Freiheit war das Ziel - Lilo Naib - E-Book

Freiheit war das Ziel E-Book

Lilo Naib

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lisa, eine junge Österreicherin, lebt gut situiert mit ihrem Mann und ihren Kindern im Iran. Als die Revolution ausbricht, werden sie und ihre Familie, angetrieben von sozialem Engagement, aber auch Neugier, in den Strudel der Aktivitäten gegen den Schah hineingezogen. Lisa kämpft im Glauben an die Entstehung einer demokratischen Republik mit und erkennt erst viel zu spät, dass sie anderen Kräften den Weg geebnet hat ... Die Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten und zeigt deutlich, wie leicht man den Medien und populistischen Meldungen zum Opfer fallen kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 327

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Freiheit war das Ziel
Warum du, Lisa?
Lilo Naib
Erschienen im novum pro Verlag
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2011 novum publishing gmbh
ISBN Printausgabe: 978-3-99003-255-8
ISBN e-book: 978-3-99003-995-3
Lektorat: Silvia Zwettler
Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.
www.novumpro.com
AUSTRIA · GERMANY · HUNGARY · SPAIN · SWITZERLAND
Vorwort
Autobiografischer Roman über die Entstehung
und die Anfangszeit der Islamischen Republik Iran.
Widmung
Für meinen lieben Ehemann und seine Familie.
Im Gedenken an seinen Vater.
Revolution
August 1978
Ein lautes Krachen ließ Lisa aufhorchen: „Was war das?“
Es war kurz vor Mittag und sie stand in der Küche an der Abwasch. Gekonnt seihte sie den gekochten Reis ab und leerte ihn zurück in den Topf zum Dämpfen.
Von dem Lärm neugierig geworden rieb sie sich ihre Hände an der Küchenschürze trocken und lief zum Wohnzimmerfenster.
Die schmale Gasse, auf die sie aus dem dritten Stock hinuntersehen konnte, war wie sonst auch. Niemand war zu sehen. Auch in den Vorgärten der Einfamilienhäuser, die vis-à-vis lagen und in die sie hineinschauen konnte, war niemand. Auf der Hauptstraße, zu der die kleine Sackgasse führte, brauste wie immer der Autoverkehr.
Wieder hörte sie das knatternde Geräusch einer Maschinenpistole. Lisa beugte sich weit aus dem geöffneten Fenster, aber noch immer konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken.
Nach einigen Minuten Stille ertönte Geschrei.
Lisa, die sich bereits wieder ihrer Arbeit zuwenden wollte, kehrte zurück ans Fenster. Angestrengt versuchte sie zu verstehen, was die schrillen Rufe bedeuteten.
„Marg bar schah!“
Konnte das wirklich sein? Nein, sie musste sich verhört haben. Tod dem Schah? Das war ausgeschlossen, einfach unmöglich.
Doch! Da erklang es schon wieder: „Marg bar schah!“
Gleich darauf folgte die nächste Salve aus einem Maschinengewehr. Einige junge Burschen hetzten über das freie Feld, welches am anderen Ende der Gasse lag. Dieses unbebaute Grundstück führte von einer breiten Hauptstraße bis hinunter in die nächste Gasse. Gerade als die Gestalten hinter der Häuserreihe verschwanden und Lisas Augen ihnen nicht mehr folgen konnten, erschien ein Soldat am oberen Ende des Feldes. Breitbeinig stand er da und drehte suchend seinen Kopf in alle Richtungen, die Maschinenpistole im Anschlag, jederzeit bereit zu schießen.
Unwillkürlich zuckte Lisa bei diesem Anblick zusammen und trat einen Schritt vom Fenster zurück.
Solche Szenen hatte sie bis jetzt nur im Film gesehen. Sie kamen ihr irgendwie unwirklich vor, so, als ob sie träumte. Vorsichtig beugte sie sich wieder aus dem Fenster. Der Soldat war verschwunden. Alles war so wie immer, ganz ruhig, fast unheimlich ruhig.
Lisa wandte sich nun endgültig vom Fenster ab. Fassungslos schüttelte sie ihren Kopf. Noch immer konnte sie nicht begreifen, was sie da eben beobachtet hatte. Nachdenklich ließ sie sich in einen der Polstersessel im Wohnzimmer fallen.
Lisa war eine gut aussehende junge Frau. Vor knapp einem Monat war sie sechsundzwanzig geworden. Ihr halblanges blondes Haar trug sie meist mit einem Gummiband hochgebunden, sodass es sie bei der Arbeit nicht behinderte. Sie hatte ein hübsches ovales Gesicht mit vollen Lippen. Aber das Besondere an ihr waren eindeutig ihre großen blauen Augen, die zeitweise auch grün schimmerten.
Seit mehr als vier Jahren lebte sie nun schon im Iran und sie war glücklich hier. Viele hatten ihr von dem Entschluss, mit ihrem Mann in dessen Heimat zu ziehen, abgeraten, aber sie hatte es nie bereut.
Warum auch? Sie hatte alles, was sie sich wünschen konnte: eine große, gemütliche Wohnung, zwei süße Mädchen, einen liebenden Ehemann, nette Schwiegereltern und viele Freunde. Es gefiel ihr hier und sie fühlte sich wohl.
Auch das Heimweh hatte keine Chance, denn jeden Sommer verbrachte sie einige Wochen in Wien bei ihrer Familie. Ein sorgloses glückliches Leben also!
Seit sie in Teheran lebte, war Politik kein Thema für sie, und so schien es auch für die anderen hier zu sein. Niemand, den sie kannte, hatte je darüber geredet.
Nein, das stimmte nicht ganz! Ihr Schwiegervater war ganz eindeutig gegen den Schah eingestellt. Aber er zählte nicht, denn erstens sah sie ihn nicht so oft, weil er entweder arbeitete oder sich hinter Büchern verschanzte, und zweitens war er Kommunist und schon früher als Mitglied der Tudeh-Partei in Haft genommen worden. Wer das aber nicht wusste, konnte es sich kaum vorstellen, denn seit er als Chefbuchhalter in einer großen Firma arbeitete, genoss er sichtlich die Freuden des Lebens und gab sein Geld mit vollen Händen aus, gar nicht so, wie man es sich bei einem Kommunisten vorstellt.
Sicher, sie wusste auch über die allgegenwärtige SAVAK, die Geheimpolizei des Schahs, Bescheid. Aber eigentlich mehr aus der Studentenzeit, als Sharam noch in Wien studiert hatte. Damals waren die idealistischen Ideen des Sozialismus und die Hippiezeit auch an ihnen nicht spurlos vorübergegangen. Wie eben in Studentenkreisen üblich, waren auch sie zu etlichen Demonstrationen gegangen. Natürlich auch jedes Mal, wenn der Schah zu Besuch in Wien weilte, um sich zum Beispiel von seinem Hausarzt untersuchen zu lassen.
„Schah, Schah, Scharlatan!“ war damals die Parole gewesen und die meisten Studenten vermummten ihre Gesichter mit Jacken und Mützen aus Angst vor der SAVAK.
Das alles lag nun schon Jahre zurück und eigentlich hatten sich die damaligen idealistischen Ideen längst verflüchtigt. Seit Sharam arbeitete – jetzt war er bereits Produktionschef in einer mittelgroßen staatlichen Metallbaufirma – hatte Lisa keine Probleme mit den Klassenunterschieden. Längst hatte sie sich an die Bettler in den Straßen gewöhnt. Sie taten ihr nicht einmal besonders leid, weil sie wusste, dass es mehr als genug Arbeitsplätze gab.
Lautes Stimmengewirr, das durch das Wohnzimmerfenster heraufdrang, riss Lisa aus ihren Gedanken. Sie erhob sich aus dem Polstersessel und blickte wieder aus dem Fenster.
Die Gasse war inzwischen lebendig geworden. Die gesamte Nachbarschaft hatte sich bereits unten versammelt. Alle redeten durcheinander und gestikulierten wild mit ihren Händen.
„Ich muss wissen, was passiert ist“, ließ die Neugier Lisa nicht zur Ruhe kommen.
Mit einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass Melanie, ihre ältere Tochter, erst in einer guten halben Stunde vom Kindergarten heimkommen würde. Eilig durchquerte sie das Wohnzimmer und den Gang, der zu den hinteren Räumen führte, und öffnete vorsichtig die Tür zum Kinderzimmer. Friedlich schlief Shirin in ihrem Gitterbett. Behutsam zog Lisa die leichte Decke über das vier Monate alte Baby und entfernte sich leise wieder.
Kurz entschlossen griff sie nach dem Schlüsselbund und verließ ihre Wohnung.
„Hallo! Hast du das eben auch gehört?“
Im Stiegenhaus stand Margit und begrüßte Lisa ebenso aufgeregt, wie sie selbst war.
Ihre Nachbarin war Deutsche, genauer gesagt Berlinerin. Genau wie Lisa war auch sie blauäugig und hatte hellblondes Haar, noch viel helleres als Lisa. Schon seit dreieinhalb Jahren wohnten sie nun Tür an Tür.
Sie hatten sich angewöhnt, täglich am Nachmittag einen Tratsch mit Kaffee und Kuchen zu halten. Margit hatte ebenfalls zwei Mädchen, die aber jeweils um ein Jahr älter waren als Lisas Kinder. Janine, ihre größere Tochter, ging bereits in die Vorschulklasse der Deutschen Schule. Auch Margit selbst war einige Jahre älter als sie.
Während die beiden jungen Frauen die Treppe hinunterliefen, Margit mit der kleinen Bettina an der Hand, erklärte Lisa atemlos: „Ich glaube, das war eine Demonstration gegen den Schah. Es wurde nämlich ‚marg bar schah‘ gerufen.“
Obwohl Margit schon wesentlich länger im Iran lebte, sprach sie kaum Persisch.
„Was?“
Fragend sah sie Lisa an.
„Das heißt: Tod dem Schah!“
Am Haustor stand Frau Rivani, eine ältere dickliche Dame, die immer geschwollene Füße hatte und dadurch kaum gehen konnte. Bedächtig drehte sie sich um, um zu sehen, wer da die Stiege he-runterkam. Als sie die zwei Frauen mit dem Kind erblickte, lächelte sie. Sie hatte die beiden Ausländerinnen schon lange in ihr Herz geschlossen.
„Kommt rein zu mir, kommt nur rein!“
So schnell sie vermochte, stieg sie die drei Stufen zu ihrer Wohnung hinauf und versperrte, um ihrem Angebot noch mehr Nachdruck zu verleihen, mit ausgebreiteten Armen den Durchgang zum Haustor. Lisa und ihrer Freundin blieb daher gar nichts anderes übrig, als ins Wohnzimmer einzutreten.
Es war ein sehr behagliches Zimmer mit großen, rot tapezierten Eichenmöbeln, einer gemütlichen Polstermöbelgruppe auf der einen Seite und einem Esstisch mit acht Stühlen auf der anderen. An der Wand über dem Esstisch hing ein großes golden gerahmtes Bild, das einen Offizier zeigte, den Vater von Frau Rivani, wie die beiden bereits wussten.
Sie waren schon oft in diesem Raum gewesen und Lisa wunderte sich immer, warum er so viel kleiner aussah als ihr Wohnzimmer oder das von Margit, obwohl sie doch völlig identisch waren.
Insgesamt bestand das Haus aus sechs Appartements, jeweils zwei in einem Stockwerk, die zwar spiegelverkehrt, aber sonst völlig gleich waren.
Trotzdem wirkten die Wohnungen von Lisa und Margit wesentlich geräumiger, was wahrscheinlich an Frau Rivanis alten, schweren Möbeln lag.
Frau Rivani war inzwischen in der Küche verschwunden und Bettina lief hinter ihr her. Sie wusste, wie alle Kinder in diesem Haus, dass Frau Rivani immer Süßigkeiten bereit hatte, die sie freizügig verteilte.
Noch bevor Lisa und Margit Platz genommen hatten, kehrte die Kleine triumphierend zurück, in den Händen eine kleine Schüssel, gefüllt mit Bonbons. Hinter ihr tauchte auch Frau Rivani wieder auf. Sie stellte zwei große Gläser verdünnten Weichselsirup mit Eiswürfel vor Lisa und Margit auf den Tisch.
Lisa ärgerte sich über die durch nichts aus der Ruhe zu bringende Gastfreundlichkeit der alten Dame. Zu jeder anderen Zeit wäre ihr ein Plausch mit der liebenswürdigen Frau recht gewesen, aber jetzt wollte sie wissen, was auf der Straße vor dem Haus passiert war.
„Entschuldigen Sie, aber ich kann nicht bleiben. Melanie kommt gleich und Shirin schläft oben. Ich wollte eigentlich nur wissen, was draußen los war.“
Lisa nippte höflichkeitshalber kurz an ihrem Glas und wollte sich gerade erheben, als die Tür aufging und Herr Rivani eintrat.
Er war ein groß gewachsener, schlanker Mann mit vollem weißen Haar und einem ebenso weißen Schnauzbart. Schon an seiner aufrechten Haltung konnte man unschwer erkennen, dass er eine Militärlaufbahn hinter sich hatte. Jetzt als Pensionist verwöhnte er, so gut er konnte, seine Frau. Nicht nur dass er alle Besorgungen erledigte, unterstützte er sie auch bei der Hausarbeit. Eigentlich überließ er ihr nur das Kochen, das Frau Rivani auch ausgezeichnet beherrschte, wie Lisa schon einige Male feststellen hatte können.
Mit kurzem Kopfnicken begrüßte der Mann die Damenrunde.
„Es gab eine Demonstration in der Bebudi-Straße. Mindestens einen Toten und einige Verletzte soll es gegeben haben.“
„Oh, mein Gott!“
Frau Rivani hielt sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund.
„Es ist noch immer die ganze Straße abgesperrt. Überall sind Soldaten!“, vervollständigte Herr Rivani seine Erzählung.
Eigentlich hatte er mehr zu seiner Frau gesprochen und Lisa musste sehr aufpassen, um überhaupt etwas zu verstehen. Gleich nachdem Herr Rivani seine Ausführungen beendet hatte, stieß Margit Lisa in die Seite und sah sie fragend an. Rasch übersetzte Lisa, was sie gehört hatte, aber selbst nicht glauben konnte. Margit war ähnlich erschrocken wie sie und starrte sie mit ungläubigen Augen an.
Lisa warf einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr und erhob sich.
„Es tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich gehen. Melanie kommt gleich.“
Rasch reichte sie Herrn und Frau Rivani die Hand zum Abschied, winkte Margit kurz zu und verließ die Wohnung. Sie wusste jetzt, was sie wissen wollte, und musste sich beeilen, ihre Tochter vom Garagentor abzuholen.
Das Haus besaß zwei Eingänge. Ein einfaches Eingangstor, das in die obere Gasse führte, wo sich Lisas Wohnzimmerfenster befanden, und das Garagentor, das in die weiter unten gelegene Gasse führte.
Unter dem Haus war eine große freie Fläche, die zum Abstellen der Autos diente und von den Kindern als Spielplatz benutzt wurde. Auf dieser Seite des Hauses befanden sich auch die Balkone vor den Schlafräumen und so konnten die Kinder bequem von den Wohnungen aus überwacht werden.
Melanie war fünf. Vormittags besuchte sie den Deutsch-Persischen Kindergarten und wurde mit einem Schulbus vom Haustor abgeholt und auch wieder dort abgesetzt. Lisa kam gerade rechtzeitig, um das schwere Gittertor zu öffnen, als auch schon der kleine Bus anhielt und die Tür aufgestoßen wurde.
„Hallo, Mutti!“
Melanie fiel Lisa um den Hals. Sie war ein aufgewecktes Mädchen, lustig und zu allerlei Streichen aufgelegt. Nur in den Kindergarten ging sie nicht gern. Sie hasste die lange Busfahrt hin und zurück und auch die strenge Disziplin, die dort herrschte, gefiel ihr nicht. Dazu war sie viel zu viel von ihrer Großmutter und Tante Shila verwöhnt worden.
Bis jetzt war es ihr immer leichtgefallen, ihren Willen durchzusetzen. Gekonnt wickelte sie nicht nur ihren Vater, sondern auch ihren Großvater bei jeder Gelegenheit um den Finger. Nur bei Lisa hatte sie es schwer und sie wusste genau, dass sie bei ihr folgen musste. Besonders jetzt, seit ihre kleine Schwester auf der Welt war.
Wie fast alle Kinder war sie eifersüchtig, aber sie war auch stolz darauf, die Große zu sein.
Ja, Stolz hatte sie und einen schier unbrechbaren Willen. Wenn sie sich etwas in ihr Köpfchen gesetzt hatte, bekam sie es auch.
Und noch dazu war sie eitel! Sie konnte stundenlang vor dem Spiegel stehen. Ihre langen, leicht gewellten hellbraunen Haare waren stets gebürstet und mit bunten Spangen oder Haargummis mit lustigen Motiven verziert. Auch ihre Finger- und Zehennägel lackierte sie sich schon, so wie es ihr von ihrer Tante Shila beigebracht worden war. Nur zu gern hätte sie auch Muttis Lippenstift probiert, aber das war ihr von Lisa strengstens untersagt worden.
Auf die Kleidung legte sie ebenfalls schon großen Wert. Stets sah sie so aus, als sei sie direkt aus einem Modejournal gestiegen. Jetzt trug sie Jeans mit einer weißen, kurzärmligen Hemdbluse und einem kleinen, rot karierten Halstuch dazu.
Während sie die Stufen zur Wohnung hinaufstiegen, plapperte die Kleine unentwegt auf Lisa ein. Wie immer musste sie sofort all das Neuerlebte berichten.
Lautes Babygebrüll empfing Lisa, als sie die Türe zu ihrer Wohnung aufsperrte. Schnell lief sie ins Kinderzimmer und holte Shirin aus dem Bettchen und drückte sie fest an sich.
Shirin war ganz das Gegenteil von Melanie. Sie hatte ganz glattes, dunkles Haar und große Augen, die fast schwarz waren. Sie war ein ausgesprochen braves Baby, das mit sich und der Welt ganz zufrieden war. Nie weinte sie lange, außer wenn sie Hunger hatte. Auch jetzt verstummte sie sofort.
Langsam drehte sie ihr Köpfchen zur Seite und als sie Melanie sah, fing sie an zu brabbeln. Sie liebte ihre Schwester heiß und es genügte schon Melanies Anwesenheit im Zimmer, um Shirin zu beschäftigen.
Lisa küsste ihr Baby noch einmal, legte es zurück ins Gitterbett und verließ den Raum in Richtung Küche, um endlich das Mittagessen fertigzustellen.
Wie jeden Tag wurde Lisa von den warmen Sonnenstrahlen geweckt. Sie blinzelte, schlug die Augen auf und überlegte: „Heute ist Freitag …“
Der Freitag im Iran ist dem Sonntag in der westlichen Welt gleichzusetzen. Er ist der einzige freie Tag, an dem die Geschäfte geschlossen bleiben. Am Donnerstag arbeiten viele Firmen bis Mittag und auch die Läden haben bis am Abend geöffnet.
Lisas Augen suchten den Wecker am Nachttisch neben ihrem Bett.
„Sieben Uhr …, wie schön, nicht aufstehen zu müssen.“
Sie kuschelte sich dicht an Sharam, der neben ihr schlief, und zog sich die Decke über den Kopf. Lange konnte sie aber nicht weiterschlafen.
Obwohl es schon Ende September war, war es noch immer sehr warm. Lisa liebte eigentlich die Sonne, aber dieser Sommer dauerte ihr nun doch schon zu lange. Sie sehnte sich bereits nach Regen. Seit Anfang Mai hatte es – bis auf zwei kurze Gewitter – nicht geregnet und die Stadt war staubig und der Boden in den Gärten und Parkanlagen ausgedörrt. Natürlich würde es heute nicht mehr so warm werden wie an den Hochsommertagen.
Im Kinderzimmer nebenan begann es zu rumoren. Melanie kam in einem süßen, mit Rüschen besetzten Nachthemd ins Zimmer getrippelt.
Obwohl Lisas Bett näher zur Tür stand, würdigte sie ihre Mutter keines Blickes. Gezielt schlüpfte sie in das Bett ihres Vaters und nahm ihn voll in Beschlag.
„Papi, gehen wir heute zu Madar, ja?“
„Natürlich, wie immer am Freitag.“
„Gehen wir nach dem Mittagessen in den Lunapark?“
„Das weiß ich doch noch nicht.“
Sharam wälzte Melanie zur Seite und fing an sie zu kitzeln.
Melanie kicherte laut los.
„Nicht, Papi!“
Gleich darauf begann sie von Neuem.
„Papi, darf ich mit Tante Shila in den Lunapark, wenn du nicht hinfährst?“
„Ruhe jetzt, du kleine Nervensäge, das werden wir schon sehen! Schau lieber, dass du dich fertig machst zum Gehen.“
Gehorsam verschwand Melanie in Richtung Badezimmer, aber nicht ohne vorher ihren heiß geliebten Papi fest gedrückt und geküsst zu haben.
Lisa war inzwischen auch aufgestanden und versorgte das Baby. Sie hatte viel zu tun. Alle notwendigen Dinge, wie Babyflasche, Milch, Windeln, Ersatzgewand für beide Kinder und noch vieles andere, mussten eingepackt werden, denn wie üblich verbrachten sie den Freitag bei ihren Schwiegereltern.
Kurz nach elf Uhr Vormittag stand Lisa mit ihrer Familie vor dem großen grünen Eisentor, das in den Hof und zu dem Einfamilienhaus ihrer Schwiegereltern führte.
Der Hof war mit Natursteinplatten ausgelegt und rundum mit einer Mauer eingezäunt. An der rechten Seite der Mauer befand sich ein Blumenbeet mit einem großen Weinstock, der sich an der Mauer hochrankte.
Vom Hof aus führten einige Stufen hinauf auf die Terrasse vor dem Haus und ebenfalls einige Stufen hinab in den Keller. Das Haus selbst hatte zwei Stockwerke, die zum Hof hin großteils eine Glasfassade hatten, wodurch das Haus hell und freundlich wirkte. Jetzt aber waren zum Schutz vor der Hitze überall Jalousien herabgelassen.
Lisas Wohnung war nicht weit entfernt. Zu Fuß benötigte man ungefähr zwanzig Minuten und so besuchte Lisa ihre Schwiegermutter auch gelegentlich während der Woche.
Madar war eine liebenswerte Frau, die nicht nur ihre Kinder vergötterte, sondern auch ihre Schwiegerkinder herzlich in die Familie aufnahm. Lisa hatte die ersten neun Monate ihres Aufenthalts im Iran bei Madar verbracht. Seither liebte sie Madar beinahe wie ihre eigene Mutter.
Nur die Erziehung Melanies hatte in diesen Monaten ein wenig gelitten. Madar konnte absolut kein Kind weinen sehen und so verwandelten sich ihre Enkelkinder, sobald sie das Haus betraten, in kleine Tyrannen.
Außer Madar wohnten auch noch Pedar, Sharams Vater, und Shila, die kleinere Schwester Sharams, in dem Haus.
Shila war ein recht hübsches junges Mädchen. Sie hatte volles langes mahagonifarbenes Haar und ebenso dunkle Augen. Obwohl sie gertenschlank war, hatte sie eine runde Gesichtsform mit kleinen Wangenbäckchen, was ihr ein puppenhaftes Aussehen verlieh. Da sie das letzte Kind im Haus war, war es nicht verwunderlich, dass sie etwas verwöhnt war. Meist bekam sie von ihrem Vater, der nun überdurchschnittlich verdiente, jeden Wunsch erfüllt. Und Madar, die froh war ihre einzige Tochter noch im Haus zu haben, erledigte für sie alle Hausarbeit. So hatte Shila außer ihrem Psychologiestudium nicht viel zu tun und genoss in vollen Zügen ihre Jugendzeit.
Für Lisa war Shila eine echte Freundin, die ihr am Anfang sehr geholfen hatte sich in dem Land zurechtzufinden, und außerdem trug sie dazu bei, dass Melanie dieses Haus besonders liebte. Immer wenn sie Zeit hatte, beschäftigte sie sich mit ihr, nahm sie mit zu ihren Freundinnen, in den Park oder ins Kino.
„Salam, wie geht es euch?“
Es war nicht Madar, die das Tor öffnete, sondern Lisas Schwägerin Sari.
„Salam“, antwortete Melanie kurz und drängte sich stürmisch durchs Tor.
Im Hof spielten bereits Saris Söhne, die zehn und vier Jahre alt waren. Sie waren dabei, im Blumenbeet einen Tunnel zu graben. Es war die Hauptbeschäftigung der beiden Buben, wenn sie ihre Großeltern besuchten. Jedes Jahr im Frühjahr pflanzte Madar Stiefmütterchen in das Beet, die aber kaum zwei Wochenenden überlebten.
Melanie gesellte sich natürlich sofort zu ihren Cousins, um mitzuspielen.
Lisa stieg, Shirin in der Tragtasche, die fünf Stufen zu dem Haus hinauf. Die Kleine war auf der Fahrt hierher eingeschlafen. Möglichst leise trug sie die Tasche in einen der hinteren Räume und stellte sie am Bett ab. Dann erst ging sie in die Küche und begrüßte ihre Schwiegermutter mit zwei Küsschen auf beide Wangen.
Madar war kleiner als Lisa und sehr schlank. Sie sah nicht nur jung aus, sie war auch relativ jung. Niemand, der sie sah, konnte ahnen, dass sie vier große Kinder hatte und ihr ältestes Enkelkind bereits zwölf war. Sie war immer dezent geschminkt und sehr elegant gekleidet. Ihr Haar, das sie kurz geschnitten trug, hatte sie rötlich getönt, um nicht zu dunkel zu wirken.
Wie jeden Freitag freute sie sich, ihre Familie um sich versammelt zu haben. Die ganze Woche benützte sie dazu, ein ausgiebiges Mittagessen aus zwei, drei Gerichten für diesen Tag vorzubereiten.
Sharam war inzwischen ins Wohnzimmer gegangen und unterhielt sich mit seinem Bruder. Massud war Bauingenieur und oft unterwegs. Die meisten Aufträge hatte er im Südiran. Oft musste er deshalb wochenlang von seiner Frau und seinen Kindern getrennt leben, was aber auch seine Vorteile hatte, denn er verdiente sehr gut. So hatte er für sich und seine Familie im nördlichsten Teil der Stadt eine pompöse Villa gebaut.
Sharam beneidete seinen um drei Jahre älteren Bruder aber keineswegs. Er selbst war nicht der Typ, der ohne seine Frau und seine Kinder auskam. Selbst während seiner Militärzeit hatte er alles unternommen, um möglichst oft daheim sein zu können. Außerdem wusste er, dass auch ihm alle Möglichkeiten offenstanden, in den nächsten Jahren ebenso wohlhabend zu werden.
Rein äußerlich unterschieden sich die Geschwister sehr vonei-nander. Massud war von der Statur her kleiner und breiter, während Sharam groß, breitschultrig, aber doch sehr schlank war. Außerdem hatte Massud noch seine volle Haarpracht und war von der Gesichtsfarbe her viel heller. Bei Sharam hingegen war bereits deutlich eine kahle Stelle in der Kopfmitte zu entdecken, die auch von den ordentlich darüber gekämmten langen Seitenhaaren nicht mehr überdeckt werden konnte. An ihm war alles dunkel, das Haar, die Augen und der Teint. Trotz der vollen Lippen und einem Grübchen am Kinn strahlte er viel Männlichkeit aus.
Eines aber hatten die beiden Brüder gemeinsam, nämlich ihren Humor. Immer waren sie zu Späßen aufgelegt und hatten für jede Gelegenheit witzige Einlagen parat. Besonders Sharam konnte es nicht lassen, die Freunde und Freundinnen seiner Schwester mit spitzbübischen Augen und komischen Bemerkungen zu ärgern, und war dafür allgemein bekannt.
Nach dem ausgiebigen Mittagessen saßen alle gemütlich im Wohnzimmer zusammen und plauderten über die verschiedensten Ereignisse der letzten Woche. Natürlich erzählte Lisa von ihrem Erlebnis, worauf auch Massud und Shila von einigen Demonstrationsgerüchten zu berichten wussten.
Der Samowar dampfte und Madar servierte den Tee. Wie üblich standen auf den kleinen Beistelltischchen für jeden auch Obst, Pistazien und Kekse bereit. Selbst Pedar hatte sich noch nicht in sein bibliothekartiges Zimmer zurückgezogen. Er saß mit einem Buch in der Hand auf einem der Lehnstühle, auf dem Glastisch neben sich eine Flasche Wodka und ein volles Glas, aus dem er immer wieder einen Schluck trank. Er war mit Sicherheit kein Alkoholiker, aber an gemütlichen Tagen gönnte er sich einige Drinks.
Das Läuten des Telefons holte Madar ins Vorzimmer. Es dauerte eine Weile, bis sie wiederkam. Blass und aufgeregt unterbrach sie das Gespräch der anderen.
„Ame Bozorg hat angerufen. Stellt euch vor, am Schale-Platz hat eine Demonstration stattgefunden und es wurde wiederum geschossen! Es soll eine ganze Menge Tote und Verwundete geben. Ame hat von ihrem Fenster aus selbst beobachtet, wie ein Demonst-rant erschossen wurde, angeblich ein ganz junger Bursche. Es muss furchtbar gewesen sein.“
Betroffen schauten sich alle Anwesenden an. Diese Nachricht löste bei allen Entsetzen und Unbehagen aus.
Kurze Zeit danach ertönte die Türklingel. Spitalsdiener vom nahe gelegenen Parlawie-Krankenhaus baten um Decken für Verwundete. Ihren Erzählungen nach reichten die Betten bei Weitem nicht. So sollten auch die Gänge voll von Verwundeten sein, die nicht mehr untergebracht werden konnten. Die Tatsache, dass das Krankenhaus ziemlich weit entfernt vom Ort des Geschehens lag und dass es in den nahe gelegenen Spitälern mindestens ebenso schlimm zugehen musste, ließ erahnen, welches Ausmaß die Tragödie haben musste.
Eine besondere Art von Neugier packte Lisa und Sharam. Ja, man könnte es Abenteuerlust oder besser noch Sensationslust nennen, die sie den Entschluss fassen ließ, an den Ort des Schreckens zu fahren. Zu selten hatten sie bisher Gelegenheit, etwas Aufregendes mitzuerleben, und so nützten sie, was sich ihnen bot.
Auch Shila war von der Idee sofort begeistert und schloss sich ihnen an. Zu dritt machten sie sich auf den Weg.
Unbekümmert scherzten sie auf der Fahrt miteinander, ohne eine bestimmte Vorstellung davon zu haben, was sie auf dem Schale-Platz erwarten würde. Den im Gegensatz zu anderen Tagen geringen Verkehr schrieben sie dem frühen Nachmittag zu.
Aber bereits nach wenigen Straßenzügen änderte sich das Straßenbild. Militärlastwagen fuhren vorbei oder standen an den großen Plätzen. Bewaffnete Soldaten postierten sich an Straßenecken.
Schon einige Straßen vor dem Schale-Platz gab es keine Durchfahrt mehr. Der Platz war bereits Gassen vorher hermetisch abgeriegelt worden. Überall standen Soldaten mit Maschinengewehren und ließen niemanden passieren. Transportable Fahrverbotstafeln und aus Kisten notdürftig aufgestellte Straßensperren verhinderten die Durchfahrt der Autos.
Ein bedrückendes Gefühl beschlich die drei jungen Menschen. Keiner sprach mehr. Sie starrten nur einfach aus den Autofenstern.
Was musste sich hier abgespielt haben? Das Ganze glich eher einer Dekoration für eine Filmszene. Aber das hier war kein Film, es war Realität!
Sharam wendete den Wagen und fuhr wieder heimwärts. Noch immer waren die drei sprachlos. Mit bleichen Gesichtern starrten sie aus den Wagenfenstern auf die staubigen leeren Straßen.
Die Stadt war wie ausgestorben, kaum Autos auf der Straße, keine Menschenseele zu Fuß, unheimlich still. Eine Stadt, die sonst nicht einmal nachts zur Ruhe kam, war an diesem Nachmittag tot.
Von diesem Tag an änderte sich vieles schlagartig. Der Tod und die Gräueltaten des Schahs waren von nun an in aller Munde. Wo man hinkam, brodelte es in der Gerüchteküche. Plötzlich wusste jeder von Hinrichtungen und Folterungen zu berichten und es wurde öffentlich geschimpft. Geschimpft auf den Schah, der bis dato ehrfürchtig mit „König der Könige, König der Arier“ angesprochen wurde.
Im Taxi, beim Greißler oder Bäcker, egal wo Lisa hinkam, das Thema war immer dasselbe.
Und noch etwas Neues gab es, nämlich den Radiosender BBC und mit ihm einen Mann namens Khomeini. Den ganzen Tag über wurden über diesen Sender stündlich Nachrichten von der poli-tischen Lage in persischer Sprache übertragen. Plötzlich wurde Radiohören für jedermann Pflicht. Ausführlich wurden die Ereignisse vom „Schwarzen Freitag“, dem Tag des Gemetzels am Schale-Platz, geschildert. Auch der Grund, warum so etwas passieren musste, wurde jetzt offensichtlich.
Es hatten auch schon früher Demonstrationen stattgefunden, zum Beispiel in Tabriz und auch anderen größeren Städten. Natürlich hatte die allgemeine Zensur verhindert, dass die Öffentlichkeit davon Kenntnis erhielt. Gab es Tote, so lösten die wiederum neue Demonstrationen aus.
Um das verstehen zu können, muss man wissen, dass im Iran der siebente und der vierzigste Tag nach dem Todesfall besonders trauernd begangen werden. Wie am Begräbnistag versammeln sich alle Angehörigen in Gedenken an den Verstorbenen.
Nun würde auch der vergangene Freitag am siebenten Tag wieder Angehörige und Mitfühlende auf die Straße locken.
Als am nächsten Wochenende Lisa und ihre Familie den üblichen Besuch bei den Schwiegereltern abstatten wollten, trafen sie unterwegs auf eine lange Reihe Marschierender. Mit dem Auto war kein Vorwärtskommen und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Wagen in der nächsten freien Parklücke zurückzulassen. Zum Glück hatte Lisa bequeme Schuhe an, sodass ihr der längere Spaziergang nichts ausmachen würde.
Eine lange Schlange, jeweils fünf Männer in einer Reihe, drängte durch die Hauptstraße. Die Menge sang eine rhythmische Melodie, die nach jeder Strophe mit „marg bar schah!“ endete und die Fäuste geballt in die Höhe schnellen ließ.
Lisa, Melanie an der einen Hand und die Tasche mit den Utensilien für das Baby in der anderen, wandte sich neugierig an ihren Mann.
„Ich verstehe nicht ganz, was gesungen wird?“
Sharam, der die Tragtasche trug, in der Shirin warm eingebettet war, schritt langsam neben ihr her. Nachdenklich lauschte er dem Demonstrationszug neben ihnen und versuchte stockend den Text des Liedes zu übersetzen.
„Unter der Last der Gewalt … lebe ich nicht länger …, lieber opfere ich mich … für den Weg in die Freiheit …, Tod dem Schah!“
Ein Mann fiel Lisa besonders auf. Er war vielleicht sechzig, sein Hemd war schmutzig und seine Füße steckten unbekleidet in ein paar Schnürschuhen ohne Senkel. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck der Entschlossenheit und Kampfbereitschaft, wie Lisa es noch nie gesehen hatte.
Ein drückendes Gefühl bemächtigte sich ihrer. Es war nicht die offensichtliche Armut des Mannes, sondern die Bereitschaft, für den Glauben an etwas sterben zu wollen. Vielleicht war einer seiner Söhne oder Enkel unter den Opfern des letzten Freitags gewesen.
Melanie riss Lisa aus ihren Gedanken. Für sie war die Situation völlig ungewohnt. Ungeduldig zog sie an Lisas Hand.
„Mama, wieso singen und schreien die Männer so?“
„Sie sind gegen den Schah, den König, der dieses Land regiert.“
Lisa beugte sich zu ihrer kleinen Tochter hinunter und versuchte das Geschehen zu erklären.
„Aber warum sind sie gegen ihn?“
Neugierig wie immer ließ das Kind nicht locker. Aber wie konnte man so etwas einer Fünfjährigen erklären?
„Ich erkläre es dir zu Hause!“, verschob Lisa die Antwort.
Melanies Aufmerksamkeit war aber sowieso bereits abgelenkt. Nahe der Gasse ihrer Großeltern entdeckte sie in einer Gruppe von Jugendlichen ihre Tante Shila. Geschwind riss sie sich von Lisas Hand los und war im nächsten Augenblick auf dem Arm der Tante.
Shila, die ihre Nichte freudig hochhob und auf die Wangen küsste, kam Sharam und Lisa etwas entgegen.
„Hallo! Wie geht’s?“
Das Mädchen trug mit Vorliebe eng anliegende Hosen und Pullis, die ihre tadellose Figur unterstrichen. So auch heute. Die hellblaue Hose passte hervorragend zu dem ärmellosen bunten Leibchen. Ihr rosarot geschminkter Mund verzog sich zu einem Lächeln.
Lisa beugte sich zu ihr und drückte ihr vorsichtig links und rechts einen Begrüßungskuss auf die Wangen. Unbesorgt ließ sie Melanie bei den Jugendlichen zurück. Sie wusste, dass sie sich auf das junge Mädchen verlassen konnte.
Außerdem kannte sie auch alle übrigen der Gruppe. Es waren alles Burschen und Mädchen aus der Umgebung, die öfters bei Madar zu Besuch waren und dort sangen und tanzten und anderen jugendlichen Unfug trieben.
Als Lisa früher noch bei ihrer Schwiegermutter gewohnt hatte, war Melanie oft mit Shila und ihren Freunden unterwegs gewesen und auch sie hatte sich ihnen des Öfteren angeschlossen.
Nach dem köstlichen Mittagessen saßen alle gemütlich beisammen. Wie immer am Freitagnachmittag plauderte die Familie über die Ereignisse der letzten Woche. Obst und Naschereien, die Madar schon vorher vorbereitet hatte, standen griffbereit.
Massud lag ausgestreckt auf der Couch, den Kopf auf dem Schoß seiner Frau hielt er die Augen geschlossen und genoss die Ruhe des Feiertages. Sharam saß am Boden vor dem Fauteuil, in dem Lisa Platz genommen hatte, und lehnte seinen Rücken an ihre Füße. Die schweren Teppiche, die in jedem persischen Wohnzimmer zu finden sind, ließen es zu, dass in entspannter Atmosphäre auch der Boden zum Sitzen benutzt wurde.
Langsam entwickelte sich das Gespräch immer mehr zur politischen Diskussion. Shila hatte mit Begeisterung die Demonstration am Morgen verfolgt und ereiferte sich in ihrem jugendlichen Überschwang voll für die neue Bewegung. Ausführlich erzählte sie von Meetings in der Teheraner Universität und den verschiedenen Gruppierungen, die sie veranstalteten.
Außer der großen islamischen Bewegung mit Khomeini als Führer gab es noch zwei kommunistische Kleingruppen, die ebenfalls den Revolutionsgedanken unterstützten.
Die Begeisterung seiner Tochter für die islamische Bewegung stieß bei Pedar sofort auf Widerstand. Nachdenklich schob er seine Brille zurecht und schaute seine Tochter ernst an.
Pedar sah für sein Alter wirklich gut aus. Er war groß, schlank und hatte volles, fast weißes Haar, das er streng nach hinten gekämmt trug. Die dicke Hornbrille verlieh ihm ein professorenhaftes Aussehen, was noch von seiner korrekten Kleidung unterstrichen wurde. Fast immer trug Pedar einen Anzug mit Krawatte. Selbst daheim machte er es sich kaum bequemer. Höchstens lockerte er den Krawattenknopf, legte die Jacke ab und saß in Hemdsärmeln da.
„Meinst du wirklich, dass der Islam diesem Volk helfen kann?“
„Nein, nicht der Islam, sondern Khomeini als Führer!“, betonte Shila energisch ihren Standpunkt.
„Khomeini ist ein Molla und schon deshalb kann nichts Gutes von ihm kommen. Die meisten Mollas sind dumm und die übrigen nutzen die Gutgläubigkeit der Bevölkerung aus, um die eigenen Säcke zu füllen.“
Deutlich zeigte Pedar mit diesen Worten seinen Abscheu allem Religiösen gegenüber.
So leicht aber ließ Shila sich nicht überzeugen.
„Ajatollah Khomeini hat vier Doktorate. Er ist ein gebildeter, moderner Mann, der dem geknechteten iranischen Volk helfen will“, antwortete sie keck.
Ihren Worten konnte man bereits deutlich politische Propaganda entnehmen, die sie voll Überzeugung weiterverbreiten wollte.
„Es ist doch völlig egal, wer die Revolution führt“, mischte sich Sharam in die Diskussion.
„Hauptsache ist doch, dass endlich überhaupt etwas passiert. In der heutigen Zeit ist einfach kein Platz mehr für eine Monarchie. Der Schah muss gehen! Das Volk hat ein Recht auf Demokratie und dann soll es selbst wählen, wen es will.“
Mit ruhigen Worten versuchte er seinen Standpunkt zu vertreten.
Lisa war bis jetzt nur oberflächlich diesem Gespräch gefolgt, ohne sich selbst viele Gedanken darüber zu machen. Jetzt sah sie ihren Mann erstaunt an. Ja, er hatte vollkommen recht! Das war auch ihre Meinung.
Es war verständlich, wenn sich die Menschen hier endlich wehrten. Es gab zu viele wirklich Reiche und noch viel, viel mehr wirklich Arme. Die sozialen Unterschiede waren extrem groß und es war nur gerecht, wenn sich die Leute holten, was ihnen zustand. Ob nun durch den Kommunismus oder durch den Islam war im Grunde nebensächlich.
Eigentlich musste man dem Islam den Vorzug geben, denn Kommunismus bedeutete nur eine andere Form der Diktatur.
Vor dem Islam aber hatte sie keine Angst. Warum auch?
Um sie herum waren alle Moslems, trotzdem trug keine Frau in der Familie einen Tschador, den althergebrachten Schleier, ausgenommen Sharams fast achtzigjährige Großmutter. Selbst auf den Straßen waren meist nur ältere Frauen mit Kopftuch oder dem Tschador unterwegs. Auf jeder Gesellschaft trank man Alkohol, in jedem Sandwichgeschäft gab es Schweineschinken und die Vielweiberei war längst abgeschafft. Außerdem gab es eine Menge Gesetze, welche die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau regelten.
Man bekannte sich zwar zum Islam, aber man lebte so wie viele europäische Christen, die nur einmal im Jahr zur Christmette gehen.
Massud richtete sich auf, um dem Gespräch besser folgen zu können. Entrüstet schaute er seine Schwester und seinen Bruder an. Kopfschüttelnd folgte er Sharams letzten Worten. Er war da ganz anderer Meinung.
„Besonders in den letzten Jahren hat der Schah so viel für das Volk getan, aber es ist noch viel zu unreif. Ich kenne dieses Pack! Alle diese Bettler, die da draußen schreien! Sie sind nur arbeitsfaul. In diesem Land muss keiner hungern, der arbeiten will. Auf meiner Baustelle suche ich dauernd nach Leuten. Die meisten sind dumm und faul, aber Geld können sie nicht genug bekommen.“
Deutlich, fast zornig, zeigte er seine Empörung über die revolutionären Gedanken in der Familie.
„Du sagst, das Volk ist dumm und faul“, unterbrach Shila unwirsch ihren Bruder.
„Aber wer ist daran schuld? Doch nur der Schah, oder? Er hat nichts gegen das Analphabetentum unternommen.“
Temperamentvoll, wie sie war, konnte sie beim Sprechen ihre Hände niemals ruhig halten. Besonders, wenn sie sich so in ein Gespräch hineinsteigerte wie jetzt, unterstrich sie jedes Wort mit ihren Gesten.
Noch bevor der hitzige Wortwechsel in einem Streit enden konnte, mischte sich Madar ein.
„Hört auf! Ich möchte nichts mehr über Politik hören. Ihr wisst alle nicht, wovon ihr da redet. Wenn ich nur das Wort Revolution höre, läuft es mir kalt über den Rücken.“
Madars Machtwort wurde natürlich sofort akzeptiert und keiner sprach mehr über dieses Thema. Das war aber auch gar nicht notwendig, denn die Fronten waren klar.
Pedar wollte von nichts wissen. Shila würde sich weiterhin aktiv an den Universitätsmeetings beteiligen. Massud und Sari traten entschieden für den Schah ein. Und Madar hatte einfach nur Angst. Zu oft hatte ihr die Politik das Leben verpfuscht. Nur ungern erinnerte sie sich an die Zeiten, wo sie vier Kinder alleine zu versorgen hatte, weil ihr Mann aus politischen Gründen im Gefängnis saß.
Zunehmend veränderte sich in den nächsten Wochen das Straßenbild in Teheran. Auf den Wänden prangten in allen Farben und Schriftgrößen Anti-Schah-Parolen. In den Geschäften tauchten anstelle der üblichen Schahbilder immer mehr Porträts von Khomeini auf. Immer wieder gab es auch Gerüchte über kleine Demonstrationen, die blutig geendet haben sollen. Radio BBC bestätigte diese Gerüchte meistens. Auch weiterhin brachte dieser Sender immer die neuesten Nachrichten und übertrug Reden von Ajatollah Khomeini, der inzwischen nach Frankreich gereist war und sich in einem Vorort von Paris niedergelassen hatte.
Für Lisa hatte sich das Leben ebenfalls verändert. Mit Spannung verfolgte sie täglich im Radio die neuesten Meldungen. Hier spielte sich vor ihren Augen Geschichte ab und sie war zu neugierig, wie das Ganze enden würde.
Oft erhielt sie von Shila Besuch. Lisa war eine aufmerksame Zuhörerin, wenn ihre Schwägerin ihr von den Aktivitäten in der Universität erzählte. Gespannt verfolgte sie die Geschichten.
Shila hatte sich bereits voll der neuen Bewegung angeschlossen und ihre Begeisterung, die Art, wie sie die Welt, in der sie lebten, verbessern wollte, steckte auch Lisa an. Shila brauchte nicht lange, sie zu überreden, bei der nächsten Versammlung am Universitätsgelände dabei zu sein.
Zur verabredeten Zeit traf Lisa im Haus ihrer Schwiegereltern ein. Sie hatte vor, die Kinder während ihrer Abwesenheit Madar anzuvertrauen, aber natürlich wollte Melanie wieder einmal ihren eigenen Willen durchsetzen. Mit bettelndem Blick versperrte sie Lisa den Weg.
„Mama, warum darf ich nicht auch mit? Ich will doch wissen, was ein Meeting ist.“
„Du bleibst jetzt brav bei Madar und ich erzähle dir dann alles ganz genau. Außerdem bringe ich dir noch etwas Schönes mit!“
Lisa setzte ihre ganze Überredungskunst ein, um das Mädchen zum Bleiben zu bewegen. Sie hasste dieses Theater, das jedes Mal begann, sobald sie alleine fortgehen wollte.
„Ach, lass sie doch mitkommen“, bekam sie nun auch noch von ihrer Tante Unterstützung.
Unsicher schaute Lisa von Melanie zu Shila.
„Aber es könnte gefährlich werden.“
„Sicher nicht! Das Universitätsgelände ist tabu. Kein Polizist oder Soldat darf seinen Fuß auf diesen Boden setzen. Also, was soll schon passieren?“
Lisa sah von einer zur anderen. Melanies bettelnden Augen konnte sie einfach nicht widerstehen. Gegen die zwei war sie machtlos. Seufzend fügte sie sich.
„Na gut, ihr habt mich überredet.“
Mit einem Satz sprang Melanie an ihr hoch und umklammerte dankbar ihren Hals.
Unterwegs zur Universität erklärte Shila ihrer Nichte ausführlich, was eine Revolution ist und warum der Schah für die Menschen nicht gut war. Begierig hörte die Fünfjährige den Ausführungen ihrer fast schon fanatischen Tante zu.
Im Universitätspark hatte sich eine große Menge Studenten versammelt. Shila führte Lisa und Melanie so weit nach vorne, wie es möglich war. Trotzdem war die Rednertribüne nicht zu sehen. Aus Lautsprechern, die rund um den Platz auf Bäumen montiert waren, erklang laut und deutlich die Stimme des Sprechers.
„… wir lassen uns nicht länger unterdrücken! Nieder mit dem Regime! Tod dem Schah!“, endete die Rede und die Menge applaudierte begeistert.
Einige wiederholten lautstark die letzten Parolen und sofort brüllten alle mit.
„Marg bar schah!“, schrie auch Shila neben Lisa und einige Mädchen, die in ihrer Nähe standen, fielen sofort ein. Lisa fiel auf, wie hübsch die Mädchen waren, modisch gekleidet und sichtbar aus gutem Hause.
Rund um Lisa schrien nun alle immer wieder neue Parolen und das Gebrüll wurde immer lauter. Immer mehr putschten sich die Jugendlichen mit den Sprüchen auf.