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Silvester 1989. Voller Begeisterung und nahezu kindlicher Vorfreude macht sich eine Gruppe junger Freunde aus der westdeutschen Provinz auf den Weg nach Berlin, wo sie auf dem Alexanderplatz an einem Jahrhundert-, einem Jahrtausendereignis teilhaben wollen. Diese Nacht wird nicht nur eine wichtige Nacht in der Geschichte sein, es soll auch eine wichtige Nacht in ihrem Leben, in ihrer Biographie werden, von der sie noch ihren Enkeln erzählen können. Doch es kommt anders als erträumt. Auf dem Alexanderplatz findet keine Party statt, weil alle die Großbildschirme und das alkoholselige Feiern am Brandenburger Tor vorziehen. Also lassen sich die jungen Leute von ein paar Ostdeutschen mitnehmen in deren Wohnung nach Pankow. Dort sind sie plötzlich mit etwas konfrontiert, das in diesen Stunden keinen Platz haben dürfte: Skepsis statt Schaumwein, Geständnisse statt Gespräche, Verrat statt Verbrüderung. Aus dem erhofften Fest wird eine Prüfung. Als sie im Morgengrauen wieder aufbrechen, ist es, als hätten sie ihre Unschuld verloren. Das hier ist nichts Abstraktes, kein Höhepunkt der Geschichte, begreifen sie irgendwann, das hier ist Erwachsenwerden in einer einzigen Nacht.
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Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2010
Andreas Platthaus
Freispiel
Roman
Für M. und M.
Klar sei der Mensch und einig mit der Welt.
Sie erzählt nicht, weil es etwas zu erzählen gäbe. Die Geschichte ist längst geschrieben.
Ich bin gemeint.
Denn wenn drei dastehen und angeregt miteinander reden, doch verstummen, wenn ich komme, sich angestrengt in ihre Jacken ducken, scheinbar vor dem Wind, der über den quadratkilometerweiten Parkplatz pfeift, und um eine lässige Bemerkung ringen, dann muß man ja geradezu mitten hindurchgehen, «Kann ich mal? Ist kalt», die Tür aufmachen, den Sitz vorklappen und sich hinten reinfallen lassen, dahin, wo man früher auch immer gesessen hat.
Die Lehne schnalzt zurück, und ich fingere daneben nach vorne: schnell zuziehen. Dann durch die Scheibe den dampfenden Mündern zulächeln. Dem weit offenen von Stepan, der jetzt wieder auf die anderen einredet, als könne ihm keine Witterung die Sprache verschlagen. Dem verkniffenen von Makro, der die Fahrt in noch düsterer Laune erduldet als ich. Und Tommys Schnute, wie immer leicht offenstehend, der staunt sein Leben an, und ich staune über ihn, wie er das Gefasel und Gefuchtel von Stepan ertragen kann. Freundschaft kennt Irrtümer, aber der dort ist doch etwas zu drastisch. Oder irrt auch Liebe? Hinter dem Trio im Wind leuchtet über der riesigen Halle das gelbe U in die Wintertristesse: umkehren, umkehren, umkehren.
Jetzt kommt doch raus aus dem Geniesel, Jungs, und da geht auch schon die Fahrertür auf, und der Innenraum ist mit einemmal voller Makro. In abenteuerlichen Verrenkungen faltet er sich über den Sitz nach hinten, bis er mit einem erleichterten Seufzer zusammensackt, die Kauerhaltung einnimmt, in der er schon die ersten zwei Stunden der Fahrt verbracht hat. Kein kleines Kunststück im Kadett, auch wenn Makro nicht eins neunzig groß wäre. Der Vordersitz rumst ihm gegen die Knie: «Au! Paß doch auf!» Obwohl er der Größte von uns ist, darf er nicht vorn sitzen, denn abgesehen davon, daß Tommy ohnehin keinen anderen ans Steuer lassen würde, ist Makros Lappen beschnitten: Führerschein 1b, damit darf er höchstens Traktor fahren. Und die Traktoren sind angesichts von sechshundert Kilometern doch lieber in den Scheunen geblieben, wobei ich mir den Effekt schön vorstelle, wir im Konvoi dahinschaukelnd Richtung Osten, und langsamer als jetzt wären wir auch nicht gewesen.
«Geruhen der Chauffeur weiterzufahren?» Stepan hat sich vor mir so heftig ins Polster fallen lassen, daß seine Lehne bis zu meinen Beinen durchfedert, und das will einiges heißen, denn er ist nicht dick, und ich bin nicht groß. So gesehen ist es ein Glück, daß Tommy bei der Abfahrt resolut hinter sich gewiesen hatte, als Makro vorne neben ihm einsteigen wollte. Einerseits verständlich, wo sie doch gestern nach einem halben Jahr zum erstenmal überhaupt wieder ein Wort miteinander gewechselt haben, andererseits schon erstaunlich, daß Makro der Platz neben mir zugeteilt worden ist. Für einen Augenblick hatte ich erwartet, daß Tommy nun mich nach vorne beordert hätte, denn mit Stepan ist ja auch noch längst nicht alles wieder so, wie es einmal war, und wollte Tommy das Wagnis wirklich eingehen, ausgerechnet mich an Makros Seite zu lassen? Aber der duckt sich gehorsam möglichst weit weg von mir in die Ecke, macht sich klein. Der Hauptmann vorne dürfte es mit Freude gesehen haben.
«Nerv nicht, ich wart den Verkehrsfunk ab.» Spricht’s und dreht Anschaltknopf und Frequenzregler gleichzeitig so weit auf, daß ein Wellensalat aus den Lautsprechern dröhnt, dabei ist es erst kurz vor halb, und wir hatten doch vorhin den Sender ganz klar drin, als wir ausrollten vom Schnellweg. «Mann, mach das Ding leiser!» Stepan greift rüber, aber Tommy fängt seine Linke ab: «Finger weg! An Bord bestimmt nur einer.» «Und das bist du, ja? Hast du das vom Bund mitgebracht, dieses Demokratieverständnis?» «Nicht nur das. Ich kann dir auch zeigen, wie Nahkampf aussieht, wenn du dich traust.» Sie sind beim Thema. Nach mehr als zwei Jahren immer noch, und mir wird klar, daß wir hier gerade die undankbarste Konstellation im Universum erleben: allein auf einer riesigen Asphaltfläche, während ein paar hundert Meter weiter die hupende Blechlawine zum Gletscher gestaut ist, bei grauer Dezemberkälte in einem Wagen, der ohne laufenden Motor schneller auskühlt als eine Aluminiumfolie, auf dem Weg zu dem Ort, wo es heute rocken soll, wie Tommy sich auszudrücken beliebte, als er uns zusammengetrieben hat. Drei früher einmal befreundete Feinde, die noch einmal auf beste Kumpels machen wollen, und ich.
«Mist, Werbung ist heut ja nicht, wie soll ich da erkennen, welcher der richtige ist?» «Was hältst du von so langweilig formalisierten Kriterien wie Frequenzzahlen?» Stepan weiß nicht nur, wie man Tommy auf die Palme bringt, sondern auch, wie man ihn bei der Ehre packt, sofort dreht der zurück nach links, der Zeiger wandert über die Skala, und schon springt das unverkennbare Signal in den Raum, das hier im Westen jede Unterhaltung im Auto erstickt und gottlob auch diese. Ach, von wegen: ein großes Hallo vom Fahrer, weil der Stau, den wir gerade angeblich umfahren, noch einmal angewachsen ist und sich inzwischen fast bis Wuppertal ausgedehnt hat. «Da wären wir jetzt gar nicht mehr runtergekommen.» «Was für ein Drama! Das hätte am Ende gar Stillstand bedeutet!» «Kann ich was dafür, daß die A 40 nicht durchgesagt wurde? Hat einer von euch protestiert? Und hättest du mich nicht dazu überredet, erst mal auf der A 43 zu bleiben, wären wir rund zehn Kilometer Kolonnenverkehr billiger weggekommen.» «Ich als Zivilist entscheide eben kühl nach mathematischen Gesichtspunkten. Fürs strategische Denken ist der Herr Gefreite zuständig.» Hoffentlich spürt Stepan mein Knie im Rücken. Tommy ist doch nun seit fast einem Jahr raus aus dem Laden, und war Stepan nicht sogar auf seiner Entlassungsparty, obwohl er ihm am letzten Tag vor Antritt des Wehrdienstes offiziell die Freundschaft aufgekündigt hatte? Leicht getan für einen, der ausgemustert worden ist wegen angeblicher Trichterbrust und sich dann als Student eine feine Zeit machen kann, während der ehedem beste Freund durch den Dreck kriecht. Danach war Stepan für uns alle erst mal erledigt. «Au», kommt es tatsächlich eher verwundert als schmerzvoll von vorne. Er dreht sich um, die Augenbrauen in Richtung Himmel, und ich ziehe meinen ausgestreckten Zeigefinger waagerecht am Hals vorbei. Stepan schüttelt den Kopf und lacht.
«Seid ruhig, verdammt noch mal, ich versteh ja nix.» Ist denn heute das ganze Land unterwegs? Zur Kirche, oder was wollen die so früh auf der Autobahn? Die Kette von Staumeldungen reißt nicht mehr ab, die 40 ist mittlerweile auch mit dabei, und als er das hört, kippt Tommys Stimme fast: «Nach dem, was die sagen, hätten wir ja von hier an freie Fahrt bis Unna. Die erzählen einen Stuß, das glaubste nicht!» «Mann, laß doch einfach den Motor an», eine Grabesstimme aus dem Bündel neben mir, «es ist kalt hier drin, und eigentlich stehen sie ja auch gar nicht. Das sind nur die Ampeln.» «Verdammte Ampeln, und das auf der Autobahn!» «Wir sind nicht mehr auf der Autobahn, das ist der Ruhrschnellweg.» Jetzt kommt Tommy auf Touren: «Hört ihn euch nur an, unseren wackeren Kawasakifahrer. Biste schon mal mit Tempo achtzig hier langgeschlichen, daß du dich so gut auskennst?» Natürlich wissen wir alle noch, wie wir vor vier Jahren gemeinsam im Pulk hierhergefahren waren, ein Schwarm von zornig quengelnden Libellen, alle doppelt beladen, und weil wir nicht auf die Autobahn wollten, ging es durch die Pampa, und am Ziel des stundenlangen Trips lockte das Hallengebirge mit dem gelben U, lockte eine Rockband, die wir vergötterten, lockte die gemeinschaftliche Ekstase, die uns heute wieder hierhergebracht hat, aber diesmal liegt das Ziel viel weiter weg. Und jetzt fängt es an zu regnen.
«Auch das noch!» Demonstrativ kurbelt Tommy das Fenster herunter und wischt den Seitenspiegel ab. Makro grunzt nur und schlägt den Kragen seines Anoraks hoch. Immer noch der taubenblaue Bogner, die Skijacke, die er in allen Wintern anhat, seit ich ihn kenne. In den unterkühlten Monaten seit Juni hätte er sie also getrost auch tragen können, aber er hat wohl genug gekocht meinetwegen. Jetzt ist er eisig, kein Wort zuviel, und ich kann froh sein über meine Bomberjacke, die mich abschirmt gegen die Frustschrapnelle von nebenan. Wie Tommy und Stepan in ihrem Jeans-Partnerlook dagegen geschützt sind, ist mir schleierhaft. Doch um die beiden geht es ja auch nicht. Die Musik hat schon wieder eingesetzt, aber der Schlüssel steckt noch nicht einmal im Zündschloß. Mir doch egal, ich stecke in dicken Daunen. «Sind wir fertig?» Tommys Blick im Rückspiegel, ich kann sein linkes Auge sehen, das mich fixiert. Aber ich muß auf diese überflüssige Frage nicht antworten, denn Stepan legt mittlerweile jedes Fahrerwort auf die Goldwaage: «Eine erstaunliche Frage für denjenigen, der uns alle hier festhält. Ich darf sie wohl als rhetorisch begreifen. Oder richtet sie sich an die Person, auf deren Wunsch wir hier angehalten haben? Dann darf ich dich darauf aufmerksam machen, daß diese Person seit etwa einer Viertelstunde schräg hinter dir sitzt und wie wir anderen beiden ungeduldig darauf wartet, daß du dich bequemst, entweder die Fahrt fortzusetzen oder dich selbst auch noch in die Büsche zu schlagen.» «Dummschwätzer!» Da hat Tommy recht, und wenn es nur um Büsche gegangen wäre, hätten wir schon tausendmal eher stoppen können. Aber der Fahrer mußte ja erst zwei volle Runden über den Parkplatz drehen, bevor er mich an der Halle rausließ, wo tatsächlich eine Kneipe offen hatte, weil sie sich für den Abend rüstete. Ging es um Revanche? Oder war das befreite Aufröhren des Motors beim Rumkurven nur Kompensation für die Schleicherei bis hierher? Da konnte endlich noch einmal richtig Gas gegeben werden, auch wenn die Raserei nirgendwo hinführte, und als er endlich hielt, Stepan mich aussteigen ließ, rief Tommy mir durch die noch offenstehende Tür nach, daß er jetzt einfach etwas herumheize, denn ich bräuchte ja sicher meine üblichen zehn Minuten. Und schon sausten sie davon und umrundeten die Freifläche zum dritten Mal und danach wer weiß wie oft noch. Ich hab nicht mehr hingeguckt.
«Wir bringen die Band wieder zusammen.» Ich habe es mehr gemurmelt als gesagt, aber vom Fahrersitz kommt sofort Reaktion: «Was?» Er hat es genau verstanden, und er weiß, das ist nicht meine Sprache, das ist Ironie. So lautete der Satz, mit dem er gestern anfing rumzutelefonieren. Wir bringen die Band wieder zusammen, so hat er mit künstlich heiserer Stimme sowohl Stepan als auch Makro geködert, und ich mochte nicht glauben, was ich da hörte, denn wozu hatte ich endlich eingewilligt in seinen Blödsinnsplan, wenn er ausgerechnet die Leute dazuholt, mit denen ich ganz gewiß nicht diese Nacht erleben will. Daß er abends pro forma noch Karl angerufen hat, das war reine Kompensation. Und der muß ihn auch gefragt haben, ob er alle Tassen im Schrank habe, denn es fiel noch einmal der Satz: Wir bringen die Band wieder zusammen. Als ob Karl jemals dazugehört hätte. Aber Tommy wollte ihm schmeicheln, er sollte sich den Auserwählten zugehörig fühlen, als Mitglied in Tommys All-Star-Gruppe, die am nächsten Tag auf große Reunion-Tour gehen würde, we’re on a mission of God, aber das hat er sich verkniffen, am Ende hätte noch irgendwer gedacht, Tommy meine mit Gott sich selbst. Hatte ja auch was Schöpfermäßiges, wie er die Truppe zusammenstellte. Aber Band? Dazu braucht es doch Individualisten. Wir sind eine Clique gewesen, nicht mehr. Und bei dem letzten Anruf ging es nicht einmal um die, da ging es vor allem um Simone, die unweigerlich mitkommen würde, wenn ihr Karl erst einmal gewonnen war für die Reise. Tommy erwischte sie im besten Moment: beide Elternpaare verreist, ein Auto frei für die Fahrt. Wo mochten die beiden gerade stehen? Auf der A 1 in Richtung Hagen?
«Fahren wir endlich weiter?» Eine Frage mit einer Frage zu beantworten ist nicht eben höflich, aber ich fühle mich plötzlich unendlich müde und will einfach keinen Streit. Obwohl die Frage eine super Vorlage dafür gibt. Unter den kleinen Locken arbeitet es, das kann man Tommys Hinterkopf ansehen. Stepan hat sich mißmutig von ihm weggedreht und starrt durch das dicht beschlagene und nun mit Rinnsalen gestreifte Fenster auf die stumme Halle. Zwei Hinterköpfe, beide blond, aber Stepans Frisur ist halblang und glatt, kein Fassonschnitt, dem schneidet die Mutter die Haare. Tommy hingegen sieht aus wie onduliert, der Pudel, aber das ist Naturkrause, und man kann wunderbar darin spielen, sie aufdröseln und wieder zurückringeln lassen, Kugelschreiberminen einfädeln, während er döst, damit er mich nach dem Erwachen niederringt, und dann geht es los, wenn er mich hilflos glaubt. Wie sollte eine so was mit Stepans Fransen machen? Er ist ja auch solo. Hat allen Grund, neidisch zu sein, traurig zu sein an so einem Tag, wo alle Zeichen auf Zukunft stehen. Er starrt und bleibt starr, ich schau mir das ein paar Sekunden an, und dann: «Darf ich dich darauf aufmerksam machen, daß die Scheiben aus Milchglas sind?» In Makros Ecke bebt es leicht. Wir hatten immer denselben Humor, wie schön wäre es, gegen die angeknackste Zweierallianz vorne eine starke Phalanx auf der Hinterbank aufzubauen. Wie soll man sonst die noch verbleibenden Stunden überstehen? Doch Tommy hat dieses Auto offenbar nach der Devise Teile und herrsche bestückt. Es ist keine Konstellation denkbar, die nicht seine Person einschlösse: Ich und er, klar. Aber ich und Stepan? Unvorstellbar, Feinde fürs Leben, gerade weil Stepan und Tommy früher so dicke waren. Ich und Makro? Wie sollte das denn jemals wieder gehen? Das weiß Tommy genau, da kann er meiner sicher sein. Makro und Stepan? Wie Feuer und Wasser, alles, was den einen interessiert, verabscheut der andere. Nur die Musik hat sie bisweilen zusammengeführt, aber da ist immer Tommy die treibende Kraft gewesen, Tommy, der lautstarke Organisator von gemeinsamen Ausflügen, auf Flugfelder, in Stadien, Hallen, Kneipen, wo die Musik spielte, die er mag. Und die wir zu mögen lernten, einer nach dem anderen, bis wir mit ihm tanzten und sangen vor den Bühnen dieser Welt. Deshalb war das auch so ein bezeichnender Satz: Wir bringen die Band wieder zusammen. Denn wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs. Des Herrn Tommy.
«We’re on a mission of God.» Jetzt also doch. Als könnte er meine Gedanken lesen, das läßt mich immer wieder staunen, diese Verbundenheit in Gedanken. «Auf Himmelfahrtskommando, meinst du wohl», wirft Stepan ein, reißt die Stirn vom Fensterglas weg und grinst ihn an, beide keckern los, diese Verbundenheit in Worten paßt mir nicht. «Tost rules!» Zweistimmige Bekräftigung, Pfoten klatschen ineinander, Finger hakeln, einmal, zweimal, dann kehren die beiden einander kurz die Handflächen zu, jahrelang geübtes Begrüßungsritual, mit dem Tommy und Stepan in der Oberstufe jeweils neu ihre Brüderschaft beschworen haben unter der aus ihren Namen zusammengestellten Firmenbezeichnung Tost. Das klang besser als Don Tommaso und Peppone, wie sie sich seit Grundschulzeiten hatten rufen lassen. Jetzt nur noch knapp und technisch Tost – und so träumten sie von Tost, dem Brainpool, Tost, der Werbeagentur, Tost, dem Architekturbüro, und zuletzt von Tost, dem Biolabor, in dem Stepan für den naturwissenschaftlichen Teil zuständig sein sollte, während Tommy die Geschäftsführung besorgt. Knabenträume, jedes Schuljahr etwas anderes, aber dann hat die eine Hälfte von Tost tatsächlich den Studienplatz für Biologie bekommen, und als die andere vom Bund entlassen wurde, begann sie ihre Bankausbildung, obwohl das dynamische Duo da längst entzweit war. Ein dynamitenes Duo, hatte Makro gespottet, und was hatten wir uns darüber amüsiert. Gemeinsam. Über die zwei da. Damals. Und jetzt? Jetzt stehe nur noch ich zwischen Tost, den einen, den lieb ich, den anderen haß ich. Und da sitzen sie nun wieder nebeneinander und klatschen sich ab und brüllen Parolen, die seit zweieinhalb Jahren glücklich vergessen waren. Überhaupt bin ich überall dazwischen, auch bei Makro und Tommy, deren Freundschaft allerdings wohl endgültig beendet ist.
«Steppi, such mal ne Kassette raus. Wenn ich gleich wieder in den Stau fahr, will ich wenigstens was aufn Ohren haben. Schläft Makro?» Mein Blick geht nach links, und die massige Gestalt liegt in sich vergraben in der Ecke, als müßte ein Maximum an Distanz zwischen uns geschaffen werden, das es doch längst gibt, verglichen mit dem, was bis vor einem halben Jahr war. «Schliefe er, hättest du das gehört.» Da grantelt Makro unter der Armbeuge ein «Ist ja sehr rücksichtsvoll, wie hier Insiderinformationen weitergetratscht werden» hervor. Dabei sind meine Informationen ganz oberflächlich, weil ich sein Inneres nie berührt habe.
Tommy kichert und wirft sich auf dem Fahrersitz derart heftig zu uns herum, daß er den noch zum Handschuhfach vorgebeugten Stepan anrumpelt. Die Kassettenhülle fliegt quer über die Handbremse und landet im Schoß des Fahrers. Der krümmt sich künstlich und verzerrt das Gesicht: «Argh, Kastration!» Stepan antwortet aufreizend demütig: «Oh, Entschuldigung, das war die Folge eines konvulsivischen Zuckens in der Vorphase sanften Entschlummerns angesichts des bräsigen Tempos.» Auch er dreht sich zu mir um, Erfolgskontrolle. Und schon geht es weiter in diesem Ton, und er feixt mich an dabei: «Du weißt, daß du wegen solcher Indiskretionen wie die über den Schlaf von Matthias vors Standgericht kommen kannst?» «Was ihr euch unter Standgericht so vorstellt, kann ich mir ziemlich genau denken.» «He, keine Kollektivhaft», protestiert Tommy, «Diskriminierung auch von Mehrheiten schickt sich nicht in ner Demokratie, wie unsere Fahrgemeinschaft sie darstellt. Wir müssen den Leutchen heut abend doch ein gutes Beispiel bieten, die üben sonst noch jahrelang weiter. Und dir, Peppone, sei gesagt, daß von uns dreien in dieser Sache nur ich die Lizenz zum Phantasieren habe.» Sein Kontrollblick fährt an mir, seiner Sache, hinauf und hinunter, jetzt nicht rot werden, doch er lächelt, ehe seine Augen auf vernichtend-triumphierend schalten und von mir weg zu Makro wandern. Doch von dem kommt gar nichts außer einem schlecht getürkten Schnarchgeräusch: Mensch, seid ihr peinlich. Da brüllen die Lautsprecher wieder los, und dann dreht sich endlich, endlich der Schlüssel, und mit quietschenden Reifen hetzen wir zurück in den Verkehr. Haben sie das große gelbe U hinter uns jetzt abgeschaltet, oder ist inzwischen einfach der Regen zu dicht?
Ich schließe die Augen. Und als ich sie wieder aufmache, stehen wir erneut. Von vorne flucht es leise. Ein Blick auf die Uhr, bald zwei, ich muß an die drei Stunden geschlafen haben. «Biste wieder wach?» Er hat gesehen, daß ich ihn sehe, daß ich im Rückspiegel seine Augen suche. «Dann kann ich ja laut werden. Bis zu dieser Mistgrenze ist es mindestens noch ein Kilometer. Schön, daß ihr alle weggeratzt seid und mir die Drecksarbeit in diesem Pißwetter überlassen habt.» Ich schweige und schaue nur lange und dunkel. Tommy senkt den Blick und sagt nichts mehr, reicht mir dann die Karte nach hinten. «Wir stehen ja eh, sieh mal nach, wie wir später in die Stadt reinkommen.» Das könnte man zwar auch in aller Ruhe machen, wenn es hier wieder weitergeht, es gibt ja nur eine Richtung: ostwärts. Aber klar, meinem vorausplanenden Navigator geht es bereits um die Strecke ganz am Schluß, auch wenn das noch mindestens drei weitere Stunden hin ist. Also gut, schauen wir mal, wozu bin ich denn so häufig dagewesen? «Hinterm Übergang geht’s dann noch lange geradeaus, also nicht direkt raus, sonst müssen wir uns vom Rand reinwuseln, und glaub mir, im Südwesten der Insel gibt es nichts, was dir gefällt. Also weiter, und dann merkst du das schon: Erst kommt ne Menge Wald, und dahinter müssen wir auf die Stadtautobahn, aber weghalten vom Flughafen. Dann noch eine Ausfahrt weiterfahren, und wir kommen direkt auf dem Damm raus, zwei, drei Minuten bis zur Wohnung.» «Kann man da parken?» «Klar, Onkel Joachim steht immer direkt vor seiner Haustür. Die haben da nicht viele Autos. Wo sollen sie auch hin? Auf diesen Autoput? Nur die Freaks tun sich das an. Und die Prolls, die sich keinen Flieger leisten können.» «Groß genug ist es aber.» «Glaubst du! Alle, die ich kennengelernt habe, haben mir vom Rappel erzählt, von Leuten, die am Sonntag die Bahn bis zur Endstation nehmen und an die Mauer laufen, um ins Land sehen zu können. Wenn Onkel Joachim uns besucht, kommt immer derselbe Satz: Ich kann wieder atmen.» «Ich meinte, groß genug für Autos.» «Damit du noch schneller merkst, daß deine Welt ein Gefängnis ist?»
«Nun geht sie ja auf, die Welt», meckert’s von links neben mir. «Guten Morgen!» brüllt Tommy so laut, daß Stepan hochschreckt. Makro muß gerade von Öffnung reden. Sieht fast so aus, als schiebe er sich langsam durch Stoff und Plastik hindurch ins Dunkel des Kofferraums. Aber das würde ihm schlecht bekommen angesichts all der prall gepackten Sporttaschen, die Stepan mit unheimlichem logistischen Aufwand in die enge Höhlung eingepflanzt hat, eine Insemination der schlichteren Art, dabei hat er sich doch der Genetik verschrieben und nächtelang im Halb- und Vollrausch von der Abschaffung der klassischen Zeugung geschwärmt. Wie großspurig er daherkam auf den ersten Treffen, nachdem wir uns in alle Winde zerstreut hatten und es an den Wochenenden, wenn die Unis im ganzen Land die frisch Immatrikulierten, die Betriebe die Lehrlinge, die Kasernen die Eingezogenen und die Zivildienststellen die Verweigerer wieder ausspuckten, heimwärts ging, um übers Abitur hinaus Gemeinsamkeit zu simulieren, obwohl die Zwangsanstalt Gymnasium endlich hinter uns lag. Der Zufall, der uns erst in Klassen, später in Kursen zusammengeführt hatte, sollte krampfhaft auf Dauer gestellt werden, als ob es nichts anderes geben könne im Leben als Schulfreundschaft. Clique als Schicksal. Und nachdem sie dann doch zerfallen ist, Stück für Stück und Monat für Monat und sehr zu meinem Gefallen, sitzen wir jetzt hier, als hätte sich nichts geändert, und ich ärgere mich wie im Spätsommer vor zwei Jahren über die Arroganz von Stepan. Dagegen haben Tommy und Makro die Rollen getauscht, in jeder Beziehung. Die Empfindlichkeit des ersten ist wie eine ansteckende Krankheit auf den zweiten übergegangen, und plötzlich wirkt nun Tommy auf mich wie ein unerschütterliches Energiebündel. Aber wir wollen wohl immer Kraftbolzen in denen sehen, mit denen wir zusammen sind. Und Versager in denen, für die das nicht mehr gilt. Oder noch nicht. «Und niemand kann sie je wieder zuschließen», ätze ich also nach links zurück, um den Paßgang meiner Gedanken zu bremsen.
Sauer müßte ich auf den da vorne sein, der seine Ungeduld kaum mehr zügeln kann, den Motor aufheulen läßt, auch wenn sich der Wagen vor uns keinen Zentimeter bewegt hat. Aber nur ein scharfes Wort, und schon gilt man in seinen Augen als launisch, bösartig, schlimmstenfalls prämenstruell. «Nein, das kann niemand mehr.» Meine Güte, daß ich das noch mal erleben darf, Makro läßt sich auf ein Gespräch ein. Mit mir. «Die werden sich auch hüten. Sie mögen nie etwas von Kalkulation verstanden haben», Achtung, es droht eine Ausführung über volkswirtschaftliche Gesamtrechnung vom Experten mit Wahlfach Marketing, «aber sie wissen, daß sie niemanden mehr hinter den Beton zurückbekommen. Und Hilfe vom großen Bruder ist auch nicht zu erwarten, weil der noch ganz andere Probleme zu lösen hat. Den Familienzwist haben sie beim Geburtstag vor drei Monaten ja nun ausgetragen, und so muß nun eben der eineiige Zwilling den Karren aus dem Dreck ziehen.»
«Danke, Herr Doktor.» Stepan wendet sich zu uns um. Und er starrt nicht denjenigen an, der gerade die längste zusammenhängende Rede gehalten hat, an die ich mich erinnern kann, seit wir auseinander sind, sondern mich. Ich aber schaue angestrengt raus, um nur ja keine Gedanken aufkommen zu lassen, denn zumindest äußerlich sind Makro und ich plötzlich auch Zwillinge, wenn auch eindeutig zweieiige. Stepan fährt nun in seine Richtung fort: «Dein Referat weist nur einen logischen Fehler auf. Wir reden hier nicht von Bruderliebe oder Bruderzwist, sondern von Schizophrenie. Wenn jetzt diese Bewußtseinsspaltung geheilt wird, kommt dabei eine Persönlichkeit heraus, die sich wieder einem einzigen Ich widmen kann, und das ist eines, an das die Umgebung keine gute Erinnerung hat. Es sind alle ganz froh gewesen über die gestörte Persönlichkeit, und deshalb wurde der Wahnsinn eher noch gefördert. Ich glaube auch nicht, daß irgendwer Illusionen hat hinsichtlich einer abermaligen Schließung der Grenzen. Aber laß die Staatengemeinschaft noch ein Weilchen staunen, dann werden die schon sehen, ob man nicht doch zumindest ein bißchen von der bisherigen Schizophrenie bewahren kann, vielleicht mit etwas mehr Freigang oder unter niedrigerer Dosierung von Medikamenten. Doch bitte bloß nicht geheilt, sondern weiter geteilt. Wer weiß schon, ob sonst nicht sofort wieder die Randale losginge.»
«Klar, du Genie, und zwar einer gegen alle.» Das konnte Tommy ja nicht auf sich sitzen lassen, diesen Defätismus vom Nachbarsitz, ausgerechnet von dem Kerl, dem er vor Jahren, noch zu Schulzeiten, die Freundschaft einmal kurz aufgekündigt hatte, weil Stepan beim gemeinsamen Fernsehfinalsonntag Argentinien angefeuert hatte. Und jetzt, beim Spontanentschluß zum großen Treck nach Osten, ist es doch auch Stepan gewesen, der schon beim Losfahren geunkt hat, daß er sofort umdrehen werde, wenn ihm heute nacht zu viele gelöcherte Fahnen auf den Straßen begegnen sollten. Nun laß uns erst mal sehen, ob wir überhaupt in diese Straßen kommen, habe ich gedacht, denn mir wäre immer noch am liebsten, wir blieben einfach im altvertrauten Teil. Unterm Fernsehturm wird die Hölle los sein, hat Tommy gestern bereits jedem am Telefon vorgeschwärmt, erst Stepan, dann Makro und Karl, und wir mittendrin. Na danke sehr. Und ganz am Anfang der Tour, als er noch gute Laune hatte, weil bis Wuppertal alles flüssig gerollt ist, wurde von ihm immer wieder dieses Bild ausgemalt: wir mittendrin. Wie bei der Novemberrevolution, hat Stepan da irgendwann eingeworfen, aber das war beim guten Tommy gar nicht angekommen. In den Geschichts-LK hatte ihn nicht einmal die Treue zum Freundeskreis reinbringen können, der sich fast vollzählig darin versammelt hatte, um wenigstens eine gute Note sicher zu haben. Wehrdienst und jetzige Sparkassenlehre sind gewiß auch nicht dazu angetan, ihn für die Wälzerwelt zu begeistern, in der sich Stepan bewegt. Über Argentinien hatte Tommy seinerzeit nur gewußt, daß dort die Militärdiktatur doch gerade erst vorbei war, und das, so muß er gleich zweimal an jenem Sommersonntag geschrien haben, wie Makro mir unter Lachtränen berichtet hatte, zeige ja nur, daß Stepans historische Maßstäbe ein Witz seien, ob Zeit für den Geschichtler denn gar keine Rolle spiele, jeder halbwegs Vernünftige müsse doch dem Staat die Daumen drücken, der schon vierzig Jahre lang despotenfrei sei. Und dann war er aus dem Raum gerauscht, hatte im alten Kinderzimmer von Makro den kleinen Apparat eingeschaltet und das Spiel allein erduldet. Da hat er in Ruhe heulen können, spottete Makro damals, und seitdem galt Tommy mir als unerträglich sentimentaler Typ. Auch das hat sich im letzten halben Jahr umgekehrt, und wahrscheinlich fing das zwischen ihm und mir schon vorher an, als Makro plötzlich klammerte. Da schien der auf einmal unerträglich sentimental zu sein.
Mir war es lieb, daß Tost sich schließlich aufgespalten hat und es auch blieb. Denn die zweite Hälfte des Duos mag ich wirklich nicht. Und jetzt versuche ich aus den Falten von Tommys sonst babyglattem Gesicht abzulesen, wie tief bei ihm der Stachel des Zerwürfnisses mit Stepan übers Nationale noch sitzt. Tommy ist niedlich, wenn er sich aufregt, weil ihm dann alles Blut in die Birne rauscht, und rund um Mund, Augen und – das glaubt keine, die es nicht sieht – Ohren konzentrische Kreise entstehen, die sich je nach Ausmaß des Ärgers drei- oder vierfach ausbilden. Dieses Wunder habe ich leider erst durch eine Bemerkung von unserer Naturnervensäge schätzen gelernt, als Stepan auf einer der letzten großen Feten des Abschlußjahres im kleinen spätnächtlichen Matratzenkreis in schönster Ruhe der äußerst angeschickerten Runde erläuterte, daß Blutzufuhr in einem männlichen Körper, der nicht auf den Namen Tommy höre, gemeinhin nicht zur Faltung, sondern zur Straffung von Hautpartien führe, und auch wenn ich ihm nie verziehen habe, daß er ausgerechnet mich dabei anschaute, hatte diese kleine Gehässigkeit meinen Blick für Tommy geschärft, und so war es wohl tatsächlich dem blöden Biochemiker zu verdanken, daß das lange Lösungsverfahren von Makro eingeleitet wurde. Aber mehr als drei Ringe zähle ich heute nicht auf dem nach rechts gewandten Profil.
«Es geht übrigens weiter.» Das konnte ich mir jetzt nicht verkneifen, und Tommy latscht sofort aufs Gaspedal, schneller, als er den Kopf wieder nach vorne drehen kann, und schon steht er wieder auf der Bremse, so daß der Kadett einen kurzen Bocksprung macht und schätzungsweise einen Millimeter vor der Stoßstange des Autos vor uns zum Stehen kommt. «Verdammt noch mal!» Aber mehr als eine Wagenlänge ist da eben nicht gewesen. Seine Finger krampfen sich ums Lenkrad, wir sitzen alle kerzengerade, vorne aus dem Heckfenster grinst ein Kind. Stepan faßt sich als erster: «Tempobeschränkung hat doch auch was Schönes.» «Willste lieber selbst fahren? Hab nix dagegen, diese Scheißwarterei zu verpennen.» «So wie gerade?» Schwer verletztes Ego hinterm Steuer: «Glaubste, ich hab die Lage nicht im Blick?» Wenn du irgendwas im Blick haben solltest, Schatz, dann bin ich das, und ich sitze hinten. «Und du», da schaut er mich wirklich über den Rückspiegel an, «laß solche Scherze lieber. Wenn ich dem draufgefahren wär, hätten wir Silvester vergessen können.» «Nun mach mal keinen Wirbel, sie hatte doch recht, oder wolltest du warten, bis wir freie Bahn zur Grenzstation gehabt hätten? Dort hätte sich ein Unfall ja auch erst richtig gelohnt, nicht wahr? Mit anschließender Festnahme und Stasiknast für uns alle. Zu wahren Helden der Wende hätten wir werden können, als letzte Bundesbürger freigekauft aus den Kerkern des Sozialismus, weil wir das Recht auf freie Fahrt für freie Bürger mutig in den Unterdrückerstaat getragen haben.»
«Schwätzer», giftet Makro unter seinen verschränkten Armen hervor, und ich bin dankbar, weil er meinen schwitzenden und nunmehr krampfhaft konzentriert auf die Straße vor sich starrenden Tommy gegen diesen, ja: Schwätzer verteidigt. Womöglich dreht der empfindsame Biologe ja tatsächlich um, wenn heute nacht die amputierten Tücher flattern. Dafür allerdings müßten wir auch wirklich rüber, unter den Turm, wo Tommy unbedingt hin will, um dort das neue Jahrzehnt zu begrüßen, wo gerade erst ein ganzes Jahrhundert beerdigt wurde, wie es gestern im Radio hieß. Da war er eine Minute ganz still sitzen geblieben, hatte mich umarmt und gesagt: Komm mit, ich muß da hin, das verzeih ich mir sonst nie. Ich bin letzte Woche schon dageblieben, als sie das Tor aufgemacht haben, aber das ist die letzte Chance, in zwei deutschen Staaten zu feiern, mit zwei deutschen Völkern, denn jetzt wird alles ganz schnell gehen, nächstes Jahr ist alles wieder stinknormal. Und weil er so aufgewühlt war, wie ich ihn nie erlebt hatte, habe ich ja gesagt – ohne sicherzustellen, daß neben den zwei deutschen Völkern nur wir zwei zusammen feiern. Und schon war er am Telefon, um Stepan anzurufen, und danach, ich glaubte es nicht, klingelte er bei Makro an. Hätten die Kerle auch nur einen Funken Ehre im Leib, dann würden sie sich den jämmerlichen Triumph nicht gönnen oder nicht die Demütigung. Aber er war sich nicht zu fein zu fragen und Makro nicht stolz genug, um abzulehnen. Daß ich danach eine halbe Stunde kein Wort gesagt habe, hat Tommy nicht einmal gemerkt. Aber als ich mich dann doch beschwerte, lud er nicht etwa die anderen wieder aus, sondern verlängerte die Liste der Mitreisenden um Karl. Und damit um Simone. Die magst du doch, hieß es, als der Hörer zum dritten Mal aufgelegt wurde. Falls «die» als Mehrzahl gemeint gewesen sein sollte, könnte ich meinem Liebsten etwas über Karl erzählen. Verkniff ich mir aber.