Frederike - Klaus Paffrath - E-Book

Frederike E-Book

Klaus Paffrath

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Beschreibung

1981 verschwindet die 17-jährige Frederike nach einer abendlichen Chorprobe spurlos. Vier Tage später wird sie ermordet in einem Waldstück aufgefunden. Die Jagd nach dem Täter beginnt. Frederikes Vater zerbricht fast am Verlust seiner geliebten Tochter. Nur noch die Suche nach dem Täter und seine hartnäckigen Appelle an Staatsanwaltschaft und Ermittler halten ihn am Leben. Über drei Jahrzehnte muss er warten, bis neueste Analyse-Methoden und eine Neubewertung der Spurenlage den Täter zweifelsfrei identifizieren. Unterstützung bekommt er dabei von einem Rechtsanwalt und ehemaligen Bundesanwalt, der sich als Opferanwalt zur Verfügung stellt. Doch dann, als sich Frederikes Vater endlich am Ziel wähnt, geschieht das Unfassbare …

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Vollständige eBook Ausgabe 2017

© 2017 SPIELBERG VERLAG, Neumarkt / Regensburg

Korrektorat: Maria Göckeritz, Sigrid Müller

Umschlaggestaltung: Spielberg Verlag

Umschlagbild: unter Verwendung eines Fotos von © Hans von Möhlmann

Alle Rechte vorbehalten

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Klaus Paffrath, Jahrgang 1961, studierte Rechtswissenschaft in Trier, war anschließend Forschungsreferent am Institut für Öffentliche Verwaltung und promovierte an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer.

»Den eigenen Tod, den stirbt man nur,

doch mit dem Tod der anderen muss man leben«

Aus »Memento« von

Inhaltsverzeichnis

Frederike

4. November 1981

1. Oktober 2015

Die Nacht vom 4. auf den 5. November 1981

2. Oktober 2015

5. November 1981

5. Oktober 2015

5. Oktober 2015, 15.00 Uhr

Donnerstag, 26. Juli 2012

5. Oktober 2015, 16.00 Uhr

6. Oktober 2015

7. Oktober 2015

21. Oktober 2015

22. Oktober 2015, 16.00 Uhr

23. Oktober 2015

29. Oktober 2015

31. Oktober 2015

2. November 2015

12. November 2015

21. November 2015

22. November 2015

24. und 28. November 2015

Samstag, 5. Dezember 2015

19. Dezember 2015

21. Dezember 2015

18. Januar 2016

23. März 2016

16. April 2016

Nachwort

Dank

Frederike

4. November 1981

Der Mittwoch Anfang November begann mit dem für die Jahreszeit typischen Herbstwetter, als wolle zäher Nebel alles Tragische verdecken, was am Ende des Tages über die Familie mit den beiden Töchtern hereinbrechen sollte. Aber nichts warnte die Familie vor, die annahm, es sei ein ganz normaler Schul- und Arbeitstag, der zu durchleben wäre wie jeder andere Tag auch. Die Mutter weckte ihre Töchter. Während der Verrichtungen in der Küche konzentrierte sie sich mit einem Ohr auf den Flur, um nebenbei zu kontrollieren, ob die Mädchen aufgestanden und ins Bad gegangen waren. Sie deckte den Tisch, servierte Kakao oder Saft, je nach Wunsch, und rief immer mal wieder die Uhrzeit durch die Küchentür in den Flur. Dieses Ritual des morgendlichen Antreibens hasste sie. Sie kam sich dann immer wie die Fahrerin eines Autos vor, in dem sie die Familie durchs Leben kutschieren und besonders am Morgen so viel Gas geben musste, dass der Schwung für den Rest des Tages reichte.

Die Mutter hatte die Pausenbrote geschmiert, alles für die Schultaschen verpackt und dabei stets den Kontrollblick auf die Uhr behalten.

«Frederike, schnell, der Bus kommt gleich. Hier, deine Pausenbrote. Denk an die Chorprobe heute Abend. Du rufst mich an, wenn ihr fertig seid?»

Frederike und ihre ältere Schwester waren Fahrschülerinnen und auf den Bus angewiesen, der morgens, mittags und am späten Nachmittag fuhr. Wenn eine Veranstaltung jedoch länger dauerte, Proben für das Schulfest oder Chorproben in der Kantorei anstanden, dann war auf die Buslinie auf dem Land kein Verlass. Fuhr kein Bus mehr, war das Familientaxi gefragt.

Wie immer war es knapp, die beiden Mädchen mussten laufen, doch wie jeden Tag schafften sie es auch an diesem Morgen, rechtzeitig zum Bus zu kommen.

Meistens war es die Menschentraube an der Bushaltestelle, die für ein ausreichendes Zeitpolster sorgte, denn bis alle eingestiegen waren, vergingen ein paar Minuten. Für die Letzten gab es allerdings keinen Sitzplatz mehr. Das hieß, stehen, festhalten und keine Chance, ein Buch zum Vokabellernen aufzuschlagen oder aus dem Heft des Sitznachbarn Hausaufgaben abzuschreiben. Manchmal hielt Isabelle, die zwei Haltestellen früher einstieg, Frederike einen Platz frei, aber das klappte nicht immer. Ältere Schüler aus der Oberstufe nutzten das Recht des Stärkeren und ignorierten das Freihalten. Nur die kleineren Schüler gingen maulend weiter und akzeptierten den Schulranzen von Isabelle auf dem freien Sitz neben ihr. Doch in dieser Woche fehlte die Freundin, sie lag mit einem grippalen Infekt im Bett.

Nach dem Unterricht fuhr Frederike mit dem Bus zurück und aß zu Hause zu Mittag. Sie setzte sich anschließend in ihr Zimmer, um ihre Hausaufgaben zu erledigen und für die Mathearbeit am nächsten Tag zu lernen. Durch die Chorprobe am Abend würde ihr später dafür die Zeit und die Lust fehlen. Sich nach einem vollen Tag noch spät abends an den Schreibtisch zu setzen? Nein, da mochte sie schon eher die Lieblingsserie im Fernsehen oder einen Spielfilm auf dem Videorekorder, den ihre Mutter besorgt hatte, schauen.

«Du musst mir noch zwanzig Pfennig geben», forderte Frederike nachmittags, als es Zeit war, den Bus in die Stadt zu nehmen.

«Ja, ich schau, ob ich es passend habe.» Ihre Mutter angelte in der Schublade nach dem Portemonnaie. Das Klimpern klang schon mal gut. Sie fischte zwei Groschen heraus, die Frederike in die Hosentasche ihrer weißen Latzhose steckte. Sie hatte sich nach der Schule umgezogen, die Jeans gegen eine Latzhose getauscht, die Unterwäsche gewechselt und einen mittelblauen Pullover angezogen. Vor dem Flurspiegel kämmte sie sich noch durch die kurz geschnittenen blonden, leicht ins rötlich gehenden Haare. Jetzt, Anfang November, war vollends die letzte Bräune aus der Urlaubszeit verschwunden und mit ihr verblassten auch die wenigen Sommersprossen. Gegen 16.30 Uhr fuhr sie mit dem Bus wieder zurück in die Stadt. Mittwochs, so auch an diesem 4. November 1981, hatte sie in der Stadtkantorei Chorprobe, die gegen 19.30 Uhr endete. Anschließend ging sie mit einer Freundin und Mitsängerin in die Bahnhofsstraße, wo sie sich verabschiedeten. Der letzte Bus ins Heimatdorf war längst gefahren. Die Freundin sah noch, wie Frederike die Tür der Telefonzelle in der Bahnhofstraße öffnete und zum Hörer griff. Mit der freien Hand warf sie die zwei Groschen ein und wählte. Vermutlich war niemand zu Hause oder die Leitung besetzt, denn Frederike beschloss anschließend nach Hause zu trampen. Über die Gefährlichkeit des Trampens war schon öfter diskutiert worden, nicht nur mit ihrer Mutter, auch mit einem Lehrer sprach Frederike gelegentlich über das Fahren per Anhalter. Durch die Lage auf dem Land war es die einzige Gelegenheit nach Hause zu kommen, wenn die Eltern sie nicht abholen konnten. Frederike hatte sich selbst Regeln aufgestellt, die sie ihrer Mutter und auch dem Lehrer mitteilte, vielleicht, um in erster Linie sich selbst zu beruhigen, aber auch den anderen ihre Sorge zu nehmen. Zunächst, und das war ihre erste Bedingung, wollte sie nur in Autos einsteigen, die Nummernschilder aus dem Heimatkreis hatten. Die zweite Regel war, es sollten darin nicht mehr als zwei Personen sitzen. Um im Notfall schnell aussteigen zu können, wollte sie sich als dritte Schutzvorkehrung nicht anschnallen. Sollte der Autofahrer zudringlich werden, wollte sie auf ihn einreden, deeskalierend wirken und ihm ins Gewissen reden. Bisher hatte sie mit ihren selbst aufgestellten Voraussetzungen für gefahrminimiertes Trampen Erfolg gehabt. Passiert war ihr nie etwas, keine Aufdringlichkeiten, wenn auch das Telefonat nach Hause und das Abholen durch die Eltern weit häufiger waren als das Trampen. Allerdings hätten die selbst aufgestellten Regeln nur dann ihre Wirkung entfalten können, wenn es an diesem Novemberabend eine vernünftige Auswahl gegeben hätte. Je länger sie in der klammen Kälte auf einen anhaltenden Wagen warten musste, desto nachgiebiger hielt sie sich ihre Bedingungen vor Augen. Irgendwann an diesem Abend fuhr ein sportlicher BMW 1602 an ihr vorbei und verlangsamte das Tempo. Der Fahrer drehte den Kopf zu ihr, musterte sie, ließ die Bremsleuchten aufflammen, setzte den Blinker rechts und hielt am Fahrbahnrand an. Frederike schaute auf das Nummernschild. Es war eines aus ihrem Landkreis. Das passte. Sie lief zu dem Wagen hin, öffnete die Beifahrertür, fragte nach dem Ziel, verstand den Fahrer nicht sofort und nannte stattdessen ihre Adresse. Hinter dem Steuer saß ein junger Mann. Sein Nicken konnte sie nur schemenhaft erkennen, da sein Kopf und Oberkörper wie ein schwarzer Scherenschnitt vor dunklem Hintergrund nur schwer zu erkennen waren. Der leere Beifahrersitz war durch den Schein einer Straßenlaterne ausgeleuchtet, doch die Fahrerseite lag im Dunkeln. Dennoch, das warme goldgelbe Licht der Laterne, das auf den Beifahrersitz fiel, wirkte wie eine Einladung, und Frederike setzte sich und zog an der Armlehne die Tür des Wagens zu.

Der junge Mann besaß den Wagen erst seit einem Vierteljahr. Vom ersten Gehalt hatte er ihn sich gekauft, natürlich gebraucht und nicht neu. Es war ein schicker Wagen für einen jungen Fahrer, der erst etwas über zwanzig Jahre alt war. Vielleicht fühlte er sich einen Moment lang mit Frederike auf dem Beifahrersitz, als säße seine Freundin neben ihm, wie jemand, der es geschafft hatte, einen Beruf zu haben, einen schicken, schnittigen Wagen zu besitzen und zu allem eine junge hübsche Frau neben sich an der Seite zu sehen. Vielleicht spürte er kurze Zeit später, dass es mit der harmonischen Vorstellung einer jungen hübschen Frau als Begleiterin nicht passte, weil sie bald wieder aussteigen und er sie nicht würde besitzen können, so, wie er den BMW besaß. In diesem Moment musste er wohl den verhängnisvollen Plan entwickelt haben, sich mit Gewalt das zu holen, was für ihn nicht erreichbar war. Er fuhr wieder an und steuerte den Wagen zunächst in die Richtung von Frederikes Heimatort. Sie versuchte, ein Gespräch zu beginnen und fragte, wohin er selbst fahren müsse. Er murmelte undeutlich. Frederike hakte nach. Wieder nuschelte er, aber sie glaubte, einen Ort hinter ihrem Zuhause herausgehört zu haben. Auf jeden Fall war es ihre Richtung. «Ich hatte Chorprobe», sagte sie. «Mein Musiklehrer meinte, meine Stimme wäre ganz okay, na ja, vielleicht klappt's mal für eine Girls-Band. Für Suzi Quattro wär's ausreichend, meinte meine Freundin. Mal sehen, was kommt. Meistens haben wir für eine Band interessierte Nachfragen von fünf Sängerinnen und zehn Gitarristen. Aber keinen Bass, Schlagzeuger, Keyboarder. Du spielst kein Instrument, stimmt's?»

Wieder kam keine Reaktion. Komischer Kauz, dachte sie.

Solange ihr der Erzählstoff nicht ausging, fühlte sie sich sicher. «Finde ich toll, dass du gehalten hast», sagte sie, «die Busse sind ein Gräuel, ich meine, nicht die fahren, sondern die im Depot bleiben. Morgens, mittags, dann nochmal am Nachmittag, aber dann ist Schluss. Und wir auf dem Dorf werden abgehängt. Da ist Trampen die einzige Lösung, wenn die Eltern nicht können, so wie heute Abend. Na ja, die Hälfte haben wir schon, oder?»

Sie schaute nach links, aber der junge Kerl zuckte nicht, sah geradeaus, schien voller Stolz auf seinen teuren Wagen zu sein. Frederike musterte ihn, aber im Dunkeln blieb er die Silhouette, der schwarze Scherenschnitt, den sie bereits beim Einsteigen wahrgenommen und dessen Kontur noch nichts Plastisches angenommen hatte. Wortkarg war er, dachte sie, wenn sie das Murmeln und Nuscheln zwischendurch überhaupt als Wortbeitrag zählen konnte. Ihn zu beschreiben hieß, alles das aufzuzählen, was er nicht war. Gesprächig, nett, zuvorkommend – wenn sie sein Anhalten mal kurz ausblendete, seine bisher einzige freundliche Handlung, dachte sie. Ein Mann ohne Eigenschaften kam ihr in den Sinn. Der Buchtitel von Robert Musil stand auf der Bücherliste des Deutsch-Leistungskurses. Sie musste demnächst mal ein Buch davon für die Buchbesprechung auswählen. Aber es gab solche Menschen, dachte sie mit Blick auf den Fahrer, besonders die Jüngeren, verklemmt, nach innen gewandt, da war es schon eine Leistung, mal anzuhalten, wenn jemand am Straßenrand stand und den Daumen hob. Ganz klar Besitzerstolz, ihr zu zeigen, was er so fahren konnte und bestimmt auf ewige Dankbarkeit ihrerseits hoffend. Sie hielt ihn für verschlossen und nicht mit der Gabe versehen, auch nur für einen kurzen Moment eine Unterhaltung aufbauen zu können. So fuhren sie aus der Stadt an den hell erleuchteten Geschäften vorbei, raus durch die Vorstadt mit den symmetrisch angelegten Siedlungshäuschen, raus aufs Land, wo die Straßen enger und dunkler wurden.

Sie hasste Schweigen im Auto. Es sollte immer alles im Fluss sein, die Unterhaltung wie auch die Fahrt nach Hause. Ja, sie fand, die Ziele, denen sie sich nähern wollte, sollten ihr so geschwind entgegenströmen wie die grell angestrahlten Leitpfosten, die an dem Beifahrerfenster vorbeiflogen und sich im schwarzen Nichts hinter ihr auflösten.

Plötzlich bog der Fahrer ab und fuhr in eine schmalere Straße ein. Frederike kannte sich aus. Es gab eine Abkürzung, die mancher fuhr, aber für ihren Heimatort war das keine Option. Etwas stimmte nicht. Der junge Mann fuhr schnell, er musste mit der Gegend vertraut sein, jemand von hier, was ihr ja auch das Nummernschild verraten hatte. Sonst würde er auf der schmalen Straße auch nicht so schnell fahren. Angeber. «Mach langsam», sagte sie. Es blieb nicht mehr viel Zeit. «Was soll der Umweg? Das ist keine Abkürzung! Sag doch mal was!» Der Fahrer schwieg. Er drehte sich nicht einmal zu ihr um, als sei er taub und höre gar nicht, was sie von ihm wollte. Er verlangsamte nicht, sondern blieb auf der schmalen Nebenstrecke auf dem Gas. Ihr Sicherheits-Check kam ins Wanken. Sie drückte vorsichtig auf den roten Gurtauslöser. Das leise Klicken ging im hochtourigen Motorgeräusch unter. Jetzt war sie bereit zum Sprung aus dem Wagen. Doch sollte sie wirklich das Wagnis eines Sprungs eingehen? War das alles ein Missverständnis? Hatte sich der Fahrer schlicht verfahren? Dann hätte er das spätestens jetzt sagen müssen. Täte ihm leid, falschen Abzweig genommen, bin hier selten langgefahren. Aber der junge Mann schien immer noch nicht gesprächig. Möglicherweise war er unfähig, einen Fehler, auch den der geringeren Art, zuzugeben, dachte Frederike. Nach wenigen Kilometern bog der Fahrer erneut ab, er musste das Tempo verringern, um diesmal in einen noch schmaleren Waldweg einzubiegen. Jetzt wurde es Frederike schlagartig klar, dass sie in eine Falle geraten war. Ihr blieb nur noch diese eine letzte Chance, beim Abbiegen schnell aus dem Wagen zu springen.

Sie tastete nach dem Türöffner. Ihre rechte Hand lag auf dem Handgriff, der an der Türverkleidung angeschraubt und wie eine Armlehne ausgeformt war. Von der Position aus erkundete ihre Hand die Seitenverkleidung, was sie bereits ab dem Moment begonnen hatte, als der Fahrer wortlos, ohne den Kurswechsel erklären zu wollen, von der Hauptstraße in die Nebenstraße abgebogen war. Den Öffnungsbügel hatte sie immer noch nicht ertastet. Sollte der Fahrer die Tür manipuliert, den Öffner demontiert haben? Kindersicherungen gab es nur für die Fondtüren. In der Dunkelheit war für sie nichts zu erkennen. Keine Laterne strahlte auch nur für einen kurzen Moment ins Wageninnere, kein Gegenverkehr, kein Blender oder Hintermann, der den Wagen anstrahlte und wenigstens für einen kurzen Augenblick das Interieur so erhellt hätte, dass sie ohne Fehlgriff die Tür hätte öffnen können, ohne dem Fahrer eine Chance zur Reaktion zu bieten. Dabei wirkte der BMW durch die großen Glasflächen und filigranen A, B und C-Säulen wie ein kleines Gewächshaus auf Rädern. Andererseits gab es im Interieurdesign des BMW das Defizit der Übersichtlichkeit an einer wichtigen Stelle: Bei dem Modell BMW 1602 war der Türöffner verdeckt unter der Armlehne angebracht. Es war ein langer, verchromter, zierlich schlanker Hebel unter dem langgestreckten Handgriff, der im Knick nach oben führte, wie ein nach oben gebogener Bumerang, und der auf den Chromsteg zwischen dem Dreiecksausstellfenster und der Scheibe zeigte. Unter dem Knick verdeckt und auch am Tage schwer zu finden, lag der Hebel, in einer angedeuteten Mulde platziert. Sie tastete in zunehmender Panik nach dem Öffner. Verflucht, wo war der verdammte Hebel? Sie spürte ihren Herzschlag am Hals pochen. Sie wurde kurzatmig, Schweiß trat ihr aus den Poren. Endlich fühlte ihr Zeigefinger den länglichen Hebel unter dem Griff, doch im gleichen Augenblick bemerkte der Fahrer ihre Fluchtabsicht. Blitzschnell zog er ein stilettartiges Messer. Er griff es sich seitlich aus der Fuge zwischen Sitz und Tür heraus, denn der BMW hatte keine Taschen in der Türverkleidung, was nur Varianten mit größeren Motoren vorbehalten war. Noch bevor sie den Hebel ziehen konnte, spürte sie das kalte Metall an ihrer Kehle. Der Fahrer war in den Waldweg eingebogen, hatte mit einer Hand das Lenkrad bedient, gab auf dem engen Weg Gas, bremste kurz darauf ab und löschte das Licht, alles mit seiner linken Hand, während er mit dem Messer in der Rechten noch immer Frederike bedrohte. Als der Wagen stand, schnellte sein linker Arm hervor, er drehte sich dabei zu ihr, sein Körper lehnte sich fast über sie, um an den Öffner zu kommen, drückte die Tür auf, gab Frederike einen derben Stoß, so dass sie aus dem Wagen nach draußen ins Gras fiel. Sofort schwang er seine Beine über Schaltknüppel und Kardantunnel und sprang über die Beifahrerseite aus dem Wagen, folgte ihr, zog Frederike hoch und zerrte sie ein paar Meter weg. «Ausziehen», herrschte er sie an, das einzige Wort, das in der Schwärze der Nacht fiel. Nur langsam und unmerklich gewöhnten sich ihre Augen nach Abschalten des Autolichts an die Dunkelheit. Konturen wurden erkennbar, ein kleines Birnchen, die Innenraumbeleuchtung des BMW, warf auf einige Stellen Streifen eines matten hellen Schleiers in den Wald. Frederike hatte einen möglichen Überfall mit ihrer Mutter besprochen. Wenn sie wirklich einmal in diese Lage kommen würde, dann blieb ihr keine andere Wahl, als den Anweisungen des bewaffneten Täters zu folgen und ihn nicht zu provozieren, damit er womöglich auf weitere Gewalt als die, die unerbittlich folgen würde, verzichtete. Sich fügen hieß auch, das eigene Leben zu retten. Der schwarze, bedeckte Himmel ließ weder Sterne noch Mond durchscheinen. Der orangefarbene Lichtschein der Stadt wurde durch den Wald absorbiert. Sie fühlte sich wie in einem schwarzen, schallisolierten Raum, eingesperrt mit einem unberechenbaren Raubtier. Auch diese Stille machte ihr Angst, das Alleingelassensein, das Gefühl, einem viel stärkeren, gewissen- und namenlosen Mann ausgeliefert zu sein. Die Stille machte ihr mit brutaler Wucht deutlich, dass niemand in der Nähe war, der sie jetzt noch vor der Vergewaltigung hätte retten können. Es war, als seien beide, sie als Opfer und er als Täter, die einzigen Menschen weit und breit. Verzweifelt erkannte sie, dass von außen keinerlei Hilfe zu erwarten war. Der Fahrer wusste, dass Frederike jede sich bietende Chance zur Flucht nutzen würde, was er auch dadurch erkannt hatte, dass sie fast aus dem fahrenden Wagen gesprungen wäre, hätte er sie nicht mit dem Messer bedroht.

Frederike war kein Mädchen, das vor Angst erstarrt war. Sie wirkte gefasst und nicht kopflos, bereit zum Widerstand, falls sie hierzu eine Chance sah. Er hielt weiterhin das Messer an ihren Hals. Sie musste den Pullover ausziehen, die Latzhose, den Slip, dann stieß er sie brutal zu Boden und vergewaltigte sie. Schwer lag er auf ihr, sie spürte den Schmerz in ihrem Unterleib. Steine, Äste und Wurzeln rieben unter ihrem Rücken. Sie roch seinen Atem und versuchte den Kopf von ihm abzuwenden. Sie roch den Waldboden, das Erdige, den Lehm, das matschige Gras, zusammengefallen von der Last des langen Sommers, vom ersten Frost, von den kürzer gewordenen Tagen und dem schwindenden Licht. Sie roch die Fäulnis, die den Teppich aus heruntergefallenem Laub zersetzte. Und sie roch die Ausdünstungen des Mannes, seinen Schweiß von körperlicher Arbeit und seiner Gier. Es waren für sie endlose Minuten, bis er endlich keuchend von ihr abließ. Es war vorbei. Sie tastete nach ihrem Slip, zog ihn mit zitternden Fingern an, griff nach der Latzhose, doch in diesem Moment fiel er erneut über sie her. Wie glühende Eisen stach es in ihrem Körper. Sie schrie vor Schmerzen, hob die Arme, um sich zu schützen, wollte ihn abwehren, sah jedoch nicht, woher der Angriff kam. Sie hielt die Arme vor ihr Gesicht. Sofort empfingen sie Messerhiebe, die wie Feuer in ihr brannten. Sie wollte sich nicht aufgeben, taumelte, schrie ihn an, raffte sich wieder auf, immer hoffend, der Angriff ginge vorüber, der Kerl würde in sein Auto steigen und flüchten, doch die Stiche, die in ihr brannten, nahmen kein Ende. Noch stand sie, gekrümmt, wollte schreien, doch fehlte ihr die Kraft dazu, nur ein mattes Stöhnen war zu hören. In ihrem Kopf drehte sich alles, ihr war schwindelig. Sie taumelte, kippte nach hinten, musste sich fangen, erhielt einen weiteren Schlag und merkte, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Sie fiel, fiel und fühlte nur noch Feuer. Eine Glut wütete in ihrem Inneren, gierig, alles zu verzehren, bis nichts mehr da war, was brennen konnte. Die Schwärze, die sie eben noch für etwas Bedrohliches gehalten hatte, hüllte sie ein wie eine sanfte Decke, in die sie sich kuscheln wollte. Leicht schaukelnd, einer Feder gleich, mit der der Wind spielt, schwebte sie sanft wiegend von dem Dunkel der Nacht umgeben dem Waldboden entgegen. Sie fühlte keinerlei Schmerzen mehr. Es war vorbei. Die Stille und die Zeit schienen ihr wie eingefroren, bis sich auch dieser Eindruck in Nichts auflöste.

Eine Autotür wurde zugeschlagen. Es war nach langer Zeit das einzige Geräusch in dem Waldstück, nachdem die Schreie einer jungen Frau immer matter wurden, in ein Stöhnen übergingen und schließlich erstarben. Dann startete ein Motor. Trotz der Dunkelheit war das Autolicht nicht eingeschaltet. Nur weiße Rückfahrscheinwerfer flammten für einen kurzen Augenblick auf. Die Räder drückten sich tief in den modrig feuchten Waldboden. Erst als der Wagen nach einer Bodenwelle festen Teer erreichte, leuchtete das Abblendlicht auf. Der Fahrer drehte. Mit aufheulendem Motor raste er auf dem schmalen Weg bis zur Hauptstraße, dann vermischten sich die Lichter des Wagens mit den in die Stadt ein- und auspendelnden Autos.

1. Oktober 2015

Hans-Jochen Kemper war 43 Jahre alt und seit über zehn Jahren Staatsanwalt. Dennoch war er der Jüngste im Kollegium. Nach seiner Auffassung war dieser Umstand, eine gewisse Überalterung des Kollegiums, Garant dafür, dass sie als erfahrene Staatsanwälte meistens mit ihren Plädoyers nah am Urteil lagen. Diese Meinung deckte sich mit der der Chefin, der Leitenden Oberstaatsanwältin, die zufrieden auf ihre Staatsanwaltschaft blicken konnte. Diese Staatsanwaltschaft würde aber in einigen Jahren mit einer noch stärkeren Überalterung zu kämpfen haben. Was würde einem der Erfahrungsschatz des Kollegiums nutzen, wenn die Krankheiten gravierender und Fehlzeiten daher länger wurden? Das sollte jedoch derzeit nicht das Problem von Hans-Jochen Kemper sein. Auf der Fahrt in die Staatsanwaltschaft, die mal wieder durch hohes Verkehrsaufkommen ins Stocken geraten war, blickte er weniger in die Zukunft, sondern eher zurück auf sein Leben, auf das, was er erreicht oder nicht erreicht hatte. Er dachte dann an Caroline, auch Caro genannt, seine Frau, die er auf der Erstsemesterfete kennen- und lieben gelernt hatte. Dann und wann stellte er sich die Frage, was gewesen wäre, wenn er nicht Caro, sondern eine andere attraktive Studentin getroffen hätte. Damals hatte es zwischen ihnen gefunkt. Er, der Jurastudent, blond, sportliche Figur, groß, aber nicht zu groß, ein Meter achtzig, was ihm wichtig war, diese 1,80 m im Ausweis stehen zu haben. Sie die Pädagogikstudentin, brünett, einen halben Kopf kleiner als er, genauso wie die Unterschiede zwischen Paaren auf alten, sepiabraunen Bildern ihrer Vorfahren. Was ihm damals auch an ihr gefiel, war, dass sie nicht so aufgetakelt umherlief wie seine Kommilitoninnen, die immer zu viel Wert auf Äußeres denn auf Praktisches legten und in den Cafeteriapausen ihre Zehen außerhalb der stylischen Pumps dehnten, die sie ansonsten in ihre teuren Schuhe zwängten. Kemper fand rückblickend, es wäre seit dem ersten Kennenlernen schon ausgemacht gewesen, dass es eine ideale Verbindung sei, wenn sie sich als Lehrerin vormittags um den Beruf und nachmittags um die eigenen Kindern würde kümmern können, während er einen Job zu erfüllen hätte, der den ganzen Mann forderte. Er wusste nicht, warum er gerade in diesem Punkt so hochnäsig dachte. Erst viel später wurde ihm klar, wie sehr sie unter Druck stand, wie zermürbend der Unterricht an heutigen Schulen sein konnte. Wenn ihre Tochter Emma schon in der Grundschule mit einem Portfolio-Ordner, mit Formularen über die Selbstkompetenzeinschätzung oder über Zielvereinbarungen, nach Hause gekommen war, dann hatte er den Eindruck gewonnen, Emma sei keine Schülerin, sondern auf dem Karrieresprung, als handle es sich bei ihr um eine Nachwuchskraft im mittleren Management einer Investmentbank, eines Versicherungskonzerns oder eines Industriekonglomerats. Für fragwürdig hielt er die erzwungenen Selbsteinschätzungen der Schüler, weil die Grenze zum Selbstbelügen und zur Fehleinschätzung zu schnell überschritten war und ihnen dieser unnütze Verwaltungskram weder Vokabeln noch mathematische Formeln näherbrachte. Froh war er deshalb über jede Station seines Lebens, die er hinter sich gebracht hatte. Mit Emma mochte er nicht mehr tauschen, mit Caro auch nicht und schon gar nicht würde er zu heutigen Bedingungen ein Studentenleben führen wollen. Zu verschult und unfrei wirkte ihm die Moderne mit Bachelor und Master. Unverständlich, warum sie den deutschen Titel des Diplom-Ingenieurs wie eine heiße Kartoffel hatten fallen lassen, nur weil sie einer von außen vorgegebenen Moderichtung blind nachliefen wie ein Jagdhund der Blutspur. Daran dachte er häufig, auch wenn er als Jurist nicht betroffen war. Angst hatte er vor dem Tag, an dem die Langeweile sich auch an seiner Tätigkeit zu schaffen machen würde. Das alles ging ihm oft durch den Kopf, wenn er mit dem Wagen auf dem Weg zur Arbeit im Stau stand. Wie viele Stunden hatte er so schon im Auto verbracht. Stunden, die wie Niemandsland keinem gehörten, weder der Freizeit noch der Arbeit. In diesen Stunden wurde ihm auch klar, dass es nur bei Emma, nur bei ihrer einzigen Tochter bleiben würde. Es hatte noch ein paar Versuche gegeben, die leider mit Fehlgeburten zu Ende gegangen waren. Manchmal fragte er sich, ob sein Leben mit Caro auch in zehn oder zwanzig Jahren noch so weiterlief. Damals, am Ende des Studiums und nachdem beide den erwünschten Beruf erlangt hatten, waren sie an einem Punkt angekommen, an dem sie sich sagten, jetzt waren sie schon so viele Jahre zusammen, dann sollte man sich nicht ohne weiteres trennen. Oder doch? Erst da kam ihm die Bedeutung von Torschlusspanik in den Sinn. Die überraschende Schwangerschaft mit Emma räumte dann letzte Unsicherheiten aus dem Weg. Er wunderte sich selbst, welche Themen ihm in der Rushhour durch den Kopf gingen, und auch welche Gedankensprünge zwischen zwei Ampelphasen möglich waren.

In der Staatsanwaltschaft angekommen, lief er grüßend am Pförtner vorbei, nahm im Treppenhaus zwei Stufen auf einmal und eilte im dritten Stock über den Flur. Irgendwo stand eine Tür auf. Dahinter röchelte eine Kaffeemaschine und durch den Türspalt zog aromatischer Kaffeeduft auf die Etage. Gleich fing die Sitzung an. Er schloss sein Büro auf, holte die Robe und die weiße Krawatte aus dem Schrank. Er knotete sie und überprüfte am Spiegel an der Schrankinnentür den Sitz der Krawatte. Noch hatte er sich gut gehalten, dezente Geheimratsecken, die sich an beiden Stirnseiten festgesetzt und das blonde Haar verdrängt hatten und nur unmerklich weiterwuchsen, so langsam, dass es ihm erst auf zwei Jahre alten Bildern auffiel, dass da was auf dem Rückzug war. Die ersten Krähenfüße hatte er an sich ausgemacht, die noch als Lachfalten durchgingen, während er an Caro immer noch ihre glatte Haut bewunderte. 8.50 Uhr. Er nahm das Aktenbündel und machte sich im Justizzentrum auf den Weg in den Verhandlungssaal.

Im Gerichtssaal, wenn er den Beteuerungen der Angeklagten folgte, war er sich komischerweise stets sicher, ob der Angeklagte nun schuldig war oder nicht. Diese Gewissheit fehlte ihm manchmal in seinem eigenen Leben und er bedauerte, in viel einfacheren Sachverhalten von sich selbst nicht überzeugt zu sein, ob er nun die Rolle des Ehemanns und Vaters gewissenhaft ausübte und was er von der idealen Ehefrau und Tochter zu erwarten hatte. Dann gab es noch einen weiteren Punkt, eine Marginalie, die ihm aber dennoch als etwas Bemerkenswertes aufgefallen war. Hatte es nicht eine besorgniserregende Regelmäßigkeit? Sobald einem ein glückliches Ereignis auffiel und man sich bewusstmachte, unverschämtes Glück gehabt zu haben, kehrte bald darauf das Gegenteil ein. Wie neulich, als er den Steuerbescheid mit einer unerwarteten Rückzahlung erhielt und tags darauf die Wasserpumpe an seinem Wagen den Geist aufgab. Die Reparaturkosten saugten mühelos die Gutschrift des Finanzamts auf. Wenn ihm das schon an solchen Kleinigkeiten auffiel, verhielt es sich dann bei den großen Lebensentwürfen, die jeder für sich plante, ähnlich? Folgte dem Glück stets mit geringem Abstand der Tiefschlag?

An diesem Morgen um 8.45 Uhr, kurz nach Dienstbeginn, fiel ihm während des Krawattenbindens außerdem auf, dass Hainbergen nicht gerade ein Hort der Schwerkriminalität war. Der letzte Mord lag Monate zurück und eigentlich befand sich die Staatsanwaltschaft derzeit in einer ruhigen Phase, die sonst nur aus der sitzungsfreien Zeit der Sommerferien bekannt war.

Mittags, nachdem die Verhandlung unterbrochen worden war, hatte es nur kurz an der Tür geklopft und es hätte keine Unterschied gemacht, ob Kemper «Herein» oder «Moment noch» gerufen hätte, denn Peter Brandt stand bereits vor ihm, als wäre das, was er in Händen trug und was – wie sich später herausstellen sollte – er wohl über drei Jahrzehnte mit sich herum geschleppt hatte, ein aktueller und umgehend zu lösender Fall.

«Herr Koll ...», setzte er an, doch Kemper hob unwillkürlich den Zeigefinger, eine Geste, die er älteren Politikern abgeschaut hatte und die er eigentlich nicht in sein Gestikrepertoire aufnehmen wollte, doch es wirkte unmittelbar auf Peter Brandt und ließ auf eine postpreußische Sozialisation des dienstältesten Staatsanwalts schließen. Brandt verzichtete auf das «Herr Kollege» und besann sich noch rechtzeitig auf den richtigen Nachnamen. «Herr Kemper!» Er machte eine Pause, als erwartete er einen Tusch, weil er endlich die antiquierte Anrede «Herr Kollege» erstmalig hatte fallen lassen und den Nachnamen nannte, doch ihm lag wohl mehr an der vollen Aufmerksamkeit, die er jetzt von Kemper forderte. «Während dieser ereignisarmen Konsolidierungsphase unserer Behörde könnten Sie einen Blick in unsere ungelösten Fälle werfen», sagte er.

«Eigentlich wollte ich ...», begann Kemper und merkte, dass er damit schon falsch angefangen hatte. Wer «eigentlich» sagte, hatte schon verloren, weil das Füllwort über die Wichtig- oder Unwichtigkeit der Ausrede Bände sprach.

«Nein, ich mach es kürzer. Peter, guten Tag erstmal, bin ja verwundert, dich heute wiederzusehen.»

«Was denn, mit dir bin ich jetzt auch per Du?»

«Seit ungefähr ...», Kemper schaute auf die Armbanduhr, «jetzt um dreizehn Uhr sind es fast exakt zwölf Stunden, irgendwann kurz nach Mitternacht.»

«Na ja, gibt Schlimmeres», sagte Brandt nicht ganz ernst gemeint und hob dabei die Hand mit der dünnen Akte.

«Gestern war übrigens der 30. September», sagte Kemper, «es gibt keinen 31. Heute, am 1., bist du Pensionär und gestern als Staatsanwalt mit einer Wahnsinnsfeier von unserer Chefin verabschiedet worden. Schlimm verkatert, Filmriss, ist in der Nacht irgendetwas an dir vorbeigelaufen? Oder werden die Dinge in der Rückschau kleiner als sie in Wirklichkeit sind, so wie in amerikanischen Rückspiegeln?»

«Nein, wieso? Meine wilden Jahre sind definitiv vorbei und werden auch nicht wieder hochgespült», sagte Brandt, dessen belegte, heisere Stimme von aktiveren Jahren erzählen wollte und eine Oktave tiefer angelegt war als die des jüngsten Staatsanwalts der Behörde. Brandt wog gut über zwei Zentner, war dabei aber nicht größer als Kemper. Die vollen Wangen rahmten mit zwei tiefen Furchen eine kräftige Nase mit roten Äderchen ein, über der zwei dunkelbraune Augen, beschirmt von buschigen Augenbrauen, wachten. Zu dem kernigen Aussehen passte der tiefe Bass perfekt.

«Und warum willst du heute am frühen Nachmittag schon wieder Dienst spielen? Musst du aufräumen, oder was?»

«Macht das Kantinenpersonal. Die Handakte hier, die gibt es zum Dessert. Darf ich?» Brandt wartete keine Reaktion ab, zog sich einen Besucherstuhl an den Schreibtisch und setzte sich Kemper gegenüber.

Bei der Frage blickte Kemper um die stattliche Figur von Brandt herum zur Bürotür, die nur angelehnt war.

Brandt ahnte, dass er die Tür hätte schließen sollen und murmelte «mach ich gleich», sah dann Kemper direkt an und fuhr laut fort, «da müssen die Neuen durch, auch Sie, … auch du», korrigierte sich Brandt, «und da das letzte Stellenbesetzungsverfahren eines Staatsanwalts vor dir schon ein paar Jährchen zurückliegt, bist du gemäß Anciennität, also der Reihenfolge nach dem Dienstalter, der Jüngste.»

«Gut, soweit keine Anmerkungen meinerseits, das ist mir bekannt.»

«Offensichtlich aber nicht die Schlussfolgerung daraus», sagte Brandt.

Kemper schüttelte den Kopf, «spuck’s aus», forderte er lässig.

«Ältere Vorgänge, an die wir nochmal Luft ranlassen sollten, werden in unserer altehrwürdigen Staatsanwaltschaft beim Ausscheiden eines Kollegen an den jüngsten Staatsanwalt weitergereicht.»

«Klingt nach Initiationsritus. Ich fühle mich mit meinen über vierzig Jahren zu alt für so einen …» Kemper verzichtete auf eine Fortführung des Satzes, zudem winkte Brandt bereits ungeduldig mit der Hand. «Um es abzukürzen», sagte Brandt, «es ist also ungeschriebenes Gesetz in unserer Behörde, die Akten an den Jüngsten weiterzugeben.»

«Da zeig her, ich blättere das bei Gelegenheit durch, wir können ja später in der Kantine beim Kaffee drüber reden.»

«In der Kantine? Gerne. Aber von welchem Tag, von welcher Woche, welchem Monat redest du? Die Mappe hier ist sozusagen das Deckblatt der Zigarre.»

Peter Brandt stand vom Stuhl auf, machte auf dem Absatz kehrt, drückte die Bürotür bis zum Anschlag auf und rollte eine Art dreietagigen Servierwagen herein. Die Rollen quietschten schrill. Stiller Protest über einen ungelösten Fall klang anders. Ein geschätztes Dutzend Aktenordner balancierte Brandt auf dem Vehikel. «Der Mordfall Frederike», sagte Brandt und setzte sich wieder auf den Besucherstuhl vor Kempers Schreibtisch. Alt ist er geworden, dachte Kemper. Seit über zehn Jahren kannte er Brandt, aber die letzten Monate, in denen sich die Dienstzeit Brandts dem Ende zugeneigt hatte, schienen dem Kollegen stark zugesetzt zu haben.

«Hans-Jochen, ich bin nicht mehr lange da.»

«Wie meinst du das?», fragte Kemper unsicher, fühlte sich bei seinen Gedanken ertappt und dachte an die Frau des Kollegen Brandt, die vor zwei Jahren an Krebs gestorben war. War er auch krank? Todkrank?

«In einem Monat habe ich meine Zulassung als Rechtsanwalt in der Tasche, bis dahin gehe ich auf Reisen, mal zwei Wochen ausspannen, mehr halte ich nicht aus. Dann die Kanzlei einrichten.»

«Eine Kanzlei? Was hast du vor? Willst du dich wirklich als Rechtsanwalt selbstständig machen?»

«Was spricht dagegen? Ich bin allein zu Hause. Mir wird die Decke auf den Kopf fallen. Und nur unterwegs auf Reisen sein, das wird doch auch langweilig. Wenn du an meiner Stelle wärst, würdest du doch nach der Pensionierung auch nicht sofort aufhören wollen, oder?»

Kemper nickte Brandt zu. «Die Sportler reden am Ende ihrer Karriere gerne vom ‹Abtrainieren›, ich kann dir das nachfühlen. Es ist ja kein gleitendes Aufhören. Ich hatte mal die Vorstellung, mich im Alter in einer Sozietät einzubringen, aber mehr als angestellter Anwalt, um nur ein paar ausgesuchte Fälle in der Woche oder im Monat zu bearbeiten. So denke ich heute. Wer weiß, was in zwanzig Jahren ist, ob ich dann überhaupt noch Paragrafen sehen kann.»

«Als angestellter Anwalt? Nein, das kommt für mich gar nicht in Frage. Ich will frei sein, ohne Anhang. Keiner setzt mich unter Druck, kein Senior aus der Sozietät zwingt mich, einen Fall zu übernehmen, den ich nicht annehmen würde. Es soll mir noch Spaß machen. Deshalb brauche ich die Freiheit, nur die Mandate anzunehmen, bei denen mich die Sache oder die Person des Mandanten überzeugen.»

«Lass mich raten», sagte Kemper, «den Fall hier», Kemper klopfte auf den Aktenstapel, «den gibst du nicht auf.»

«Richtig, denn das hier will ich zu Ende bringen. Das war auch ein Beweggrund, mich als Anwalt niederzulassen. Denn nur so bekommst du die Akteneinsicht.»

«Aber nur unter der Bedingung, auch tatsächlich ein Mandat in dem Fall erhalten zu haben», sagte Kemper.

«Korrekt, und das ist so gut wie sicher. Der Vater der ermordeten Frederike hat Interesse gezeigt. Verbindlich wird es ja erst, wenn ich die Anwaltszulassung habe und er die Vollmacht unterschrieben hat», bei den Worten wedelte Brandt wieder mit der dünnen Handakte. «Das hier», er drehte sich ächzend auf dem Stuhl um und zeigte auf den Aktenwagen hinter seinem Rücken, «waren ein paar Sargnägel für mich. Die ungelösten Fälle, die packen wir alle paar Jahre wieder an. Mord verjährt nicht. Wir brauchen einen langen Atem und manche Fälle kriegst du nicht eher gelöst, warum auch immer. Und wenn der Täter auf seinem Sterbebett ein Geständnis ablegt.» Er strich sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn. Brandt hatte noch volles Haar, das er zurückgekämmt hatte und das im Nacken letzte blonde Spuren aufwies, als wären es die letzten herausgewachsenen blondierten Haarspitzen. Eine Weste hielt seine stämmige Figur unter dem Anzug im Zaum. Man sah ihn selten leger gekleidet, meistens formell im Anzug, während Kemper, eine Generation jünger, sich so kleidete wie am casual friday mit dem Unterschied, dass für die jüngere Generation jeden Tag Freitag war. Jeans, Businesshemd und bei Terminen ein Sakko, fertig. In den Verhandlungen ein weißes Hemd, im gleichen Ton, ohne Kontrast eine weiße Krawatte und die schwarze Robe. Die Richter hielten es genauso.

Es klopfte erneut an der Bürotür. Kemper rief kurz «ja», da hatte Staatsanwalt Sven Hollenbeck schon den Kopf in den Raum gesteckt. Er blickte zu Brandt, auf den Berg gestapelter Akten auf dem Rollwagen und nickte Kemper nur kurz zu. Offensichtlich war ihm mit einem Blick klargeworden, worum es ging. Er zog die Tür von außen wieder leise zu, als hätte er eine verschwiegene und vertrauliche Gesprächsrunde empfindlich gestört und wollte mit einem geräuschlosen Rückzieher alles ungeschehen machen.

Brandt saß mit dem Rücken zur Tür und sah Kemper fragend an. «Hollenbeck war es, keine Ahnung, wollte offensichtlich nichts Wichtiges.»

«Ach Hollenbeck!», Brandt machte eine abwehrende Handbewegung. «Mit Hollenbeck hatte ich auch schon über den Fall reden wollen. Aber als er den Berg an Akten gesehen hat, ging er zur Chefin. Und die LOStA hat ihm einen Persilschein ausgestellt, wegen Überlastung sollte ich ihn mit dem Fall nicht behelligen. Also, in ein oder zwei Wochen bin ich wieder da», wiederholte Brandt, «in meiner Tätigkeit als Staatsanwalt fehlte mir einfach die Muße, den Aktenberg nochmal zu durchforsten, vielleicht auf neue Spuren, neue Techniken einzugehen, vor allem aber einige knifflige Rechtsprobleme zu prüfen und am besten auch lösen zu können. Den Biss hätte ich schon gehabt. Denn der Fall ist anders als die anderen. Glaube mir.» Er machte eine Pause, stand auf, ging ein paar Schritte im Büro umher und sah aus dem Fenster Richtung Altstadt und Kirchturmspitze von Hainbergen. Kemper spürte, dass er nach Worten suchte oder zu bewegt war, um fortzufahren. Schließlich setzte er sich wieder und sah Kemper ernst an. «Dann nahm ich mir den Fall wieder vor, Jahre, nachdem der mutmaßliche Täter nach einem Wiederaufnahmeverfahren freigelassen werden musste. Ich suchte in Asservaten und Unterlagen nach neuen Spuren. Damals bei der Obduktion wurde ein Abstrich mit Wattestäbchen vorgenommen. Ich wollte, dass das Material nach heutigem kriminaltechnischen Stand untersucht wird.» Brandt machte eine Pause, als suche er erneut nach Worten.

«Was kam dabei heraus?», fragte Kemper.

«Das ist es ja. Nichts. Damals, 1981, ergab der Abstrich keinen Befund, den wir für die Fahndung hätten verwenden können. Folglich wurden die Wattestäbchen entsorgt.»

Kemper lehnte sich zurück. «Die Sache mit den Wattestäbchen ist nicht gerade ein Erfolgsmodell, wenn ich da an den NSU-Prozess denke.»

«Bei NSU denke ich an mein erstes Auto, ein schnittiger NSU Prinz, dann an den Nationalsozialistischen Untergrund. Ja ja», sagte Brandt nickend. «Da wurde jahrelang nach einem Phantom gejagt, das an allen Stellen, wo jemand ermordet wurde oder wo ein anderes schweres Verbrechen geschah, auftauchte und vermutlich auch der Täter war. Und wer war’s?»

«Ich kenne die Geschichte», sagte Kemper. «Die Verpackerin der Wattestäbchen war‘s, die nochmal liebevoll mit ihrer Hand über die Watteköpfchen strich, bevor sie den Deckel drauf legte. Und damit sandte sie unwissentlich ihre DNA hinaus in die Welt, an alle kriminaltechnischen Dienste, die bei jeder Untersuchung einen Treffer landeten, eine Spur zu anderen Verbrechen. Jahrelang war die Kripo einem Phantom auf der Spur. Was wir da an Zeit, Personal und Kosten verschwendet haben, um letztlich eine ältere Dame nahe am Rentenalter zu ermitteln, die vermutlich in ihrem Leben nicht einmal eine Ordnungswidrigkeit wegen Falschparkens begangen hat.»

«Nach langem zeitlichem Abstand betrachtet man die Dinge nicht mehr mit der Betriebsblindheit, als wenn man tagtäglich mit ihnen zu tun hat. Also legte ich längere Pausen ein, manchmal auch Jahre, bis ich wieder zu den Akten griff. Dann bekam ich einen Anruf aus dem Innenministerium», sagte Brandt.

«Was wollten die denn?»

«Der Vater der Ermordeten hat sich an den Innenminister gewandt.»

«Das haben sie dir nur so mitgeteilt?»