Jenseits der Ngong Berge - Maren Gottschalk - E-Book

Jenseits der Ngong Berge E-Book

Maren Gottschalk

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Beschreibung

Es ist ein strahlend klarer Morgen, als die 28jährige Tania Blixen im Januar 1914 in Mombasa zum ersten Mal afrikanischen Boden betritt. Sie ist überwältigt von dem märchenhaften Anblick der Stadt, vor allem aber ist sie aufgeregt, denn am Kai erwartet sie ihr künftiger Ehemann Baron Bror Blixen. Hier in Kenia soll ihr neues Leben beginnen, das voller Verheißung vor ihnen liegt. Sie kaufen eine Kaffeefarm, malerisch gelegen unterhalb der Ngong Berge, und Tania taucht ein in diese für sie so fremde, exotische Welt, die ihr zur geliebten Heimat wird. Als sie 17 schicksalsträchtige Jahre später in ihr Geburtshaus in Dänemark zurückkehrt, hat sie alles verloren: Ihre Ehe ist gescheitert, die Farm bankrott und die himmelstürmende Liebe ihres Lebens tödlich verunglückt. Aber ein Teil von Karens Seele bleibt für immer zurück in den Weiten Afrikas – und findet Trost in der Erinnerung an ein Leben aus dem Stoff, aus dem Romane sind.

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Seitenzahl: 533

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Es ist ein strahlend klarer Morgen, als die 28-jährige Tania Blixen im Januar 1914 in Mombasa zum ersten Mal afrikanischen Boden betritt. Sie ist überwältigt von dem märchenhaften Anblick der Stadt, vor allem aber ist sie aufgeregt, denn am Kai erwartet sie ihr künftiger Ehemann Baron Bror Blixen. Hier in Kenia soll ihr neues Leben beginnen, das voller Verheißung vor ihnen liegt. Sie kaufen eine Kaffeefarm, malerisch gelegen unterhalb der Ngong-Berge, und Tania taucht ein in diese für sie so fremde, exotische Welt, die ihr zur geliebten Heimat wird. Als sie siebzehn schicksalsträchtige Jahre später in ihr Geburtshaus in Dänemark zurückkehrt, hat sie alles verloren: Ihre Ehe ist gescheitert, die Farm bankrott und die himmelstürmende Liebe ihres Lebens tödlich verunglückt. Aber ein Teil von Tanias Seele bleibt für immer zurück in den Weiten Afrikas – und findet Trost in der Erinnerung an ein Leben aus dem Stoff, aus dem Romane sind.

Weitere Informationen zu Maren Gottschalk finden Sie am Ende des Buches.

Maren Gottschalk

Jenseits der Ngong Berge

Roman

Originalausgabe

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe September 2024

Copyright © der Originalausgabe 2024 by Maren Gottschalk

Copyright © dieser Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Montasser Medienagentur, München.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

CN · Herstellung: ast

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30612-0V003

www.goldmann-verlag.de

Meinem Vater, in Liebe

Jedes Gewitter beginnt mit einem Tropfen.

Sprichwort der Kikuyu

Gewiss ist es ein großes Glück, die Dinge, die einem geschehen, in Geschichten verwandeln zu können. Das ist vielleicht das einzige vollkommene Glück, das ein Mensch im Leben finden kann.

Tania Blixen,Wiedersehen

Inhalt

Prolog

Teil I Dänemark

Perlenarmband, 1959

Pierrot

Ausschwärmen

TEIL II Kirinyaga

Hier ist mein Platz

Eine gute Msabu

Liebe dein Schicksal

Sommernachtstraum

Scheherazade

Nicht aus Mitleid

Frei lebt, wer sterben kann

»Bringt mich zurück zu den Ngong-Bergen«

TEIL III Dänemark

Die Träumer

Ich hatte eine Farm in Afrika

Hemingways Geschenk

Epilog

Dank

Zitatnachweis

Prolog

Flügel

Als der gelbe Doppeldecker abhebt, zieht sich ihr Magen zusammen, und ihre Hände fühlen sich plötzlich eiskalt an. Fliegen? Würde sie jetzt wirklich fliegen? Aber nein, die Maschine macht nur ein paar Hüpfer. O Gott, denkt sie, vielleicht wird dieses Abenteuer mit einem schrecklichen Unfall enden, vielleicht steuert Denys sie direkt in die Bäume dort vor ihnen am Rand des Felds?

Aber dann lösen sie sich vom Boden und steigen auf Richtung Himmel. In kühnem Schwung knattert die Maschine der Sonne entgegen. Der Wind fährt Tania Blixen in die Haare, zaust sie in alle Richtungen, und sie spürt, wie die Ränder der Schutzbrille auf ihr Gesicht drücken. Sie fliegt. Kein Zweifel, sie fliegt.

Wohin soll sie schauen, nach oben oder nach unten? Oder doch die Augen schließen und nur das Vibrieren des Motors fühlen, den Wind, die Kraft, die sie in den Himmel schleudert? Nein, auf keinen Fall die Augen schließen, sie will keine Sekunde verpassen, sondern alles genau verfolgen und die Bilder in sich aufsaugen. Niemals darf dieser Moment verloren gehen. Dieses neue Gefühl der Leichtigkeit brennt sich in ihr Herz und zeichnet sie für immer. Kurz durchzuckt sie der Gedanke, sie sei der älteste Mensch der Welt, einer, der den Sinn hinter allem begreift und der versteht, was das Wesen der Menschheit ausmacht. Ist es nicht das, worum es geht? Das Leben einzusetzen, um das Leben zu gewinnen, fliegen, frei sein, sich von den tausend Fäden, die sie mit der Erde verbinden, lösen? Fort mit den Kümmernissen und dem flüchtigen Glück, zum Teufel mit Krankheit und Geldsorgen. Hier oben in der Luft ist sie nur Mensch, nein, nicht einmal das, nur Kreatur, nur das Geschöpf eines Gottes, der ihr erlaubt – und sei es nur für einen kurzen Moment –, einen Blick auf seinen ureigensten Plan zu werfen.

Friedlich schweben sie über Buschland, durch das sich ein Fluss schlängelt, ein glitzerndes Band, an dessen sandigem Ufer Zebras stehen, die den Kopf heben, ohne sich zu wundern. Sie nehmen das Flugzeug hin, wie sie alles hinnehmen. Auch für sie ist Gott groß. Sie müssen nicht wissen, warum der gelbe Brummer dort oben seine Kreise über ihren Köpfen zieht. Ungerührt tauchen sie ihre schwarzen Mäuler wieder ins Wasser.

Schon erreicht das Flugzeug die Ngong-Berge, die grünen Hügel, die Tania von ihrer Veranda aus sehen kann. Sie hat sie mit dem Automobil, zu Pferd und zu Fuß erkundet, hat dort gejagt, geschlafen und nachts in den Sternenhimmel geblickt. Betrachtet man die Ngong-Berge vom Boden, reihen sich Hügelkuppen wie die Knöchel einer riesigen Faust nebeneinander. Von oben gesehen wirken sie majestätischer, und nun legt Denys, der Geliebte, der hinter ihr sitzt und die Maschine steuert, ihr die Hügel wie ein Geschenk zu Füßen. So muss es sich angefühlt haben, wenn die Helden aus alten Sagen ihren Frauen ganze Landstriche darbrachten. Tania begreift den uralten Ritus zum ersten Mal. »Sieh doch, das ist meine Morgengabe, mein Versprechen, mein Bekenntnis zu unserer Vermählung.« Sie verspürt die alte Lust, sich Geschichten auszudenken und ihre eigenen Gefühle hineinzuweben.

In ihrer Brust weitet sich etwas, sie möchte schreien und weinen, jauchzen, lachen und hält doch nur den Atem an. Sie darf diesen Moment nie wieder vergessen.

Jenseits der Ngong-Berge fällt das Land steil ab, dort breitet sich das Rift Valley unter ihnen aus. Sie erreichen die Ebene, wo die Wolken dunkle Schattenflecken auf die Steppe malen. Dieses Land ist so unendlich weit, denkt Tania, hier ist Platz für alle. Eine Herde Gnus, sicher ein paar Hundert Tiere, rennen dem Horizont entgegen. Sie gehorchen einem geheimen Code, der in jeder Faser ihres Körpers steckt, von den Hufen bis zum Herzen. Blind folgen sie dem Weg des Lebens, finden Wasser und saftiges Gras. Jedes Jahr begeben sie sich auf die große Wanderung, ohne Kompass oder Wegweiser, denn sie tragen alles, was sie wissen müssen, in sich.

So möchte sie auch sein. Alles in sich selbst finden. Nur dem Instinkt folgen, den Gefühlen und der Kraft, die sie von innen antreibt. Mehr braucht es doch nicht im Leben als solche Momente, die einem niemand rauben kann. Weder die tief in ihr schlummernde Krankheit noch die Drohungen der Bank können ihr diese Erlebnisse wegnehmen. Tania fühlt sich reich, reicher als je zuvor. Sie sieht den Schatten des Fliegers unter sich über die Erde gleiten, streckt die Hand aus und will sich selbst winken. Und nun muss sie doch kurz aufschluchzen und zugleich darauf lachen. Eine Hand legt sich von hinten auf ihre Schulter, drückt sie sanft. Denys weiß, wie sie sich fühlt, er versteht die Poesie dieses Moments wie niemand sonst, er hat ja dieses Staunen für sie geschaffen. Sie legt den Kopf ein wenig schräg, schmiegt sich in die Berührung seiner Hand. Kurz greift er ihr ins Haar, bevor er die Hand wegzieht, um wieder die Maschine zu steuern und einen weiten Bogen zu ziehen.

Nach einer Stunde erreichen sie den Nakurusee. Sie war schon oft hier, aber noch nie hat sie das Schauspiel von oben gesehen. Hunderttausende Flamingos säumen das Ufer, bilden ein breites rosafarbenes Band, schillernd und in zitternder Bewegung. Als Denys mit der Maschine tiefer geht, scheuchen sie die grazilen Vögel auf, und Tania sieht sich plötzlich inmitten eines Wirbels von Flügeln und Beinen, als würde roséfarbener Staub aufsteigen und in den Himmel schweben und sie dorthin mitnehmen. Alles um sie herum ist Geflatter und Geschrei, sie spürt die Energie der Vögel, die sich lustvoll dem Auftrieb hingeben, sinken, abdrehen und wieder aufsteigen. Der Luftzug streift ihr Gesicht und den Hals, das Schreien der Vögel dringt bis in ihre Kniekehlen.

Der Himmel ist eine gigantische Bühne, auf der die Sonne sich durch breite, milchweiße Wolkenbänder bricht. Die Flamingos führen ein unvergessliches Schauspiel auf, nur für sie beide. Haben die Engel sich so gefühlt, als sie die Welt zum ersten Mal betrachteten? Waren sie genauso überrascht, beglückt und dankbar?

Teil IDänemark

Perlenarmband, 1959

Der morgendliche Blick in den Spiegel beweist es: Ihre Augen sind noch immer tiefschwarz. Wie die Kiesel im Mara-Fluss, hatte Denys einmal gesagt. Diese Augen sind ihr Stolz. Mit ihnen hat sie die Welt bezwungen. Nicht nur, weil sie so viel mehr gesehen haben, als den meisten Frauen ihrer Generation vergönnt war. Sie hat mit ihrem Blick auch Menschen an sich gebunden, Prinzen und Jäger, Politiker und Schriftsteller, Journalisten und Freunde. Und nicht zuletzt ihre Leute auf der Farm, die Einzigen, die in ihren Augen lesen konnten wie in einem Buch.

Auch Tiere hat sie bezirzt. Ihren geliebten Hund Dusk konnte sie mit einem Blick dazu bringen, mitten in der Bewegung stocksteif stehen zu bleiben. Lullu, das Antilopenkalb, ließ sich zähmen, weil es ihren Augen vertraute. Und seit ihrer Rückkehr aus Ostafrika flattern die Vögel im Park von Rungstedlund unbekümmert um sie herum, wenn sie sich auf die Bank am Waldrand setzt. Solange sie jeden Morgen ihre Augen öffnen und die Welt in ihren Bann ziehen, solange sie ihr Gegenüber noch mit Geschichten fesseln kann, fühlt es sich richtig an weiterzuleben.

Sie fährt mit der Bürste ein paarmal über die dünnen Strähnen und bindet sich ein Seidentuch um den Kopf. Schon vor Jahren hat sie sich angewöhnt, auffallende Hüte oder Mützen zu tragen. Oder eben ein Tuch. Es gibt ihr einen mondänen, eleganten Anstrich, und auf den legt sie auch mit vierundsiebzig Jahren noch Wert. Warum auch nicht? Alles ist erlaubt, was ihr dabei hilft, sich besser zu fühlen. Aus demselben Grund erlaubt sie es sich, mit ihren Namen zu spielen. Denys hatte sie ­Tania genannt, und sie hatte es geliebt. Jetzt, wo sie sich dem Ende ihres Lebens nähert, freundet sie sich wieder mit ihrem Geburtsnamen Karen an.

Sie greift nach der Glasplatte auf dem Frisiertisch und zieht sich daran hoch. Die nächste Aufgabe wartet. Zur Kommode gehen und nach ihrer Sekretärin läuten. Karen Blixen will die Treppe heute nicht allein heruntersteigen. Ein andermal wird es wieder besser gehen. Vielleicht schon morgen.

Als Ruth Jacobsen sich dem Strandvej nähert, wo Karen Blixens Haus steht, bleibt sie vor der Bank stehen, die dem Wasser zugewandt ist. Wie oft hat sie in den letzten Tagen hier gehockt und die Situation verflucht? Mit der Hand wischt sie über das Holz, setzt sich und stellt die Füße in den braunen Halbschuhen ordentlich nebeneinander. Ihre Zehen sind kalt, obwohl es Frühling ist und die Sonne scheint. Aber ihr Mantel ist zu dünn für einen frischen dänischen Morgen, und die Kälte kriecht ihr unter den Rock. Sie hat eine Hose im Koffer, traute sich aber bisher nicht, sie zu tragen. Wer weiß, wie man das im Haus von Karen Blixen aufnehmen würde, sie ist eine Baronin, wenn auch eine geschiedene. Ruth stemmt die Ellbogen auf die Knie, legt die Hände vors Gesicht und reibt sich die Augen. Worauf wartet sie noch? Es kann kaum schlimmer werden, als es schon ist. Sie werden sie abwimmeln. Wie gestern, vorgestern und alle vier Tage davor. Und dann war es das eben. Jeremy, ihr Redakteur, hatte gleich seine Zweifel. Aber sie hatte sich vorgedrängt. »Ich fliege doch sowieso nach Dänemark, lass mich das machen. Ich krieg das hin, glaub mir! Ich klopfe einfach an ihre Tür, jeden Tag, wenn es sein muss. Bis ich das Interview bekomme.«

Und jetzt? Gar nichts. Nicht einen Blick hat sie bisher auf Karen Blixen werfen können. Nur weil sie dänische Vorfahren hat, ist sie eben noch lange nicht die Richtige, um eine Festung zu stürmen, in der eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Welt sich verschanzt hat. Eine Frau, die sogar als Kandidatin für den Nobel­preis gilt. Das hatte Jeremy ihr auch auf den Kopf zugesagt: »Du, Ruth? Du hast doch überhaupt keine Erfahrung mit solchen Leuten. Die Blixen ist eine Berühmtheit, da brauchst du eine Strategie, um zu ihr vorzudringen.«

»Na und? Dann lerne ich es eben«, hatte ihre Antwort gelautet. Er hatte sie zweifelnd angeschaut und sich dann seufzend auf die Ecke seines Schreibtischs gesetzt, während sie auf dem Besucherstuhl vor ihm hockte.

»Also gut. Jack hat einen großen Fehler gemacht, und du bekommst die Chance, ihn für uns alle auszubügeln. Aber wenn die Blixen noch immer krank ist, wird’s schwierig. Was willst du dann tun?« Er hatte sich zu ihr hinabgebeugt und hinzugefügt: »Wenn du das vermasselst, brauchst du nicht zurückzukommen.«

Dieses Szenario steht ihr seitdem drohend vor Augen. So schnell findet man keine festen Jobs bei Zeitungen in New York. Und auch wenn die Lit of NY nur eine kleine Literaturzeitung ist, hat sie einen guten Ruf und finanziert Ruths Studium. Ohne den Job müsste sie wieder kellnern oder – das wäre die völlige Niederlage – zu ihren Eltern nach Boston zurückkehren.

Eigentlich war es Jacks Auftrag gewesen, Karen Blixen während ihres Aufenthalts in New York zu interviewen. Jeremy hatte von einer Schlagzeile geträumt wie »Karen Blixen – was sie heute über den Kolonialismus denkt. Exklusiv in der Lit of NY«. Aber Jack hatte das Interview nicht bekommen. Schuld daran war eine Mischung aus Arroganz, Unaufmerksamkeit und Pech: Zuerst hatte er sich nicht für die Pressekonferenzen akkreditiert, weil er auf einen eigenen Termin spekulierte. Dann war er nicht einmal in die Nähe der Blixen gekommen, obwohl diese in den ersten drei Monaten des Jahres 1959 fröhlich durch die USA reiste und davon mehrere Wochen in New York logierte. Als dann fast alle Zeitungen und Radiosender ihre Interviews hatten, als die Vorträge und Dinners und Signierstunden vorbei waren, entschied Jack, jetzt sei die Stunde für sein Exklusivinterview gekommen. Doch dann war die Blixen von einem auf den anderen Tag schwer erkrankt, hatte ihre Reise abgebrochen und war vom Krankenhaus in Manhattan direkt zum Flughafen gebracht worden, um zurück nach Dänemark zu fliegen.

Jack war zwar nicht der Einzige, der nicht zum Zug gekommen war, aber das hatte Jeremy nicht interessiert. Er hatte so getobt wie nie zuvor.

Und hier in Rungstedlund, eine halbe Zugstunde nördlich von Kopenhagen, heißt es seit fast einer Woche, Karen Blixen empfange noch keinen Besuch. Sie sei krank. Ruth gräbt das Gesicht tiefer in die Hände und massiert ihre Stirn mit den Fingerspitzen.

Ein leises Hecheln neben ihr lässt sie auffahren. Im selben Moment legt sich eine warme Hundeschnauze auf ihr Knie. Ruth schaut das Tier überrascht an, Angst hat sie nicht. Sie kommt vom Land, ist mit Hunden aufgewachsen und weiß, dass auch fremde Tiere schnell Zutrauen zu ihr fassen. Ihr Vater sagt immer, sie habe den richtigen Geruch an sich. Oder ist es ihr Mantel, den sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr ausgebürstet hat? Sicher ist er voller Haare ihres Labradors Flint. Sie betrachtet den alten Schäferhund, der jetzt an ihren Händen schnuppert. Sein Fell ist struppig, und aus den Augenbrauen wachsen ihm ein paar sehr lange Haare. Er schaut zu ihr hoch, wie das nur Hunde können, freundlich, mitfühlend, aufmunternd.

»Wer bist du denn?«, fragt Ruth und streichelt ihn zerstreut.

»Wollen wir eine Runde durch den Park gehen?«, fragt Clara Svendsen. Die Sekretärin, Anfang vierzig, mit weichen, freundlichen Zügen, ist eher praktisch als modisch gekleidet und steht seit fünfzehn Jahren in den Diensten der Baronin. Zu ihren Aufgaben gehören nicht nur die gesamte Korrespondenz und das Abtippen der Texte, vom Entwurf bis zur letzten Korrektur. Karen Blixen schätzt ihre Meinung bei der Auswahl der Texte für neue Bücher, und sind die Frauen unter sich, vertritt Clara mutig ihre Ansichten. In Gesellschaft hält sie sich bereitwillig im Hintergrund und hat keinen Ehrgeiz, zu glänzen. Sie schaut die Baronin aufmunternd an. »Oder wenigstens einmal um den Teich? Es ist gerade so schön draußen, das wird uns guttun.«

»Uns? Warum redest du wie eine Krankenschwester mit mir? Willst du einen Spaziergang machen? Dann sag das doch.«

Clara verzieht kaum merklich den Mund und nickt. Sie kennt diesen Ton seit fünfzehn Jahren, seit sie als Sekretärin für Karen Blixen arbeitet. Wenn sie das Gefühl hat, jemand wolle sie manipulieren, wird sie störrisch. »Ja, Baronin«, sagt Clara, um sie milde zu stimmen. »Du hast recht, eigentlich bin ich es, die einen Spaziergang machen will. Kommst du mit?«

Will Clara sich dienstbar zeigen, spricht sie ihre Chefin mit Baronin an. Ist sie wütend, sagt sie Frau Blixen. In den letzten Monaten hat sie sich angewöhnt, sie ab und zu Tania zu nennen, so wie Denys Finch Hatton es getan hatte.

Karen Blixen legt den Kopf schräg, als müsse sie nachdenken. Dann nickt sie gnädig. »Nun, vielleicht komme ich wirklich mit.«

Clara lässt sich ihre Genugtuung nicht anmerken. Soll sie doch ihre Spielchen haben, denkt sie, darüber wird sie sich nicht mehr ärgern. Und eigentlich scheint die Baronin heute Vormittag ganz gut beisammen zu sein. Als sie morgens gemeinsam die Treppe vom Schlafzimmer herabstiegen, musste sie sie noch stützen, aber die Arbeit hat sie offensichtlich erfrischt. Fünf lange Briefe hat sie heute diktiert. Sie war so in Schwung, dass kaum etwas korrigiert werden musste. Jetzt liegen die Umschläge fertig adressiert auf dem Tisch, einer für ihren Verleger von Random House in New York, einer für den »lieben, hochgeschätzten« Truman Capote und die anderen sind für die Bank, einen Cousin auf Schloss Wedellsborg und der letzte für ihren Bruder Thomas Dinesen. Als die Briefe fertig waren, hat Karen Blixen sich noch einmal die ersten Seiten des neuen Buchs vorlesen lassen und ein paar Verbesserungsvorschläge gemacht. Jetzt haben sie sich eine Pause verdient.

»Wo ist Pasop?«, fragt Karen Blixen und schaut sich nach ihrem Hund um. »Schon wieder auf Abwegen?«

»Er kommt sicher gleich, wenn wir draußen sind«, vermutet Clara.

»Es gefällt mir nicht, dass er sich in letzter Zeit so oft selbstständig macht. Wir dürfen ihm das nicht durchgehen lassen. Er wird noch richtig starrsinnig im Alter.«

Clara verkneift sich eine Antwort, nimmt sich aber vor, diese Bemerkung in ihr Tagebuch zu schreiben und mit einem Kommentar zu versehen. Laut sagt sie: »Ich hole deinen Mantel«, während sie die Schutzhaube über die Schreibmaschine breitet, »es ist heute ziemlich frisch.«

Die Baronin friert schon seit Jahren ständig. Sie wiegt auch nur noch fünfunddreißig Kilo. In den letzten Tagen ihrer USA-Reise, die nur wenige Wochen zurückliegt, konnte sie sich nicht mehr allein anziehen, und Clara musste sie sogar kurze Strecken tragen. Kaum waren sie zu Hause, verschlimmerte sich ihr Zustand, und Clara geriet in Panik, weil sie dachte, die Baronin würde jetzt wirklich sterben, direkt vor ihren Augen. Es war fast unerträglich gewesen, zu sehen, wie sie auf dem Boden lag und sich in Krämpfen wand. Warum sie diese Schmerzen nirgends besser aushalten kann als auf dem Teppich ihrer Stube, wissen auch die Ärzte nicht. Clara hatte in Gedanken schon eine Liste erstellt, was sie im Todesfall alles erledigen und wen sie zuerst benachrichtigen müsste. Aber dann hatte die Baronin sich erholt, und nun sehen sie beide hoffnungsvoll dem Sommer entgegen.

Schon am zweiten erfolglosen Tag hatte Ruth sich gefragt, ob sie das Interview mit der Baronin Blixen überhaupt noch bekommen würde. Ihr Freund Akil war von Anfang an skeptisch gewesen. »Da wünsche ich dir viel Glück«, hatte er gesagt und sie zweifelnd angeschaut. »Und wenn sie es nicht macht?«

»Die macht das«, hatte sie schnell erwidert. »Denk doch mal nach. Warum hat sie diese vielen Vorträge gehalten? Warum trifft sie sich mit Gott und der Welt? Gerade war sie noch mit Marilyn Monroe und Arthur Miller in New York zusammen, ich hab die Fotos in der Zeitung gesehen. Sie genießt die Aufmerksamkeit und redet gerne. Glaub mir, die freut sich, wenn ich sie um ein Interview bitte.«

Aber das Gegenteil ist der Fall. Und heute ist ihr letzter Tag. Morgen will sie nach Aarhus fahren, und in zwei Wochen geht es zurück nach New York. Entschlossen steht sie von der Bank auf, umrundet sie und steht nach wenigen Metern vor dem Anwesen.

An das weiß getünchte Scheunenhaus, dessen Vorderseite dem Wasser zugewandt ist, schließt sich im rechten Winkel ein niedriges Wohnhaus an. Im Hof wächst eine Linde mit einer umlaufenden Bank, zwei Fahrräder und ein Leiterwagen stehen neben dem Hauseingang.

Es gibt weder ein Namensschild noch eine Klingel, nur einen Türklopfer. Ruth greift danach. Kurz darauf erscheint die Haushälterin, die sie bereits von den letzten Tagen her kennt. Sie trocknet sich die Hände an der Schürze ab und wirkt etwas ungeduldig, als wolle sie Ruth zu verstehen geben, sie stehle ihr die Zeit.

»Tut mir leid. Die Baronin ist noch zu krank für Besuch«, sagt sie auch diesmal.

Ruth legt die Hände bittend zusammen.

»Aber … vielleicht morgen?«, schiebt sie nach, obwohl sie morgen eigentlich nicht mehr hier sein will.

Die Frau ruft eine Frage auf Dänisch nach hinten in den Hausflur, die Antwort klingt abschlägig. Sie schüttelt den Kopf, lächelt Ruth bedauernd zu und schließt die Tür.

Ruth dreht sich um und steigt langsam die Treppe vor der Haustür herunter.

Enttäuscht setzt sie sich auf die Bank vor der Linde. Sie könnte hier sitzen bleiben, bis es Abend wird. Bis die im Haus begreifen, wie ernst es ihr ist. Sie bohrt die Absätze in den Kies. Was kann sie jetzt noch versuchen?

Ruth lehnt sich zurück, schlägt die Beine übereinander und holt ihren Notizblock aus der Tasche. Wickelt das Lederband mit den bunten Holzperlen ab, das Akil ihr vor der Reise gegeben hat. Ein Glücksbringer sollte es sein. Na, der hat ja großartig funktioniert. Sie windet sich das Band locker ums Handgelenk und holt einen Bleistift und den Block hervor. Um Zeit zu gewinnen, skizziert sie das Haus und den Hof.

Sie ist so tief versunken, dass sie aufschreckt, als sie etwas Feuchtes an ihrer linken Hand spürt. Es ist der Schäferhund von vorhin. Sie zieht die Hand weg und wischt sie an ihrem Rock ab. »Du schon wieder. Was willst du?«

»Wie dumm, dass wir ausgerechnet in diesem Jahr renovieren müssen«, sagt Karen Blixen, als Clara ihr in den Mantel hilft und sie danach vorsichtig in die Stiefel schlüpft. »Aber wir können es wirklich nicht mehr aufschieben. Ich will doch auch noch etwas von dem neuen Luxus haben.« Als es an der Haustür klopft, sagt Clara: »Wir nehmen besser die Verandatür.«

Ein paar Sekunden später hört sie, wie Frau Carlsen die Tür öffnet und gleich darauf ruft: »Clara? Hier ist wieder diese junge Frau …«

Clara, die mit der Baronin schon auf dem Weg zur Veranda ist und dabei ihren eigenen Mantel anzieht, antwortet knapp: »Nein.«

Als Frau Carlsen noch einmal nachfragt: »Und morgen?«, antwortet sie rasch: »Nein, auch nicht.« Man hört, wie die Haustür wieder geschlossen wird.

»Morgen könnte ich vielleicht wieder einen Gast zum Tee haben«, sagt Karen Blixen leise und öffnet die Verandatür. Clara tut so, als habe sie es nicht gehört. Insgeheim nimmt sie sich vor, die Baronin noch ein paar Wochen vor unangemeldeten Gästen zu beschützen. Zumal sie bald ausziehen müssen, wenn die Renovierung beginnt.

Rungstedlund stammt aus dem 17. Jahrhundert und diente zuerst als Gasthof für Reisende zwischen Kopenhagen und Helsingør. Seit Karen Blixens Vater Wilhelm Dinesen das Anwesen 1879 gekauft und zu einem Gutshof hatte umbauen lassen, war nicht viel daran getan worden. Zwei Flügel des ehemals vierseitigen Hofs sind einem Feuer zum Opfer gefallen, sodass nur noch ein L-förmiges Haus übrig ist. Es gibt zwei Toiletten, aber kein richtiges Badezimmer. Zwölf Meter eiskalter Flur liegen zwischen Karens Schlafzimmer und der nächsten Toilette. Sie ist auf dem Weg dorthin einmal in der Nacht gestürzt und hat eine Weile hilflos in der Kälte gelegen, weil sie nicht allein aufstehen konnte.

Außer zwei richtigen Bädern soll auch eine Zentralheizung eingebaut werden. Bisher feuern sie jeden Morgen mehrere kleine Eisenöfen an, darunter den wunderschönen Rokoko-Ofen im Salon, den ihre Verwandten auf Schloss Frijsenborg ausrangiert haben. Der Ofen hat vier kleine Füße, die wie Damenschuhe geformt sind. »Ziehen Sie dem Ofen Schuhe an«, hatte die Baronin dem Schmied befohlen, der das Gestell erneuern sollte, »hier ist es so kalt, dass sogar die Öfen frieren, wenn sie nackte Füße haben.«

Nun sollen endlich neue Zeiten anbrechen, und der Bagger, der einen Abwasserkanal rund um das alte Haus graben wird, ist schon bestellt. Spätestens Ende des Sommers wollen Clara und Karen in das Hotel Bellevue am Strand von Rungsted umziehen.

Karen Blixen hakt sich bei ihrer Sekretärin ein und nimmt den Gehstock in die andere Hand. Witternd hält sie die blasse Nase in die Luft. Wenn der Wind über ihr Gesicht streicht, fühlt sie den Frühling wie ein feines Vibrieren auf der Haut. Für einen Moment bleibt sie stehen und schließt die Augen. Die Wolken jagen so rasch über den Himmel, dass sie mit geschlossenen Lidern den Wechsel von Licht und Schatten spüren kann. Dann schreitet sie weiter, betrachtet zufrieden das Meer von weißen Narzissen auf der großen Wiese, die von blühenden Weißdornbüschen eingefasst ist. Dahinter drängen sich die Vogelkirschen, Eschen und Linden. Die beiden Frauen betreten die schmale weiße Brücke, die über den Bach führt, der sich hier zu einem Teich verbreitert. Kurz sehen sie den Mücken und Käfern zu, die über das Wasser tanzen, und lauschen auf das Rascheln im Schilf. Ihr Weg führt am Blumengarten vorbei, doch Karen Blixen steuert heute ein anderes Ziel an. »Wird es dir nicht zu anstrengend, den Hügel zu nehmen?«, fragt Clara besorgt. Der Hügel ist eigentlich nur eine kleine Erhebung, die sie Ewaldshöhe nennen, benannt nach dem Dichter Johannes Ewald, der einmal in Rungstedlund gelebt und gearbeitet hatte. Es ist die höchste Stelle im Park, der Weg dorthin führt am Wald entlang und ist von Buchen, Eichen und Kastanien gesäumt. Der Wind zaubert ein paar Sonnenflecken vor ihre Füße und auf die Schattenblumen, Lichtnelken und Baldrianbüschel am Wegesrand. Sie gehen weiter in Richtung von Karens Lieblingsplatz, einer Bank auf dem Hügel, wo sie einmal begraben sein möchte. Sie sprechen nicht darüber, aber Clara weiß, warum die Baronin so gerne dort sitzt: Sie möchte sich mit der Lichtung vertraut machen. Vor dem Tod hat sie keine Angst mehr, sagt sie oft, und Clara glaubt es.

»Wo ist denn jetzt Pasop?« Karen Blixen dreht sich um, sucht mit zusammengekniffenen Augen ihren Hund, der noch immer nicht zu sehen ist. Clara steckt zwei Finger in den Mund und pfeift durchdringend. Endlich entdecken sie Pasop, der langsam hinter ihnen her trottet. Dann bleibt er stehen und blickt zurück, als sei er unschlüssig, was er tun soll.

»Hierher. Aber flott«, schreit die Baronin und muss sofort husten. Sie dreht sich um. Clara wartet, bis der Hund sich wieder in Bewegung setzt, dann gehen sie weiter.

»Wahrscheinlich hat er nachgeschaut, wer gekommen ist, um dich zu besuchen«, sagt Clara versöhnlich.

»Lass uns einen Moment hier sitzen.« Karen Blixen sinkt auf eine Bank unterhalb des Hügels.

»Ist es nicht zu feucht?«, fragt Clara.

»Sei nicht immer so besorgt.« Die Baronin greift mit beiden Händen nach ihrem Pelzkragen und drückt ihn unter dem Kinn zusammen. Clara betrachtet sie von der Seite. Im gnadenlosen Vormittagslicht wirkt die alte Dame zerbrechlich und ihre Haut papierdünn. Sogar die Schädelknochen zeichnen sich ab, denkt Clara schaudernd. Aber wenn sie den Kopf dreht und lächelt wie jetzt, leuchtet so viel Lebensfreude aus ihrem Gesicht, dass sie sich wieder beruhigt. Karen Blixens Augen sind voller Feuer, ihre Nasenflügel beben, und die Lippen zittern spöttisch und mitfühlend, so als wisse sie genau, welche Ängste Clara gerade durchlebt.

»Kannst du mir ein paar Ranunkeln pflücken? Und Hyazinthen. Und dazu diese Gräser, die mit den roten körnigen Samen, du weißt schon. Und vielleicht findest du noch ein paar blühende Zweige.«

Clara erhebt sich erfreut. Diese Aufträge liebt sie besonders. Die Blumenarrangements von Karen Blixen sind berühmt, und Clara ist stolz, wenn sie besondere Dinge findet, die ihre Chefin dafür gebrauchen kann. Doch der Grund, warum Karen sie wegschickt, sind nicht die Blumen, das weiß sie. Die Baronin möchte ein paar Minuten allein sein. Ob sie über den Tod nachdenkt oder über eine Passage in ihrem neuen Buch, weiß Clara nicht.

Karen Blixen denkt an die Ngong-Berge. Sie hat Sehnsucht, aber sie weiß, dass sie es nicht mehr schaffen wird, nach Nairobi zu fliegen. Life hatte sie schon im letzten Jahr um eine Reportage aus Ostafrika gebeten, und sie hatte sofort zugesagt. Aber dann wurde ihr klar, dass sie den Anstrengungen nicht mehr gewachsen ist. Zumal die britische Kronkolonie Kenia nach der Niederschlagung des Mau-Mau-Aufstands noch immer darum kämpft, sich aus der Abhängigkeit von den Engländern zu befreien. Und ihre Welt von damals, die gibt es ja sowieso nicht mehr. Noch einmal hat sie das Gefühl, ihre Leute im Stich zu lassen. Zuerst, als sie die Farm aufgeben musste, und jetzt, weil sie es nicht mehr schaffen wird zurückzukommen, nicht einmal zu einem kurzen Besuch. Nicht, dass sie glaubt, irgendwas bewirken zu können. Der Hass, mit dem die Menschen in Kenia sich in den letzten Jahren bekämpft haben, ist über viele Jahrzehnte gewachsen und noch lange nicht überwunden. Da braucht sie sich nicht einzubilden, sie könne als alte, kranke Frau die Friedensbotschafterin spielen. Aber sie könnte ein Zeichen setzen für die Menschen, die ihren Namen noch kennen. Für die Nachkommen der Kikuyu und Somali, die auf ihrer Farm gearbeitet haben, und für die Massai, zu denen sie eine respektvolle Nachbarschaftsbeziehung gepflegt hatte. Sie würde den Familien von Farah, Kamante und Juma und allen anderen, deren Ahnen Seite an Seite mit ihr darum gekämpft hatten, die Kaffeefarm am Leben zu erhalten, gerne beweisen, wie lebendig ihre Liebe zu ihnen ist und dass sie auch heute noch bereit ist, sich an ihre Seite zu stellen.

Aber sie ist zu krank. Sie wäre für jeden Haushalt, den sie besucht, eine Belastung. Außerdem wäre es riskant, sich zu weit von ihren Ärzten und dem Hospital zu entfernen. Deshalb sind die Ngong-Berge für sie so unerreichbar wie der Mond. Und es gibt niemanden, mit dem sie über diese Trauer sprechen kann. Wer ist denn noch da, der die Farm und ihre Welt gekannt hat, so wie sie vor dreißig Jahren gewesen ist? Nur ihr Bruder Thomas weiß, was sie vermisst, sie sollte ihn einladen.

Pasop hat sie jetzt eingeholt, und sie streichelt ihn geistesabwesend. Sein Fell verfilzt schnell, weil es trocken und rau ist. »Auch das gehört zum Altwerden, mein Freund«, murmelt sie zärtlich. Sie greift ihm fest in den Nacken, weil sie weiß, dass er das mag. An den Ohren lässt er sich nicht gerne berühren, wie die meisten Hunde ist er da besonders empfindlich. Mit den Fingern fährt sie unter das Halsband, auch das gefällt Pasop, er steht ganz still da und lässt sich kraulen. Sie ertastet einen Widerstand am Halsband, wahrscheinlich hat sich ein Stöckchen dort festgeklemmt, als er durchs Unterholz gestromert ist. Ja, es steckt tatsächlich etwas fest. Vielleicht kam der Hund deshalb so zögerlich hinter ihnen her, weil er ein schlechtes Gewissen hat. Sicher hat er seine Nase mal wieder irgendwohin gesteckt, wo sie nichts zu suchen hat, in ein Feldlerchennest vielleicht, was sie ihm seit Jahren abzugewöhnen versucht. Karen will das Stöckchen aus dem Halsband herausziehen, aber es geht nicht. Jetzt fühlt sie, dass es kein Stöckchen ist, sondern etwas Weicheres, etwas wie Leder. Ein Stück von einem Riemen?

Sie lehnt den Stock an die Bank und schiebt den Hund mit beiden Händen zwischen ihre Knie, damit sie besser an seinen Hals herankommt.

»Was hast du denn da, mein Guter?« Sie beugt sich vor und dreht das Halsband so, dass das störende Ding oben ist. Es ist ein Lederband mit Knoten und bunten Perlen. Karen Blixen erstarrt. Sie kennt solche Lederbänder. Ihre Totos, die kleinen Jungen auf ihrer Farm, trugen sie. Fassungslos blickt sie auf. Wer um alles in der Welt hat ihrem Hund dieses Lederband an den Hals geknotet? Eine Welle von Wehmut überrollt sie, Bildfetzen stürmen auf sie ein: Totos, die auf der Veranda vor ihrem Haus sitzen und singen, rot leuchtende Blumen, die sich im Wind wiegen, der hellblaue Himmel, der Blick auf die Ngong-Berge. Sie sieht Bilder von sich selbst im Regen, jung und froh, lachend, jubelnd, tanzend vor Freude. Sie sieht die kleinen Kaffeebüsche mit ihren harten, dunkelgrünen Blättern, sie sieht viele flinke Hände, welche die kleinen Früchte ernten. Da steht ihr Ehemann Bror, lässig an das Geländer der Veranda gelehnt, sie sieht einen Löwen in der Dämmerung stehen, die Augen auf sie gerichtet. Eine Hand legt sich auf ihre Schulter, dann reicht ihr jemand ein Gewehr. Denys flüstert ihr etwas ins Ohr, er winkt, und sie sieht ihn in sein Flugzeug steigen, und plötzlich hört sie den Schuss, mit dem sie den Löwen tötet.

Karen Blixen atmet schnell, keuchend, die Flut der Bilder dreht sich wirbelnd in ihrem Kopf und drückt ihr die Kehle zu. Sie hat eine ganze Welt verloren, ihre grandiose, geliebte Welt, die einzige Welt, in der sie sich jemals am richtigen Platz gefühlt hat. Was macht sie denn überhaupt noch hier? Ihr Geliebter ist tot, die Farm verkauft, alles ist fort. Ja, sie hat diese Welt in einem Buch wiederauferstehen lassen, ein Buch, das die Menschen in vielen Ländern lieben, aber sie selbst, sie hat trotzdem alles verloren. Erfolg und Geld füllen doch die Lücke in ihrem Herzen nicht, die der Abschied von Mbogani gerissen hat. Grimmig knotet sie das Lederband auf und schließt die Faust darum. Wer war das? Wer stochert da mit einem Messer in ihrer Wunde? Mit einem Ruck steht sie auf, greift den Stock, spürt die Kraft in ihrem Körper und wirft den Kopf zurück. Sie fühlt sich so lebendig wie lange nicht mehr. Die heiße Liebe, die sie in diesem Moment erfüllt, schmerzt und lässt zugleich das Leben in sie zurückströmen. Sie öffnet die Faust und schaut die aufgefädelten Perlen noch einmal an. Dann hält sie die Hand ihrem Hund vor die Nase.

»Pasop, woher hast du das? Los, zeig’s mir.« Sie hält nach ihrer Sekretärin Ausschau, aber die hat sie ja selbst gerade weggeschickt. Sie muss es allein zum Haus schaffen. Denn warten, das kann sie nicht. Schritt um Schritt wächst ihre Sicherheit. Zuerst fürchtet sie, die Besucherin – hatte Clara nicht von einer jungen Frau gesprochen? – könne schon wieder fort sein, aber dann wird ihr klar, dass niemand, der ein solches Band an den Hals ihres Hundes knotet, danach spurlos verschwindet.

Eigentlich will sie langsamer gehen, aber weil sie jetzt einmal in Schwung ist und sich in ihr so viel aufgestaute Trauer und Sehnsucht in Wut verwandelt hat, ist das unmöglich. Wer immer vor ihrem Haus steht, kann sich auf einiges gefasst machen, denkt sie. Er oder sie hat einen Stein aus der Mauer ihrer Selbstbeherrschung geschlagen, und das ist unverzeihlich.

Als sie atemlos um die Hausecke biegt, steht niemand vor der Eingangstür. Aber auf der Bank sitzt eine junge Frau, die sich jetzt erhebt, als sie Pasop bemerkt, der freudig auf sie zutrabt. Die Frau lächelt den Hund an, aber als sie hinter ihm die alte Dame sieht, deren schwarze Augen funkeln und deren Mund nur noch eine dünne Linie ist, erstirbt das Lächeln.

»Was erlauben Sie sich?« Karen Blixens Stimme klingt schrill, sie spricht Englisch, obwohl die junge Frau ihrem Aussehen nach sogar Dänin sein könnte. Sie schüttelt die Faust, aus der das Lederband halb herausschaut.

Ruth starrt sie an und weiß nicht, was sie sagen soll.

»Wer sind Sie?«, stößt Karen Blixen hervor.

»Ich … ich bin Ruth Jacobsen«, sagt Ruth und streckt die Hand aus, die ihr Gegenüber nicht ergreift. Ruth ist überrascht von der Wut, die ihr entgegenschlägt. Diese Frau sieht anders aus als die berühmte Schriftstellerin, die vor ein paar Wochen in den New Yorker Zeitungen abgelichtet war. Auf den Fotos hatte sie immer souverän und neugierig gewirkt. Ihr Lächeln war spöttisch und zugleich milde gewesen, verständig. Trotz ihres Alters hatte sie auf den Fotos attraktiv ausgesehen, ein bisschen exzentrisch, aber auch ladylike. Doch die Furie, die jetzt auf sie zukommt, hat einen wilden Blick und einen harten Mund. Der Mantel und die Stiefel verbergen Ruth nicht, dass die Baronin klapperdürr ist. Sie begreift, dass sie mit ihrer spontanen Idee, dem Hund ihren Glücksbringer ans Halsband zu binden, etwas Schreckliches ausgelöst hat. Was ihr vorhin wie ein cleverer Schachzug vorgekommen war, erscheint jetzt übergriffig, denn die Wut dieser Frau, das spürt Ruth sehr deutlich, speist sich aus Verzweiflung.

»Ich komme aus New York. Ich möchte … Sie … ich habe eine Bitte.« Ruth versucht, dem sengenden Blick standzuhalten. »Es geht doch um … Kirinyaga.« Sie weiß selbst nicht, warum ihr ausgerechnet jetzt der alte Name Kenias einfällt. Aber sie hat ihn ausgesprochen und bemerkt, wie ihr Gegenüber zusammenzuckt.

Kirinyaga, der weiße Berg. So nannten die Kikuyu ihn wegen seiner schneebedeckten Kuppe. Den englischen Kolonialherren war der Name zu kompliziert, sie machten Mount Kenya daraus.

»Was wollen Sie?« Karen Blixens Stimme klingt noch immer sehr wütend, aber nun mischt sich noch etwas hinzu: Neugier.

Ruth schaut auf Pasop, der sich neben sie gestellt hat.

»Und lassen Sie meinen Hund in Ruhe«, giftet die Blixen sie an.

Ruth hebt den Blick.

»Ich wollte … also meine Zeitung … will eigentlich …«

Weiter kommt sie nicht, weil Karen Blixen sie sofort unterbricht.

»Sie arbeiten für eine Zeitung? Und melden sich nicht offiziell an, sondern klopfen einfach an der Tür? Das habe ich ja noch nie gehört! Und dann machen Sie auch noch so was?« Sie streckt ihr wütend das Lederband entgegen, als sei es vergiftet.

Ruth nimmt es ihr vorsichtig aus der Hand und schluckt. »Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht verärgern. Wirklich. Es ist … mein Glücksbringer … Ich komme doch extra aus New York. Für ein Interview …«

Der Baronin fallen fast die Augen aus dem Kopf.

»Aus New York? Ich war doch gerade dort! Warum haben Sie mich nicht aufgesucht?«

»Ja, das weiß ich natürlich, also, dass Sie in New York waren, und mein Kollege … Also, er sollte das Interview führen, und dann hat er Sie verpasst … weil …«, sie heftet den Blick jetzt fest auf ihr Gegenüber, »aber das ist jetzt auch egal. Jedenfalls habe ich dänische Vorfahren. Deshalb bin ich hier. Und ich versuche seit einer Woche, Sie zu sprechen. Ich konnte mich nicht vorher anmelden. Und …«, sie überlegt, ob sie es sagen soll, und entscheidet sich dafür, »ich verliere meinen Job, wenn ich ohne Interview zurückkomme.«

Ruth sieht, dass die Blixen ihren Kopf nach vorne reckt wie ein Vogel. Sie verzieht den Mund und kneift die Augen zusammen, als könne sie nicht glauben, was sie hört. Immerhin scheint sie tatsächlich neugierig geworden zu sein.

»Du meine Güte, wie hat Ihr Kollege mich denn verpasst? Ich habe unzählige Pressekonferenzen und Interviews gegeben. Und was um aller Welt wollen Sie von mir wissen, dass Sie dafür extra hierherkommen? Sie wollen mich etwas über Kenia fragen?«

»Ich möchte wissen, wie Sie die Entwicklung dort sehen und …«

»Der Himmel steh mir bei«, unterbricht sie Karen Blixen, und einen Moment schaut es so aus, als starre sie wirklich in die Wolken, um herauszufinden, ob von dort Unterstützung zu erwarten sei. Dann lacht sie trocken auf. »Mit dieser Frage kommen Sie zu mir? Warum reden Sie nicht mit Ihren Politikern in Washington? Mit Diplomaten? Mit Menschen, die in der letzten Zeit in Kenia waren?«

Ruth strafft die Schultern, und ihr Mund nimmt einen trotzigen Zug an. »Weil uns … weil mich Ihre Meinung interessiert. Viel mehr als das, was die anderen sagen.«

Karen Blixen blickt sie mit schräg gelegtem Kopf an, als sei sie ein seltenes Tier. Ihre Wut scheint in sich zusammengefallen.

»Und woher haben Sie das da?« Sie zeigt auf das Lederarmband, das Ruth noch immer in der Hand hält.

»Es ist ein Geschenk von … meinem Freund. Es ist aus Kenia. Aber das wissen Sie natürlich …«

Karen Blixen betrachtet Ruth nachdenklich.

»Es tut mir wirklich leid, ich wollte nicht …«

Die Baronin wackelt mit dem Kopf. »Sie sind aber schon etwas verrückt, oder?« Dann lächelt sie. »Aber Sie sind nicht dumm und nicht feige. Kommen Sie, trinken wir eine Tasse Tee zusammen und vertragen wir uns. Obwohl ich Ihnen bei Ihrer Frage überhaupt nicht helfen kann. Aber putzen Sie Ihre Schuhe ab, wenn Sie ins Haus treten.«

Eine Viertelstunde später sitzt Ruth an einem polierten Holztisch in der Grünen Stube und blickt sich neugierig um. Das Zimmer ist nicht groß, aber es fällt viel Licht durch zwei Fenster, von denen man auf den Park schaut. Die Wände sind in einem kräftigen dunklen Grün gestrichen und mit dünnen, goldfarbenen Leisten abgesetzt. Die Möbel verleihen dem Raum trotz seiner einfachen Holzdielen durch ihren honigfarbenen Schimmer den Charakter eines Salons. In einer Glasvitrine steht ein Teeservice mit Goldrand, eine weitere, hinter dem kleinen Schreibtisch, ist mit ledergebundenen Büchern gefüllt. Ruth registriert noch ein Grammofon und ein paar Stiche und Porzellanteller an den Wänden. Aus dem gusseisernen Ofen in der Ecke dringen gemütliche Bollergeräusche. Als eine Frau ins Zimmer kommt, die ein Tablett mit zwei einfachen Tassen und einer großen Kanne trägt, erkennt Ruth die Sekretärin Clara Svendsen, die gemeinsam mit der Baronin in den jüngsten Artikeln aus New York zu sehen war.

»Dann ist es Ihnen es also doch gelungen, sich bei uns Einlass zu verschaffen«, wirft sie Ruth schnippisch zu. Sie deponiert das Tablett auf dem Schreibtisch, breitet eine grobe Leinendecke über den Tisch und stellt Tassen, Milchkanne, Zucker und Teekanne bereit. Dazu einen Teller mit Broten, die mit eingelegten Heringen, Gurke und einer rötlichen Paste belegt sind. Mit fast schon aggressiver Geste knallt Clara zum Schluss noch ein Schälchen mit Keksen daneben. Ruth überlegt, wie sie Clara Svendsen milder stimmen könnte, als Karen Blixen ins Zimmer tritt. Sie hat den Gehstock in der Hand, scheint ihn aber gar nicht zu brauchen.

»Ihr habt sie erfolgreich eine Woche ferngehalten. Warum eigentlich? Hätte ich gewusst, dass sie über Kenia reden will, hätte ich sie wahrscheinlich längst vorgelassen. Also beschwer dich nicht, Clara. Sei froh, dass du den Nachmittag freihast und zu deiner Mutter fahren kannst. Wir kommen heute sowieso nicht mehr zum Arbeiten.«

»Ich kann das machen«, sagt Ruth schnell, als Clara Svendsen die Tassen einschenken will.

»Gut. Dann lasse ich euch mal allein. Viel Vergnügen.«

Sie geht und schließt die Tür mit Nachdruck hinter sich. Karen Blixen, die sich auf den Stuhl gesetzt hat, auf dem ein plattes Kissen liegt, zwinkert ihr zu.

»Clara hat es nicht leicht mit mir. Ich könnte ohne sie gar nicht existieren. Nur zeige ich ihr das nicht so gerne. Sonst hat sie mich völlig in der Hand.«

Sie grinst und greift nach der Teetasse.

»Also über Kirinyaga wollen Sie sprechen? Ich sage Ihnen gleich, dass ich Sie womöglich enttäuschen muss. Ich durchschaue die Situation, die momentan im Land herrscht, nicht besser als jeder andere, der Zeitung liest. Es ist fast dreißig Jahre her, dass ich Ostafrika verlassen habe. Eigentlich wollte ich eine Reportage über den Unabhängigkeitskampf für Life schreiben, aber ich habe doch zu wenig Kraft dafür.«

Ruth setzt ihre Tasse ab und schaut Karen an.

»Aber Sie haben eine Haltung.«

»Bitte?«

»Eine Haltung. Zu der Entwicklung und zum Land. Und zu den Menschen, denen es gehört. Darum geht es mir.«

Karen Blixen lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und fixiert einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Leise sagt sie: »Wem gehört denn ein Land? Wem gehört Ihr Land? Den Ureinwohnern? Oder den Nachfahren der Mayflower-Auswanderer? Gehört ein Land demjenigen, der eine Urkunde darüber besitzt, oder dem, der den Boden bearbeitet?«

»Vielleicht dem, der zuerst da war?« Ruth fühlt sich langsam sicherer. Sie hat die Festung bezwungen. Jetzt muss sie nur aufpassen, dass sie bleiben darf.

»Das ist ein interessanter Gedanke. Dann schicken Sie bitte alle Menschen zurück, die bei der Völkerwanderung von Osteuropa aus nach Spanien oder Norditalien eingewandert sind. Schicken Sie die Engländer aus den USA fort und alle anderen Einwanderer auch, die den Ureinwohnern das Land weggenommen haben. Woher stammen Ihre Vorfahren? Aus Dänemark? Dann müssten Sie wohl hierher zurück.«

Ruth fragt sich kurz, ob die Blixen sich über sie lustig machen will. »Aber ich bin in den USA geboren.«

»Und was ändert das?«

»Ich dachte … Sie wären …«

»Was?«

»Sie stünden auf der Seite der Afrikaner.«

»Ich stehe auf der Seite der Afrikaner. Und wo wir schon dabei sind, welche Afrikaner meinen Sie? Die Massai, die Kikuyu oder Somali, die Wakamba? Es gibt noch über dreißig weitere Volksgruppen in Kenia. Und bevor die weißen Siedler kamen, haben sie auch Kriege gegeneinander geführt. Auf welcher Seite sollte ich Ihrer Meinung nach denn in diesem Konflikt stehen?«

»Ich dachte, Sie sind gegen Kolonien. Oder jedenfalls gegen das, was dort passiert ist.«

Karen Blixen mustert die junge Frau. »Sie haben recht. Aber sie sollten präziser fragen. Sie sind doch Journalistin. Lernt man das heute nicht mehr? Ich musste schon als Kind Aufsätze schreiben, in denen ich konkrete Fragen mit nachvollziehbaren Argumenten beantwortet habe. Alles folgt aus etwas. Man kann nicht irgendwo, wo es einem passt, einen Schnitt setzen und sagen, hier ist der Anfang. Nicht in der Geschichte. Nicht in seinem eigenen Leben.«

Sie greift nach der Serviette, die Clara auf den Tisch gelegt hat, und tupft sich den Mund ab, obwohl sie noch gar nichts gegessen hat. Ruth verspürt leisen Hunger.

»Wenn ich sage, die Engländer haben in Britisch-Ostafrika etwas Schreckliches angerichtet«, fährt Karen Blixen fort, »so klingt das in Ihren Ohren sicher richtig. Aber Sie verstehen gar nicht, was ich damit meine, wenn Sie den Hintergrund nicht kennen. Meinen Hintergrund und den des Landes.«

»Aber man kann doch nicht immer bei Adam und Eva anfangen.«

»Das haben Sie jetzt gesagt.«

Sie schweigen eine Weile. Aus der Ecke des Zimmers hört man Pasop tief seufzen und leise schmatzen.

»Ich wünschte, Sie würden mir die ganze Geschichte erzählen«, sagt Ruth.

»Von Kenia?«

»Nein, Ihre. Ihre Lebensgeschichte. Und dann kommen wir ja auch auf Kenia zu sprechen, und ich lerne Ihre Haltung kennen.«

Karen Blixen lächelt, und Ruth erkennt die charmante Frau wieder, die sie auf den Zeitungsfotos gesehen hat.

»Das könnte Tage dauern.«

Ruths Gesicht leuchtet auf. »Ich habe Zeit. Und ich könnte alles aufschreiben. Meine Fahrt nach Aarhus kann ich verschieben und noch ein paar Tage bleiben. Eine Woche vielleicht? Ich kann stenografieren, und dann tippe ich alles ab, damit Sie es lesen und autorisieren können.«

Karen Blixen überlegt. Was für ein Angebot wird ihr da gerade unterbreitet? Ihr ganzes Leben erzählen? Einer Fremden, für die alles neu wäre, das hätte doch was. Clara will keine Biografie über sie schreiben, das hat sie schon oft gesagt. Mit Clara arbeitet sie nur an ihren Erzählungen und Vorträgen, und das ist auch genug. Aber eine Biografie, vielleicht als Artikelserie in einer amerikanischen Literaturzeitung? Das klingt reizvoll. Vielleicht könnte später ein kleines Buch daraus werden. Ihr New Yorker Verleger hat schon öfter davon gesprochen, wie gerne er eine Biografie von ihr hätte. Bisher scheute sie immer den Aufwand. Nun spült der Zufall ihr eine junge Frau ins Haus, der sie einfach nur ihre Lebensgeschichte zu erzählen braucht. Man müsste natürlich ein paar Rechte klären. Darum müsste sich Clara kümmern oder besser gleich Random House in New York. Sie will nicht am Ende ohne etwas dastehen oder lauter Unsinn über sich lesen. Aber es wäre eine schöne Abwechslung. Sie könnte sich ihr Leben noch einmal in Ruhe anschauen. Noch einmal alles von ganz vorn bedenken, bevor es endet. Wäre es nicht wunderbar, noch einmal das ganze Glück zu durchleben? Aber was ist mit dem Unglück, der Krankheit und den Abschieden? Will sie das?

»Ich werde darüber nachdenken. Kommen Sie morgen früh wieder. Bis dahin habe ich mich entschieden. Ich müsste auch telefonieren und mit meinem Verlag in den USA sprechen. Und dann schauen wir, ob wir einen Vertrag aufsetzen. Ohne Vertrag geht das nämlich nicht. Ich muss mich absichern.«

Ihr fällt noch ein, dass sie Clara eine ganze Woche freigeben könnte. Sie klagt doch ständig darüber, zu wenig Zeit für ihre Übersetzungen zu haben und für ihre Mutter. Und falls ihre Gesundheit wieder zusammenbricht – dann müsste Clara eben zurückkommen.

»Jetzt bin ich müde. Aber wir können uns morgen treffen. Ich hoffe, Sie können früh aufstehen. Ich erwarte Sie um acht Uhr.«

Als Ruth am nächsten Morgen an der Haustür von Rungstedlund klopft, wird sie sofort eingelassen und in die Grüne Stube geführt. Abermals steht ein Tablett mit Tee und belegten Broten bereit. In der ersten halben Stunde erzählt Ruth ihrer Gastgeberin von sich. Ihre Urgroßeltern stammen aus Aarhus und sind im 19. Jahrhundert nach Boston ausgewandert. Dort ist Ruth geboren und studiert jetzt in New York Geschichte und Literatur. Während eines Ferienkurses in Washington lernte sie auf einem Treffen der Civil-Rights-Bewegung Akil kennen, dessen Eltern aus Kenia stammen, und sie hat sich in ihn verliebt. Er schenkte ihr das Armband.

»Sie sind mutig, eine solche Beziehung einzugehen«, sagt die Baronin. »Dürften Sie in den USA überhaupt heiraten?«

»In Washington schon. Aber im Moment denken wir noch gar nicht so weit.«

Die Baronin mustert die junge Studentin, die ihr gegenübersitzt und bei ihrer Frage rot geworden ist. Sie hat ein hübsches, schmales Gesicht, ihre kurzen Haare liegen in Wellen wie bei fast allen Amerikanerinnen; sie trägt einen schmalen Wollrock und ein flaschengrünes Twinset. Wie jung sie ist, denkt Karen. Laut sagt sie: »Was macht Ihr Freund in Washington?«

»Er studiert Jura an der Howard University School of Law und will Anwalt werden.«

»Und er wollte Sie nicht hierher begleiten?«

»Dafür hat er kein Geld. Und ich wollte in Jütland auch noch Verwandte ausfindig machen, die ich noch nie gesehen habe, da ist es wohl besser, ich mache das allein …«

Karen Blixen beobachtet sie scharf, bohrt aber nicht weiter nach. Sie wechselt das Thema.

»Ich habe mich gestern mit meinem New Yorker Verleger beraten, Donald Klopfer von Random House. Wir haben uns Folgendes überlegt: Ich erzähle Ihnen meine Lebensgeschichte, und Sie schreiben sie auf. Es soll kein Buch werden, vielleicht nur ein längerer Aufsatz. Das entscheiden wir noch. Und ich habe eine Bedingung: Ich darf Ihren Text lesen und korrigieren. Ich möchte nämlich nicht immer wieder dieselben Fehler über mich lesen.«

»Welche sind das zum Beispiel?«

»Ach, da gibt es viele. Zum Beispiel, dass ich so unglaublich reich sei und mit meinen Büchern ein Vermögen verdient hätte.«

Sie legt Ruth einen Vertrag vor, den Clara noch in der Nacht aufgesetzt hat. Darin räumt Ruth Karen Blixen das Recht ein, alles vorab lesen und freigeben zu dürfen. Ruth unterschreibt, ohne lange zu überlegen, und legt sich Block und Stift bereit.

Karen Blixen deutet auf einen Holzkasten auf der Kommode. »Stellen Sie den bitte hier auf den Tisch.« Sie öffnet ihn und nimmt ein paar Fotos heraus, die ganz oben liegen. Eines nach dem anderen breitet sie vor Ruth aus.

»Meine Eltern. Wilhelm Dinesen und Ingeborg Westenholz. Sie haben 1881 geheiratet.«

Auf dem Schwarz-Weiß-Foto ist ein junges Paar zu sehen. Der ernst wirkende Wilhelm trägt einen Anzug, hat einen ordentlich gestutzten Bart und sitzt an einem Tisch. Sein Blick ist kritisch, fast schon abweisend auf den Betrachter gerichtet. Neben ihm steht seine junge Gemahlin Ingeborg Dinesen. Sie hält ein Buch in der Hand und hat den Finger hineingelegt, damit die Seite nicht verschlägt. In dem figurbetonten Kleid mit Rüschen und Volants wirkt sie sehr zerbrechlich.

»Ich wäre lieber in einer anderen Familie aufgewachsen«, sagt Karen Blixen, »ich hatte immer das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören. Vor allem, nachdem mein Vater gestorben war.«

»Wie alt waren Sie da?«

»Ich war fast zehn. Es war … nun, eine Tragödie. Und wissen Sie, schon mein Vater fühlte sich fehl am Platz in dieser Familie. Die Ehe meiner Eltern war wie die Verbindung von zwei Welten, die nicht zusammenpassen. Die Familie Westenholz, also die mütterliche Seite, war immer geschäftig, fleißig und zugegebenermaßen hochgebildet. Sie waren zu einigem Reichtum gekommen. Die Westenholz-Frauen waren allesamt stark und selbstbewusst. Ein Amazonengeschlecht.«

»Und Ihr Vater?«

»Papa stammte aus einer alten Familie von Grundbesitzern, die mit dem dänischen Adel versippt ist. Er wuchs in Katholm auf, in einem Wasserschloss auf Jütland, übrigens gar nicht weit von Aarhus entfernt, wo Ihre Ahnen herkommen.«

Ruth nickt ehrfürchtig. »Katholm kenne ich natürlich vom Sehen. Wir sind oft daran vorbeigekommen, wenn wir ans Meer wollten.«

Karen Blixen schiebt ihr ein Foto des Schlosses hin. »Mein Großvater verwaltete das Gut vorbildlich. Obwohl die Dinesen-Männer eigentlich eher Soldaten und Draufgänger waren, ein bisschen starrsinnig und voller Abenteuerlust. Weil mein Vater als jüngerer Sohn kein großes Erbe zu erwarten hatte, kaufte er sich eine Schiffspassage nach Amerika und durchstreifte die Wildnis von Nebraska und Wisconsin.«

Karen Blixen steht auf, geht zum Bücherregal, zieht einen schmalen Band heraus und schlägt ihn auf. Er klappt von allein an der Stelle auf, in die sie eine Feder gelegt hat.

»Hören Sie, was er in seinem Buch über die Politik der USA geschrieben hat: ›Die Regierung hält es manchmal für notwendig, die Ureinwohner mithilfe von Soldaten zu dezimieren, aber für gewöhnlich schaffen das der Alkohol, die Pocken, Geschlechtskrankheiten und andere Leiden im Verein mit der Vernichtung ihrer Lebensgrundlage – der Wildbestände.‹ Das ist treffend formuliert, nicht wahr?« Sie klappt das Buch zu und stellt es zurück.

Ruth fragt: »Darf ich es mal sehen?«

»Es ist Dänisch. Das verstehen Sie nicht.«

»Nur sehr wenig. Aber ich würde es gern einmal in die Hand nehmen. Bitte.«

Karen Blixen seufzt und zieht es wieder hervor. Als sie es Ruth reicht, beobachtet sie diese genau.

»Die Zettel nicht herausnehmen, die sind wichtig.«

Ruth blättert das Buch vorsichtig durch. Und stößt auf die Feder. Sie schaut zu Karen Blixen.

»Eine wunderschöne Feder, von welchem Vogel …?«

»Geben Sie her.« Sie hält ihre Hand gebieterisch ausgestreckt und nimmt das Buch, geht wieder zum Regal und schiebt es zurück an seinen Platz.

»Meine Eltern heirateten auf Mattrup in Jütland, wo meine Mutter aufgewachsen ist. Von dort brachte Papa sie hierher nach Rungstedlund. Wie er auf die verrückte Idee kommen konnte, seiner Schwiegermutter und den beiden unverheirateten Schwestern seiner Frau den Gutshof Folehave in der Nachbarschaft zu überlassen, verstehe ich bis heute nicht.«

Karen Blixen setzt sich, nimmt sich eine Zigarette und wartet darauf, dass Ruth ihr Feuer gibt. Ruth blickt sich hektisch um und entdeckt auf einem kleinen Rauchertisch ein Streichholzheftchen. Pasop blickt nur müde auf, als sie an ihm vorbeigeht.

Karen deutet mit ihrem dünnen Finger auf den Hund.

»Er nimmt genau wahr, was Sie machen.«

Mit zittrigen Fingern reißt Ruth das Streichholz an und hält es an die Zigarette. Karen Blixen zieht gierig daran, ihre Wangen wölben sich dabei nach innen. Dann lehnt sie den Kopf zurück und stößt den Rauch aus.

»Als mein Vater sich hier niederließ, begann er, Bücher zu schreiben. Er war ein guter Schriftsteller. Sein Buch Jagdbriefe ist sehr bekannt in Dänemark. Es erschien unter dem Pseudonym Boganis. So hieß ein aufständischer Chief der Creek in Nordamerika. Sie wehrten sich gegen die Vertreibung von ihrem Land.«

Vorsichtig, als habe sie Schmerzen, ändert sie ihre Sitzposition. »Wahrscheinlich habe ich die Angewohnheit, mich hinter Namen zu verstecken. Mein erstes Buch ist unter dem Namen Osceola erschienen, so hieß der Lieblingshund meines Vaters. Auch den Namen Peter Lawless verwendete ich. Später schrieb ich unter dem Namen Isak Dinesen. Und ein anderes Mal unter Pierre Andrézel.«

»Aber Ihre Familie und Ihre Freunde nennen Sie Tanne, richtig?«

»Die meisten. In Afrika war ich einfach die Baronin oder Mrs Blixen. Oder die Lioness. Oder Tania.« Sie macht eine Geste, die Hilflosigkeit ausdrückt. »Ein schönes Chaos, oder?«

Auf einmal ist es so still, dass Ruth zum ersten Mal das sehr leise Ticken der Uhr auf der Kommode auffällt. In das Schweigen hinein fragt sie: »Was war Ihr Vater für ein Mensch?«

Karen Blixen greift nach dem Foto ihrer Eltern und streicht zart über den gezackten Rand. Irgendwo im Haus klappert ein Fenster, und ein strenger Ruf ertönt. Ob Karen Blixen das hört, weiß Ruth nicht. Aber sie erkennt, dass der Blick der alten Dame weich wird und ihre Augen noch schwärzer glänzen als zuvor.

Pierrot

Tanne, komm weiter. Streng dich an.«

Sie stapfte neben dem Vater den Hügel hinauf. Die Kälte trieb ihr Tränen in die Augen. Es war eisig, kaum konnte sie die Zehen noch spüren. Sie wünschte sich, hochgenommen und festgehalten zu werden, so wie früher. Aber sie musste selbst laufen, weil sie schon acht war, obwohl sie im Schnee viel schlechter vorankam als der Vater. Schnaufend arbeitete Tanne sich voran, blinzelte die Schneeflocken weg. Immerhin: Papa hatte sie in die Mols Bjerge mitgenommen, nicht die ältere Schwester Ea, nicht die jüngere Schwester Elle. Die Brüder Thomas und Anders waren sowieso noch zu klein für solche Wanderungen. Der Vater nahm – außer seinem Schäferhund Osceola – immer nur sie mit, darauf war sie stolz. Denn Karen Christentze Dinesen, genannt Tanne, war seine Lieblingstochter, davon war sie überzeugt, auch wenn er es niemals ausgesprochen hätte, um seine anderen Kinder nicht zu kränken.

Plötzlich drückte er sie brutal auf den Boden und duckte sich neben sie. Ihr Knie schlug hart auf einen Stein, das Gesicht wurde in den Schnee gepresst, der in ihre Nase drang. Als sie wimmerte, verstärkte sich der Druck seiner Hand, er beugte sich herab und zischte ihr ins Ohr: »Pscht. Still jetzt.«

Sie hielt kurz die Luft an, dann schluckte sie und wusste, dass sie weder weinen noch schreien würde. Die Befehle des Vaters waren die einzigen, die sie nie infrage stellte. Sie hob den Kopf ein wenig und schielte zu Osceola, der wie versteinert wirkte. Ihr Knie schmerzte, und als sie verstohlen mit der Hand über die Augen wischte, merkte sie, dass ein gefrorenes Grasbüschel an ihren Wimpern klebte.

Tanne konzentrierte sich auf ihr Knie und erinnerte sich an die Lektion des Vaters. Als ihr neulich die schwere Karre auf den Fuß gekippt war, hatte er gesagt, körperlichen Schmerz überwinde man am besten, indem man ihn kalt betrachte, als gehöre er nicht zu einem selbst.

Jetzt klang die Stimme des Vaters an ihrem Ohr heiser.

»Schau hin, Tanne, aber beweg dich nur ganz langsam …«

Sein Schnurrbart kitzelte sie, gleichzeitig stieg ihr sein Geruch nach Leder, Tabak und feuchtem Lodenmantel in die Nase.

Vorsichtig hob sie den Kopf und sah einige Meter entfernt auf der Lichtung einen Hirsch, der im Schnee nach etwas Essbarem suchte. Auf einmal hielt er inne, riss den Kopf hoch und streckte die Nüstern witternd in die Luft. Tanne presste die Lippen aufeinander, damit ihr nicht einmal ein Atemwölkchen entwischte. Der Hirsch äste friedlich weiter und machte ein paar Schritte in ihre Richtung. Dann wendete er blitzschnell und verschwand im Gebüsch. Osceola winselte leise, aber bevor er ihm hinterherjagen konnte, nahm ihn der Vater mit einem kurzen Pfiff bei Fuß. Der Hund gehorchte ihm sofort.

»Und?« Mit fester Hand zog er sie hoch und schob sie weiter in Richtung Plateau.

»Was hast du gesehen, Tanne?«

»Einen Hirsch …«

»Wie alt?«

»Er war dunkel und hatte sehr große Augen. Die Hufe waren …«

»Wie alt?«

»Er hatte eine Wamme …«

»Du weißt es nicht. Du hast gar nicht richtig hingeschaut«, seufzte Wilhelm Dinesen, »du musst lernen, das Wild anzusprechen, sonst wirst du nie ein richtiger Jägersmann.«

Das Wild ansprechen. Das war Jägersprache, und Tanne wusste, was es bedeutete. Man musste in wenigen Sekunden erkennen, ob das Tier jung, alt oder krank war, ob es trug, säugte oder verletzt war. Erst dann konnte man entscheiden, ob man schoss.

Sie schob ihre Hand in seine. »Es ging so schnell.«

Der Vater schüttelte missbilligend den Kopf, drückte aber gleichzeitig ihre Hand und erklärte: »Er war etwa sechs oder sieben Jahre alt, denn er hatte keinen Widerrist, und sein Hinterteil war rund. Der Kopf war glatt und scharfkantig und der Hirschbart nicht sehr ausgeprägt.«

»Mmh.«

»Du musst blitzschnell sein, Tanne. Sehen, entscheiden, Schuss.«

Sie nickte und fragte sich ängstlich, ob sie ihn enttäuscht hatte.

Als sie aus dem Wald auf das verschneite Plateau traten, das mit Sträuchern und kleinen Kiefern bewachsen war, kam die Sonne zwischen den Wolken hervor. Tanne entdeckte ihn gleich, den Runddolmen Poskær Stenhus, und rannte drauflos. Der Vater rief ihr nach: »Weißt du, dass dieser herrliche Platz nur wegen einer Lüge noch existiert?« Sie schaute ihn fragend an.