich dahintersteckt. Obwohl ihr Englisch inzwischen ganz passabel ist, fühlt sie sich einfältig und schwerfällig neben diesen Gringas. Sie zwitschern sich ihre kleinen Sensationen im federleichten Plauderton zu, und sie muss sich anstrengen, um zu verstehen, worum es geht, um mitreden zu können. Wenn sie getrunken hat, fällt es ihr leichter.

»Qué gusto verte«, sagt Frida höflich, als würde sie sich wirklich freuen, sie wiederzusehen. »Soll ich Sie auf die Gästeliste schreiben lassen?«

Das ist, wie sie zugeben muss, definitiv nicht freundlich, denn es gibt natürlich keine Gästeliste, zur Vernissage kann jeder kommen. Das Lächeln auf Margarets Gesicht friert ein. Vivian spürt die Spannung zwischen den beiden Frauen und zieht Margaret zur Vitrine. Die junge Verkäuferin bringt ein Tablett mit einer Auswahl von Lippenstiften, einem Handspiegel und einer Kleenex-Box.

Bevorzugen Sie Rosétöne oder lieber dunkle Rottöne?

»Rot«, sagt Frida und nimmt einen der Stifte in die Hand. Goldfarbenes, schweres Metall, das gefällt ihr. Ihre Revlon-Stifte sind auch so. Ein junges Mädchen in einem einfachen schwarzen Kleid mit weißer Schürze erscheint und stellt zwei kleine, mit Wasser gefüllte Gläser und eine Schüssel mit Bonbons ab. Frida trinkt das Glas sofort aus und spürt, dass sie Lust auf einen Drink hat. Vielleicht sollte sie mit Vivian die nächste Bar ansteuern. Wenn es nicht anders geht, nehmen sie die Nixe eben mit.

Sie entscheidet sich für einen Lippenstift mit dem Namen All Day Afternoon Red, ein warmes Weinrot. Vivian, die inzwischen bei Frida sitzt, ist begeistert, und auch die Nixe findet die Farbe schön, als sie sich zu ihnen gesellt. »Für mich wäre sie zu auffällig, aber bei Ihnen sieht es sehr passend aus.« Frida grinst. Die ist ja nicht blöd, die Nixe, denkt sie.

»Vámonos, wir gehen was trinken, kommen Sie mit?«

»Darf ich Ihnen noch unsere neue Puderkreation vorführen?« Die Verkäuferin baut sich vor Frida auf, damit sie nicht aufstehen kann. Frida benutzt kein Puder, aber bevor sie etwas sagen kann, hat die Verkäuferin eine große weiße Dose geöffnet, tupft eine roséfarbene Puderquaste hinein, schüttelt sie in der Luft aus – und Frida sieht eine zarte Wolke auf sich zuschweben. Glitzernde Funken blinken darin. Ihr wird eiskalt.

»Darf ich? Es ist unsere Neuheit und sehr beliebt bei den Kundinnen. Wie Sie sehen, hat Elizabeth Arden winzige Goldpartikel hineingemischt. Sie verleihen Ihrer Haut einen besonders edlen Schimmer, schauen Sie …«

Die Puderquaste nähert sich bedrohlich, und Frida reißt die Augen auf. Sie will »No, no, no« schreien oder wenigstens mit dem Arm das Gesicht vor der funkelnden Wolke schützen, aber sie sitzt da wie versteinert. Festgenagelt auf dem kleinen Sofa starrt sie auf die Wolke, die wabernd auf ihr Gesicht zusteuert und alles in einen Nebel einhüllt, in dem es golden aufblinkt. Sie weiß, dass die Wolke sie begraben wird und die Quaste ihr den Tod bringt. Frida dreht den Kopf weg, aber die Quaste verfolgt sie, und schon riecht sie den parfümierten fedrigen Stoffball. Noch bevor er ihr Gesicht berührt, weiß sie, wie er sich anfühlt und dass sie keine Luft kriegen wird, wenn er sie erwischt.

In diesem Moment ist sie wieder achtzehn Jahre alt und sitzt im ruckelnden Bus neben Alejandro. Sie hört das Quietschen der Straßenbahn, die sich in den Bus frisst. Sie erlebt noch einmal, wie der Aufprall sie von ihrem Sitz hochreißt, sie durch die Luft wirbelt und sie hart auf dem Boden aufschlägt. Da ist wieder der unsagbare Schmerz in ihrem Unterleib, als sich die Eisenstange durch ihren Körper bohrt, sekundenschnell und zugleich langsam wie eine Schnecke. Frida will schreien und bleibt doch stumm, sie reißt nur die Augen auf. Für eine Sekunde wird die Welt in gleißendes Licht getaucht und verliert ihr Geheimnis. Lächerlich, dass das Ganze nicht einmal eine Minute dauert, es sind nur wenige Sekunden, die alles verändern, ihr Leben und das von anderen.

An diesem Nachmittag des 17. September 1925 im Zentrum von Mexiko-Stadt werden manche Menschen bei dem schweren Unfall sterben, während andere nur eine Schramme davontragen. Der Anstreicher, der neben ihr im Bus gestanden hat, geht unverletzt nach Hause. Als er zur Tür hereinkommt, fragt ihn seine Frau, wo das teure Goldpulver ist, das er kaufen wollte. Mit leiser Stimme, so leise, dass seine Frau nachfragen muss, erzählt er ihr, das Paket sei bei einem Unfall verloren gegangen. Sie beginnt zu klagen, aber da nimmt er ihre Hand, ganz sanft, wie es sonst nicht seine Art ist, und jetzt flüstert er nur noch, das Pulver sei über einem jungen Mädchen zerplatzt, das wie tot auf dem Boden gelegen hätte, die Augen weit aufgerissen, ihr junger Freund habe weinend neben ihr gehockt. Sie sei bestimmt gestorben, denn eine Eisenstange habe sie durchbohrt, das habe er zwischen ihren zerfetzten Kleidern erkennen können. Er habe gesehen, dass sein Goldpulver sich auf ihrem blutigen Bauch verteilt habe. Und das kann doch niemand überleben, sagt er zu seiner Frau, die inzwischen ganz still ist und sich hingesetzt hat. Oder das Mädchen sei fortan verkrüppelt, für immer gezeichnet. Die Frau des Anstreichers schweigt und lässt ihn für den Rest des Tages in Ruhe. Sie werden auf neues Goldpulver sparen.

All das sieht Frida, während sie auf die Puderquaste von Elizabeth Arden starrt, und endlich schießt sie doch vom Sofa hoch, stößt die Verkäuferin weg und hastet aus dem Verkaufssalon ins Treppenhaus. Schwer atmend lehnt sie sich an das Geländer, lässt sich auf die Stufe sinken und schließt die Augen. Aber es nützt nichts, weil der Alptraum noch nicht zu Ende ist. Ihr Alptraumfilm geht weiter. Während Vivian den Lippenstift bezahlt, Fridas Umhang und Tasche aufsammelt und die Verkäuferin weint, weil sie gestürzt ist, und die Nixe nur schweigend von einem zum anderen blickt, sieht Frida das Puppentheater ihres Lebens von oben. Der Tod ist der Spieler, er hat die kleine, blutende Frida-Puppe hochgerissen und mit hinter die Bühne genommen. Dort hält er sie in das grelle Licht der Wahrheit, das sich hinter den Kulissen befindet. »Schau her«, sagt er zu ihr, »schau dich um, vielleicht bist du bald wieder hier.« Dann hatte er sie zärtlich wieder in den Bus gelegt, der halb zerdrückt auf der kleinen Bühne steht, er hatte das Goldpulver über ihr verstreut und war verschwunden.

Frida hatte auf dem Rücken gelegen, aufgespießt und zerquetscht, und sie hatte in viele erschrockene Gesichter geblickt. Da war Alejandro, dessen Augen so aufgerissen waren wie ihre, seine Tränen tropften auf ihre Wangen. Sie wollte ihm sagen, sie hätte jetzt alles gesehen, was es auf dieser Welt zu sehen gäbe, er solle ihr die Augen schließen und sie sterben lassen.

Später waren es die aufgerissenen Augen der Ärzte und Schwestern, dann die ihres Vaters. Jeder, der sie sah, hatte zuerst die Augen aufgerissen und dann den Blick abgewandt. Niemand konnte dem standhalten, was ihre Augen sagten: »Ich kenne das Nichts. Ich habe alles gesehen.«

Jahre später hörte sie, wie jemand Diego fragte: »Warum malt Frida den Unfall nicht? Vielleicht würde es ihr helfen?«

»Sie malt ihn ja«, war seine Antwort gewesen, »sie malt ja nichts anderes. Der Unfall steckt in jedem verdammten Bild von ihr. Frida schaut die Welt anders an als wir alle.«

Da wusste sie, dass sie Diego für immer lieben würde. Er war der Erste, der sie verstanden hatte. Er stellte eine Verbindung her, die der Unfall durchtrennt hatte, und schloss damit die Lücke. Endlich konnte der Strom wieder fließen. Ohne ihn hätte sie nicht weiterleben können.

Weiß er das? Während Frida sich von Vivian und der Nixe die Treppe herunterführen und zum Ausgang bringen lässt, während sie die nächste Bar ansteuern und sie den Gin Tonic trinkt, den ihr jemand in die Hand gedrückt hat, fragt sie sich zum tausendsten Mal, ob Diego es weiß. Und ob er sie beschützen wollte, als er ihr auszureden versuchte, das Maskenbild zur Ausstellung in New York zu schicken.

San Ángel, Frühling 1938

Als Diego die Arbeiten durchsieht, die sie ausgewählt hat, fischt er eine Bleistiftzeichnung heraus und legt sie zur Seite.

»Die lässt du hier.«

Frida stellt sich neben ihn.

»Du findest sie schlecht?«

»Das habe ich nicht gesagt. Sie ist sogar sehr gut. Aber sie gehört nicht in die Ausstellung. Behalte sie für dich, verstecke sie vor den Leuten.«

»Warum, gordito?«

»Du wirst sehen, dass ich recht habe, Friducha.«

»Nein, ich mag diese Zeichnung, sie gehört zu meinen guten Arbeiten. Ich will sie ausstellen.«

Diego nimmt die Zeichnung wieder in die Hand und studiert sie aufmerksam.

»Also, was sehen die Leute? Eine Frau auf einem Stuhl, die ein Blatt auf dem Schoß hält und mit der linken Hand etwas zeichnet. Die rechte Hand gibt es gleich fünfmal. Fünf Hände rücken ihren Kopf zurecht oder eine Maske.«

»Ja und?«

»Was denken die Leute darüber? Das kann ich dir sagen. Sie denken: Oh, diese Frau trägt ja eine Maske, sie zeigt mir gar nicht ihr Gesicht. Aber das ist doch das Gesicht von Frida Kahlo! Also ist das Gesicht auf ihren Bildern immer eine Maske? Wie sieht es dahinter aus? Lacht sie, weint sie?«

»Hör auf. Du weißt genau, dass es nicht so einfach ist.«

Frida setzt sich auf einen Stuhl und legt den rechten Fuß auf einen Hocker. Diego merkt, dass sie Schmerzen hat, er streicht ihr kurz übers Haar.

»Ja, ich weiß das. Und ein paar andere vielleicht auch. Sie fragen sich: Sind es überhaupt die Hände der Frau, oder gehören sie jemand anderem? Dem Schicksal? Gott? Und warum steckt der Stift in der linken Hand? Was ist das für ein wilder Haarschopf hinter ihrem Kopf, sitzt dort noch jemand? Und je länger man schaut, desto unklarer wird das, was wir sehen. Bis wir am Ende völlig verwirrt sind und uns fragen: Ist es überhaupt Frida auf dem Bild? Oder jemand anderes? Aber das, Friducha, fragen sich nur die Leute, die sich Zeit nehmen für eine Bleistiftzeichnung. Die meisten werden das nicht tun, und stattdessen glauben sie, sie hätten mit diesem Bild einen Schlüssel zu dir. Und das ist der Gedanke, den ich nicht ausstehen kann.«

»Na und, sollen sie das denken, solange sie meine Bilder kaufen und ich Geld dafür bekomme, was soll’s? Und außerdem: Du bist doch nicht der Einzige, der meine Bilder versteht.«

Diego seufzt und legt die Zeichnung wieder auf den Stapel.

»Mach, was du willst mit dem Scheiß.«

New York, 1. November 1938

Zum ersten Mal hat sie den Besuch auf dem Friedhof ausgelassen. In New York kann sie den Día de Muertos, den Tag der Toten, nicht so begehen wie in Mexiko. Hier liegen keine Verwandten von ihr begraben, und außerdem darf man in New York auf den Friedhöfen weder singen noch essen. Deshalb hat sie den 1. November im Metropolitan Museum verbracht und lange vor den Bildern von Claude Monet gestanden, zum einen, weil sie Monet liebt, zum anderen, weil sie weiß, dass Nick den Künstler einmal in Giverny besucht und fotografiert hat und sie sich ihm auf diese Weise ein bisschen näher fühlen konnte.

Als sie sich abends für ihre Vernissage in der Galerie Levy fertig macht, fragt sie sich, ob Nick heute Abend auftauchen wird. Inzwischen ist sie weniger traurig als wütend über sein Schweigen. Kurz nach ihrer Ankunft in New York hatten sie kurz telefoniert, und er sagte, er müsse beruflich für ein paar Tage nach Los Angeles, würde sich aber gleich melden, wenn er zurück sei. Das hat er bisher nicht getan, dabei müsste er längst zurück sein. Sie hatten sich so aufeinander gefreut.

Was ist passiert seit ihrer letzten Begegnung im September, als er ihre Bilder fotografiert hatte? Sorgfältig bürstet Frida ihre schwarzen Haare und schaut sich dabei im Spiegel an.

Sie hatten zuletzt wenig Zeit füreinander gehabt. Weil André Breton und seine Frau Jacqueline Lamba während ihrer Mexikoreise bei ihnen in Coyoacán wohnten, waren Diego und sie oft mit ihnen über Land gefahren, was Breton als »magische Inspiration« bezeichnete. Breton wollte aber auch viel Zeit mit Trotzki verbringen, der auf der Flucht vor Stalins Geheimagenten in Mexiko gestrandet war. Er verdankte es nicht zuletzt Diegos Einfluss, dass der mexikanische Präsident Cárdenas ihm und seiner Frau Natalja Exil gewährte. Seit Januar 1937 lebte er schon bei ihnen in der Casa Azul. So kam es, dass sich die Riveras im Sommer und Herbst in der Rolle geduldiger Gastgeber und fantasievoller Fremdenführer bewähren mussten.

Nick, der Breton nicht leiden konnte, hatte fast immer schlechte Laune, wenn sie sich gemeinsam trafen. Sie waren auch fast nie allein.

Es hatte nur sehr kurze, heimliche Treffen gegeben, gestohlene Momente, sagte Nick, denn sie hatten ihnen auch gar nicht wirklich gehört. Sie erinnert sich an schnelle, unzufriedene Blickwechsel über einen langen Esstisch hinweg, an dem zehn Leute saßen, die nichts von ihnen wissen durften. Es war nicht ihre beste Zeit gewesen, seit sie sich vor sieben Jahren kennengelernt hatten. Aber was konnten sie denn auch verlangen? Nick hatte seine dritte Scheidung hinter sich. Sie war noch immer verheiratet mit Diego. Der sie betrogen hatte. Den sie verlassen hatte. Aber damit war sie noch nicht frei. Stattdessen war sie mit tausend Fäden an ihren Ehemann geknüpft. Niemand kannte sie so gut wie er, und auch wenn sie manchmal glaubte, dass sie ihn abgrundtief hasste, so konnte sie sich ein Leben ohne ihn überhaupt nicht vorstellen. Er war der Felsen, an den sie sich klammerte, wenn die Schmerzen und die Angst vor einem frühen Tod sie überfluteten. Warum konnte Nick das nicht verstehen?

Nur bei einer Begegnung im Herbst waren Nick und sie unbeschwert gewesen. Nick hatte sie sehr waghalsig auf dem Markt von Coyoacán abgepasst, und weil sie allein gewesen war, hatte er sie in ein schickes cremefarbenes Cabriolet verfrachtet und war einfach losgefahren.

Frida sagte, sie fühle sich wie eine Gangsterbraut, woraufhin Nick seine rechte Hand ganz kurz in ihren Nacken legte, dann musste er gleich das Steuer wieder festhalten, weil der Wagen ständig schlingerte. Nick begann zu singen, ein ungarisches Lied. Sie verstand kein Wort davon, aber sie mochte es, ihn in seiner Muttersprache singen zu hören. Er war so eifrig bemüht, ein richtiger Amerikaner zu sein, dass er sein ungarisches Erbe mehr und mehr zu verlieren schien, was sie schade fand.

»Wenn du einmal durch das Nadelöhr Ellis Island gequetscht worden bist, dann hast du einen Teil deiner alten Identität verloren«, hatte er in einem der wenigen Momente gesagt, in denen er bereit war, von seiner Auswanderung zu erzählen. Er beschrieb ihr die bange Zeit des Wartens, die demütigenden Untersuchungen durch amerikanische Ärzte, die Angst, den entscheidenden Augenblick zu verpassen, in dem der eigene Name aufgerufen wird, falsch und daher fast unverständlich ausgesprochen von einem Beamten der Einwanderungsbehörde, der nicht einsah, dass er sich beim Vorlesen der polnischen, ungarischen oder österreichischen Namen Mühe geben sollte. »Wenn man diesen Moment verpasst hat, nach dem Aufruf sofort zur Schranke zu gehen, konnte es sein, dass sie dich von der Liste strichen und du zurück aufs Schiff musstest. Wir hatten höllische Angst davor und haben uns schon auf dem Schiff gegenseitig mit verballhornten Namen gerufen, um gewappnet zu sein.«

»Ungarisch ist eine schöne Sprache«, rief Frida durch den Lärm, den das Auto machte.

Nick sah sie an.

»Ist es ein schönes Land, Ungarn?«

»Ja, sehr!«

»Meine Vorfahren kommen auch aus Ungarn.« Das stimmte nicht, aber sie wollte so gerne etwas mit Nick gemeinsam haben, und der Gedanke gefiel ihr.

Nick lachte und schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Du bist ein Geschöpf der mexikanischen Erde, meine aztekische Göttin.«

»Nur durch meine Mutter, aber mein Vater stammt aus Deutschland, und er hatte ungarische Vorfahren.«

»O weh.« Nick schlug spielerisch die Hand vor den Mund. »Am Ende sind wir noch verwandt?«

An einem See hatten sie angehalten und davon geträumt, wie schön es sein würde, wenn sie sich im Winter in New York sehen würden.

Frida versucht, ihre Erinnerungen scharf zu stellen und Bild für Bild zu betrachten. Aber es geht nicht. Der Film reißt ab in dem Moment, als Nick sich über sie beugt.

»Frida, na endlich, komm her, hier!« Julien winkt sie zu sich, als sie seine Galerie betritt.

Sie ist zu spät, und das ärgert ihn. Sie erkennt es an den herrischen Bewegungen seiner linken Hand. In der rechten hält er ein Glas, das er jetzt seiner Assistentin in die Hand drückt. Er wartet nicht, bis sie bei ihm ist, sondern bahnt sich einen Weg durch die Menge.

Die Galerie Levy ist zum Platzen gefüllt, die Luft feucht. Frida hat noch niemanden erkannt, fast schüchtern ist sie an der Tür stehen geblieben, wie eine Statue, steif und aufrecht.

Als Levy sie erreicht, umarmt er sie flüchtig. »Wo warst du denn? Vivian sollte dich doch pünktlich abliefern. Alle warten auf dich! Komm mit, die Kritiker wollen mit dir reden. Ganz wichtig.«

Levy nimmt ihr den nassen Umhang ab und schiebt sie sanft durch den Raum, die Leute treten höflich zur Seite, als sie begreifen, wer sie ist. Frida trägt einen langen Tehuana-Rock aus blauer Baumwolle mit Spitzen und Bändern. Darüber eine reich verzierte weiße Bluse und eine große Brosche an der Brust. An den Fingern stecken ihre sieben Lieblingsringe, die Nägel hat sie heute Nachmittag tiefrot lackiert. Als sie den bunt gemusterten Umhang mit den Fransen locker über ihren Schultern drapiert, klappern die silbernen Reifen an den Handgelenken. Sie hat die Haare hochgesteckt und rosafarbene Bänder hineingeflochten, und an den Ohren baumeln schwere präkolumbianische Anhänger.

Endlich entdeckt sie ihre amerikanischen Freunde Geena und Norman Turner. Sie kennen sich seit 1933, als Diego im New Yorker Rockefeller Center sein kapitalismuskritisches Wandgemälde Der Mensch am Scheideweg ausführte und darauf auch Lenin verewigte. Nelson Rockefeller verlangte von Diego, Lenin zu übermalen, was er verweigerte. In der hitzig geführten Kontroverse, die auch in den Zeitungen ausgetragen wurde, gehörten die Turners zu denen, die Diego den Rücken stärkten. Sie sind Mitglieder der hiesigen Kommunistischen Partei, fallen allerdings ebenso wenig durch Parteitreue auf wie Diego, bevor man ihn ausschloss. Als Rockefeller das Fresko ein Jahr nach seiner Fertigstellung zerstören ließ, standen die Turners protestierend vor dem Gebäude. Seit damals fühlt Frida sich ihnen verbunden, und sie schreiben sich regelmäßig. Beide sind belesen, humorvoll, gastfreundlich und bei vielen Künstlern sehr beliebt. Geena, groß und etwas behäbig, trägt heute wie fast immer ein unvorteilhaftes Kleid, und Normans Anzug sieht aus, als habe er ihn von jemand, der kleiner ist als er, geschenkt bekommen. Dass die eleganten Rockefellers ein paar Meter weiter stehen, ignorieren beide Paare geflissentlich.

Frida winkt ihren Freunden nur zu, denn Julien stellt sie jetzt dem ersten Kritiker vor, der sie interviewen will. Sie muss sich vor eines ihrer Gemälde stellen, damit die Fotografen ihre Arbeit machen können. Einer von ihnen sagt, sie sei das sechsundzwanzigste Kunstwerk in diesem Raum. Alle Umstehenden lachen, auch Frida.

»André Breton schrieb, Ihre Arbeiten seien wie ein farbiges Band um eine Bombe, hat er recht?« Der Mann vom Time Magazine trägt eine Hornbrille. Auf seiner blassen Stirn haben sich kleine Perlen gebildet. Die Spitzen seiner dunklen Haare sind feucht. Frida würde ihm gerne ein Tuch reichen, aber das geht natürlich nicht, vor allem nicht in New York. Frida findet den Mann sympathisch. Sie gibt sich Mühe mit der Antwort.

»Ich male, was ich sehe. Nicht, was ich träume. Ich war viel allein, und daher male ich nur Bilder, die in mir sind. Ich weiß nicht, ob sie wie eine Bombe wirken. Für mich sind es einfach nur … wahre Bilder.«

Der Mann macht sich Notizen. Mit einem schiefen Lächeln fragt er:»Warum … verzeihen Sie, aber warum sind Ihre Bilder so … äh … gynäkologisch?«

»Sind sie das?«

»Ich finde schon.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sie zeigen auf diesem Bild dort eine Frau, die eine Fehlgeburt hat, oder nicht?«

»Ja und?«

»Ist das nicht gynäkologisch?«

»Sie meinen, wie aus einem medizinischen Lehrbuch?«

»Nein, natürlich nicht, Ihre Darstellung ist anders … aber …«

Frida betrachtet ihr Bild Henry Ford Hospital.

»Eine Blume, eine Schnecke, eine Stadt …«, zählt sie auf und schaut ihn fragend an.

Er nickt und fährt fort: »… und eine Blutlache, ein totes Kind, ein Beckenknochen …«

»Ich habe drei Kinder verloren. Das ist nicht gynäkologisch, das ist mein Leben.«

Der Kritiker will etwas sagen, aber dann lässt er es. Er umkringelt das Wort »gynäkologisch«, das er sich schon vorher notiert hatte, denn es gefällt ihm zu gut, um es zu streichen.

Später steht Julien wieder bei ihr und reicht ihr ein Glas Wein.

»Gut gemacht. Drei Interviews, und alle waren zufrieden. Besser kann es nicht laufen. Es sind alle hier, alle. Morgen wird es in den Zeitungen stehen: ›Frida Kahlo, die großartige Malerin aus Mexiko‹. Diego wird stolz auf dich sein!«

»Diego kann mich mal!«

Julien greift nach ihrer Hand.

»Bevor ich dich zu deinen Freunden lasse, musst du noch ein paar Leute treffen, die vielleicht etwas kaufen … mal sehen … wer ist hier noch … Ah, Dr. Meyer, guter Kunde, Psychiater, bisschen schräger Typ, aber ein Kenner. Er hat mir schon dreimal gesagt, er wolle unbedingt mit dir sprechen.«

Julien schiebt Frida sanft, aber zielstrebig zu Meyer, der in einer Ecke steht, stellt sie einander vor und zieht sich zurück.

»Ich möchte es kaufen«, sagt er und zeigt auf Meine Großeltern, meine Eltern und ich. »Und dann werde ich es in meiner Praxis aufhängen.«

»Das freut mich sehr«, sagt Frida ehrlich.

»Wenn man Ihr Bild betrachtet, kann man sich ein paar Semester Psychologiestudium sparen.«

»Weil ich zeige, dass unsere Familien wichtig sind?«

»Weil wir der Familie nicht entrinnen können. Und das wissen Sie selbst sehr gut. Die Familie ist unser Schicksal. Wir haben keine Wahl.«

»Ja, das ist wohl so.«

»Darf ich Sie einmal zum Essen in den Stork Club einladen, solange Sie in New York sind? Gerne mit Mr Levy zusammen und ihren Freunden. Norman Turner kenne ich ja auch.«

Frida sieht sich nach Julien um, der fröhlich plaudert und immer wieder zu ihr herüberzeigt, damit jeder die Künstlerin sieht. Das sechsundzwanzigste Kunstwerk.

»Sehr gerne.« Frida ist müde und holt die Zigaretten aus ihrer Tasche, Meyer gibt ihr Feuer.

»Ich mag die Arbeiten Ihres Mannes auch«, sinniert er, weiter den Blick auf ihr Bild gerichtet, »aber auf ganz andere Weise. Rivera erzählt mir Geschichten, die in Mexiko spielen oder auch hier in den USA. Aber Ihre Bilder zeigen das, was in uns selbst passiert. Es braucht viel Mut, um solche Bilder zu malen, Mrs Kahlo. Ich hoffe, Sie verstehen mich jetzt nicht falsch, aber ich glaube, dass nur eine Frau solche Bilder nach außen bringen kann. Eine Frau, die viel vom Leben weiß.«

Die Luft in der Galerie wird immer schlechter, obwohl die ersten Gäste schon gegangen sind. Die Fensterscheiben sind beschlagen, und der Regen dringt unter der Tür durch. Frida und Geena sitzen nebeneinander auf einer Holzkiste, auf der zuvor die Gläser gestanden hatten. Wer jetzt noch kommt, muss sich ein Glas aus der Küche holen.

Ihnen gegenüber hängt Was ich im Wasser sah. Es ist eines ihrer besten Bilder, findet Frida. Alles steckt in diesem Bild. Auch Nickolas, der nicht erschienen ist, obwohl er es ihr versprochen hatte. Jeden Tag blättert sie an einem Kiosk die teuren Magazine durch, um zu sehen, ob ein Foto von Nick darin ist. Vor ein paar Tagen war es irgendeine blonde Schauspielerin in Vanity Fair, davor war es ein europäisches Komponistenehepaar in der New York Times. Tag für Tag hat sie auf ihn gewartet.