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Andreas Platthaus

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Beschreibung

Im Herbst 1813 blickt ganz Europa nach Leipzig – voller Furcht, aber auch voller Hoffnung. An vier Tagen entscheidet sich hier, in der bisher größten Schlacht der Menschheitsgeschichte, das Schicksal des Kontinents: Napoleons Truppen, nach dem gescheiterten Ostfeldzug wiedererstarkt, treffen vor den Toren der Stadt auf die Koalition aus Preußen, Russland, Österreich, England und Schweden. Vom 16. bis zum 19. Oktober dauern die Kämpfe, die als «Völkerschlacht » in die Geschichte eingehen, mit sechshunderttausend Soldaten aus über einem Dutzend Nationen, neunzigtausend Toten und ungezählten zivilen Opfern. Zum 200. Jahrestag der Schlacht, dem Höhepunkt der Befreiungskriege, entwirft Andreas Platthaus ein eindringliches Panorama jener Tage zwischen Verheerung und Freudentaumel, dem Untergang der alten Welt und der Dämmerung einer neuen. Er schildert ihren Verlauf, zeigt, wie Herrscher und Strategen planten und agierten, aber auch, was Soldaten, Bauern und Leipziger Bürger erlebten, erlitten, erhofften. Schlaglichter fallen auf Kriegsgewinnler und politische Visionäre, auf Goethe und seine zwiespältige Bewunderung für Napoleon und auf dessen Glanz und Niedergang. Das atmosphärisch dichte Bild einer Epochenwende – der Geburtsstunde der modernen europäischen Staatenordnung.

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Seitenzahl: 627

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Andreas Platthaus

1813

Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Im Herbst 1813 blickt ganz Europa nach Leipzig – voller Furcht, aber auch voller Hoffnung. An vier Tagen entscheidet sich hier, in der bisher größten Schlacht der Menschheitsgeschichte, das Schicksal des Kontinents: Napoleons Truppen, nach dem gescheiterten Ostfeldzug wiedererstarkt, treffen vor den Toren der Stadt auf die Koalition aus Preußen, Russland, Österreich, England und Schweden. Vom 16. bis zum 19. Oktober dauern die Kämpfe, die als «Völkerschlacht» in die Geschichte eingehen, mit sechshunderttausend Soldaten aus über einem Dutzend Nationen, neunzigtausend Toten und ungezählten zivilen Opfern. Zum 200. Jahrestag der Schlacht, dem Höhepunkt der Befreiungskriege, entwirft Andreas Platthaus ein eindringliches Panorama jener Tage zwischen Verheerung und Freudentaumel, dem Untergang der alten Welt und der Dämmerung einer neuen. Er schildert ihren Verlauf, zeigt, wie Herrscher und Strategen planten und agierten, aber auch, was Soldaten, Bauern und Leipziger Bürger erlebten, erlitten, erhofften. Schlaglichter fallen auf Kriegsgewinnler und politische Visionäre, auf Goethe und seine zwiespältige Bewunderung für Napoleon und auf dessen Glanz und Niedergang. Das atmosphärisch dichte Bild einer Epochenwende – der Geburtsstunde der modernen europäischen Staatenordnung.

Über Andreas Platthaus

Andreas Platthaus, geboren 1966 in Aachen, hat Philosophie, Rhetorik und Geschichte studiert und ist Redakteur im Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Er lebt in Leipzig und Frankfurt am Main.

Inhaltsübersicht

1. Die Ankunft des Kriegsgottes: Napoleon in Leipzig2. Vier gegen einen: Die verbündeten Monarchen3. Der gute Mensch der Völkerschlacht? König Friedrich August von Sachsen4. Die Völker der Schlacht5. Tag 1 der Schlacht: Samstag, der 16. Oktober6. Die Siege des Hauses Brockhaus in der Völkerschlacht7. Tag 2 der Schlacht: Sonntag, der 17. Oktober8. Opium für die jetzige Zeit: Goethe und sein Kaiser9. Tag 3 der Schlacht: Montag, der 18. Oktober10. Rocketeers vor Leipzig: Der Durchbruch einer neuen Waffentechnik11. Tag 4 der Schlacht: Dienstag, der 19. Oktober12. Oktoberrestauration: Die Folgen der Völkerschlacht13. Schlachtenbummler: Vier Tage im Oktober, fast zweihundert Jahre späterLiteraturRegisterWidmungBildnachweisVogelansicht des Schlachtfeldes von Leipzig

1. Die Ankunft des Kriegsgottes: Napoleon in Leipzig

Wo Napoleon war, war der Krieg. Einen «Kriegsgott» hat ihn Clausewitz genannt, und einer seiner erbittertsten Gegner, der österreichische Erzherzog Carl, notierte rückblickend: «Bonaparte war seinen Zeitgenossen, was unseren Vorfahren der Teufel, und allen Völkern das böse Grundwesen: das Außerordentliche in Kraft, Geist und Verruchtheit.»[1] Der Kaiser der Franzosen war weit mehr als ein Herrscher, er war auch der Feldherr seines Landes und aller mit diesem verbündeten Truppen. Deshalb stand er selbst ständig im Zentrum der militärischen Auseinandersetzungen, mit denen er seit mehr als anderthalb Jahrzehnten den europäischen Kontinent in Atem hielt. Sein Stiefsohn Eugène de Beauharnais, der Vizekönig von Italien, erzählte Herzog Carl August von Sachsen-Weimar, dass Napoleon ihm einmal gesagt habe: «Es ennuyirt mich alles, und es ist mir nirgends wohl als wie im Kriege.» Das entsprach im Tenor einem Gespräch, das der Herzog selbst noch im April 1813 mit dem Kaiser der Franzosen in Eckartsberga geführt hatte. Darüber berichtete Carl August: «Als wir zusammen im Amthause in Eckbrg. angelangt waren, so nöthigte Er mich mit ihm in das für ihn bereitete zimmer zu gehen, wo 4 Spieltische mit Wachslichtern besezt standen; die tische stießen an einander. Er sezte sich an die eine breite Seite mit dem huth auf dem Kopfe u. hieß mir, ihm gegenüber, einen stuhl zu nehmen. Auf einmal fing Er an, a present je suis a mon aise, me voila dans mon ancienne existence! (Gegenwärtig fühle ich mich wohl, hier geht es mir wie früher!) ich besahe mir die vier weissen Wände, u. lächelte! Er frug mich warum? ich sagte, von da wo Ew. MM. her kommen ists doch hübscher! croyez moi, je ne suis bien que lorsque je me retrouve comme soldat, j’y suis accoutumé de ma jeunesse, a Paris chez moi, je m’ennuie.»[2] (Glauben Sie mir, ich fühle mich nur als Soldat wohl, hier werde ich an meine Jugend erinnert, zu Hause in Paris langweile ich mich.)

Dieser Soldatenkaiser kommandierte seine Armeen natürlich höchstpersönlich. Und wenn Napoleon am 8. Februar 1807 nach seinem Sieg bei Preußisch Eylau über Preußen und Russen angesichts der Leichenberge gesagt hatte: «Solch ein Anblick sollte jeden Herrscher dazu bewegen, den Frieden zu lieben und den Krieg zu hassen»[3], so vergaß er diese Erkenntnis bald wieder, wie ernst gemeint sie auch immer gewesen sein mag. Fünfzigtausend Mann hatten bei Preußisch Eylau den Tod gefunden, das größte einzelne Gemetzel in Napoleons Laufbahn als Feldherr – bis sechs Jahre später die Völkerschlacht kam und diese Zahl verdoppelte. Nie hat es in Deutschland mehr Tote in so kurzer Zeit gegeben, nicht in der Varusschlacht, nicht bei der Erstürmung Magdeburgs im Dreißigjährigen Krieg, nicht bei den Bombenangriffen auf Hamburg oder Dresden im Zweiten Weltkrieg. Die hunderttausend Toten, die nach den vier Tagen von Leipzig gezählt wurden, sind bis heute unerreicht geblieben.

Diesen Preis an Leben konnten die Bewohner von Leipzig noch nicht ahnen, aber dass ihnen eine beispiellose Schlacht bevorstand, das wussten sie, als Napoleon kurz vor Mittag des 14. Oktober 1813, einem Donnerstag, vor ihrer Stadt ankam. «So wenig wir von den Ereignissen wussten, die in unsrer Nähe vorfielen, so überzeugte uns doch seit Anfang dieses Monats die Unterbrechung der Communication von allen Seiten, und der Kanonendonner, den wir fast täglich nach mehreren Richtungen hin hörten, daß beträchtliche Armeecorps in unserer Nähe waren», berichtete die «Leipziger Zeitung» rückblickend in ihrer ersten Ausgabe nach der Völkerschlacht, die am 21. Oktober erschien.[4] Die Ankunft Napoleons fiel auf den Jahrestag der Schlacht von Jena und Auerstedt, den großen Triumph des Kaisers der Franzosen über die Preußen und Sachsen im Jahr 1806, und da man Napoleons Liebe zu historischen Bezügen kannte, fürchteten die Leipziger schon für diesen Tag das Schlimmste.

Seit Wochen war ihre Stadt zu einem Hauptstützpunkt der französischen Truppen ausgebaut geworden; die Größe Leipzigs erlaubte eine leichtere Versorgung großer Heermassen, zudem kreuzten sich hier wichtige Straßen, die als Aufmarsch- und Transportwege bedeutsam waren. Denn mehr noch als auf dem Nimbus des Kaisers, der in offener Schlacht unbesiegbar schien, oder dem innovativen Einsatz von Kavallerie und Artillerie sowie den legendären kaiserlichen Garden beruhte die napoleonische Kriegsführung auf der Geschwindigkeit der militärischen Operationen – ein Prinzip, das der General Bonaparte im italienischen Feldzug von 1796/97 erstmals vorgeführt hatte. Seine österreichischen Gegner konnten den Bewegungen dieser Armee kaum folgen, weil deren Anführer mit der alten Regel gebrochen hatte, den Nachschub im Tross mitzuführen, was das Vorankommen der Truppen extrem verlangsamte. Bonaparte organisierte die Versorgung seiner Armee völlig neu, indem er die benötigten Güter in den Gebieten requirieren ließ, die sie durchschritt. Das war zeitsparend und kostete auch weniger Geld. Zwar sollte eigentlich jede Zwangsablieferung kompensiert werden, aber die Bevölkerung bekam im Gegenzug nur Papiergeld der jungen französischen Republik, das einem schnellen Wertverfall unterlag, oder Schuldscheine, die gegen solches Geld einzulösen waren – wenn es nach dem Durchzug der Armee überhaupt noch die Möglichkeit dafür gab. Faktisch war das napoleonische Armeeversorgungssystem eine kaschierte Plünderung.

Dazu aber brauchte es ein möglichst dichtbesiedeltes Gebiet, und es ist kein Zufall, dass Bonaparte dieses Erfolgsrezept ausgerechnet im wohlhabenden und fruchtbaren Norditalien entwickelt hatte. In Spanien und Russland dagegen, beides Länder mit weit verstreuter Bevölkerung und klimatisch schwierigen Bedingungen für den Nahrungsanbau, war dieses Prinzip 1808 und 1812 kläglich gescheitert.[5] Napoleon hatte daraus gelernt und wollte nicht noch einmal in die Lage geraten, seine Armee nicht mehr versorgt zu sehen. Sachsen, eines der wirtschaftlich prosperierendsten Länder in Deutschland, und speziell die reiche Handelsstadt Leipzig waren deshalb das ideale Terrain für seine Kriegsführung. Hier schien es sogar möglich, die fast zweihunderttausend Soldaten, die er im Oktober 1813 zusammenzog, für mehrere Tage zu verköstigen und auf diese Weise den idealen Moment für den Beginn der Schlacht abzuwarten. Leipzig war in den Wochen zuvor zu einer improvisierten Festung umgebaut worden, mit Schanzen und Gräben vor den äußeren Stadttoren und mit Lazaretten, in die Tausende Verwundete gebracht wurden – die Opfer der seit Mitte August in Sachsen tobenden Kämpfe. Sie waren bislang nicht in der Nähe der Stadt ausgefochten worden. Nun signalisierte die Ankunft des Kaisers, dass es damit vorbei sein würde. Wo er war, war das Schlachtfeld.

 

Es war sein Lebensraum, vor allem aber sein Überlebensraum als Herrscher. Keine Abstammung und keine höhere Bestimmung, die den Verfügungen der Menschen entzogen waren, hatten ihm den Thron eingebracht – die französische Kaiserwürde war durch ein Plebiszit eingeführt worden, und Napoleon nannte sich deshalb auch nicht Kaiser von Frankreich, sondern Kaiser der Franzosen. Sie hatten ihm den Titel auf demokratische Weise (wie propagandistisch manipuliert die Abstimmung auch immer war) angetragen, wie es sich für eine Republik gehörte, die bizarrerweise auch unter dem neuen Monarchen formal aufrechterhalten werden sollte. Damit aber lebte Napoleon bei aller Selbstherrlichkeit unter dem Damoklesschwert der Volksgunst, und er war sich dessen bewusst. Als er am 26. Juni 1813 in Dresden den österreichischen Außenminister Metternich empfangen hatte, um in letzter Sekunde den Wechsel des Habsburgerreichs auf die Seite der Alliierten zu verhindern, war ihm mit Blick auf die gegen ihn verbündeten Monarchen ein Eingeständnis herausgerutscht, das in vier kurzen Sätzen das erzwungene Programm seiner Herrschaft enthielt: «Eure Majestäten, die auf dem Thron geboren sind, halten es aus, zwanzigmal geschlagen zu werden. Jedesmal kehren sie zurück in ihre Hauptstadt. Ich bin nur der Sohn des Glücks. Ich würde von dem Tag an nicht mehr regieren, an dem ich aufhörte, stark zu sein, an dem ich aufhörte, Respekt zu erheischen.»[6] Napoleon brauchte militärische Triumphe, um damit den Makel des Parvenüs auf dem Thron zu kaschieren. Tilgen konnte er ihn nicht in einer Zeit, die durchaus noch das Gottesgeschick akzeptierte, das die etablierten alten Monarchien zur Rechtfertigung ihrer Führungsrolle für sich in Anspruch nahmen. Also war der Kaiser der Franzosen zum Siegen verdammt, und zum Sieg braucht es den Krieg.

Kaiser comme il faut: Napoleon im Krönungsornat, gemalt um 1810 von François Gérard.

Doch zum Krieg gehören zwei. In den Wochen zuvor, seit der gewonnenen Schlacht von Dresden am 26. und 27. August, hatte Napoleon selbst nicht mehr im Feuer gestanden, obwohl es immer wieder blutige Gefechte gegeben hatte: im Erzgebirge, bei Dennewitz, bei Wartenberg. Sie alle gingen für die Franzosen verloren, nicht zuletzt, weil deren Heerführer nicht gewohnt waren, eigenständig das Kommando zu führen. Der Kaiser suchte deshalb eine Möglichkeit, endlich selbst wieder eine Schlacht zu kommandieren, während er an seinen Generalen zu verzweifeln begann. Er wusste um seinen Ruf als genialer Stratege, den auch der gescheiterte Russlandfeldzug vom vergangenen Jahr nicht zu zerstören vermocht hatte, schließlich war er selbst in keiner einzigen Feldschlacht unterlegen. Zudem konnte er zur Überraschung ganz Europas seitdem längst wieder neue Kräfte versammeln und war weniger als ein Vierteljahr nach dem verlustreichen Rückzug abermals zur Offensive übergegangen.

Dem Frühjahrsfeldzug, der in den Schlachten bei Großgörschen und Bautzen im Mai neue Siege der napoleonischen Armee über die verbündeten Russen und Preußen gebracht hatte, folgte ein zweieinhalbmonatiger Waffenstillstand vom 4. Juni bis zum 16. August 1813, während dessen beide Seiten ihre Kräfte neu sammelten und die Gegner Frankreichs durch den Kriegseintritt von Österreich verstärkt wurden. Doch nach dem Ende der Waffenruhe und der ersten großen Schlacht bei Dresden, die Napoleon für sich entscheiden konnte, wichen seine Gegner lieber aus, sobald ihnen der Kaiser persönlich an der Spitze seiner Truppen gegenüberstand, und so war er vor der Völkerschlacht wochenlang mit dem französischen Hauptheer durch Sachsen gezogen, ohne zu kämpfen. Der preußische Major Adolf von Thile schrieb am 6. September aus dem böhmischen Teplitz an seine Frau: «Napoleon ist diesmal genötigt, einen Krieg zu führen, an den er nicht gewöhnt ist, man vermeidet Hauptschlachten, in denen er ein großes Übergewicht hat; einzelne Korps werden ihm aufgerieben, und in dem ausgehungerten Sachsen marschiert er mit seinen Massen hin und her, ohne zu einem andern Resultat zu kommen, als das ihm der Mangel an Lebensmitteln bereitet. Auf diese Art kommen wir langsam, aber gewiß zum Ziel.»[7] Währenddessen sammelten die Alliierten im gut geschützten, aber direkt an Sachsen grenzenden Böhmen ihre Hauptstreitmacht.

Ende September zog von dort dann eine große Armee aus Russen, Preußen und Österreichern los. Sie nahm sich Zeit, um auf Leipzig vorzurücken, siebzehn Tage, sodass Napoleon unsicher war, ob die Stadt auch wirklich das Ziel ihres Vormarschs sein würde. Vorsorglich ließ er in der Handelsmetropole das Thomäsche Haus, üblicherweise das Domizil seines Verbündeten, des sächsischen Königs Friedrich August, für sich herrichten; seit September standen französische Soldaten dort permanent Wache. Doch am 4. Oktober waren sie abgezogen worden, «auch die hier schon eingetroffenen kaiserlichen Equipagen gingen wieder ab und nach der Gegend von Düben, wohin der Kaiser geeilt war. Man glaubte jetzt an Absichten auf Berlin und die Odergegenden und hielt die Elbfestungen für Stützpunkte der Franzosen im Rücken der Operationslinie.»[8] Die Bewohner Leipzigs glaubten, die akute Gefahr wäre vorbei. Die seit einigen Tagen in der Stadt stationierten französischen Truppen des Marschalls Marmont, den Napoleon zum Herzog von Ragusa erhoben hatte, zogen gleichfalls am 4. Oktober in Richtung Norden ab, und so hoffte man immer mehr, dass sich das Kriegsgeschehen tatsächlich dorthin verlagern würde, denn zwischen Leipzig und Berlin operierten zwei weitere feindliche Heeresgruppen, deren Bewegungen es für die Franzosen zu beobachten galt: die von Gebhard Leberecht von Blücher kommandierte Schlesische Armee und die unter Führung des schwedischen Kronprinzen Karl Johann stehende Nordarmee. Aber es gab vorerst keine größeren Kämpfe.

In den letzten Tagen vor der Völkerschlacht, vom 10. bis 14. Oktober, hatte Napoleon im Schloss von Düben, auf halber Strecke zwischen Leipzig und Wittenberg, Quartier genommen, um sich zu entscheiden, ob er weiterhin wie in den letzten Wochen versuchen sollte, die nördlich operierenden Gegner, die ihm konsequent aus dem Wege gingen, zu stellen oder eine Entscheidungsschlacht gegen die aus dem Süden anrückende Hauptmacht der Aliierten zu suchen. Die war am 12. Oktober auf der Höhe von Altenburg angelangt, nur noch einen Tagesmarsch von Leipzig entfernt. Napoleon entschied sich in der folgenden Nacht dafür, das Katz-und-Maus-Spiel zu beenden und alle seine Kräfte in und um Leipzig zusammenzuführen. Sein um sechs Uhr morgens am 13. Oktober in Düben an den Marschall Jacques Macdonald ausgegebener Armeebefehl, in dem er die bevorstehende Entscheidungsschlacht ankündigte, stellte lapidar fest: «Je crois que la bataille aura lieu le 15 ou le 16», die Schlacht werde vermutlich am 15. oder 16. stattfinden. Und nicht nur der voraussichtliche Tag der Schlacht, auch ihr Ort war bestimmt: «Le roi de Naples, avec 90.000 hommes course Leipsick contre l’armée autrechienne.» Napoleon interessierte sich weder dafür, dass der König von Neapel die neunzigtausend Mann gar nicht hatte, mit denen dieser Leipzig umringen sollte, um gegen die österreichische Armee Stellung zu nehmen, noch für die richtige Schreibweise einer Stadt, in der er sich auf seinen Feldzügen immerhin schon viermal aufgehalten hatte, zuletzt gleich zweimal im Juli 1813 während des Waffenstillstands. Ihn interessierte die Eignung dieser Stadt als Schlachtfeld.

 

Der Kaiser der Franzosen und die Bürger der Stadt kannten sich seit 1807, als Napoleon zum ersten Mal in Leipzig vorbeigekommen war. Das war am 23. Juli, auf der Rückreise aus Tilsit, wo Frankreich und Russland einen Vertrag abgeschlossen hatten, der Napoleon auf den Gipfel seiner Macht brachte. Mit dem Zaren streckte der letzte große kontinentale Gegenspieler seine Waffen; nur noch England verblieb im dauernden Kriegszustand mit Frankreich. Das seit der Schlacht bei Jena und Auerstedt durch die Anwesenheit französischer Truppen schwer belastete Sachsen versprach sich vom Tilsiter Frieden den Abzug der neuen Verbündeten, schließlich musste nun nicht mehr gegen Russland aufmarschiert werden. Entsprechend aufwendig bereitete sich Leipzig auf den Empfang jenes Mannes vor, der jetzt als Wunder seiner Zeit galt. Vor dem östlichen Zugang zur Stadt, dem Grimmaischen Tor, war ihm ein Triumphbogen errichtet worden, der Napoleon als «Wiederbringer des Glücks» willkommen hieß. Doch die schon für den Vorabend erwartete Ankunft fiel aus, das Empfangskomitee und die neugierigen Bürger wurden auf den frühen Morgen des 23. Juli vertröstet; dass der Kaiser dann allerdings bereits gegen fünf Uhr eintreffen würde, erwartete niemand. Immerhin war die französische Stadtbesatzung aufmerksam und empfing ihren Monarchen mit Salutschüssen, die zuverlässig die ganze Stadt weckten. Napoleon ließ dennoch nicht in Leipzig haltmachen, sondern nahm nach den bescheidenen Honneurs durch die eigenen Soldaten sein Frühstück lieber im nahen Markranstädt ein, wo er keinen Trubel befürchten musste. Die meisten Leipziger sahen sich somit nicht nur um das Objekt ihrer Neugierde gebracht, sondern auch um das Geld für den Triumphbogen und die vorbereitete Empfangszeremonie. Auf diese Weise konnte keine herzliche Beziehung zwischen Kaiser und Handelsstadt gestiftet werden. Und die nächste Visite erfolgte erst im Dezember 1812, als Napoleon noch vor den kläglichen Überresten der Grande Armée aus Russland kommend hier eine Pause machte. Da gab es keinen Grund zum Jubeln.

Erst beim dritten Aufenthalt des Kaisers in Leipzig am 14. Juli 1813, der ersten von zwei sommerlichen Visiten dieses Jahres, hatten die Leipziger Bürger dem Kaiser endlich einmal huldigen können (der nächste Besuch sollte schon elf Tage später erfolgen, diesmal aber inkognito, als Napoleon während des Waffenstillstands für einige Tage zu seiner Familie in Richtung Frankreich eilte, ehe er pünktlich zur Wiederaufnahme der Feindseligkeiten nach Sachsen zurückkehrte – «das war Napoleons berühmte Reise von Dresden bis Mainz, welche dieser Thierquäler in 36 Stunden zurücklegte, um dort eine Zusammenkunft mit seiner Gemahlin zu haben», wie sich ein offenbar tierliebender Pfarrer aus Großzschocher erregte[9]). Diese Ehrbezeugung entsprang freilich weniger der Bewunderung für Napoleon, vielmehr erhofften sich die Leipziger, auf diese Weise das ramponierte Verhältnis zu den französischen Truppen zu verbessern und insbesondere den Kaiser zur Aufhebung des seit knapp einem Monat geltenden Belagerungszustands bewegen zu können. Der in Leipzig als Stadtkommandant eingesetzte General Antoine-Joseph Bertrand hatte im Juni 1813 die seit drei Monaten geltenden Einschränkungen noch verschärft, obwohl kurz zuvor zwischen Frankreich, Russland und Preußen ein Waffenstillstand geschlossen worden war – und dieser Schritt wurde auf die Verärgerung Napoleons über die Handelsstadt zurückgeführt, die wiederholt gegen den Boykott englischer Waren verstoßen haben sollte: «Den Leipzigern ist des Kaisers Unwille angekündigt, eine Kontribution ausgeschrieben, alle Colonialwaren aufgezeichnet und die Stadt in Belagerungszustand erklärt», schrieb Major Otto August Rühle von Lilienstern damals an August Neidhardt von Gneisenau, den Generalquartiermeister der preußischen Armee.[10] Die entscheidende Passage in der Proklamation, die der Stadtrat auf Geheiß Bertrands am 20. Juni aushängen ließ, lautete: «Die Polizey in der Stadt und den Vorstädten wird militairisch, und ohne Concurrenz der Landesbehörden gehandhabt.» Also stand Leipzig unter Kriegsrecht.

Eine Delegation der Stadt, die am 3. Juli 1813 den Kaiser der Franzosen in seinem Dresdner Domizil, dem Palais Marcolini, aufgesucht hatte, war in der Tat noch auf einen ungnädigen Napoleon gestoßen. Das Leipziger Magistratsmitglied Johann Carl Gross wurde vom Kaiser angefahren: «Sie excerciren gar keine Polizei in Ihrer Stadt. Ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen. Man beleidigt mich bei Ihnen, man beleidigt meine Soldaten; man sieht meine Truppen missgünstig an. Denkt, was Ihr wollt; sagt es ganz laut, wenn der Feind dort ist; aber jetzt, wo meine Truppen im Lande sind, sich aufzuführen, das ist zu dumm, das ist zu dumm.»[11]

Napoleon wusste um die Bedeutung der Stadt als wichtiges Handelszentrum und deshalb auch als Basis aller Kriegsführung in Sachsen, weshalb er seine Truppen nach dem Sieg von Großgörschen am 2. Mai als Erstes nach Leipzig geführt hatte, um die Stadt wieder in Besitz zu nehmen. Dort hatte es zuvor ein fünfwöchiges alliiertes Intermezzo gegeben, denn die Truppen des französischen Stadtkommandanten Bertrand waren am 31. März 1813 abgezogen, als der Vormarsch der verbündeten Russen und Preußen durch Sachsen nicht mehr zu stoppen schien und Napoleon in Frankreich noch mit dem Wiederaufbau seiner im Russlandfeldzug vernichteten Armee beschäftigt war. Die damalige Begrüßung der feindlichen Soldaten als Befreier hatte den Kaiser der Franzosen nachhaltig verärgert, als er davon erfuhr. In Leipzig erwartete man begierig das baldige Einrücken der alliierten Truppen, weil das ein Ende der mittlerweile seit sieben Jahren herrschenden Kontrolle der Handelsgeschäfte durch die Franzosen verhieß. Allerdings freute man sich in Leipzig weniger auf die Soldaten des alten innerdeutschen Rivalen Preußen als auf die Russen, «und die schon seit dem Anfange des Jahres in den Zeitungen einzeln erschienenen Anzeigen von russischen Sprachlehrern, russischen Wörterbüchern und Anerbietungen zur Unterweisung in der russischen Sprache vermehrten sich mit jedem Tage (in der Zeitung vom 30. März befinden sich 15 Anzeigen von russischen Wörterbüchern und Sprachlehrern, Heiligenbildern und Portraits)».[12] Tatsächlich waren bereits am Abend des 31. März die ersten Kosaken vor Leipzig gesichtet worden, ein kleiner Trupp von zwanzig Mann, dem aber im Laufe der nächsten Tage immer mehr Kosaken und schließlich auch das Hauptquartier der alliierten Armee gefolgt waren, wobei deren Soldaten sich überwiegend in den Dörfern im Süden von Leipzig aufgehalten hatten und ihr Kommandeur Peter Graf zu Sayn-Wittgenstein mit seinem Stab nicht in Leipzig selbst, sondern in den benachbarten Dörfern Lindenau und Gohlis untergekommen war.[13]

Aber am 2. Mai waren die Alliierten schon wieder aus Leipzig vertrieben worden, am Tag von Napoleons Sieg bei Großgörschen. «Das Scharmuzieren rückte der Stadt immer näher. Die vereinigten Russen und Preußen vertheidigten sich nur in so weit, als es nöthig war, um ihren Rückzug nicht in eine wilde Flucht ausarten zu lassen. Hecken, Gräben und Bäume des Chausseedammes von Lindenau nach Leipzig boten dazu die beste Gelegenheit. Endlich ward das rannstädter Thor noch einige Zeit vertheidigt. Doch die Franzosen krochen auf dem Bauche näher, oder schlichen sich dicht an den Häusern weg, und in kurzer Zeit verließen die Combinirten die Stadt durch das grimma’sche Thor, von den Franzosen bis Paunsdorf verfolgt.»[14] Es entbehrt nicht der Ironie, dass kaum ein halbes Jahr später im Verlauf der Völkerschlacht das militärische Geschehen genau den entgegengesetzten Verlauf nehmen sollte: Nach dem verlorenen Kampf um Paunsdorf zogen die Franzosen über Lindenau wieder ab. Die Herrschaft über Leipzig wechselte im Laufe des Jahres 1813 also insgesamt viermal.

Und fast wäre es noch ein fünftes Mal passiert, denn am Pfingstmontag, dem 7. Juni 1813, war zur Überraschung der seit fünf Tagen wieder eingesetzten französischen Kommandantur unter General Bertrand morgens Alarm geschlagen worden, weil sich Kosaken der Stadt näherten. Gemäß dem erst wenige Tage zuvor abgeschlossenen Waffenstillstand zwischen Napoleon und den Alliierten war damit nicht zu rechnen gewesen, aber die häufig auf eigene Faust in Feindesland agierenden russischen Reitertrupps waren immer noch aktiv. «Es waren wirklich die Kosaken, die von dem Waffenstillstande noch keine Kunde erhalten hatten und nach ihrer Weise durch diesen Streifzug sich zu bereichern gedachten. Die Franzosen wurden gerettet durch Parlamentaire, die den Waffenstillstand den Kosaken kund thaten; aber namentlich bei Taucha und Schönefeld war hitzig gefochten worden und den Franzosen mancher Abbruch geschehen.»[15]

Solche russischen Einheiten, die den flüchtenden napoleonischen Truppen im Winter und Frühjahr bis nach Zentraleuropa gefolgt waren, operierten weiterhin im ganzen sächsischen Königreich und sorgten für Unruhe auch weit jenseits der eigentlichen Kriegsschauplätze. Aber gegen die meist beschränkte Zahl dieser Reitertupps genügte eine überschaubar große feste Besatzung in der leicht zu kontrollierenden Stadt. Es blieb den ganzen Sommer über friedlich in und um Leipzig, auch nachdem die Kampfhandlungen zwischen Napoleon und seinen Gegnern am 16. August wiederaufgenommen worden waren.

Umso überraschender für die an starke militärische Präsenz nicht mehr gewohnten Bürger war am 29. September die Ankunft eines fast zwanzigtausend Soldaten umfassenden französischen Korps gewesen, das Marschall Auguste-Frédéric-Louis Marmont von Meißen herangeführt hatte. Es wurde vollständig in der Innenstadt untergebracht, wodurch dort auf jeden Einwohner mehr als ein fremder Soldat kam. Ein so großes Truppenkontingent hatte Leipzig nicht mehr gesehen, seit vor sieben Jahren, am 18. Oktober 1806, nach Napoleons Sieg von Jena und Auerstedt der französische Marschall Davoust mit damals zweiundvierzigtausend Soldaten die Stadt besetzt hatte.[16]

Preußen und Sachsen erlebten ihr Waterloo bei Auerstedt und Jena: Napoleon auf dem Schlachtfeld am 14. Oktober 1806.

Die Marmontsche Streitmacht, die vor allem dazu gedacht war, gegen die bei der Verteidigung Berlins siegreich gebliebene Nordarmee der Alliierten Stellung zu beziehen, die sich in Richtung Sachsen bewegte, wurde in den folgenden Tagen noch durch württembergische Kavalleristen unter General Karl von Normann-Ehrenfels und französische Infanterie verstärkt. Der Pfarrer Ludwig Schlosser aus Großzschocher, einem Dorf von etwa tausend Einwohnern zwei Stunden südwestlich von Leipzig, berichtete über die Ankunft dieser Verstärkung: «Das härteste aber, was uns bis daher betroffen hat, war unstreitig das Feldlager, welches am Sonnabend gegen Abend, von dem 16ten Sonnt. p. trin. (der 3. Oktober 1813) vor unserem Dorfe, an 600 württemb. Reitern und 600 franz Fusknechte und viele Sannbauern, am Wällnerischen und Cichoriussischen Haus geschlagen wurde. Heu und Stroh, Holz und Säkke, Töpfe und Schüsseln, Schubkarren und Eimer, wurden genommen, wo sie waren.»[17] Großzschocher hatte allein am 6. Oktober tausendachthundert Pfund Brot, einen Ochsen, achthundert Rationen Hafer und vier Wagen Heu an die dort lagernden Truppe abzuliefern, am Folgetag kamen weitere Lieferungsverpflichtungen an die im nahegelegenen Dorf Lindenau lagernden Franzosen dazu, und so ging es bis zum 13. Oktober weiter, als sich Napoleons Truppen aus Großzschocher in Richtung Leipzig zurückzogen und das Dorf den anrückenden alliierten Streitkräften überließen, die dort kaum noch Verpflegung finden konnten. Die französische Armee hatte bewusst die Umgebung von Leipzig als Versorgungsbasis genutzt, um dann in der Stadt noch Vorräte zu haben.

Das Schema von Großzschocher wiederholte sich überall: «Die Anzahl der Truppen», schreibt Johann Adam Bergk in seiner im Jahr nach der Völkerschlacht durchgeführten Bestandsaufnahme der Dörfer um Leipzig, «nahm nunmehro von Tage zu Tage zu und seit dem 10. Oct. wurde sie immer größer. An Magazine war nicht zu denken; die Soldaten lebten von den Dörfern, wo sie bivouakierten oder vor denen sie vorbeizogen, und das Schicksal, das nunmehro diese traf, war über alle Beschreibung schrecklich. Die Einwohner wurden anfänglich bedrückt, dann gemißhandelt und endlich zur Flucht genöthigt. Zuerst holte man Lebensmittel und das Futter aus den Dörfern, dann trieb man das Vieh fort und trug alles Holzwerk in die Bivouaks, brach die Treppen ab, hob die Thüren aus und riß die Balken heraus; hierauf raubte man den Einwohnern ihre Kleider ihr Geld und alle Sachen von Werth, und endlich plünderte man sie gänzlich aus und ließ den Unglücklichen nichts weiter als die Augen zum Weinen.»[18]

Ähnlich weit entfernt von Leipzig wie Großzschocher war die südlich der Stadt gelegene Ortschaft Markkleeberg. Dort war bereits am 2. Oktober das von Napoleon zuvor in Spanien eingesetzte Armeekorps von Marschall Charles Pierre Augereau mit zehntausend Mann eingetroffen, und in den nächsten Tagen kamen weitere Truppen unter dem polnischen General Józef Poniatowski sowie dem König von Neapel im Süden von Leipzig an. Noch ehe der Kaiser der Franzosen von Düben kommend mit der Hauptstreitmacht dazustieß, standen die im Armeebefehl vom 13. Oktober erwähnten (allerdings deutlich weniger zahlreichen) Soldaten rund um Leipzig bereit, erkundeten tagelang das Gelände und sandten Depeschen mit ihren dabei gewonnenen Erkenntnissen zum Kaiser, der seinen Schlachtplan ausarbeitete. Napoleon schien mit der reichen Stadt als Versorgungszentrum, die seinen Truppen das Warten auf den Gegner leichtmachen würde, und dem von zahlreichen Wasserläufen geprägten Umland, das der anrückenden feindlichen Streitmacht den Vormarsch schwermachen würde, ein ideales Schlachtfeld gefunden zu haben.

Le roi de Naples, jener König von Neapel, dem Napoleons Anweisung aus Düben gegolten hatte, das war Marschall Joachim Murat, der 1767 geborene Mann von Napoleons Schwester Caroline Bonaparte, den der Kaiser wie alle seine engeren Familienangehörigen an die Spitze eines der französischen Satellitenstaaten gesetzt hatte. Seit 1808 amtierte Murat als König von Neapel, was allerdings für ihn nur ein Trostpreis war, nachdem die spanische Krone, die er sich durch die von ihm geleitete Einnahme Madrids erhofft hatte, an einen noch näheren kaiserlichen Verwandten, Napoleons älteren Bruder Joseph Bonaparte, gegangen war, der bis dahin in Neapel auf dem Thron gesessen hatte. Murat besaß aber als Heerführer das besondere Vertrauen Napoleons, und deshalb kommandierte er bis zur Ankunft des Kaisers die französischen Truppen südlich von Leipzig. Am 11. Oktober hatte er in der winzigen Ortschaft Wachau, die strategisch günstig auf einem der wenigen sanften Höhenzüge im Süden von Leipzig lag, sein Hauptquartier eingerichtet, um hier dem aus Böhmen anrückenden Gegner Paroli zu bieten. Dass dieses Heer jedoch zu schwach war, um es auf sich allein gestellt mit den mehr als hundertdreißigtausend alliierten Soldaten aufzunehmen, wusste Napoleon, deshalb brach er selbst mit seinen Truppen am frühen Morgen des 14. Oktober aus Düben nach Leipzig auf. Der amtliche Stadtgeschichtsschreiber Carl Große sammelte in den Jahrzehnten nach der Völkerschlacht Erinnerungen an die Ereignisse vom Oktober 1813 und hielt zu Napoleons Abmarsch gen Leipzig fest: «Es begann also von jetzt an ein rastloser Zug aller Truppen durch das Städtchen Düben gegen Leipzig, und die dortige Gegend wurde im eigentlichen Sinne des Wortes gänzlich zertreten. Nur auf der Straße von Eilenburg über Taucha währte der gewaltige Truppenzug des 14. Oct. vom Anbruche des Tages bis in die 4. Stunde des Nachmittags, obgleich Regiment an Regiment in der Breite der Heerstraße marschierte. Der Artilleriepark war ungeheuer zu nennen. Der Kaiser selbst verfolgte den Weg nach Leipzig auf der berliner Straße, gedrückt in die Ecke seines Wagens, wie immer, wenn ihn der Unmuth befallen hatte.»[19] Immerhin aber hatte Napoleon durch die massive Truppenbewegung die zahlenmäßige Unterlegenheit gegenüber den im Süden aufmarschierenden Verbündeten nun mehr als ausgeglichen. Und außerdem stand ihnen jetzt nicht länger nur Murat als Feldherr gegenüber, sondern der Kaiser der Franzosen selbst.

 

Trotzdem konnten die Leipziger am 14. Oktober noch hoffen, dass Napoleon weiterziehen und die Schlacht nicht unmittelbar vor oder gar in ihrer Stadt ausgetragen werden würde, denn der Kaiser nahm trotz des stürmischen Regenwetters an diesem Donnerstag zunächst kein festes Quartier, nachdem er mit seiner Garde schließlich am Morgen selbst in Düben aufgebrochen war und das vorausziehende Heer überholt hatte, um vor dem Gros der Armee am späten Vormittag in Leipzig anzukommen. Nach einer raschen Durchquerung der Stadt ließ er östlich von ihr an der Landstraße, die von Leipzig nach Dresden führte, ein provisorisches Lager errichten. In gebührendem (und vom Karree der Garde auch erzwungenem) Abstand sammelte sich eine stattliche Anzahl von Leipzigern, die trotz des nasskalten Wetters den berühmtesten Mann ihres Zeitalters bestaunten. Die Neugier der Stadtbewohner angesichts des sich nähernden Krieges hatte schon vier Tage zuvor einen Appell des königlich-sächsischen Polizei-Amts in Leipzig provoziert: «So wenig auch zu verkennen gewesen, daß der größere Theil des hiesigen Publicums bisher den zur Einhaltung der öffentlichen Ordnung getroffenen Anordnungen williges Gehör geliehen, so hat man doch wahrzunehmen gehabt, daß mehrere hiesige Einwohner unvorsichtig genug gewesen sind, bey der Annäherung kriegerischer Ereignisse sich außerhalb der Stadt und sogar in die Nähe der Truppen-Bewegungen zu begeben. Man findet sich daher veranlasst, nochmals daran zu erinnern, daß nur Ruhe und bescheidene Zurückgezogenheit bey allen dergleichen Vorfällen den Charakter eines friedlichen und vernünftigen Bürgers bezeichnen und ihm die Achtung des Militairs, sowie persönlich Sicherheit allein zu gewähren vermögen.»[20] Doch die Anwesenheit Napoleons setzte jeden Effekt eines solchen Aufrufs natürlich außer Kraft.

In den Tagen zuvor hatte unter den französischen Truppen noch häufiger das Gerücht die Runde gemacht, man sammele sich bei Leipzig lediglich, um dann in Richtung Südwesten nach Lützen vorzustoßen, in die Nähe des schon einmal mit Erfolg gewählten Schlachtfelds bei Großgörschen. Diese Annahme schien Napoleons um zwölf Uhr improvisierter Befehlsstand zu bestätigen. Es war zwar nicht unbedingt eine anheimelnde Umgebung – direkt gegenüber auf der anderen Seite der Chaussee befand sich das Hochgericht, also die Hinrichtungsstätte, die allerdings nicht mehr unmittelbar als Exekutionsplatz zu erkennen war, weil die französischen Soldaten das Galgengerüst in den Vortagen verfeuert hatten –, doch war dieser Standort ideal für den Fall, dass Napoleon weiterziehen wollte, weil er dann die Innenstadt gar nicht mehr hätte betreten müssen.

Zur gleichen Zeit, als der Kaiser sich den Reisestuhl neben der Straße aufstellen und die zur Planung seiner bevorstehenden Operationen dienenden Landkarten mit Nadeln auf einem Tisch feststecken ließ, war allerdings von Südosten her der Beginn einer heftigen Kanonade zu hören: Bei dem anderthalb Stunden entfernten Dorf Liebertwolkwitz waren Alliierte der Böhmischen Armee und Franzosen unter Murats Führung in ein erstes großes Gefecht eingetreten. Fortan konnte es wirklich keinen Zweifel mehr daran geben, dass Leipzig zum Schlachtfeld auserkoren war, vor allem, nachdem Karl Philipp Fürst zu Schwarzenberg, der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen, in seinem Hauptquartier in Altenburg schon zwei Stunden nach Napoleons Ankunft in Leipzig darüber informiert war.[21] Und auch der Kaiser der Franzosen wünschte endlich die Schlacht. Er ließ sich vom örtlichen Postmeister einen von dessen Postillionen schicken, um einen besonders Ortskundigen zu haben, der ihn während der bevorstehenden Kämpfe durch die Umgebung von Leipzig führen sollte. Dieser Postillion hieß Johann Gottfried Gabler. Er würde bis zum letzten Tag der Völkerschlacht in unmittelbarer Nähe Napoleons bleiben und seine Dienste so gut erledigen, dass Napoleon ihm noch nach seinem Rückzug aus Leipzig eine Belohnung schicken ließ. Gablers mehr als drei Jahrzehnte später aufgezeichneten Erinnerungen an die Zeit mit dem Kaiser machen dessen Bewegungen während der Kämpfe genau nachvollziehbar.

Der rasch etablierte provisorische Befehlsstand an der Dresdner Chaussee lag unmittelbar hinter der Einmündung der Landstraße von Grimma, die über Liebertwolkwitz führte. Hier kamen nun die Boten vom Ort des ersten Gefechts an, und es wäre auch die schnellste Verbindung gewesen, wenn Napoleon selbst noch in die dort entbrannten Kampfhandlungen hätte eingreifen wollen. Aber beide Seiten wussten, dass die jeweils gegnerischen Armeen noch nicht in voller Stärke eingetroffen waren, und Napoleon hatte sich bis zuletzt auch noch die Option offenhalten wollen, erst einmal die beiden aus dem Norden anrückenden alliierten Heeresteile anzugreifen, falls seine Gegner im Süden weiterhin mit dem Vorrücken gezögert hätten. Auch dafür war ein Verweilen des Kaisers am Rand der Stadt besser geeignet als ein Quartier in ihren Mauern. Deshalb ließ er gleichfalls seinen Offizieren durch eine Bekanntmachung des Stadtkommandanten Bertrand verbieten, während des Aufenthalts in Leipzig selbst zu wohnen.[22]

Und schließlich erwartete Napoleon ein Ereignis, von dem niemand sonst in der Stadt bislang wusste: die Ankunft des sächsischen Königs Friedrich August in Leipzig, den er samt dessen Frau Maria Amalie Auguste und Tochter Maria Augusta herbeibeordert hatte. Genau eine Woche zuvor waren beide Monarchen am selben Tag in der sächsischen Hauptstadt Dresden aufgebrochen, aber Napoleon, der keine Rücksicht auf die umständliche Reisedurchführung des zweiundsechzigjährigen Königs nahm, war diesem immer wieder vorausgeeilt und hatte Friedrich August schließlich am 10. Oktober kurzerhand in Eilenburg festes Quartier nehmen lassen, weil verstreute Kosakentrupps die Gegend durchstreiften und der Kaiser hoffte, etwas weiter nördlich Blüchers Schlesische Armee endlich angreifen zu können. Doch in Düben wartete er umsonst auf die Gelegenheit dazu, und als er dann Leipzig als Ort der Entscheidung bestimmte, sorgte er dafür, dass Friedrich August auch dort sein würde, um sich im Kampf der Loyalität der sächsischen Bevölkerung gewiss sein zu können. Im Frühjahr 1813, als Sachsens König vor den anrückenden Russen und Preußen (und nicht zuletzt auch vor dem Kaiser der Franzosen, wie dieser nur zu gut wusste) über Plauen, Regensburg und Linz nach Prag ins damals noch neutrale Österreich geflohen war, hatte Napoleon gesehen, wie verheerend sich die Abwesenheit des Königs auf die Moral in dessen Hauptstadt ausgewirkt hatte.

Die Bezauberung durch den dank seiner ununterbrochenen Siegeskette in ganz Europa bewunderten Kaiser war in Sachsen, mit dem Napoleon seit Dezember 1806 verbündet war, angesichts der ständigen Kontributionen schon bald der Ernüchterung gewichen. Das von ihm zum Königreich aufgewertete Land wurde ebenso systematisch als Waren- und Menschenlieferant für die Ambitionen des Kaisers der Franzosen benutzt wie alle anderen Länder in seinem Einflussbereich. In Sachsen war das vor allem 1809 spürbar gewesen, als das benachbarte Österreich wieder den Krieg gegen Frankreich probiert hatte (und gescheitert war), dann abermals 1812, als Napoleon den Feldzug gegen Russland vorbereitete, und schließlich im Frühjahr und Sommer 1813, als der Kaiser der Franzosen mehrere Monate in Dresden residierte, um den Krieg gegen die seit dem Februar verbündeten Russen und Preußen zu führen, denen sich später Österreich und Schweden anschlossen. Die 1807 nach Napoleons Willen erneuerte sächsisch-polnische Personalunion, die König Friedrich August den Titel eines Herzogs von Warschau beschert hatte, war im Februar 1813 zerbrochen, als russische Truppen in Polens Hauptstadt eingezogen waren und die dortige Regierung aufgelöst hatten. Damit war auch ein Pufferstaat weg, der Sachsen hätte beschützen sollen: Die noch folgenden Kampfhandlungen spielten sich in entscheidendem Maße dort ab; neben den insgesamt zwei Millionen Menschen, die 1813 in Friedrich Augusts Königreich lebten, hielten sich in jenem Jahr eine Million fremder Soldaten im Land auf. Das war nicht dazu geeignet, die Unterstützung der sächsischen Bevölkerung für die französische Sache weiter aufrechtzuerhalten. Die Beifallsbekundungen für die kurzfristig am 24. April in Dresden eingezogenen russischen und preußischen Monarchen hatten das bereits früh gezeigt, und als die französischen Truppen am 8. Mai wieder dorthin zurückgekehrt waren, hatte Napoleon schleunigst den sächsischen König aus dem neutralen Böhmen in die Hauptstadt zurückgerufen, um die Moral seiner Untertanen zu festigen. Nun sollte dasselbe Rezept auch in Leipzig helfen. Wichtig war aber nur die Anwesenheit, nicht die Mitwirkung des Monarchen.

 

Friedrich Augusts Kutsche traf vor Leipzig gegen drei Uhr nachmittags ein, und Napoleon, der in den Stunden des Wartens im stürmischen Wetter zahlreiche Botschaften empfangen und seinerseits diktiert, dauernd die Landkarten studiert und Gespräche mit seinem Stab geführt hatte, ging dem Gefährt ein Stück entgegen, um den König und die Königin zu begrüßen. Das war ein höflicher symbolischer Akt, um jenen Verbündeten zu ehren, auf dessen Herrschaftsgebiet sich seit zwei Monaten der Krieg hauptsächlich abspielte und dessen Untertanen den Großteil der Kosten dieses Konflikts tragen mussten. In der Stadt hatte Napoleon wieder das direkt am Marktplatz gelegene Thomäsche Haus als Unterkunft herrichten lassen, in dessen Beletage nun Friedrich August mit den Seinen einzog, während der Kaiser seine um vier Uhr nachmittags aus Düben eingetroffene Infanterie empfing. Sie war durchs nördliche Gerbertor in die Hallesche Vorstadt eingezogen und am Rand der Innenstadt entlangmarschiert, um Leipzig durchs Äußere Grimmaische Tor im Osten wieder zu verlassen, wo Napoleon auf sie wartete und das Defilee der Truppen abnahm. Am Abend endlich bezog er ganz in der Nähe seines ersten Haltepunkts, in der Vorstadt Reudnitz, ein festes Domizil im Sommerhaus einer Leipziger Bankiersfamilie, einem in seinen Ausmaßen vergleichsweise bescheidenen Gebäude, «die größten Marschälle des Kaiserreichs mußten hier, um den Kaiser zusammengedrängt, mit dem kleinsten Winkel zur Schlafstätte vorlieb nehmen».[23]

Napoleon selbst ließ auch das auf den Feldzügen eigens mitgeführte Mobiliar für längere kaiserliche Einquartierungen gar nicht erst aufstellen, sondern begnügte sich mit seinem Feldbett. Ihm stand keine ruhige Nacht bevor, denn der schon den ganzen Tag heftige Nordwestwind hatte sich am Abend zu einem Orkan entwickelt. Und noch weniger Ruhe fanden die Leipziger, die nun Gewissheit über ihr Schicksal hatten. Trotzdem glaubten nicht wenige immer noch an die Unüberwindbarkeit Napoleons und hielten der französischen Seite die Treue. Einer dieser nur wenige Tage später als «Napoleonsjünger» geschmähten Leipziger war der Spitalarzt Gottfried Wilhelm Becker, der ein einträgliches Bruchbandagengeschäft in der Innenstadt betrieb und sich daneben auch noch als literarischer und medizinischer Autor betätigte. Ihm verdanken wir das erste Buch über die Völkerschlacht, das er unter dem Pseudonym «*r, ein Augenzeuge» nur zehn Tage nach dem Ende der Kämpfe publizierte.[24] Darin ist von der Begeisterung für die französische Sache bereits nichts mehr zu spüren – Becker war ein routinierter Autor und wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Bezeichnenderweise trug seine schmale Schrift aber keinen heroischen Titel, sondern sie hieß «Leipzigs Schreckensszenen im September und Oktober 1813». Becker schrieb darin: «Was wir indessen am Ende des Septembers fürchteten – daß Leipzigs Gegend der Tummelplatz furchtbarer Heere seyn würde, daß sie die schrecklichsten Gefahren laufen könne – es sollte eintreffen, in vollem Maaße sollte uns das Elend zu Theil werden. Was wir wünschten – daß ein gütiger Gott diese Gefahren abwehren möchte! – ach es mußte uns versagt bleiben!»[25] Auf einen gütigen Gott war in der Tat nicht zu hoffen. Der Kriegsgott Mars schlief vor der Stadt.

2. Vier gegen einen: Die verbündeten Monarchen

Wer in den Jahren der ersten französischen Republik einen europäischen Thron bestieg, der erbte den Krieg, denn Frankreich galt als Feind aller Throne. Von den vier alliierten Mächten, deren Heere in der Völkerschlacht gegen Napoleon kämpfen sollten, wurden drei von Monarchen regiert, für die diese Regel galt: Kaiser Franz I. von Österreich war 1792 als Franz II. zum deutschen Kaiser gekrönt worden, König Friedrich Wilhelm III. kam 1797 auf den preußischen Thron, und Zar Alexander I. von Russland folgte 1801 seinem ermordeten Vater nach. Nur Karl XIII. von Schweden erhielt die Königswürde nach einem Putsch gegen seinen Bruder Gustav IV. Adolf erst 1809, als Napoleon sein Land schon als Kaiser von eigenen Gnaden regierte. Aber Karl war in Schweden auch nicht die treibende Kraft gegen Frankreich. Das war pikanterweise ein Franzose, der Kronprinz Karl Johann, und er hatte eine Rechnung mit seiner alten Heimat und vor allem deren Kaiser offen, als er 1810 von Karl XIII. adoptiert wurde.

Mit dem Kronprinzen von Schweden die Reihe der verbündeten Monarchen zu beginnen, ist ungewöhnlich, denn obwohl er die Politik der nordischen Macht bestimmte, war er 1813 doch noch kein regierender Fürst. Aber er führte das schwedische Expeditionsheer an, das in diesem März zur Unterstützung von Russland und Preußen im zu Schweden gehörenden Vorpommern gelandet war, und ihm wurde wenig später auch das Kommando über die Nordarmee zugesprochen, die aus seinen eigenen Soldaten sowie einem russischen und zwei preußischen Korps gebildet wurde. Sie sollte dafür sorgen, dass Napoleons Truppen nicht Berlin einnähmen, während der preußische König mit dem Hauptteil seiner Armee in Sachsen agierte. Mehr als dieser oder der Zar, geschweige denn Kaiser Franz, war Karl Johann damit tatsächlich Oberbefehlshaber einer Armee, denn auch wenn diese drei Monarchen formell an der Spitze ihrer Truppen standen, hatten sie ihre Befehlsgewalt doch aufgegeben; im Frühjahr 1813 war das Oberkommando von Zar und König zunächst dem russischen Generalfeldmarschall Kutusow, dem Helden des russischen Widerstands gegen Napoleon im Jahr zuvor, und nach dessen Tod im April dem russischen Generalleutnant Graf zu Sayn-Wittgenstein übertragen worden. Als die Frage des Kommandos der Alliierten durch den Beitritt Österreichs zum Bündnis im August neu geregelt werden musste, fiel die Wahl der nun drei Herrscher auf Fürst Schwarzenberg. Weil dieser jedoch zusammen mit den Monarchen bei der Hauptarmee blieb, hatten die beiden getrennt davon agierenden alliierten Armeeführer, Karl Johann und der preußische Feldmarschall Blücher, der die im Winter neu formierte Schlesische Armee befehligte, militärisch weitgehend freie Hand. Dadurch lag die Führung der alliierten Heere jeweils in den Händen von erfahrenen Militärs, und auf der Gegenseite stand ein Monarch an der Spitze der Armee, der den Kaisertitel vor allem seinem Feldherrngenie verdankte; die traditionelle Führungsrolle der regierenden Fürsten in der praktischen Kriegsführung hatte ausgespielt.

Der Rivale Napoleons: Aus dem französischen Marschall Bernadotte wurde 1810 der schwedische Kronprinz Karl Johann.

Der schwedische Kronprinz war eine der interessantesten und umstrittensten Persönlichkeiten nicht nur der Völkerschlacht, sondern der ganzen napoleonischen Epoche. Geboren wurde er am 26. Januar 1763 in der Auvergne als Graf Jean-Baptiste-Jules Bernadotte, und er war ein Adeliger, der sich als Soldat auf die Seite der Revolution schlug. In deren Armee wurde er zum Kriegshelden, hatte mit Napoleon in Italien gekämpft und machte noch früher als dieser politische Karriere, bewies dabei aber weniger Geschick. Als Botschafter Frankreichs in Wien etwa hatte er 1798 die dortige Bevölkerung durch das Hissen der Trikolore auf der Gesandtschaft so sehr gegen sich aufgebracht, dass er gegen alle diplomatischen Regelungen aus der österreichischen Hauptstadt verjagt wurde; im Jahr danach ernannte ihn das in Paris regierende Direktorium zum Kriegsminister, was seinen Talenten eher entsprach, doch auch das blieb eine Episode. Bernadotte fühlte sich am wohlsten als Armeeführer, zeichnete sich mehrfach in den erfolgreichen Feldzügen der Franzosen aus, bekam 1804 den Marschallstab verliehen und wurde Gouverneur des französisch besetzten Herzogtums Hannover.

Das brachte ihn zum ersten Mal in unmittelbaren Konflikt mit dem preußischen König, dessen Truppen 1801 mit französischer und russischer Billigung als Erste in dieses Stammland des englischen Königs Georg III. einmarschiert waren. Preußen hatte 1795 im Frieden von Basel alle linksrheinischen Gebiete an Frankreich abtreten müssen, von der Republik im Gegenzug aber in Aussicht gestellt bekommen, seine Gebietsverluste bald mit rechtsrheinischen Territorien kompensieren zu können. Der König spekulierte nun darauf, das hannoversche Gebiet annektieren zu dürfen, das zwischen seinen verbliebenen westdeutschen Besitzungen und Kernpreußen lag. Frankreich förderte diese Ambitionen, um Preußen in Konflikt mit England zu bringen, das sich gerade erst mit Russland überworfen hatte. Paris wie Petersburg streuten das Gerücht, eine Besetzung Hannovers vorzubereiten, um die deutsche Küstenlinie an der Nordsee für die Engländer zu sperren, und aus Angst, am Ende mit leeren Händen dazustehen, befahl Friedrich Wilhelm III. Ende März 1801 den Einmarsch. Sein Pech wollte es, dass unmittelbar zuvor Zar Paul I. ermordet worden war – inwieweit sich dessen Sohn und Thronfolger Alexander an der Tat beteiligte, ist bis heute unklar – und sich der neue Zar rasch wieder England zuwandte. Schon im November gab Friedrich Wilhelm die Besetzung Hannovers wieder auf. Zwei Jahre später marschierten dort stattdessen die Franzosen ein und machten damit die von Preußen erhoffte norddeutsche Neutralität gegenstandslos. Wenn Hannover französisch besetzt war, bestand keine Hoffnung darauf, die Nordhälfte des Reichs aus dem Krieg herauszuhalten, wie Preußen es versuchte. Aus der diplomatischen Blamage von 1801 war 1803 ein außenpolitisches Fiasko geworden.

Bernadotte als hannoverscher Gouverneur war fortan ein Stachel im Fleisch Preußens, und er exekutierte die Provokationsstrategie des Ersten Konsuls Bonaparte gegenüber England, indem er am 24. Oktober 1804 den englischen Geschäftsträger beim niedersächsischen Reichskreis aus dessen Residenz in der neutralen Hansestadt Hamburg entführen ließ. Nach der Kaiserkrönung Napoleons im Dezember 1804 erwartete man in Frankreich allgemein, dass Bernadotte, der als Gatte einer Schwägerin von Napoleons Bruder Joseph auch zur erweiterten Familie des neuen Alleinherrschers zählte, nun in die engste Führungsschicht aufrücken würde, doch seine Frau war früher mit Napoleon liiert gewesen[26], was für gewisse persönliche Spannungen zwischen Bernadotte und dem Kaiser sorgte. Wichtiger aber noch war die alte Rivalität zwischen beiden Männern auf militärischem Gebiet: Bernadotte hatte sich mit der diesbezüglichen Überlegenheit des sechs Jahre jüngeren Bonaparte schon während der gemeinsamen Feldzüge schwergetan. 1806 sollte er vom Kaiser auch nur mit dem Titel eines Fürsten von Pontecorvo ausgestattet werden, was in der Reihe der phantasievollen, hochtrabenden Ehrungen für die französischen Armeeführer wie eine Degradierung wirken musste.

Trotzdem hatte Bernadotte in den mit Frankreich verbündeten Rheinbundstaaten wichtige Kommandoaufgaben inne, gerade auch als Heerführer. Nachdem sich am 11. April 1805 Russland und England zur Dritten Koalition gegen Frankreich zusammengefunden hatten und der Krieg ausgebrochen war, war die von Bernadotte kommandierte Armee im Oktober durch das preußische Territorium Ansbach marschiert. Damit hatte der französische Befehlshaber die Neutralität Preußens verletzt, und das sah Friedrich Wilhelm III. als persönlichen Affront. Noch zwei Jahre später, dann als geschlagener und gedemütigter Gegner Frankreichs, sprach er in den Friedensverhandlungen von Tilsit Napoleon immer wieder auf Bernadottes Verhalten an, um das Unrecht zu beklagen, das ihm damals angetan worden war.[27] 1813, als sich Bernadotte längst vom französischen Feind zum schwedischen Verbündeten gewandelt hatte, durfte er daher weder vom preußischen König noch von der preußischen Armee große Sympathien erwarten. Das zeigt sich in den Berichten preußischer Teilnehmer an der Völkerschlacht überdeutlich.

Bernadotte galt als einer der erfahrensten Feldherrn seiner Zeit und genoss nicht zuletzt wegen seines Muts zu dreisten Aktionen, wenn sie strategisch notwendig waren, auch den entsprechenden Ruf. Im Februar 1808 befehligte er ein dänisch-französisches Heer im Krieg des damals mit Napoleon verbündeten Russlands gegen Schweden, als Zar Alexander I. das seit Jahrhunderten von Schweden beherrschte Finnland erobern und zugleich den letzten Verbündeten schwächen wollte, den England im Kampf gegen Frankreich in Nordeuropa noch besaß. Beides gelang, und angesichts dieser Niederlage stürzte das schwedische Militär am 13. März 1809 seinen König Gustav IV. Adolf. Nachfolger wurde dessen mit sechzig Jahren bereits betagter und kranker Onkel, der als Karl XIII. den Thron bestieg, aber kinderlos war. Auf Beschluss der schwedischen Reichsstände adoptierte er einen dänischen Prinzen, also ausgerechnet einen Exponenten der alten Rivalen um die Macht im Ostseeraum und überdies auch noch einen Mann, der im jüngsten Krieg auf der Gegenseite wichtige Kommandoaufgaben innegehabt hatte. Als der neue Kronprinz aber schon nach wenigen Monaten starb, trug das schwedische Militär ohne Absprache mit Reichsständen und König die vakante Würde einem weiteren früheren Kriegsgegner an: dem Grafen Bernadotte. Man hoffte dadurch auf französische Unterstützung im Bemühen um eine diplomatische Rückgewinnung Finnlands von Russland, und da Bernadottes verwandtschaftliche Beziehungen zu Napoleon bekannt waren, schickten sich Karl XIII. und die eigentlich zuständigen Reichsstände in die von ihnen unerwünschte Lösung – mit der Familie des Kaisers der Franzosen durfte man es sich nicht verderben. Bernadotte trat im Oktober 1810 zum lutherischen Glaubensbekenntnis über, nahm den Namen Karl Johann an und wurde wenige Wochen später vom König adoptiert.

Damit schien ein weiterer europäischer Staat ins französische Bündnissystem eingegliedert zu sein, doch zur Überraschung aller Beteiligten nahm der neue Kronprinz angesichts seines schwachen Adoptivvaters nicht nur mit Billigung der Armee sofort die politischen Geschicke seines Landes in die Hand, sondern sorgte auch für einen Ausgleich mit Russland, indem er keine Initiativen zur Rückgabe Finnlands unternahm, sondern stattdessen sein Auge auf Norwegen warf. Karl Johann begann nun jene Außenpolitik, die ihm in Europa den Ruf eines äußerst wankelmütigen Mannes einbringen sollte, die aber in der napoleonischen Ära gar nichts Besonderes war: Von 1810 an verhandelte er parallel mit Alexander I. und Napoleon, deren 1807 in Tilsit geschlossenes Bündnis bröckelte. Pro forma trat Schweden in den französischen Dauerkrieg mit England ein, hielt aber seine daraus resultierenden Zusagen nicht ein und erwarb sich so in London Freunde. Anfang 1812 hatte Napoleon die Geduld mit dem vermeintlichen Verbündeten verloren und ließ Vorpommern besetzen, den schwedischen Besitz in Deutschland, um die Durchsetzung der Kontinentalsperre zu garantieren, die hier immer wieder verletzt worden war. Die Empörung in Schweden war groß, und der Kronprinz schloss nun einen Bündnisvertrag mit dem Zaren ab – einen Monat vor dem Beginn von Napoleons Feldzug gegen Russland. Den nie aktiv geführten Krieg mit England beendete Schweden im Juli 1812, und damit stand das von einem gebürtigen Franzosen geführte Land endgültig gegen Napoleons Kaiserreich.[28] Zwar trat Schweden erst im Juni 1813 offiziell in den Krieg ein, als es sich der Allianz aus Russland, Preußen und England gegen Frankreich anschloss, doch ein erstes Armeekorps war schon am 26. März im vorpommerschen Stralsund gelandet und hatte von dort aus den Kampf der Alliierten auf deutschem Boden unterstützt.

Die dreißigtausend schwedischen Soldaten, die in Stralsund an Land gingen, erwiesen sich als keineswegs wankelmütig, ihrem Oberbefehlshaber jedoch hing dieser Vorwurf weiter an. Als sehr analytischer Staatsmann und Heerführer wirkte er auf seine preußischen und russischen Mitstreiter zögerlich, und manche unterstellten ihm Sympathien für die französische Heimat, die sich auf seine Kriegsführung ausgewirkt hätten. Doch Karl Johann witterte vor allem die Möglichkeit, als nunmehr adoptierter Angehöriger einer bedeutenden europäischen Königsfamilie und prominentester Franzose im Lager von Napoleons Gegnern nach dessen Niederlage selbst die französische Krone zu erlangen.[29] Der ehemalige Revolutionsgeneral rechnete indes nicht damit, dass die mit ihm nun verbündeten Monarchen es nach dem Sturz des Usurpators Napoleon bevorzugen würden, einen Vertreter des Hauses Bourbon auf den Thron zurückkehren zu lassen, anstatt ihm die Macht in Frankreich zu überlassen. Für sie war Bernadotte bloß ein weiterer Emporkömmling. Eine Krone bekam Karl Johann dennoch, wenn auch nur die schwedische. 1818 starb Karl XIII., und sein Adoptivsohn bestieg als Karl XIV. Johann den Thron. Bis heute wird Schweden von seinen Nachkommen regiert.

Während der Völkerschlacht spekulierte er aber noch auf den französischen Thron, und deshalb sollte er während der Kampfhandlungen eigene diplomatische Initiativen ergreifen, um sich als Vermittler zwischen beiden Seiten ins Spiel zu bringen. Seiner Entschlossenheit auf dem Schlachtfeld tat das entgegen allen späteren Gerüchten und Berichten keinen Abbruch. Karl Johann war lediglich bedächtig in seinem Vorgehen. Eine Niederlage im Feld hätte die Hoffnung auf die Macht in Frankreich zerstört, genauso wenig durfte er sich umgekehrt allzu sehr im unmittelbaren Kampf mit den Franzosen hervortun, weil ihm das in seiner ehemaligen Heimat verübelt worden wäre, die er regieren wollte. Die Nordarmee sollte dennoch eine wichtige Rolle in der Völkerschlacht spielen, als sie endlich vor Leipzig eingetroffen war, und die im Vergleich mit den anderen Alliierten niedrigen Opferzahlen in den Reihen der von Karl Johann befehligten Truppen sprechen eher für großes militärisches Geschick als für Feigheit, wie sie immer wieder kolportiert wurde.

Die von ihm selbst verkörperte Alternative zu Napoleons Politik hatte der Kronprinz im März 1813 vorgestellt, als er dem Kaiser in einem offenen Brief dessen Verstöße gegen das Völkerrecht und den Verrat an den französischen Idealen vorhielt, der unter den Alliierten natürlich sofort Furore machte und unzählige Male zu Propagandazwecken publiziert wurde. Dadurch wurde Karl Johann zu einem Hoffnungsträger, noch bevor er selbst überhaupt aus Schweden übergesetzt hatte. Als er dann eingetroffen war, wurde kurz danach der sommerliche Waffenstillstand mit Napoleon verabredet, sodass sein Feldherrnruhm noch nicht auf die Probe gestellt werden konnte. Im Schloss der Grafen von Hatzfeld im schlesischen Trachenberg traf er mit Zar Alexander und König Friedrich Wilhelm zusammen, um die künftige Strategie abzusprechen. Der Kronprinz drängte auf die Zusammenführung der russischen und preußischen Truppen mit den seinen, um von Berlin aus gegen Napoleon vorzugehen; der Oberbefehl über dieses vereinigte Heer sollte ihm zufallen. Seine Verhandlungspartner indes setzten auf den Beitritt Österreichs zur Allianz und plädierten für die Versammlung der Hauptstreitmacht in Böhmen, wodurch man den Krieg aus Preußen fernhalten und weiterhin auf Sachsen konzentrieren konnte. Da man Berlin aber nicht ohne Schutz lassen konnte, wurden ein russisches und zwei preußische Korps Karl Johanns Kommando unterstellt; damit war die Nordarmee geboren und zugleich der Anspruch des Kronprinzen auf die militärische Führungsrolle der Gesamtoperationen elegant vermieden. Denn Zar und König würden nun getrennt von ihm agieren, weil sie sich der Hauptarmee anschlossen, die gemeinsam mit den Österreichern gebildet wurde, nachdem Kaiser Franz I. tatsächlich in den Kampf gegen Napoleon eingetreten war. Auch wenn die Armeen selbständig operieren sollten, lag fortan das faktische Oberkommando in Böhmen: Drei Monarchen zählten mehr als ein Kronprinz.

 

Bernadotte war mit fünfzig Jahren der Älteste im alliierten Führungsquartett und auch erst in reiferem Alter an die Staatsspitze aufgestiegen. Dagegen wiesen der 1768 geborene Franz I., der mit vierundzwanzig den deutschen Kaiserthron bestiegen hatte, der zwei Jahre jüngere Friedrich Wilhelm III., der die preußische Krone mit siebenundzwanzig erlangt hatte, und der erst 1777 geborene Alexander I., der mit vierundzwanzig Zar geworden war, ähnliche Lebenswege auf. Alle drei waren sie in zweiter Generation Nachfolger der überragenden Herrscherpersönlichkeiten ihrer Dynastien im achtzehnten Jahrhundert, die sie auch jeweils als Kinder noch erlebt hatten: der Erzherzogin Maria Theresia von Österreich als Großmutter von Franz, Friedrichs des Großen von Preußen als Großonkel von Friedrich Wilhelm und der Zarin Katharina der Großen als Großmutter von Alexander. Alle drei beriefen sich auch auf das Vorbild dieser schon zu Lebzeiten legendären Monarchen und setzten sich bewusst von ihren Vätern ab, die jeweils keine langen Herrschaftsperioden erlebt hatten: Leopold II. war nach dem Tod seines älteren Bruders Joseph nur zwei Jahre lang deutscher Kaiser, Friedrich Wilhelm II. regierte immerhin zehn Jahre lang Preußen, Paul I. nicht einmal vier Jahre in Russland. Die Bemühungen, für ihre Staaten wieder an den alten Glanz von vor zwei Generationen anzuknüpfen, prägten das Handeln der drei alliierten Monarchen, während Bernadotte die Interessen eines Aufsteigers vertrat.

Die Lebenswege von Friedrich Wilhelm III. und Alexander I. kann man guten Gewissens zusammen resümieren, denn sie verband seit ihrer ersten Begegnung ein intensives Freundschaftsverhältnis, das im frühen neunzehnten Jahrhundert unter europäischen Fürsten keine Parallele kannte. Alexanders erste Auslandsreise als Zar hatte ihn Mitte Juni 1802, etwas mehr als ein Jahr nach seiner Inthronisierung, ins ostpreußische Memel zu dem sieben Jahre älteren preußischen König geführt, der damals noch keine fünf Jahre regierte. Eine Woche lang verbrachten die beiden jungen Herrscher in dieser Stadt zusammen, und nicht zuletzt Alexanders Bewunderung für Friedrich Wilhelms Frau Luise stiftete die Freundschaft zwischen den beiden Monarchen, die insofern überraschend leicht zustande kam, als man ja im Vorjahr noch ernste Konflikte über die preußische Besetzung Hannovers gehabt hatte. Aber für persönliche Nähe sorgten auch die Gemeinsamkeiten, die zwischen ihren beiden Ländern seit 1762 bestanden, dem vorletzten Jahr des Siebenjährigen Kriegs, als Russland nach dem Machtantritt von Katharina der Großen im entscheidenden Moment aus der Koalition gegen das schon fast besiegte Preußen Friedrichs II. ausgeschert war. So wie die beiden bewunderten Vorgänger schon gemeinsame Sache gemacht hatten, wollten es deren ehrgeizige Nachfolger nun wieder halten: «Jeden Morgen ritt der Zar neben dem König von Preußen aus; beide im Gespräch vertieft, auf der einen Seite der Enkel Katharinas II., auf der anderen der Großneffe Friedrichs II. Sie besprachen, während sie so im Sattel saßen, militärische und politische Fragen, die das Schicksal des Kontinents bestimmten. Sie taten, als wären sie die wahren Herrscher über die Weiten Mitteleuropas und nicht Bonaparte.»[30] Dazu kam die Bewunderung des Protestanten Friedrich Wilhelm für die tiefe Gläubigkeit des russischen Volks[31] und des streng religiösen Alexander. Diese auf Gottesvertrauen gründende Freundschaft zweier schwärmerischer Geister auf dem Thron hatte sich bis 1813 weiter gefestigt. Kurz vor der Völkerschlacht, am 11. Oktober, schrieb der Zar aus Chemnitz an den preußischen König, der noch unterwegs in den Westen von Sachsen war: «Ich erwarte mit größter Ungeduld den Augenblick, der mich mit Eurer Majestät wieder vereinigt, die bloße Freude, in ihrer Nähe zu sein, ist zu einer süßen Gewohnheit geworden.»[32]

Vor 1813 galt er als der Zauderer unter den europäischen Herrschern: König Friedrich Wilhelm III. von Preußen.

Der Draufgänger unter den Alliierten: Zar Alexander I. von Russland.

In den Jahren seit 1802 aber hatte die Freundschaft einige Prüfungen zu überstehen gehabt. Nach dem ersten Treffen war man noch ganz einig im Wunsch, gemeinsam im Osten Europas Frieden zu halten. Für das gemeinsame Interesse daran sorgten nicht zuletzt die in den drei polnischen Teilungen gewonnenen Gebiete. Erst 1795 war Polen endgültig zerschlagen worden, insbesondere in den zuletzt annektierten Territorien regte sich mitunter noch heftiger Widerstand gegen die neuen Verhältnisse – und in den französischen Revolutionären hatten die Polen vehemente Unterstützer ihres Strebens nach Wiedererlangung ihrer staatlichen Eigenständigkeit gefunden.

Die verteilten polnischen Gebiete schienen zwar zehn Jahre lang außerhalb der französischen Interessensphäre zu liegen, weshalb sich Russland und Preußen einigermaßen sicher fühlten, zumal für ganz Norddeutschland im Interesse Preußens 1795 Neutralität ausgehandelt worden war. Doch die war nun durch die napoleonische Besetzung Hannovers obsolet, und in den Folgejahren, vor allem 1805/06, als Österreich und Russland mit englischer Unterstützung gegen Frankreich Krieg führten, ließ sich Preußen auf immer neue Bündnisse mit beiden Seiten ein. So bestanden im Winter 1805/06 gleichzeitig Vereinbarungen mit Frankreich wie mit Russland über gegenseitigen Beistand: Am 5. November hatten sich Alexander, der auf dem Weg in den Krieg war, und Friedrich Wilhelm in Erneuerung ihrer alten Freundschaft am Grab von Friedrich dem Großen in der Potsdamer Garnisonkirche auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt, und so verpflichtete sich Preußen nun, Frankreich in Norddeutschland militärisch entgegenzutreten. Anfang Dezember rückte die Garnison in Berlin dann tatsächlich aus.

Pech nur, dass zwei Tage danach einige hundert Kilometer weiter südlich in Mähren die Schlacht von Austerlitz stattfand, in der Alexander mit seinen russischen Truppen besiegt wurde. Im Bemühen, den gerade erst aufs Spiel gesetzten Frieden mit Frankreich noch zu retten, ließ Friedrich Wilhelm Mitte Dezember 1805 seinen Außenminister Christian von Haugwitz in Schloss Schönbrunn in Wien mit Napoleon verhandeln. Resultat war ein Vertragsangebot, das die bisherige Neutralität Preußens in eine Allianz mit Frankreich verwandeln sollte. Die Belohnung bestand in Hannover, das Preußen nun dauerhaft und offiziell versprochen wurde, dafür sollte Friedrich Wilhelm das von Frankreich bereits 1795 de facto annektierte Herzogtum Kleve aufgeben.[33] Bei Unterzeichnung des Vertrags von Schönbrunn hätte der König gültige Bündnisse mit den Kriegsgegnern Russland und Frankreich gehabt, weshalb er zögerte, die Vereinbarung mit Napoleon abzuschließen. Er bat um Modifikationen der preußisch-französischen Allianzbedingungen, um Russland gegenüber nicht als Vertragsbrüchiger dazustehen. Doch Napoleon nutzte diese Verzögerung, um kurzerhand eine neue Vereinbarung aufzusetzen, den Vertrag von Paris vom 15. Februar 1806, in dem Preußen nicht nur zur Allianz mit Frankreich verpflichtet wurde, sondern auch noch seine Häfen für den englischen Handel zu sperren hatte. Ohne Hoffnung auf militärischen Beistand durch die geschlagenen Russen musste Friedrich Wilhelm annehmen – eine persönliche Demütigung, die es ihm im weiteren Verlauf des Jahres leichtmachen sollte, den aufgezwungenen Vertrag wieder zu brechen.

Zunächst aber betrieb er sein diplomatisches Ränkespiel weiter und ließ dem Zaren schon im März mitteilen, dass Preußens Allianz mit Frankreich sich nicht gegen Russland richten werde, und unterzeichnete am 1. Juli 1806 ein Geheimabkommen, in dem er Preußens Neutralität gegenüber Russland versicherte. Dieses Doppelspiel hätte sogar aufgehen können, wenn Napoleon und Alexander damals Frieden geschlossen hätten. Doch die entsprechenden Verhandlungen scheiterten, und so musste sich Preußen schließlich für eine der beiden Seiten entscheiden. Als Gerüchte laut wurden, der französische Kaiser befürworte eine Rückgabe Hannovers an die englische Krone, um die Dritte Koalition aufzusprengen, machte Preußen am 8. August 1806 mobil, und der König schrieb seinem Freund, dem Zaren, dass es keine faire Allianz mit dem treulosen Napoleon geben könne.



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