Freischwimmer - Gabriel Herlich - E-Book

Freischwimmer E-Book

Gabriel Herlich

0,0

Beschreibung

Es gibt Zeiten im Leben, auf die man zurückblickt und begreift, dass sie alles verändert haben – für ­Donnie Frey ist diese Zeit sein 21. Sommer. Eine einzige schicksalhafte Begegnung reicht aus, um Donnie völlig aus der Bahn zu werfen. Plötzlich sieht er sich mit Fragen konfrontiert, denen er bislang erfolgreich ausgewichen ist. Was ­bedeutet es, eigene Entscheidungen zu treffen und mit den Konsequenzen zu leben? Wie weit würde er gehen, um für seine Überzeugungen einzustehen? Antworten auf diese Fragen findet er dort, wo er sie am wenigsten erwartet hätte: in Zimmer 311 eines Altenheimes, auf dem Fahrersitz eines Buchanka und in einem malerischen Hotel in Südfrankreich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gabriel Herlich

FREISCHWIMMER

Roman

Für meine Eltern

Inhalt

Erster Teil

1 Dulsberg

2 Dinnerparty

3 Super Sonic

4 Buchanka

5 Apfelbaum

Zweiter Teil

6 Vincent

7 Teofila

8 Mesusa

9 Aufbruch

10 Good Life City

11 Nichtschwimmer

12 Aix-les-Bains

13 Freischwimmer

14 Jakob

15 Atelier

16 Mädchen am Pier

17 Brandstifter

18 Asche

Dritter Teil

19 Großpapa

20 Punkt

Erster Teil

1

Dulsberg

Der Sommer 1999 war voller Dummheiten. Meiner Dummheiten. Als Nichtschwimmer ins Freibad zu gehen, war nur eine davon. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mir eines Nachmittags drei eiskalte Calippo unter den Arm klemmte, eine Packung Luckys zwischen die Zähne steckte und dem grantigen Kioskbesitzer einen Zehner auf den Tresen warf. »Stimmt so«, deutete ich mit einer Handbewegung an und kehrte zum Schwimmbecken zurück.

Ich war einundzwanzig und erlebte den Sommer der ersten Male. Meine erste große Liebe, meine erste richtige Reise und es war das erste Mal, dass ich meine Fehler eingestand. Meine entsetzlichen Fehler. Aber eins nach dem anderen.

Die Semesterferien hatten gerade erst begonnen, meine Freunde Alwin und Marlon saßen am Beckenrand und ließen sich die Sonne auf die blasse Brust scheinen. Ihre Beine baumelten im Wasser, ihre Blicke schweiften über das Gelände des Dulsberger Freibads und blieben schließlich am Fünf-Meter-Turm hängen. Ich setzte mich neben Marlon, unseren Posterboy, durchtrainiert, blondes Haar, verteilte das Eis und reichte Alwin, der so ziemlich genau das Gegenteil war, die Packung Zigaretten. Ohne den Blick vom Fünfer zu lassen, öffnete Alwin die Folie mit seinen schartigen Zähnen und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.

»Schaut euch diese Fleischwurst an.« Marlon zeigte auf einen Jungen, der gerade die Leiter des Turms erklomm. »Der will doch nicht ernsthaft da runterspringen?« Er lachte und nahm die Hände schützend vors Gesicht, als würde der Junge gleich einen Tsunami auslösen.

Alwin zündete sich die Zigarette an. »Ich kann nicht weggucken. Das ist wie ein Unfall, Leute.«

Ich beschattete meine Augen mit der Hand, um besser zu sehen. Der Junge trat an den äußersten Rand des Sprungbretts, starrte nach unten, knetete die Hände und blickte dann suchend über die Liegewiese. Es kostete ihn eindeutig Überwindung, da oben zu stehen und ich fragte mich, wem er wohl etwas beweisen wollte. Ich schaute mich um, ob da irgendwo ein Mädchen oder wenigstens ein stolzer Vater stand und ihm beim Sprung zusah. Doch da war niemand. Nur ein qualmender Alwin und ein grinsender Marlon, die gierig darauf warteten, dass er einen Fehler beging. Und dann tat er ihnen den Gefallen. Anstatt zu springen, drehte sich der Junge um und stieg die Leiter wieder hinunter. Grölend klatschten Marlon und Alwin Beifall und feuerten ihn an. Ich hätte ihm so gern zugenickt, ihm Mut gemacht. Doch er hatte sichtlich Mühe, auf den nassen Sprossen nicht auszurutschen und sah nicht auf. Als er unten ankam, blieb sein Blick gesenkt und Alwin sprang auf.

»Tolle Show«, rief er, applaudierte enthusiastisch weiter und paffte Rauch in die Luft. Als er mich erwartungsvoll ansah, klatschte ich ebenfalls, wenn auch zögerlich, und beobachtete, wie der Junge mit hochrotem Kopf hinter einer Hecke verschwand. Ich schämte mich sehr.

»Wir haben Schwein gehabt, dass der keine Arschbombe gemacht hat«, sagte Alwin. Er setzte sich wieder, lehnte sich auf den Ellenbogen zurück, streckte die behaarte Brust raus und blinzelte in den Himmel.

»Was würdet ihr für eine Milliarde machen, aber nicht für eine Million?«, fragte er plötzlich.

»Was für eine bescheuerte Frage«, erwiderte Marlon und schlürfte das geschmolzene Eis aus der Packung.

»Du hast schon verstanden.« Alwin beugte sich nach links und schaute ihn direkt an. »Was ist so schlimm, dass du erst bei einer Milliarde weich wirst?«

Marlon dachte kurz nach und sagte schließlich: »Für eine Million würde ich dir einen blasen.«

Überrascht schaute Alwin ihn an. Dann grinste er. »Und für eine Milliarde?«

»Würde ich dir dabei in die Augen sehen.«

Alwin lachte auf, ließ sich ins Wasser fallen, tauchte kurz ab und dann direkt vor mir wieder auf. Sein gegeltes schwarzes Haar klebte auf seinem Schädel wie Teer.

»Und du, Donnie? Was würdest du machen?«, fragte er.

Ich atmete tief durch. Mir war klar, dass ich mitspielen musste.

»Wenn ich eine Milliarde hätte, würde ich eine Million davon Marlon geben, damit er dir einen bläst. Dann haben wir alle was davon.«

Ich glaube, Marlon fand das lustig, seine Reaktion bekam ich aber nicht mehr mit. Alwin zog die flache Hand über die Wasseroberfläche und spritzte mir ins Gesicht. Das Chlor brannte mir in den Augen, als er auch schon meine Beine packte, mich ins Becken zog und meinen Kopf unter Wasser drückte. Es ging so schnell, dass ich keine Chance hatte, Luft zu holen. Doch das war nicht mal das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass ich nicht schwimmen konnte.

Während ich panisch versuchte, die Luft anzuhalten, stemmte er die Hände auf meine Schultern und drückte mich weiter nach unten. Verzweifelt strampelte ich mit den Beinen und suchte Halt. Ich fand ihn zum Glück am Beckengrund. Mit aller Kraft drückte ich mich vom Boden ab. Oben angekommen schnappte ich gierig nach Luft, doch zwei Hände legten sich auf meinen Kopf und pressten mich erneut unter die Wasseroberfläche. Wieder stieß ich mich vom Boden ab, aber dieses Mal ließen mich die Hände nicht auftauchen. Meine Lunge fühlte sich an, als würde sie jeden Moment bersten. Alwin, du verfluchtes Arschloch, dachte ich, während vor meinen Augen helle Ringe aufblitzten. Ich stieß mich ein drittes Mal vom Boden ab, und diesmal gelang es mir, die Wasseroberfläche mit dem Kopf zu durchstoßen. Ich atmete tief ein und hustete, während ich verzweifelt mit den Armen ruderte, um den rettenden Beckenrand zu erreichen. Unter schallendem Gelächter zog ich mich aus dem Wasser und blieb hustend auf der Seite liegen. Der sonnenheiße Steinboden brannte auf meiner Haut, mein Herz schlug hektisch gegen die Brust, aber es fühlte sich gut an. Ich war noch am Leben und hoffte, dass die anderen nicht bemerkt hatten, dass ich nicht schwimmen konnte. Marlon reichte mir seine rechte Hand, die immer leicht nach Kardamom roch, um mir aufzuhelfen. Ich glaube, er war süchtig nach dem Zeug. In unserer WG-Küche gab es davon ganze Dosen voll. Genervt schlug ich die Hand weg, stand auf und lief zu den Toiletten. Hinter mir applaudierten Marlon und Alwin überschwänglich.

»Kann man nicht mal in Ruhe pissen gehen?«, rief ich ihnen zu, kurz bevor ich in die Herrentoilette einbog.

Ich stützte meine Hände auf dem Waschbeckenrand ab, drehte den Hahn auf und genoss einen Moment die kühle Temperatur und die Stille. Nur das Wasser plätscherte gleichmäßig vor sich hin. Dosierte, modulierbare Intensität, das war genau das, was es bei Alwin und Marlon nicht gab. Ich strich mir eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht und atmete hörbar aus.

»Der Sommer fängt ja gut an«, sagte ich zu mir selbst.

»Alles okay?«, fragte eine Stimme hinter mir.

Überrascht drehte ich mich um, doch da war niemand.

»Schlechten Tag gehabt?«, fragte die Stimme aus einer abgeranzten Kabine.

Ehe ich antworten konnte, fuhr der Typ fort. »Meiner war beschissen.«

»Warum?«, fragte ich, dankbar für den Grund, etwas länger von den anderen fernzubleiben.

»Ich bin hergekommen, um an meiner Abschlussarbeit zu arbeiten, aber finde nicht den richtigen Spot.«

»Den richtigen Spot?«

»Für mein Bild. Ich muss eine moderne Interpretation der ›Badenden in La Grenouillère‹ malen.«

Ich drehte den Wasserhahn zu. Es gibt Momente, die man nicht kommen sieht, dachte ich.

»Monet?«, fragte ich. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand Lichtreflexionen wie er einfangen kann. Warum versuchst du es nicht mit den ›Badenden bei Asnière‹ von Georges Seurat? Hinter dem Sprungturm sieht es fast genauso aus.«

Ich schaute in den Spiegel und sah mich zum ersten Mal seit Langem lächeln. Unterhalte ich mich gerade wirklich mit einem Fremden in einer öffentlichen Toilette über Georges Seurat? Über den Impressionisten, dem ich es verdankte, dass ich nur noch Porträts malte?

»Du verstehst also was von Kunst?«, fragte die Stimme aus der Kabine. Es lag etwas Sanftes, Melodisches in ihr. Ich versuchte, mir den Typen vorzustellen, bekam aber kein Bild zu fassen.

»Ich studiere im dritten Semester Malerei. Und du?«, fragte ich.

»Sechstes.« Es kehrte kurz Stille ein, dann fuhr der Fremde fort. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«

»Kommt drauf an.«

»Ich brauche noch ein Aktmodell. Kann ich dich malen?«

Ich öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Einen Augenblick lang schwiegen wir beide, dann tönte ein tiefes, kollerndes Lachen aus der Kabine.

»Mann, ich verscheißer dich doch nur«, sagte der Typ schließlich, als er sich beruhigt hatte. »Kannst du mir mal Klopapier reichen? Ist hier alle.«

Erleichtert öffnete ich eine Kabine, nahm die Rolle aus der Halterung und beugte mich vor, um sie durch den Spalt zu reichen.

Eine schwarze Hand kam mir entgegen.

Ich erschrak so heftig, dass ich das Toilettenpapier fallen ließ. Es rollte weg. Er bekam es nicht mehr zu fassen. Scheiße, Scheiße, Scheiße, dachte ich. Wieso konnte er nicht einfach normal sein? Wir waren doch auf einer Wellenlänge.

Ich machte, dass ich wegkam. Er rief nach mir, als ich aus der Toilette lief und die Tür hinter mir zuknallte.

Wenn ich heute an diesen Moment zurückdenke, empfinde ich tiefe Scham. Das Leben hatte mir im wahrsten Sinne des Wortes die Hand gereicht. Mir ein Angebot gemacht. Ein Angebot, mich zu ändern. Aber ich war zu feige. Ein Idiot. Und was für einer …

Marlon und Alwin saßen immer noch am Beckenrand. Vor ihnen schwammen zwei Mädchen auf der Stelle und unterhielten sich mit Marlon, der sie angrinste, wohlwissend, dass seinem entwaffnenden Charme kein Mädchen widerstehen konnte. Wenn er zu flirten begann, gingen Alwin und ich fast immer leer aus. Fast, weil Alwin manchmal mit seinen fünfunddreißig Jahren irgendwelche Vaterkomplexe bei Mädchen bediente, die dann mit ihm in seiner Laube verschwanden. Es würde mich jedoch nicht wundern, wenn es so manche am nächsten Morgen bereute.

Ich verlangsamte meine Schritte und dachte über einen Spruch nach, den ich raushauen konnte. Einen, der mit Marlons blendendem Aussehen und Alwins Selbstbewusstsein mithalten konnte. Einen, der scharfsinnig und witzig war. Leider kam mir Marlon dazwischen.

»Da kommt unser Held ja endlich«, rief er und winkte mich zu sich.

Eines der beiden Mädchen sah zu mir. Ihr nasses Haar klebte am Hals, Sommersprossen sprenkelten ihre Wangen, ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Es war der perfekte Moment für den perfekten Spruch. In meinem Kopf regierte nur das Nichts.

Ich stellte mich neben Marlon.

»Du hast echt einen Kopfsprung vom Zehner gemacht?« Das Sommersprossen-Mädchen schaute mich beeindruckt an.

Ich verstand nicht und sah fragend zu Marlon.

»Mit verbundenen Augen«, fügte der hinzu.

»Und ohne Badehose«, ergänzte Alwin.

Das Mädchen lächelte, und zu meinem Erstaunen guckte sie mich immer noch an.

»Das würde ich gerne sehen. Mit Badehose ist auch okay.«

Ihre Freundin nickte. Nun schauten mich alle an. Ich musste etwas erwidern. Und ganz bestimmt würde ich keinen Kopfsprung machen.

»Ich …« Mein Blick fiel auf die Uhr am Sprungturm. »Ich muss leider los, meine Schwester vom Flughafen abholen. Mein Vater feiert heute seinen Sechzigsten.«

Ich hatte zwar noch eine Stunde bis Laura landen würde, aber das war egal. Wenn es nur half, diesem Dilemma zu entkommen.

»Schade«, sagte das Mädchen und sah zu Marlon. »Und ihr zwei? Habt ihr Lust, etwas zu unternehmen? Wir liegen da hinten am Hügel. Kommt doch einfach dazu.«

Dann sah sie mich noch einmal kurz an und konnte vermutlich in meinem Gesicht die Frustration über die verpasste Chance lesen, gemeinsam mit ihnen auf der Wiese zu liegen. Vielleicht hätte ich sie auf diese Weise besser kennenlernen können. So jedoch, würde Marlon sie wohl früher oder später rumkriegen.

Enttäuscht verabschiedete ich mich und verließ das Schwimmbad. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass diese flüchtige Begegnung nicht nur den Sommer, sondern mein ganzes Leben auf den Kopf stellen würde.

2

Dinnerparty

Ich saß in Vaters Benz und schaute auf das zerkratzte Display meiner Casio.

Laura würde erst in einer Stunde landen.

Das letzte Mal bin ich mit Vater am Flughafen gewesen. Das war jetzt fast zehn Jahre her.

Damals waren wir gemeinsam nach Großbritannien geflogen, wo er ein Gemälde aus einem kleinen Dorf nahe Yorkshire hatte abholen wollen. Nach Großpapas Tod hatte er die Galerie Frey übernommen und arbeitete in der Anfangszeit Tag und Nacht, um die Bücher zu sortieren, Künstler kennenzulernen und Kontakte zu Investoren zu pflegen. Manchmal besuchte ich ihn in den Ausstellungsräumen am alten Wall. Er erzählte mir, wie er Vernissagen konzipierte und zeigte mir neue Künstler, die er unter Vertrag nehmen wollte. Auch wenn ich noch ein Kind war, konnten wir stundenlang über die Malerei sprechen. Sie war unsere gemeinsame Sprache. Über alles andere schwiegen wir viel zu häufig.

Jedenfalls war ich echt aufgeregt, als er mich eines Abends gefragt hatte, ob ich ihn auf eine Geschäftsreise begleiten wolle.

Es war ein richtiger Vater-Sohn-Trip durch das wüste England der Neunzigerjahre. Wir hatten einen aschgrauen Austin Healey gemietet und waren in gemütlichen Bed and Breakfasts abgestiegen, hatten Spiegelei mit Bohnen zum Frühstück gegessen und ich hörte mir geduldig seine Empörungen über die Londoner Kunstszene an, während wir bei langen Spaziergängen Schutz vor Platzregen in verlassenen Bushaltestellen gesucht hatten.

An so einer hatten wir auch kurz vor Ende des Trips Churchill gefunden. Er war ein braun-weiß gefleckter Dachshund, der von seinem Herrchen an der Landstraße ausgesetzt worden war. Auf einem Zettel an seinem Halsband hatte gestanden, dass er ein neues Zuhause sucht. Vater hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn dort zurückzulassen.

Damals hatte er mich noch voller Stolz angeschaut. Heute war es schon etwas Besonderes, dass ich seinen Geländewagen fahren durfte.

Seit ich mit Alwin und Marlon befreundet war, redeten wir nur noch das Nötigste. Vater verabscheute sie. Meine einzigen Freunde. Und dafür empfand ich das Gleiche für ihn.

Ich ließ den Motor an, setzte den Blinker und fuhr vom Parkplatz des Dulsberger Freibads. Spätestens als ich in Duvenstedt im Drive-Through einen Cheeseburger ohne Gurken bestellte, hatte ich den Ärger mit Marlon und Alwin vergessen. Ich kramte in meiner Hosentasche nach Münzen, um mir noch eine Cola zu gönnen, doch es fehlten zwanzig Pfennig. Hoffnungsvoll öffnete ich das überquellende Handschuhfach am Beifahrersitz. Prompt fielen mir eine Falk-Landkarte, ein Guide Michelin und ein Briefumschlag entgegen, doch nach zwanzig Pfennig suchte ich vergeblich.

»Auktionshaus Christie’s« stand in goldenen Lettern auf dem sandgelbem Umschlag.

Das passte zu Vater. Natürlich wäre es unter seinem Niveau, ein Bild anderswo als bei Christie’s zu versteigern. Es musste immer das Beste sein. Die Patek Philippe am Arm, Montblancs Meisterstück in der Hand, die Anzüge maßgeschneidert aus der Londoner Savile Row und die Budapester rahmengenäht von Reiter in Wien.

Ich war nie ganz sicher, was ihm eigentlich wichtiger war: die Qualität der Produkte oder das Zurschaustellen seines Erfolgs. Und manchmal, wenn ich besonders wütend auf ihn war, stellte ich mir vor, wie ich mit einem Hammer auf die perfekte Oberfläche einschlug, die zu polieren er zu seinem Lebensinhalt gemacht hatte.

Ich legte den Brief zurück, schlang den letzten Bissen meines Burgers hinunter und verließ den Parkplatz Richtung Flughafen.

Durch das halb geöffnete Fenster wehte ein angenehmer Wind und blies eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Ich schaltete das Radio ein. Westernhagen sang mal wieder von Hoffnung, und ich stellte mir die perfekten Semesterferien vor. Ich drehte das Radio voll auf und stimmte lauthals mit ein.

Am Flughafen ergatterte ich einen Parkplatz in der ersten Reihe und beobachtete, wie die Menschen aus und in die Terminals strömten. Es betrübte mich, hier mit dem Wissen zu sitzen, dass ich nicht dazugehörte. Ich war keiner von denen, die gleich in ein Flugzeug steigen und wenige Stunden später irgendwo auf der Welt ein Abenteuer erleben würden. Ich schloss auch keine lukrativen Geschäfte ab, kam nicht von einem Cannes-Besuch zurück oder freute mich, meine Freundin endlich wieder in die Arme schließen zu können. Stattdessen saß ich im Geländewagen meines Vaters und wartete auf meine kleine Schwester. Ich stellte die Rückenlehne nach hinten, legte meine Füße auf das Lenkrad und schloss die Augen. Seurat, dachte ich. Seit der neunten Klasse versuchte ich alles, wofür er stand, zu vergessen. Wieso hatte ich im Freibad dann ausgerechnet seinen Namen ausgesprochen?

Einen Moment lang versank ich in der Erinnerung an jene Schulstunde, die mir als Vierzehnjährigen so viele Qualen bereitet und die ich, offensichtlich vergeblich, versucht hatte, in die verborgensten Höhlen meines Gedächtnisses zu verbannen.

Niemand hatte je behauptet, dass die Schulzeit einfach sein würde. Aber keiner hatte mich auf die hinterlistige Einsamkeit vorbereitet, die sich zunächst unbemerkt einschlich und dann mit jedem weiteren Schüler, der das Klassenzimmer von Frau Cramers Kunstunterricht betrat, zu einer geradezu unüberwindbaren Mauer wurde. Bis hin zu jener Unterrichtsstunde in der siebten Klasse, in der Frau Cramer George Seurats berühmten »Sonntagnachmittag« auf den Overheadprojektor legte und ihr der Schatten ihres Fingers uns auf die unzähligen kleinen Punkte aufmerksam machte, aus denen das Bild komponiert war. Es faszinierte mich zunächst, wie ein kleiner Punkt so lange bedeutungslos war, bis viele andere hinzukamen und erst durch die Verdichtung dieser winzigen Farbkleckse ein Kunstwerk entstand. Frau Cramer hielt den Pointillismus für die größte Schöpfung des späten Impressionismus. Doch als meine Mitschüler es selbst ausprobierten und ihre Pinsel mit stumpfer Grobheit und unter lautem Gelächter auf das Papier donnerten, sodass sich die feinen Pinselhaare unter der Gewalt wanden und brachen, und die rhythmisch trommelnden Holzstiele ein entsetzliches Stakkato im Klassenzimmer entfachten, empfand ich ihn nur noch als übles Handwerk, nicht mehr als Kunst.

Der Lärm war so unerträglich, dass ich meine flachen Hände gegen die Ohren presste, die Augen so fest zusammenkniff, dass mir Tränen die Wangen herunterliefen und ich laut »Hört endlich auf damit!« rief. Es wurde augenblicklich still.

Vorsichtig öffnete ich die Augen wieder, wischte mir die feuchten Wangen mit dem T-Shirt ab und blickte mich um. Ich sah offene Münder, entsetzte Blicke und das erschrockene Gesicht von Frau Cramer. Wie ein Stillleben. Doch dann brach es plötzlich und ohne jede Vorwarnung auseinander, zerstört durch hämisches Gelächter und grölendes Gepöbel. Ich wäre am liebsten aus dem Klassenraum gerannt und nie wieder zurückgekehrt.

Es läutete zur Pause. Alle anderen standen auf, um heimlich eine rauchen zu gehen oder am Fenster Wochenendpläne zu schmieden und Verabredungen zu treffen. Ich blieb als Einziger sitzen. Niemand würde mich fragen, ob ich hinten im Rosengarten mal eine Zigarette probieren wollte oder am Wochenende mit in den Jenischpark käme. In den ganzen neun Jahren meiner Schulzeit hatte das noch nie jemand getan. Mit einem Schlag wurde mir das ganze Ausmaß meiner Einsamkeit bewusst.

Während die anderen ihren Segelschein auf der Außenalster machten, saß ich am Ufer und studierte sie in ihren Jollen. Und ich zeichnete sie in dem Skizzenbuch – damals noch ein billiges Schreibheft mit blauen Karos auf gelblichem Recycle-Papier – das ich dauernd mit mir herumschleppte, um mir ja kein gutes Motiv entgehen zu lassen.

»Starr nicht so«, riefen meine Mitschüler zunächst. Irgendwann sprachen sie nicht einmal mehr mit mir, um mich loszuwerden. Sie behandelten mich wie einen Geist.

Konnte etwas schlimmer sein, als für alle anderen unsichtbar zu sein? Ja, konnte es. Nur ein paar Wochen später verließ Frau Cramer während der Pause das Klassenzimmer, um neue Kreide zu holen. Ich beobachtete die anderen, wie immer voller Scham, und bemerkte nicht, wie ein Mitschüler – ich weiß nicht mal mehr, wie er hieß, nur, dass er immer leicht nach Schweiß roch – mein Skizzenbuch aus dem Ranzen zog und damit wedelnd und idiotisch kichernd nach vorne zum Lehrerpult lief. Ich saß da wie erstarrt, unfähig zu verhindern, was gleich geschehen würde. Um ihn herum bildete sich ein Pulk. Er hielt das Buch in die Höhe und blätterte Seite für Seite um, sodass alle meine Zeichnungen sehen konnten. Von jedem Einzelnen in meiner Klasse hatte ich eine Karikatur gezeichnet. Sie sahen wie Ungeheuer aus.

Bevor sich der Tumult vorne legte, machte ich, dass ich wegkam, und blieb der Schule eine Woche fern. Ich musste nicht einmal schauspielern. Blass und mit krampfartigen Bauchschmerzen kam ich zu Hause an. Mutter steckte mich ins Bett, schrieb eine Entschuldigung und als ich nach einer Woche das Klassenzimmer wieder betrat, wurde ich wieder ignoriert.

Lange dachte ich, dass ich über all dem stand, was sich zwischen Klassenräumen, Schulhof und Cafeteria abspielte. Dieses gegenseitige Sichanbiedern, die abschätzigen Blicke, wenn man das falsche T-Shirt trug oder der erbärmliche Gedanke, bedeutsam zu sein, nur weil man mit den Jungs im Rosengarten heimlich rauchte. Ich dachte, dass ich entschieden hätte, mit den anderen nichts zu tun zu haben.

Doch an diesem Tag, als ich mit meinen Zeichnungen bloßgestellt wurde, erkannte ich zum ersten Mal, dass ich nie eine Wahl gehabt hatte – dass es die anderen waren, die mich ausgrenzten. Dass ich in ihren Augen eine lebende Karikatur war. Ein Schöngeist. Ein Tagträumer. Ein Pipicasso, wie sie mich abschätzig nannten. Jemand, der über Fragen zu lange nachdachte und seine eigenen Antworten noch während des Sprechens stammelnd hinterfragte. Wie sollte so jemand auch nur den Hauch einer Chance besitzen, Freunde zu finden?

Von da an malte ich nie wieder eine Landschaft und zeichnete nie wieder eine Karikatur.

Ich schätze, es braucht diese Momente im Leben. Diese Ereignisse, die zunächst alles zerstören, woran man geglaubt hat und rückblickend das Fundament darstellen, auf dem so vieles aufbaut.

Jedenfalls versprach ich mir selbst, Menschen nur noch so zu malen, wie ich sie mit meinen Augen wahrnahm, und sie so lange und eingehend zu studieren, bis ich ihr Innerstes erkannte. Auf diese Weise wurden Porträts meine Leidenschaft und ich studierte von Van Dyck bis Holbein jeden Meister bis ins kleinste Detail. Mit der Zeit wurde ich besser und professioneller, doch irgendwann gingen mir die Motive aus. Mutter hatte ich unzählige Male gemalt. Bei uns im Garten, unter dem Apfelbaum oder im kleinen Salon, wo die aufgehende Sonne ihr schmales Gesicht in ein warmes Licht hüllte. Doch die Suche nach neuen Modellen fiel mir schwer. Und so blieb ich lange ein einsamer, bedeutungsloser Punkt auf einer sonst leeren Leinwand – ohne Freunde und weit entfernt von jenem Künstler, wie ich ihn mir vorstellte.

Es klopfte ans Beifahrerfenster. Ich fuhr zusammen.

»Laura, Scheiße, hast du mich erschreckt.« Ich richtete mich auf.

Laura öffnete die Beifahrertür, lehnte sich ins Auto und gab mir einen Kuss auf die Wange.

»So schreckhaft?«

»Ach was.« Ich stieg aus dem Fahrzeug und sah mich um. Zu Lauras kunterbuntem Outfit fiel mir nichts ein. Sie trug eine hautenge Leggins, das eine Bein gelb-schwarz gestreift, das andere rot-blau. Ein grünes, aus dünnen Fäden geflochtenes Haarband war um ihre Stirn gebunden. Ihr glattes braunes Haar fiel ihr auf die Brust, als wäre sie seit einem Jahr nicht mehr beim Friseur gewesen.

»Das ist alles?« Ich zeigte auf zwei Hartschalenkoffer, einen Rucksack und vier prall gefüllte Plastiktüten aus dem Duty-free-Shop. »Nur vier Tüten voll?«

Laura rümpfte kurz auf die ihr eigene Art ihre kleine Nase und wandte sich ab. Sie nahm den größeren der beiden Koffer, bevor ich ihr zuvorkommen konnte und hievte ihn in den Kofferraum.

»Die scheinen dich da unten gut gefüttert zu haben. In … Namibia?«

»Mosambik«, korrigierte sie mich. »Und ja. Dafür, dass ich ihren Kindern Englisch beigebracht habe, habe ich das tollste Essen bekommen, das man sich nur vorstellen kann.«

»Geröstete Heuschrecken?«, fragte ich.

»Alter Spinner.« Laura grinste und half mir, das restliche Gepäck im Auto zu verstauen.

Auch wenn ich es ihr nie sagen würde, so bewunderte ich doch ihre Fähigkeit, alles leicht aussehen zu lassen. Als ich auf die Bundesstraße bog, sah ich aus dem Augenwinkel, wie sie eine einzelne geflochtene Haarsträhne immer wieder hinters Ohr klemmte und jedem vorbeifahrenden Wagen nachsah, als würde sie Autos zählen.

»Wie ist es so da unten?«, fragte ich.

»Schön. Pemba ist ein traumhafter kleiner Küstenort. Und viel weniger Verkehr als hier. Kaum Autos, dafür fahren die Menschen Fahrrad oder Boot. Meine Gastfamilie hatte ein kleines Haus direkt am Meer. Die waren alle so nett. Ich möchte sie nächstes Jahr wieder besuchen.«

»Hattest du keine Angst? Es gibt da sicherlich nicht so viele junge weiße Frauen«, sagte ich und setzte den Blinker, um die nächste Ausfahrt zu nehmen.

»Wovor denn? Angst hat man doch nur vor dem, was man nicht versteht. Und Mosambik ist so unbeschreiblich schön, das kannst du dir nicht vorstellen.«

Sie hatte recht. Das konnte ich nicht. Ich redete mir ein, dass ich es mir auch nicht vorstellen wollte, aber tief in mir wusste ich, dass das nicht stimmte. Dass ich mich auch nach einem Abenteuer sehnte.

»Rieche ich hier Burger? Sag nicht, du hast ohne mich einen Cheeseburger verdrückt«, sagte Laura.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ist was übrig?« Flehend sah sie mich an. »Ich hab ein Jahr lang keinen Cheeseburger mehr gegessen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wir sind gleich zu Hause und dann gibt es Vaters Geburtstagsdinner.«

»Fahren die wieder groß auf? Mit Abendgarderobe, gesetztem Essen und allem?«

»Was denkst du denn? Das ist sein Sechzigster.«

»Ich glaube, ich passe gar nicht mehr in mein Kleid.«

»Noch ein Grund, keinen Burger zu essen«, erwiderte ich.

»Ach, ich habe ganz vergessen, wie schlau mein Bruder ist. Wie konnte ich nur ein Jahr ohne dich überleben?« Sie grinste mich an. »Kann ich dir was verraten? Du darfst es aber niemandem sagen. Vor allem nicht Mutter und Vater.«

»Schieß los.« Ich setzte den rechten Blinker, um die Spur zu wechseln. Gerade als ich leicht einlenkte, schoss ein schwarzer BMW an uns vorbei. Ich erschrak, ging vom Gas und riss das Lenkrad nach links.

»Heilige …, was ist denn mit dem los?«, fluchte ich.

Erschrocken hielt sich Laura an der Armatur fest. »Jetzt haben wir die Ausfahrt verpasst.«

Ich trat wieder aufs Gas, als wir links von drei weiteren Autos überholt wurden, an deren Antennen weiße Bänder flatterten. Alle hupten und eine Frau mit Hochzeitsschleier winkte mir aus einem Heckfenster fröhlich zu.

»Diese Irren. Können die ihre Hochzeit nicht feiern, ohne andere zu gefährden?«

»Entspann dich«, sagte Laura.

»Sag mir nicht, dass ich mich entspannen soll. Guck sie dir an. Mit ihren beschissenen geleasten Protzkarren. Fahren wie die Bekloppten. Hast du nicht gesehen, wie der BMW mich geschnitten hat? Weißt du nicht mehr, was mit Großpapa passiert ist?«

»Und ob ich das noch weiß«, sagte sie. »Du hast geschlafen, als der Unfall passierte.«

Sie hatte keine Ahnung. Ich war zwölf und hatte damals schon das Gefühl, dass ich der Einzige von uns war, der sich mit Großpapa verstand. Ich versuchte stets, die Erinnerung an den Unfall zu verdrängen. Doch manchmal, wenn ich fernsah, gerade eine Szene skizzierte, wenn ich duschte oder mir ein Brot schmierte, wenn ich gedankenverloren eine Straße entlangging oder eine Vorlesung an der Uni besuchte, stürzte sie sich auf mich, als hätte sie im Hinterhalt gelauert und nur auf eine passende Gelegenheit gewartet.

Das Geräusch des Motors, Großpapas starke Hände am Steuer, seine rauchige Stimme – all diese Eindrücke waren in mir noch lebendig.

»Ruh dich aus, Donnie, ist noch ein Stück«, hatte Großpapa gesagt. Es war das Letzte, was ich gehört hatte, bevor mir die Augen zugefallen waren. Seine letzten Worte, bevor er starb.

Laura schaffte es immer wieder, den Finger auf die Wunde zu legen. Verdammt. Ich hätte wach bleiben und mit ihm reden sollen. Mir eine seiner Geschichten anhören, auch wenn ich sie längst auswendig kannte. Geschichten aus seiner Galerie, wie die über eine neureiche Kundin, die stets mit ihrem sabbernden Border Terrier kam, obwohl Hunde eigentlich keinen Zutritt hatten. Bis dieser Köter, den sie immer auf dem Arm trug, auf eine hunderttausend Mark teure Plastik und ihr Chanel-Kostüm kotzte. Hätte ich gewusst, dass es unsere letzte Unterhaltung war, hätte ich Großpapa noch einmal genau angesehen, mir sein Gesicht eingeprägt, das mit den Jahren immer mehr verschwamm. Vielleicht hätte ich den Unfall verhindern können, wenn ich nicht, von den Geräuschen des Motors und der Straße eingelullt und eingeschlafen wäre.

»Großpapas Unfall war Mord«, sagte ich. »Die haben ihn von der Straße gedrängt. Und deine Underdog-Sympathien kannst du dir sparen.« Ich schaute kurz zu ihr rüber. »Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«

Laura drückte den Rücken durch und zeigte nach rechts. »Verpass die Ausfahrt nicht!«

Ich beruhigte mich erst wieder, als wir wenige Minuten später in die Garage unseres Elternhauses am Rondeelteich einbogen.

»Was wolltest du mir eigentlich sagen?«, fragte ich Laura, als ich den Motor ausstellte.

»Später.« Sie kletterte aus dem Wagen und lief zum Kofferraum. Ich stieg ebenfalls aus. Unsere Haushälterin Malgorzata, die wir nur Mago nannten, betrat die Garage, stürzte auf Laura zu, drückte sie an sich und küsste sie links und rechts auf die Wange.

»Meine Güte, Kindchen«, sagte sie mit diesem weichen polnischen Akzent, »was haben wir Sie alle vermisst.«

Ich verdrehte die Augen, während Mago sich eine Träne von der Wange wischte.

»Ich nehme das Gepäck«, sagte ich und öffnete den Kofferraum.

Von der Garage aus gelangten wir über einen Fahrstuhl in die Eingangshalle, von der der große Salon zur Terrasse und dem Garten hin abging. Vater stand in seinem Smoking an der Standuhr. Seine kurzen, fast vollständig ergrauten Haare schimmerten im schwachen Licht.

Mutter hatte gerade eine Kerze entzündet und blies das Streichholz aus. In ihrem roten Abendkleid sah sie aus, wie schon auf dem Titelbild der »Bunten« von 1969. Ich hatte das Kleid oft in ihrem Ankleidezimmer hängen sehen. In dem Jahr hatte sie an der Hamburger Oper als Sopranistin debütiert und war als »Newcomerin des Jahres« gefeiert worden. Neunzehn Jahre später, ich war gerade zehn geworden, gab sie ihre Abschiedsvorstellung. Ihre Stimme war der Dauerbelastung nicht gewachsen und die Ärzte befürchteten eine Afonie, wenn sie weitersingen würde.

Der Abend von Mutters letzter Vorstellung spielte sich vor meinem inneren Auge ab. Unsere ganze Familie, einschließlich Mago, fand sich in der Oper ein. Zum letzten Mal sang Mutter die Gänsemagd in Humperdincks »Königskinder«. Man hatte für uns Ehrenplätze in einer Loge reserviert und gebannt verfolgte ich die Handlung. Als der Vorhang fiel, schluchzte ich, während Vater wie ein Irrer klatschte und »Bravo, bravo« rief. Laura griff nach seiner Hand und zeigte auf mich.

Er beugte sich zu mir hinunter. »Nicht weinen, Donatus.«

»Mutter ist tot«, sagte ich und schluchzte.

»Nein, Junge.« Er zückte ein Taschentuch, hob mein Kinn an und tupfte mir die Tränen von den Wangen. »Es ist doch nur ein Märchen, sie spielt nur eine Rolle. Wir werden gleich zu ihr in die Garderobe gehen.«

Ich blickte zu ihm hoch.

»Du weinst doch auch«, sagte ich. Das tat er tatsächlich. Es war das erste und letzte Mal, dass ich ihn weinen sah. Vielleicht ahnte er, dass ich nicht ganz falsch lag. Auch wenn Mutter an dem Abend nicht starb, so starb doch ihre Bühnenstimme.

Jetzt sang sie nur noch an Geburtstagen und zu Weihnachten. Wahrscheinlich würde sie auch an diesem Abend für Vater singen.

Mutter stürzte auf Laura zu und umarmte sie, hielt sie lange fest und schloss dabei die Augen.

Lächelnd trat Vater zu den beiden und küsste Laura auf die Stirn. »Wie schön, dass du es geschafft hast.«

»Alles Liebe zum Geburtstag«, sagte sie und küsste ihn auf beide Wangen.

Ich stand im Türrahmen und wartete, dass sich die Laura-Euphorie legte.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Vater«, sagte ich nach einer Weile, als er mich immer noch nicht begrüßt hatte.

»Danke«, erwiderte er knapp und wandte sich gleich wieder Laura zu.

»Du musst mir später alles erzählen. Ich will jedes Detail wissen. Aber jetzt musst du dich umziehen. Unsere Gäste treffen jeden Augenblick ein.«

Laura nickte und verließ den Salon. Ich blieb noch einen Augenblick stehen.