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Beschreibung

«Ein Luftballon zum Lesen. Feinste Lach-Delikatesse!» BILD Eine Frau die sich langweilt, ist zu allem fähig: Annabel hat seit Jahren denselben Mann und dieselbe Frisur. Sie ist einunddreißig und will endlich was erleben. An einem Sonntagmorgen reist sie nach Mallorca. Am Sonntagabend ist sie verliebt. Glaubt sie. Bis am Dienstag eine Konkurrentin auftaucht. Die ist dünn und liebt den Mann, den Annabel gerade verlassen will. Und das ändert natürlich alles! «Ildikó von Kürthy ist die Spezialistin für den schlauen Frauenroman.» Welt am Sonntag

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Ildikó von Kürthy

Freizeichen

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

«Ein Luftballon zum Lesen. Feinste Lach-Delikatesse!» BILD

 

Eine Frau die sich langweilt, ist zu allem fähig: Annabel hat seit Jahren denselben Mann und dieselbe Frisur. Sie ist einunddreißig und will endlich was erleben. An einem Sonntagmorgen reist sie nach Mallorca. Am Sonntagabend ist sie verliebt. Glaubt sie. Bis am Dienstag eine Konkurrentin auftaucht. Die ist dünn und liebt den Mann, den Annabel gerade verlassen will. Und das ändert natürlich alles!

 

«Ildikó von Kürthy ist die Spezialistin für den schlauen Frauenroman.» Welt am Sonntag

Vita

Ildikó von Kürthy ist freie Journalistin und lebt in Hamburg. Ihre Bestseller wurden mehr als fünf Millionen Mal gekauft und in 20 Sprachen übersetzt. Ihr Roman «Mondscheintarif» wurde fürs Kino verfilmt, «Freizeichen» und «Blaue Wunder» folgen.

 

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2009

Copyright © 2003 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung Abbildung: Jens Boldt

ISBN 978-3-644-20121-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Dieses E-Book ist nicht vollständig barrierefrei.

 

 

www.rowohlt.de

Für Sven ♥

«Ich kann nicht verhindern, dass ich älter werde, aber ich kann verhindern, dass ich mich dabei langweile»

Endlich habe ich genau das Problem, das ich immer haben wollte. Ich hatte wirklich nicht mehr damit gerechnet. Wahrscheinlich ist es mit attraktiven Problemen wie mit attraktiven Männern: Man begegnet ihnen durch Zufall und immer erst dann, wenn man die Hoffnung schon aufgegeben hat.

Und ich, ich hatte die Hoffnung aufgegeben. Gestern stand ich noch mit Übergepäck und Übergewicht am Hamburger Flughafen. Vor mir sieben Tage, die ich zum intensiven Bräunen und Nachdenken über die wesentlichen Störfaktoren meines Lebens nutzen wollte: meine Frisur, meine Figur, meine Beziehung.

Nicht, dass es an meinem Dasein wirklich was auszusetzen gegeben hätte. Alles so weit in Ordnung. Aber mit dem Leben ist es wie mit Jeans: Nur weil du die Marke gefunden hast, die gut sitzt und an den Hüften nicht unnötig aufträgt, heißt das nicht, dass du sie dein Leben lang tragen wirst. Ich hatte fünf Donna Karan-Jeans und seit Jahren den Haarschnitt und den Mann, die zu mir passten. Verdammt, es wurde Zeit, was Neues auszuprobieren, etwas zu wagen, Abenteuer zu erleben, statt nur von ihnen zu träumen. Wovon soll ich meinen Kindern eines Tages sonst erzählen? Mama hat keinen «Tatort» verpasst?

Manchmal reicht es einer Frau eben nicht, sich bernsteinfarbene Strähnchen färben zu lassen, um sich lebendig zu fühlen. Manchmal reicht es nicht, die Telefonrechnung nicht zu bezahlen, um das Leben für abenteuerlich zu halten. Und manchmal reicht es nicht, sich großmaschige Netzstrumpfhosen zu kaufen, um sich sexy zu finden. Nein, manchmal reicht das alles nicht.

Ich fasste den festen Vorsatz, meinem Lebensabend mehr Glanz zu verleihen. Meine Überlegung beim Kofferpacken: Ich kann nicht verhindern, dass ich älter werde – aber ich kann verhindern, dass ich mich dabei langweile. Ja, ich hatte mich lange genug damit begnügt, pinke Wimperntusche für eine wagemutige Abwechslung vom Alltag zu halten. Ich würde den Traum wahr machen – stellvertretend für alle von ihrer Beziehung und dem Fernsehprogramm am Samstagabend gelangweilten Frauen. Ich würde aufbrechen. Einfach gehen. Wortlos. Ohne mich umzudrehen. Allein. In ein fernes Land. Mutig. Stolz.

Ich fühlte mich wie ein Pionier, der seine Wasserflasche füllt, seine Decke zusammenrollt und losreitet, um den Wilden Westen Amerikas zu erschließen. Ich griff nach Nagelhautentferner und Slipeinlagen und schloss entschlossen meinen Koffer. Sieben Tage Mallorca im Haus meiner großartigen Tante Gesa Matuschke lagen vor mir. Und jetzt sind erst vierundzwanzig Stunden davon vorbei, und schon ist nichts mehr so, wie es war.

Ich liege mit meinen hochkarätigen Sorgen am Pool und beneide mich selbst. Manchmal säuselt der Wind in den Palmen, als würde ein Liebhaber heiser meinen Namen hauchen. Häh? Als würde ein Liebhaber heiser meinen Namen hauchen? Geht’s noch? Spinn ich, oder was? Ach, ich kann nichts dafür, eine Frau empfindet einfach jedes Geräusch als Liebeserklärung. Vorausgesetzt, sie hat mit einem derartig luxuriösen Problem zu kämpfen wie ich.

Denn ich bin eine Frau, die sich nicht entscheiden kann! Ich habe nicht nur die schwere Wahl zwischen Sonnenschutzfaktor acht und zwölf, zwischen Liegestuhl oder Luftmatratze, zwischen Wasser mit oder ohne Kohlensäure. Nein, ich habe die Wahl zwischen zwei Männern! Ich möchte das noch einige Male wiederholen, um dieses Hochgefühl auszukosten. Es handelt sich hier um einen Satz, den sonst nur glutäugige Schauspielerinnen mit guten Figuren in schlechten Filmen sagen dürfen:

Ich kann mich zwischen zwei Männern nicht entscheiden.

Ich kann mich zwischen zwei Männern nicht entscheiden.

Was für eine wundervolle Ruhe, was für eine reife Freude mich bei diesem Gedanken überkommt. Ja, ich würde sagen, ich habe mich in den letzten zwölf Stunden in die Liga der superlässigen Frauen hochgespielt, die Sachen sagen wie: «Ich bin zum dritten und sicherlich nicht zum letzten Mal verheiratet.» – «Ich bin reich, also muss ich nicht mehr schlank sein.» – Oder eben: «Ich kann mich zwischen zwei Männern nicht …»

«Schätzchen, du hast ganz schön zugenommen.»

Hä? Was? Reife Freude weicht millisekundenschnell hektischer Scham, die sich in unkoordiniertem Zupfen am Bikinihöschen äußert.

«Äh, ja, stimmt. Ich habe vor vier Monaten aufgehört zu rauchen. Weißt du, Gesa, da nimmt man ganz automatisch zu, weil sich der Stoffwechsel verlangsamt, da kann man praktisch gar nichts dafür, aber das soll sich nach einem Jahr wohl wieder normalisieren.»

«Quatsch. Was man in deinem Alter zunimmt, dass nimmt man nicht mehr ab. Du bist doch jetzt schon über dreißig, oder? Siehst du. Was für eine blödsinnige Idee, mit dem Rauchen aufzuhören. Jetzt entscheidet sich, welche Figur du in zehn Jahren haben wirst. Ist dein Freund wenigstens auch moppelig?»

«Äh, nein, eigentlich nicht. Du, ich geh kurz ins Haus, ich habe ein Sandkorn hinter meiner Kontaktlinse. Bin gleich wieder da.»

Moppelig? Moppelig! Also ehrlich, das hat noch nie jemand über mich gesagt. Wenn ich meine Freundin Mona frage, ob man denn schon sehen könne, dass ich zugenommen habe, sagt sie immer: «Vielleicht ein bisschen, aber das verteilt sich bei dir gut.» Und wenn sie mich fragt, ob sie zugenommen hat, dann sage ich immer: «Vielleicht ein bisschen, aber das verteilt sich bei dir gut.» Was nicht so ganz stimmt, weil Mona grundsätzlich nur an der unteren Körperhälfte zulegt. Das heißt, dass an schlechten Tagen ihre schmalen Schultern nur halb so breit sind wie ihre ausladenden Hüften. Sie sieht dann ein wenig so aus wie diese Figürchen, die eine Klingel im Bauch haben und sich immer wieder aufrichten, egal, wie man sie hinlegt. Aber das würde ich ihr natürlich nie sagen.

So machen das Freundinnen untereinander. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Denn erstens will man die andere nicht kränken, und zweitens will man unter keinen Umständen, dass die andere abnimmt und dadurch das Fortbestehen der Freundschaft gefährdet. Kann es eine innige Beziehung zwischen zwei Frauen geben, von denen eine keine Figurprobleme hat? Die Antwort ist natürlich NEIN. Wobei schon die Frage rein rhetorisch zu verstehen ist: Es gibt keine Frauen, die keine Figurprobleme haben.

Tante Gesa hat mich im Gästehaus einquartiert, mit Blick aufs Meer und einem großen Spiegel im Badezimmer, vor dem ich mich gerade detailliert begutachte. Moppelig? Das erscheint mir doch arg übertrieben. Natürlich gehen dreieinhalb Kilo nicht spurlos an einem vorüber. Ich würde sagen, etwa fünfhundert Gramm davon haben sich in meinem Bauchgewebe niedergelassen, zwei Kilo auf Hüften und Po, und der Rest bereichert meine Oberschenkel. Ben sagt immer, er liebe jedes Pfund an mir, und ich sähe sehr gesund aus. Kurz überlege ich, mich für ihn zu entscheiden. Letztens allerdings, als ich ihn im Freibad bat, mir Rücken und Beine einzucremen, sagte er: «Bei dir hat man damit ja jedes Jahr mehr zu tun.» Ich musste leider lachen. Aber ins Wasser bin ich an diesem Tag nicht mehr gegangen.

Ich gehe zurück zum Pool und beschließe, meine dreieinhalb Kilo Nachschlag mit Würde zu tragen. Ich meine, schließlich habe ich zwei Männer zur Auswahl, und ich könnte wetten, dass beide nicht ausschließlich an meinen inneren Werten interessiert sind. Zumal mich der eine fast nur von außen kennt und der andere mich eindeutig trotz meines Charakters liebt – und das seit viereinhalb Jahren. Das ist Ben.

 

Ben ist siebenunddreißig und Computer-Spezialist. Mir ist klar, dass man nach viereinhalb Jahren keine erotischen Phantasien mehr bekommt, wenn man die Boxershorts des Lebensgefährten vom Wäscheständer nimmt.

Der andere heißt Robin, und ihn kenne ich erst seit vierundzwanzig Stunden. Und mir ist auch klar, dass man nach so kurzer Zeit geistig unzurechnungsfähig ist, keine weit reichenden Entscheidungen treffen sollte und sogar der Anblick eines Garagentores heftigstes sexuelles Verlangen auslösen kann.

Ich sollte versuchen, einen klaren Kopf zu behalten, die Geschehnisse des vergangenen Tages aufzuarbeiten, sachlich zu bewerten und dann einen Reaktionsplan zu entwerfen. Für derlei konzentriertes Nachdenken scheint die rote Luftmatratze, die neckischerweise einem Handy nachempfunden ist, der passende Arbeitsplatz zu sein.

Ich hieve meinen Körper, dessen Gewicht ich nicht einmal unter schlimmster Folter verraten würde, auf die Matratze. Ich habe nämlich, das hat mir ein Arzt bestätigt, schwere Knochen, und die reine Kilozahl erweckt da einen ganz falschen Eindruck. Ich schließe die Augen. Maximale Sachlichkeit, darauf kommt es jetzt an. Es wundert mich nicht wirklich, dass ich keinen einzigen klaren Gedanken fassen kann. Weil mir sofort dieser ganz unglaubliche Kuss in den Sinn kommt. Schon die Erinnerung an ihn ist so wuchtig, dass es mich fast vom Gummihandy haut.

Zugegeben, erste Küsse sind meist sehr aufregend. In jedem Fall viel aufregender als zum Beispiel der erste Sex. Was schlicht daran liegt, dass man beim Küssen weniger falsch machen kann. Man hat es schließlich nur mit einer lokal sehr begrenzten erotischen Zone zu tun: Lippen und Zunge. Andererseits ist es verblüffend, was auf so kleinem Raum doch alles schief gehen kann. Wir alle kennen sie doch, die Übereifrigen, die es darauf anlegen, einem mit der Zunge das Zäpfchen zu kraulen. Oder jene, die es für erotisch halten, beim Küssen in möglichst wenig Zeit möglichst viel Speichel von A nach B zu transportieren. Blöd auch, wenn in Folge von Ekstase die Schneidezähne aufeinander krachen oder man nicht mehr genug Zeit hatte zu schlucken und einem dann die Speisereste aus der Backentasche rausgeknutscht werden. Igitt. Genug davon.

Nüchtern betrachtet war gestern der bisher aufregendste Tag meines Lebens, der mir nicht nur Dauerherzrasen und Dauergrinsen beschert hat, sondern auch vorübergehend einen neuen Vornamen. Aber der Reihe nach. Denn der Anfang war alles andere als erfreulich.

«Will heißen: eher wenig Busen bei eher breitem Kreuz»

Es ist Montagmorgen, und ich stehe am Flughafen von Palma de Mallorca. Ich bin seit neuestem einunddreißig, stecke in einer alles entscheidenden Lebenskrise, und als sei das nicht schon schlimm genug, habe ich, Annabel Leonhard, auch noch meinen verdammten Koffer verloren. In einem dicken Strickpullover warte ich vor einem leeren Gepäckband auf einen Koffer, der nicht kommt und der immerhin zwanzig Euro Gebühr für sechs Kilo Übergepäck gekostet hat. Ich bin noch niemals ohne Übergepäck verreist. Ich bin nicht dazu in der Lage, mich auf das Nötigste zu beschränken. Und das in jeder Hinsicht.

Langsam frage ich mich, warum sich das bescheuerte Band überhaupt noch dreht. Wahrscheinlich, um mich zu verhöhnen. Wahrscheinlich, um mir klar zu machen, dass mein Plan gescheitert und mein kühnes Vorhaben schon im Keim erstickt ist. Dieses Gepäckband, das meinen Koffer nicht hergeben will, sagt mir, dass ich mein Leben nicht verändern kann. Mein Leben verändert sich ganz von selbst. Ich bin bloß Zuschauer. Ich darf nehmen, was kommt. Was nicht kommt, ist mein Koffer.

«Phuket.»

«Wie, Phuket?»

«Ihr Koffer ist versehentlich in Thailand gelandet.»

«Wann wird er denn hier sein?»

«Keine Ahnung. Rufen Sie morgen diese Nummer an.»

Im Gegensatz zu mir ist der Flughafenangestellte die Ruhe selbst. Kein Wunder. Er befindet sich ja auch nicht in einem fremden Land ohne Bikini und ohne Nachtcreme. Den abenteuerlichen Aufbruch in mein neues Leben hatte ich mir total anders vorgestellt. Ich bin enttäuscht, werfe dem Mann einen vernichtenden Blick zu, versuche die Ankunftshalle möglichst würdevoll zu verlassen und mir dabei einzureden, der Verlust meines Koffers sei im Grunde eine Art Befreiung von alten Fesseln und ein außerordentlich positives Signal für meine geplante Runderneuerung. Allerdings löst das nicht die Frage, wie ich ohne meine Augenbrauenpinzette und mein Handy-Ladegerät zurechtkommen soll.

Ich steige in ein Taxi und spüre nichts. Keine Vision, kein spirituelles Erlebnis. Nichts dergleichen. Ein trostloser Moment mit trostlosen Aussichten. Ich betrachte nachdenklich den spärlich behaarten Hinterkopf meines mallorquinischen Taxifahrers. Was ihm obendrauf an Haar fehlt, kommt ihm umso mehr aus den Ohren gesprossen. Kein schöner Anblick. Ich schaue lieber raus. Jetzt, Mitte September, ist die Insel schon reichlich vertrocknet. Die Farben sind verblasst, so wie auf einer alten Fotografie. «Wie mein Leben», denke ich in einem gewagten poetischen Anfall.

 

Ich meine, ich hatte mich selbst und mein Leben nie für etwas Besonderes gehalten. Eher für ziemlich normal. Immer, wenn ich meinen Lebenslauf irgendwo abgeben musste, habe ich mich ein bisschen geschämt, weil er bloß so kurz war. Habe mir dann immer imposante Hobbys wie Paragliding und Hochseefischen und Kafkalesen ausgedacht, um wenigstens eine halbe DIN-A4-Seite zu füllen.

Vieles an mir ist relativ unauffällig. Ben findet mich zwar neurotisch, aber alle Männer finden alle Frauen neurotisch. Ist also auch nichts Besonderes und wahrscheinlich von ihm nur nett gemeint.

«Annabel, jetzt spinnst du völlig», sagt er zum Beispiel immer, wenn ich mit meiner riesengroßen Gucci-Tüte zum Shoppen gehe. Meiner Erfahrung nach werden Frauen, die riesengroße Gucci-Tüten bei sich tragen, besonders zuvorkommend behandelt. Ist doch klar, die Verkäuferinnen denken, man sei reich und in allerbester Kauflaune und brauche vielleicht jetzt noch formschöne Schuhe oder einen passenden Seidenschal zu diesem riesengroßen, mit Seidenpapier bedeckten Kleidungsstück in der Tüte. Sie können ja nicht wissen, dass mir meine schweinereiche Freundin Steffi die Gucci-Tüte freundlicherweise überlassen hat und dass ich darin einen uralten Regenmantel spazieren trage. Ben, wie gesagt, hält mich wegen solcher einkaufsstrategisch sehr vernünftigen Verhaltensweisen für bekloppt. Und ich empfinde das als Kompliment, weil ich schon ganz gerne ein wenig weniger normal wäre. Bin ich aber nicht.

Ich bin durchschnittlich groß und habe feines Haar, das mir, wenn ich es nicht mit fünf großen Portionen Schaumfestiger garniere, um meinen Kopf herumfliegt wie Entendaunen. Ich muss ständig auf Toilette, lasse immer irgendwo was liegen, finde meinen Autoschlüssel eher nicht und trage die ungünstige BH-Größe 80A. Will heißen: eher wenig Busen bei eher breitem Kreuz. Ich habe vor sechs Monaten aufgehört zu rauchen, was mir besagte dreieinhalb zusätzliche Kilo und acht Prozent mehr Körperfettanteil beschert hat. Ich bin unverheiratet, kinderlos und lebe mit meinem Freund in einer Dreizimmerwohnung in Hamburg-Eimsbüttel. Ich mag meine ältere Schwester Lillian gerne. Sie hat drei Kinder und mittlerweile, wie sie sagt, Brustwarzen so groß wie ’ne Familienpizza. Sie ist sehr lustig, hat das Epilieren ihrer Beine nicht eingestellt, als sie Mutter wurde, und weiß genau, wann der Winterschlussverkauf bei Jil Sander anfängt. Ihre Kinder parkt sie bei mir, während sie shoppen geht – was bei mir meist dazu führt, dass mein eigener Kinderwunsch in sich zusammenfällt wie Blattspinat beim Blanchieren.

Wann war mir aufgefallen, dass mit meinem Leben irgendwas nicht stimmt? Vielleicht war es der Moment, als ich zum ersten Mal eine Waage benutzte, die auch den Fettanteil des Körpers misst. Zwar hatte ich nicht auf ein Bombenergebnis gehofft, aber da ich gerade erst am Abend zuvor auf den Nachtisch verzichtet hatte, war ich zuversichtlich aufgestiegen. Errechnet wurde ein Wert, über den ich bis heute mit niemandem gesprochen habe. Ich war erschüttert. Ich meine, ich turne doch nicht zweimal die Woche das Fitness-Video für Fortgeschrittene von Cindy Crawford, bloß um mir dann von meiner Waage sagen zu lassen, ich hätte ständig fünfundvierzig Päckchen Butter bei mir. Panisch hatte ich den üblen Apparat durch die ganze Wohnung geschleppt. Es musste sich, so hatte ich das Ergebnis gedeutet, um eine Messabweichung aufgrund des unebenen Untergrundes handeln. Ich wog mich auf dem Küchenboden, dem Laminat im Flur und schließlich auf dem Wohnzimmerteppich. Das Ergebnis blieb unverändert, und mir wurde schlagartig klar, warum es in meiner Beziehung nicht einmal mehr zu den bundesdeutsch üblichen zweikommafünf Geschlechtsverkehren pro Woche kam.

Und genauso schlagartig beschloss ich, auf der Stelle neuen Schwung in mein Leben und in meine Beziehung zu bringen. Noch am selben Abend rasierte ich mir die Schamhaare und buchte ein Wochenende in einem Romantik-Hotel an der Nordsee. Am nächsten Morgen kaufte ich eine Getreidemühle, um mir in Zukunft morgens mein Müsli selber zu schroten, statt wie bisher mir morgens mein Nuss-Croissant selber zu kaufen. Ich erstand ein «Perfomance Latex-Band für mehr Kraft und Ausdauer», dazu zwei Hanteln und verabredete außerdem mit meiner Freundin Mona, in den nächsten Tagen einen Sex-Shop aufzusuchen. Auch Mona fand, dass ihr Beziehungsleben etwas mehr Schwung vertragen könne – wenn sie denn erst mal eine Beziehung hätte. Aber im Grunde genommen kann man gar nicht früh genug damit anfangen, sich gegen das schleichend lähmende Gift der Gewöhnung zu wappnen.

Um allen Bekannten aus dem Weg zu gehen, wählten wir für unsere Expedition in den «World of Sex»-Supermarkt auf der Reeperbahn einen Dienstagnachmittag, an dem irgendein wichtiges Fußballspiel übertragen wurde. Es war eigentlich eine ganz vergnügliche Angelegenheit gewesen – bis zu dem Moment, als ich in einem außerordentlich knapp sitzenden Krankenschwesternkittel aus Lackleder aus der Umkleidekabine trat.

«Ach, hallo, Annabel.»

«Äh?»

«Darf ich dir meinen guten Freund Leo vorstellen? Leo, das ist Annabel Leonhard, unsere beste Übersetzerin.»

Leo schaute mich mit großen, schreckgeweiteten Augen an, ganz so, als sei ich eine geistesgestörte Irre, die sich nachmittags zum Zeitvertreib in Sex-Shops rumtreibt und in hautenge Lacklederkittel zwängt. Neben Leo stand Bea Heinrich vom Verlag Jakobs & Kursedim, für den ich Bücher aus dem Englischen und Holländischen übersetze. Bea ist meine Lektorin, ich bin ihre Trauzeugin. Ich schämte mich ungeheuerlich.

Warum bleiben einem eigentlich die peinlichsten Begebenheiten besonders lebhaft in Erinnerung? Ich erinnere mich an jeden einzelnen Fettnapf, in den ich im Laufe meines Lebens getreten bin. Und das sind nicht wenige gewesen. Aber ich erinnere mich nicht daran, wie der erste Bundespräsident hieß und wo ich neulich die heruntergesetzten Stiefel mit Leopardenprint gesehen habe.

Ich strich meinen Lacklederkittel glatt und versuchte so zu tun, als handele es sich hier um eine völlig alltägliche und durchaus erfreuliche Begegnung.

«Hallo, Leo, schön, dich mal kennen zu lernen. Bea hat schon viel von dir erzählt.»

Ich reichte dem verwirrten Mann die Hand, so damenhaft, wie mir das unter den gegebenen Umständen möglich war. Dann wandte ich mich betont locker an Bea.

«Und, bei dir sonst alles klar?»

Sie tat mir den Gefallen, nicht ein Wort über die erniedrigende Situation zu verlieren, in der ich mich befand. Sie ist eine sehr kultivierte Frau, liest Walser, hat ein Theaterabonnement und ist trotzdem in der Lage, sich stundenlang über die Wahl des richtigen Lippenkonturstiftes zu unterhalten. Leo war einer ihrer besten Freunde, schwul und Single. Bea war so freundlich, einmal im Monat samstagabends bei ihm vorbeizuschauen und in seinem Schlafzimmer eine Viertelstunde lang laut zu stöhnen. Als Vorsichtsmaßnahme. Damit der schwulenfeindliche Vermieter bezüglich Leo keinen Verdacht schöpfen konnte. Bea ist loyal und taktvoll und erlöste mich schnell aus meiner peinvollen Lage.

«Dann mach’s mal gut. Leo und ich müssen weiter. Wir sind heute Abend bei seinem Exfreund eingeladen und suchen noch ein hübsches Mitbringsel. Komm, Leo, da hinten habe ich einen tollen Lederslip mit Paillettenbesatz gesehen.»

Ich hörte ein Rumpeln hinter mir. Das war Mona, die vor lauter unterdrücktem Lachen neben dem Ständer mit den Dienstmädchenschürzen zusammengebrochen war.

Danach war mir die Lust am Shopping irgendwie vergangen. Immerhin brachten Mona und ich je zwei hübsche Vaginalkugeln mit nach Hause, die uns der zuvorkommende Verkäufer für den ultimativen Lustgewinn empfohlen hatte. Sind aber nicht so toll, muss ich von abraten. Die Dinger klackern im Inneren des Körpers, als hätte man ein künstliches Hüftgelenk.

Der Besuch im Sex-Shop brachte jedenfalls nicht die erhoffte Wendung in mein fades Dasein. Und der Kurzurlaub im Romantik-Hotel war auch kein voller Erfolg. Eigentlich war er sogar eine glatte Katastrophe. Ich hatte für uns beide zum Abendessen das Menü «Leidenschaft» bestellt. Wenn ich nur daran denke, wie übel meinem armen Ben nach den Austern wurde, bereue ich die Wahl noch jetzt. Er tut sich schwer mit Schalentieren. Aphrodisiaka hin oder her, die Dinger bekommen ihm einfach nicht. Er war zwar noch so höflich, sich mit mir zum romantischen Mitternachtsspaziergang an den Strand zu schleppen, aber als ich ihn lasziv darauf hinwies, dass ich unter meinem Kleid nichts als Strapse trüge, starrte er mich einige Sekunden an, als sei ihm eine Monster-Auster erschienen.

«Ist dir das nicht viel zu kalt?», fragte er schließlich würgend. Da war mir klar, dass ich an diesem Abend unseren Geschlechtsverkehr-Durchschnittswert nicht mehr in die Höhe treiben würde.

 

Manchmal wünsche ich mir, ich würde Ben noch nicht kennen, oder noch nicht so gut. Dann versuche ich, ihn anzuschauen, als sei er mir fremd. Wie er die Zigarette hält, wie er beim Zuhören den Kopf leicht zur Seite neigt, wie er geht, mit langen Schritten, die Hände meist tief in den Jackentaschen. Ich wünschte, ich hätte es noch vor mir, ihn zu entdecken. Die Leidenschaft der ersten Monate. Dreimal am Tag Sex. Herzklopfen, wenn er anruft. Herzklopfen, wenn er nicht anruft. Panik, wenn kurz vor der Verabredung der Lidstrich nicht gelingt. Ich weiß natürlich, dass es keine Kunst ist, etwas zu begehren, was man noch nicht kennt.

Heute verzichte ich auf den Lidstrich. Heute wische ich Ben manchmal gedankenverloren einen Krümel aus dem Mundwinkel. Ich sollte das nicht tun. Er hasst das, und ich tue es auch niemals absichtlich, sondern nur, weil ich vergesse, mich an die unausgesprochenen Regeln zu halten: einen gewissen Abstand zu wahren, sich nicht so vertraut zu benehmen, wie man sich eigentlich fühlt, sich die Illusion zu bewahren, man hätte noch Geheimnisse, es gäbe noch was zu entdecken. Das ist man sich schuldig als Paar. Nun, es wäre sicherlich albern, wenn ich mir abends, bevor Ben nach Hause kommt, einen Push-up-BH umschnallen und künstliche Wimpern ankleben würde. Ben kennt meine Defizite in dieser Hinsicht. Aber weil du geliebt wirst, heißt das nicht, dass du beim Sex die Skin-Repair-Maske drauflassen darfst – nur weil die auch genau fünf Minuten braucht.

Wehret den Anfängen. Sonst drückst du ihm irgendwann die Pickel auf dem Rücken aus, und er macht dir einen Heiratsantrag, während er auf dem Klo sitzt und du dir dein Gebiss mit Zahnseide reinigst. Ich finde, wenn man sich derartig gehen lässt, ist es Zeit zu gehen.

Einmal war ich mit Ben, seinem Freund Nikos und dessen damaliger Freundin essen. Sie saß mir gegenüber, Nikos neben mir. Und während er zu Ben gewandt sprach, wischte ich ihm reflexartig einen Krümel aus dem Mundwinkel.

Er war wie erstarrt vor Schreck. Ich war wie erstarrt vor Schreck. Und die Frau, deren Namen ich schon an jenem Abend vergessen hatte, weil es sich bei Nikos nie lohnt, sich die Namen seiner Freundinnen zu merken, war knallbeleidigt. Es hatte natürlich nichts zu bedeuten. Ich hatte bloß völlig in Gedanken eine vertraute Bewegung in die falsche Richtung gemacht und war im falschen Mundwinkel gelandet. Es war, wie wenn man wie jeden Morgen nach dem Peelingmousse greift, sich stattdessen aber plötzlich mit Enthaarungscreme im Gesicht konfrontiert sieht, weil die Putzfrau am Tag vorher fand, sie müsse ein wenig umräumen.

Man kann es als Paar eben leider nicht vermeiden, dass sich Vertrautheit einschleicht. Gegen die Zeit hast du keine Chance. Ich weiß genau, dass ich meinem Ben eine Sache niemals werde bieten können, egal, ob ich mich in einen Lackkittel zwänge oder Tierlaute imitiere: Ich werde immer eine Frau sein, die er kennt. Menschen gehen nicht fremd, weil sie zu Hause schlechten Sex haben. Das ist ein Grund, sich zu trennen. Menschen gehen fremd, weil sie zu Hause guten Sex haben. Nur leider immer den gleichen.

«Wir brauchen nie länger als zehn Minuten, mit Vorspiel», gestand mir meine Freundin Steffi neulich. Sie ist seit sechs Jahren mit Klaus verheiratet.

«Und, sind es gute zehn Minuten?», fragte ich.

«Alles ist perfekt. Er weiß genau, was er tun muss, was ich mag und was ich nicht mag. Mit ihm komme ich schneller zum Orgasmus, als wenn ich’s mir selber mache.» Steffi stöhnte genervt. «Aber weißt du, Belle, was ich mir manchmal wünsche? Einen, der nicht alles richtig macht. Einen, der mich überrascht, egal womit. Einen, bei dem ich die Augen auflassen kann beim Sex, weil er mir fremd ist und ich mir nicht mühsam einen Fremden vorstellen muss.»

«Vielleicht versucht ihr’s mal mit Rollenspielen?»

«Nach dem Motto: Ich bin jetzt eine Nutte und du ein Fernfahrer? Quatsch, an so was glaube ich nicht. Er bleibt doch immer mein kleiner Klausi. Ich müsste wahrscheinlich lachen, und dann ginge gar nichts mehr.»

Ich wusste Steffi nichts zu raten, beschloss aber insgeheim die Sache mit der Nutte und dem Fernfahrer zu Hause mal vorzuschlagen. Hat aber nicht viel gebracht. Außer dass ich Ben am Unterschenkel verletzte, als ich nur mit Stöckelschuhen bekleidet zu ihm ins Bett stieg.

 

Man muss mir also zugute halten, dass ich nicht vorschnell fortgegangen war. Ich hatte mir heftige Mühe gegeben, wieder Farbe in meine blasse Beziehung zu bringen. Hatte vor Ort das meinige getan. Nun würde ich Abstand nehmen, um gelassen alles zu überdenken. Bisher war es immer so gewesen, dass mein Leben mich in die Hand genommen hatte. Veränderungen brachen über mich herein, mal willkommen, mal auch nicht. Ich habe reagiert, mal richtig, mal falsch. Was mich just daran erinnert, dass ich heute die Gattin von Ole Helgers sein könnte, Inhaber eines exquisiten Fachgeschäfts für Landhausküchen in Hamburg-Wellingsbüttel, der sich gerade eine Villa in Adresslage gebaut hat. Vorausgesetzt, ich hätte in jungen Jahren nicht falsch reagiert, als er bei unserem ersten Geschlechtsverkehr den wilden Latino-Lover geben wollte und dabei aus dem Bett plumpste. Heute weiß ich, dass das ein Moment ist, der extremste Sensibilität verlangt. Aber damals hat dieser Mangel an Lebensweisheit dazu geführt, dass ich laut losprustete und mich Ole fortan auf dem Schulhof nicht mehr grüßte. Allen seinen Freunden erzählte er, ich sei eine Niete im Bett.

 

«Señora?»

«Hm?» Der Taxifahrer mit den körpereigenen Ohrenwärmern weckt mich aus meinen Albträumen.

«Puerto Andratx, Carrer Tonyina. Fünfzig Euro.»

Es wundert mich nicht wirklich, dass meine Tante Gesa nicht zu Hause ist. Dass sie mich nicht vom Flughafen abholen würde, damit hatte ich fest gerechnet. Sie hatte es gestern Mittag am Telefon ganz fest versprochen. Aber was ist schon von den Versprechungen einer Frau zu halten, die drei Ehemänner verlassen hat?

«Belle, mein Kind, natürlich hole ich dich ab! Ich freue mich wahnsinnig, dass wir uns endlich mal wieder sehen! Ich lasse dir das Gästehaus herrichten. Möchtest du blaue oder gladiolenfarbene Bettwäsche? Du, die Hütte ist ein Prachtstück, du wirst es lieben und viel länger bleiben wollen. Bei dir und – wie heißt er noch, na ja, bei euch alles in Ordnung? Ich kann dir gar nicht sagen, wie gut mir diese Scheidung getan hat. Kann ich jedem nur empfehlen. Dem Matuschke soll es ja ganz schlecht gehen. Hat diese Kleine, habe ihren Namen schon wieder vergessen, jedenfalls die mit den Riesentitten, schon wieder rausgeschmissen. Brüste sind nicht alles im Leben, sag ich immer. Schau mich an: flach wie ’ne Badezimmerkachel, aber Verehrer ohne Ende. Seinen Nachnamen werd ich aber auf jeden Fall behalten. Kindchen, du glaubst nicht, wie einem hier auf der Insel die Türen aufgerissen werden, wenn man Matuschke heißt. So, ich muss los. Wann landest du? Ach warte, ich habe es mir ja hier aufgeschrieben. Um neun. Schön, bis dann. Flieg vorsichtig! Bussi! Bussi!»

Ich habe meine Patentante Gesa vor fünf Jahren zum letzten Mal gesehen. Mein Vater feierte seinen Sechzigsten, und seine Schwester Gesa erschien auf dem Fest mit Dietrich Matuschke, einem fülligen, gutmütigen Mann Mitte sechzig, der durch Baumaschinen reich wurde und drei Wochen zuvor von Tante Gesa in Venedig geheiratet worden war. Gesa Leonhard war früher eine wunderschöne Frau, groß, schlank, mit schmalen Handgelenken, einem langen Hals und diesem Blick, unter dem die Jungs schon auf dem Schulhof zu hirnlosen Trotteln mutierten. Sie haben sich für sie geprügelt und Muskeln spielen lassen, die sie noch gar nicht hatten. Gesa ist mittlerweile siebenundfünfzig und hat, sie selbst weist immer wieder gern darauf hin, einen Hals wie ein frierender Truthahn. Trotzdem hat sie einfach nicht aufgehört, sich so zu kleiden, sich so zu benehmen, so zu lachen und so zu lieben, als sei sie immer noch jung und schön.

Sie ist eine großartige Frau – aber leider in diesem Moment nicht zu Hause. Im Nachhinein werde ich ihr dafür wohl auf ewig dankbar sein. Denn sonst hätte ich ja in ihrem Haus auf Toilette gehen können. Und dann wäre alles ganz anders gekommen. Und ich hätte mit Sicherheit nicht dieses vortreffliche Problem, mich zwischen zwei Männern … Aber ich glaube, das erwähnte ich schon.

Ich gehe also bei glühender Hitze, immer noch mit einem durchaus dem Wetter nicht angemessenen Strickpullover bekleidet, den Hügel runter Richtung Hafen. Ob Ben mein Verschwinden schon bemerkt hat? Wahrscheinlich war er noch gar nicht wieder zu Hause. Er verbrachte das Wochenende mit seiner Trost-Truppe in einem einsam gelegenen Haus in der Lüneburger Heide, weil einer der Jungs von seiner Freundin verlassen worden war. Er hatte zwar tapfer behauptet, es ginge ihm gar nicht so schlecht, schließlich könne er sich jetzt endlich wieder die Fußnägel in der Küche schneiden, aber wahre Freunde kann man damit nicht täuschen. In solchen Fällen von allerschlimmstem Liebeskummer kommt die Ein-Kumpel-ist-in-Not-Truppe zusammen, deren Trostprogramm im Wesentlichen darin besteht, so zu tun, als sei niemand in Not. Außerdem müssen während des Wochenendes drei Regeln strikt befolgt werden:

Es darf kein Obst gegessen werden.

Unerwünscht sind Telefongespräche mit der Freundin von mehr als drei Minuten Länge.

Wenn einer vor dem Mittagessen eine Tüte Chips oder mehrere Tafeln Schokolade zu sich nimmt, darf keiner sagen: «Es gibt doch gleich Essen!»

Benedikt Cramer ist in vielerlei Hinsicht ein typischer Mann. Er tanzt nicht. Er klebt keine Fotos in Alben. Er bleibt ruhig, wenn ich meinen Schlüsselbund nicht finden kann und mich dabei so derartig aufrege, dass man meinen könnte, es handle sich um etwas wirklich Ernstes, sagen wir zum Beispiel den Verlust meiner Arbeitsstelle oder meiner Jil Sander-Sonnenbrille, die im Sommerschlussverkauf immer noch mehr gekostet hat, als ich normalerweise für einen Wintermantel auszugeben bereit bin. Ben erträgt es auch, dass ich irre beleidigt bin, wenn er meinen von mir verlegten Schlüssel vor mir findet, und das an einem abwegigen Ort wie zum Beispiel der Schale für die Schlüssel. Ich schwöre, ich hatte dort ganz bestimmt schon dreimal nachgeguckt.

Benedikt Cramer ist ein Mann mit der Mentalität eines Bombenentschärfers. Die Leute, die in amerikanischen Filmen immer vor den mit komplizierten Zeitzündern versehenen Sprengstoffpaketen hocken und absolut ruhig bleiben, während um sie herum Menschen mit schrillen Stimmen rufen:

«Joe, noch fünfzehn Sekunden! Schneid den grünen Draht durch, Joe! Um Himmels willen, das Leben Tausender unschuldiger Bürger dieser pittoresken Stadt am Fuße der Rocky Mountains liegt ganz allein in deiner Hand, Joe! Nimm den …»

Und Joe nimmt sich noch die Zeit, seinen Zigarillo von einem Mundwinkel in den anderen zu schieben, bevor er den roten Draht durchschneidet, sein Zeug zusammenpackt und nach Hause geht.

Einer von diesen Unerschütterbaren ist auch mein Ben. Einer, bei dem man denkt, er hat breite Schultern, selbst wenn er so schmal gebaut ist wie ein Räucheraal. An seiner Seite fühlt man sich beschützt. Neben ihm würde man sich trauen, in die Jahreshauptversammlung von Bodybuildern reinzurufen: «Habt ihr wirklich alle erdnussgroße Penisse?»

In Bens genetischem Programm sind Aufregung, Nervenflattern, zittrige Hände und eine schweißnasse Stirn nur für folgende Fälle vorgesehen: Start und Landung von Flugzeugen, in denen er selbst drinsitzt. Turbulenzen in großer Höhe. Vermeintlich ungewöhnliche Turbinengeräusche und die Durchsage des Kapitäns mit, nach Bens Meinung, verzweifelt klingender Stimme: «Wir möchten Sie bitten, für den Rest des Fluges angeschnallt zu bleiben.»