Fremd im eigenen Haus - Georges Simenon - E-Book

Fremd im eigenen Haus E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Achtzehn Jahre ist es her, dass Hector Loursat von seiner Frau verlassen wurde. Seitdem lebt der Anwalt zurückgezogen in einem Flügel seiner Villa in Moulins, lässt sich gehen, isst und trinkt zu viel. Nur selten betritt er die übrigen Räume des Hauses, sieht selbst seine Tochter nur zu den Mahlzeiten und spricht auch dann kaum ein Wort mit ihr. Als er eines Nachts in dem großen alten Haus einen Schuss hört und in einer leer stehenden Mansarde, die er seit Jahrzehnten nicht betreten hat, einen Verletzten findet, der vor seinen Augen stirbt, wird Loursat gezwungen, zu handeln. Wer hat den Mann erschossen? Und was beschäftigt seine Tochter, die der Vater fast genauso wenig kennt wie den Toten? Loursat beginnt, die Welt um sich herum wieder wahrzunehmen, und als der Liebhaber seiner Tochter beschuldigt wird, den Mann im Dachgeschoss ermordet zu haben, entschließt sich der Anwalt, seine Verteidigung zu übernehmen.

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Seitenzahl: 255

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Band 38

 

 

Certes, ils préfèrent que je ne voie pas

certaines choses. Mais ce qu’il ne faut surtout pas,

c’est que je leur en raconte d’autres.

– Vous direz tout?

– Et vous?

– J’essaierai. Si je n’y parviens pas,

je m’en voudrais toute ma vie

 

Peuples qui ont faim, 1934

Georges Simenon

Fremd im eigenen Haus

Roman

Mit einem Nachwort von P.D. James

Aus dem Französischen von Gerda Scheffel

Band 38

 

 

Certes, ils préfèrent que je ne voie pas

certaines choses. Mais ce qu’il ne faut surtout pas,

c’est que je leur en raconte d’autres.

– Vous direz tout?

– Et vous?

– J’essaierai. Si je n’y parviens pas,

je m’en voudrais toute ma vie

 

Peuples qui ont faim, 1934

Kampa

Erster Teil

1

»Hallo! Rogissart?«

Der Staatsanwalt stand im Nachthemd neben dem Bett, aus dem ihn der erstaunte Blick seiner Frau traf. Er fror, vor allem an den Füßen, denn er war aus dem Bett gesprungen und hatte keine Zeit gehabt, nach seinen Pantoffeln zu suchen.

»Wer ist am Apparat?«

Er runzelte die Stirn und wiederholte für seine Frau:

»Loursat? Sind Sie’s, Hector?«

Seine Frau schlug beunruhigt die Decke zurück und streckte einen bleichen Arm nach dem zweiten Hörer aus.

»Was sagen Sie?«

Die Stimme von Rechtsanwalt Loursat, dem Cousin von Madame Rogissart, erklärte ruhig:

»Ich habe eben einen Unbekannten in meinem Haus gefunden … In einem Bett im zweiten Stock … Er starb genau in dem Augenblick, als ich ins Zimmer kam … Es wäre gut, wenn Sie sich um die Angelegenheit kümmern könnten, Gérard … Es ist mir sehr peinlich … Ich glaube, es handelt sich um ein Verbrechen …«

Als der Staatsanwalt den Hörer auflegte, sagte Laurence Rogissart, die ihren Cousin nicht leiden konnte:

»Er ist wieder einmal betrunken!«

 

Dabei schien in dieser Nacht alles dort zu sein, wo es hingehörte; außerdem regnete es, weshalb sich erst recht nichts bewegte oder ereignete. Es war der erste kalte Regen in diesem Herbst. Darum sah man außer ein paar Liebespaaren auch keine Besucher ins Kino in der Rue d’Allier gehen, und die Kassiererin war umso wütender, dass sie für nichts und wieder nichts in ihren Glaskäfig eingesperrt war, in dem sie halb erfroren auf die Wassertropfen starrte, die vor den Kugellampen herabfielen.

Es war wie immer in den ersten Oktobertagen in Moulins. Im Hôtel de Paris, im Dauphin, im Allier aßen die Handelsvertreter an der table d’hôte und wurden von Kellnerinnen in schwarzen Kleidern, schwarzen Strümpfen und weißen Schürzen bedient. Von Zeit zu Zeit fuhr ein Auto durch die Straße, irgendwohin, nach Nevers oder nach Clermont-Ferrand, vielleicht auch nach Paris.

Die Jalousien vor den Geschäften waren heruntergelassen. Regen rann über die Ladenschilder – auf den großen roten Hut von Bluchet, auf die riesige Uhr von Truffier, und dicht daneben auf den goldenen Pferdekopf der Pferdemetzgerei.

Die Pfiffe hinter den Häusern kamen von dem Zug nach Montluçon, in dem höchstens zehn Personen saßen.

In der Präfektur gab man ein Abendessen für ungefähr zwanzig Gäste; das waren sogenannte Monatsessen, zu denen regelmäßig dieselben Leute zusammenkamen.

Nur selten sah man ein Fenster, dessen Läden nicht geschlossen waren, Menschen im Licht. Sofern in dem Labyrinth der regennassen Straßen Schritte zu hören waren, waren es schnelle, fast verstohlene Schritte.

Das Haus der Loursats – oder genauer, der Loursats de Saint-Marc –, an der Ecke einer Straße mit fast nur Notariaten und Anwaltskanzleien, wirkte noch verschlafener als die anderen Häuser: mit seinen zwei Flügeln, seinem gepflasterten, durch eine hohe Mauer von der Straße getrennten Innenhof und dem leeren Springbrunnen darin mit einem Apollo in der Mitte, der kein Wasser mehr aus dem Rohr in seinem Mund spie.

Im Speisezimmer im ersten Stock hatte Hector Loursat seinen breiten Rücken zum Kamin gedreht, in dem Eierbriketts auf einem Rost glühten und einen gelblichen Rauch verbreiteten.

Er hatte Tränensäcke unter den Augen, nicht anders als an andern Abenden, und seine Pupillen waren glasig, was seinem Blick etwas Unbestimmtes und Beunruhigendes gab.

Der Tisch war rund, das Tischtuch weiß. Loursat gegenüber aß seine Tochter Nicole und starrte stumpf vor sich hin.

Keiner von beiden sprach. Loursat aß unappetitlich, er hing über seinem Teller wie ein grasendes Tier, schmatzte und stöhnte dazwischen vor Überdruss oder Müdigkeit.

Wenn er einen Gang beendet hatte, schob er seinen Stuhl etwas zurück, um es seinem Bauch bequem zu machen, und wartete.

Man spürte dieses Warten so deutlich, dass es zu einem Zeichen wurde, woraufhin Nicole sich zu dem Hausmädchen drehte, das an der Wand stand.

Das Hausmädchen öffnete eine Klappe und rief in die Leere des Speiseaufzugs:

»Den nächsten Gang!«

Unten, in der hintersten Ecke der grauen, wie eine Kapelle gewölbten Küche, erhob sich eine kleine dürre, hässliche Frau, die an einem Tischende aß, nahm eine Schüssel aus dem Backofen und schob sie in den Aufzug.

Und immer verhakte sich der Aufzug nach ein paar Metern, ein Rad verklemmte sich, und das Manöver musste mehrmals wiederholt werden, bis das Mädchen, das oben aufpasste, wie durch ein Wunder die erwarteten Gerichte heraufkommen sah.

Der Kamin zog nicht. Das Haus war voller Dinge, die schlecht oder gar nicht funktionierten. Alle bemerkten das. Loursat, die Ellbogen aufgestützt, stieß bei jedem Stocken des Aufzugs einen Seufzer aus, und wenn ein Windstoß den Rauch über den Eierbriketts aufwirbelte, trommelte Nicole schlecht gelaunt mit ihren Fingern auf den Tisch.

»Na, Angèle?«

»Hier, Mademoiselle.«

Nicole trank Weißwein aus einer Karaffe. Ihr Vater schenkte sich aus einer Flasche Burgunder ein, die er im Laufe der Mahlzeit vollständig leerte.

»Würden Sie mir bitte meinen Lohn gleich nach dem Essen geben, Mademoiselle?«

Loursat hörte gleichgültig zu. Er kannte das Hausmädchen kaum. Es war groß und kräftiger als seine Vorgängerinnen, knochig, energisch, von gelassener Respektlosigkeit.

»Ist Ihr Arbeitsbuch ausgefüllt?«

»Ich habe es Fine gegeben.«

Fine, das war Joséphine, die Grimassen schneidende Zwergin unten, die die Schüsseln mit dem Aufzug heraufbeförderte.

»Gut.«

Loursat fragte seine Tochter nicht, warum das Hausmädchen ging, ob es selbst gekündigt hatte oder ob ihm gekündigt worden war. Alle zwei Wochen sah er eine neue Hausangestellte, aber das war ihm gleichgültig.

Er aß gekochten Maronenbrei und brachte es fertig, seine Hausjacke aus schwarzem Samt von oben bis unten damit zu bekleckern. Doch das war unwichtig, denn die Jacke war sowieso völlig verschmutzt. Man hörte Wasser in einem Abflussrohr glucksen, und bestimmt war dieses Rohr ebenfalls reparaturbedürftig.

Nachdem er mit seinen Maronen fertig war, wartete Loursat einen Augenblick, bis er sicher war, dass es nichts mehr zu essen gab, knüllte seine Serviette zusammen und legte sie auf den Tisch, denn er hatte sich nie dazu überwinden können, sie zusammenzufalten. Er stand auf.

Jeden Abend war das so, ohne die geringste Abweichung. Er sah Nicole nicht an. Schon zur Tür gewandt, murmelte er:

»Gute Nacht.«

Zu dieser Stunde war sein Gang schwer, unsicher. Seit dem Morgen hatte Loursat Zeit gehabt, zwei oder drei Flaschen Burgunder zu trinken, eher drei, immer vom selben, den er gleich nach dem Aufstehen aus dem Keller holte und mit dem er sehr behutsam umging.

Von außen hätte man Loursats Weg an den feinen Lichtstreifen verfolgen können, die durch die Fensterläden fielen, einen nach dem anderen, bis zum Arbeitszimmer des Anwalts, dem letzten Raum im rechten Flügel.

Die Tür zu diesem Zimmer war schon immer gepolstert, schon seit der Zeit von Loursats Vater, der ebenfalls Anwalt gewesen war, vielleicht sogar schon seit der Zeit seines Großvaters, der zwanzig Jahre als Bürgermeister der Stadt gewirkt hatte. Der schwarze Perkal war rissig wie ein alter Billardtisch auf dem Land.

Im Kamin hatte man eines Tages aus irgendeinem Grund statt der Feuerböcke oder des Rostes für die Eierbriketts einen kleinen gusseisernen Ofen provisorisch aufgestellt, und er war mit seinem kurzen, abgewinkelten Rohr dort stehen geblieben. Er prasselte, wurde sehr bald glühend rot, und manchmal näherte Loursat sich ihm wie einem braven Hund, warf ihm liebevoll einige Schaufeln Kohle in den Rachen und bückte sich, um das Feuer zu schüren.

Der Personenzug nach Montluçon war abgefahren. Der Pfiff eines anderen Zuges ertönte über der Stadt, doch das war nur ein Güterzug. Ein Film zitterte auf der Leinwand vor einigen wenigen im Saal verteilten Leuten, und es roch nach feuchten Mänteln. Der Präfekt führte seine Gäste ins Raucherzimmer und öffnete eine Zigarrenkiste.

Der Staatsanwalt Rogissart hatte den Umstand, dass an diesem Tag nicht Bridge gespielt wurde, zum Anlass genommen, früh zu Bett zu gehen, und seine Frau lag neben ihm und las.

Loursat schnäuzte sich, so wie die Alten und die Bauern sich schnäuzen, indem er zunächst sein Taschentuch weit ausbreitete, hineintrompetete, dreimal, fünfmal, und dann ebenso sorgfältig das Tuch wieder zusammenfaltete.

Er war allein in seiner überheizten Höhle, deren Tür er immer abschloss, weil er es so wollte. Nicole sagte: Weil er etwas zu verbergen hatte.

Sein graues Haar war von Natur aus struppig, aber er verwuschelte es noch mehr, indem er mit den Fingern gegen den Strich hindurchfuhr. Sein Bart war andeutungsweise zu einer Spitze geschnitten, sein Schnurrbart färbte sich an der Stelle, wo immer die Zigarette hing, gelbbraun.

Überall lagen Zigarettenstummel, auf dem Boden und in den Aschenbechern, auf dem Ofen und auf den Büchern.

Loursat rauchte, holte schweren Schrittes die Flasche, die in der Kaminecke inzwischen Zimmertemperatur angenommen hatte.

Autos fuhren durch die mehrere Häuserblöcke weit entfernte Rue de Paris, mit rhythmisch sich bewegenden Scheibenwischern, Regen im Scheinwerferlicht, bleichen Gesichtern im Innern.

Loursat tat nichts. Er ließ seine Zigarette ausgehen, zündete sie wieder an, spuckte den Stummel irgendwohin, während seine Hand nach einem Buch griff und es an irgendeiner Stelle aufschlug.

Er las ein bisschen, trank Wein in kleinen Schlucken, grunzte, schlug die Beine übereinander und stellte sie wieder nebeneinander. Die Bücher stapelten sich bei ihm bis zur Decke und noch in den Korridoren, in den meisten anderen Zimmern des Hauses; Bücher, die ihm gehörten oder auch von seinem Vater oder sogar von seinem Großvater stammten.

Ohne ein bestimmtes Buch zu suchen, stellte er sich vor ein Regal, vergaß vielleicht, dass er da stand, rauchte eine ganze Zigarette, bevor er nach einem Band griff, den er dann zu seinem Schreibtisch trug, so wie junge Hunde Brotkrumen ins Stroh ihrer Hütte schleppen …

Das war so seit zwanzig Jahren, genauer: seit achtzehn, und niemand hatte ihn in dieser Zeit dazu überreden können, in der Stadt zu essen, weder die Rogissarts, seine Verwandten, die jeden Freitagabend ein Abendessen mit anschließendem Bridge gaben, noch der Präsident der Anwaltskammer, ein guter Freund seines Vaters, noch sein Schwager Dossin, bei dem Politiker verkehrten, und auch nicht die verschiedenen Präfekten, die es bei ihrem Amtsantritt noch nicht wussten und ihm eine Einladung schickten.

Er kratzte sich, nieste, hustete, schnäuzte sich, spuckte aus. Er schwitzte. Seine Hausjacke bedeckte sich mit Asche. Er las zehn Seiten einer juristischen Abhandlung und wechselte übergangslos zu den Memoiren aus dem 17. Jahrhundert, die er in der Mitte des Bandes aufgeschlagen hatte.

Je später es wurde, desto betrunkener wurde er, desto glasiger sein Blick, desto langsamer seine Bewegungen.

Das Schlafzimmer, das einfach »das Zimmer« genannt wurde, das heißt der Raum, in dem seit Generationen die Herren des Hauses schliefen und das er selbst mit seiner Frau benutzt hatte, lag im anderen Flügel des Stockwerks. Aber schon seit Langem ging er nicht mehr dorthin. Wenn die Flasche geleert war, manchmal gegen Mitternacht, manchmal sehr viel später, um ein oder drei Uhr morgens, erhob er sich und vergaß nie, das Licht auszuschalten und das Fenster einen Spalt zu öffnen, aus Angst vor den Kohlengasen.

Er ging in einen angrenzenden Raum, das frühere Büro des Sekretärs, wo er ein eisernes Bett aufgestellt hatte, zog sich bei offen stehender Tür aus und rauchte noch im Bett, bis er sich mit einem lauten Seufzer entspannte.

An diesem Abend – es war der zweite Mittwoch im Monat, denn in der Präfektur fand das traditionelle Essen statt – füllte Loursat den Ofen mit besonderer Hingabe, denn wegen der Kälte draußen und dem Regen an den Fenstern musste die ihn umgebende Wärme noch anheimelnder werden.

Er hörte die Regentropfen, ab und zu das Knarren eines schlecht geschlossenen Fensterladens; der Wind frischte auf und wirbelte in jähen Stößen durch die Straßen. Er hörte auch, deutlich wie ein Metronom, das Ticken der goldenen Uhr in seiner Westentasche.

Er hatte die Beschreibung der mittelalterlichen Eroberungszüge des zentralasiatischen Militärführers Timur wiedergelesen, deren Seiten nach vergilbtem Papier rochen und deren Einband sich auflöste. Vielleicht wollte er gerade aufstehen, um neues Lesefutter zu holen, als er langsam den Kopf hob, erstaunt, beunruhigt.

Im Allgemeinen drangen außer den Pfiffen der Güterzüge und dem entfernten Brummen der Autos keinerlei Geräusche zu ihm, höchstens die Schritte der Zwergin Joséphine, die um zehn Uhr, immer zur gleichen Zeit, genau über ihm zu Bett ging und die Manie hatte, zwanzigmal in ihrem Zimmer auf und ab zu laufen, bevor sie sich hinlegte.

Fine war also schon lange im Bett. Es war ein ganz ungewohntes Geräusch, das Loursats Abkapselung durchdrungen hatte.

Zunächst hielt er es für das Knallen einer Peitsche, wie er es morgens hörte, wenn der Müllmann durch die Straße fuhr.

Aber dieses Geräusch kam nicht von der Straße. Es war kein Peitschenknall. Seine Nachwirkung war tiefer und länger. Um es genau zu sagen, es war wie ein Stoß, den er in die Brust bekommen hatte. Er spitzte die Ohren, und sein Gesicht drückte Verdrossenheit aus, schlechte Laune, ja sogar ein Gefühl, das nicht Unruhe war, aber ihr doch sehr nahe kam.

Das Außergewöhnliche war die Stille danach. Eine Stille von unnatürlicher Greifbarkeit, in der man glaubte, aufgewühlte Wellen zittern zu spüren.

Er erhob sich nicht sofort. Er füllte sein Glas und leerte es, steckte seine Zigarette wieder in den Mund, richtete sich misstrauisch auf und ging zur Tür, an der er lauschte, bevor er öffnete.

Im Korridor knipste er den Lichtschalter an, und die drei staubigen Lampen erleuchteten nur Einsamkeit und Stille.

»Nicole!«, rief er halblaut.

Er war jetzt sicher, dass er den Knall einer Feuerwaffe gehört hatte. Er sagte sich, dass der Knall vielleicht von draußen gekommen war, aber er glaubte nicht daran.

Er blieb ruhig. Er ging langsam, mit eingezogenen Schultern wie immer und dem wiegenden Gang eines Bären, von dem seine Cousine Rogissart behauptete, er hätte ihn nur angenommen, um die Leute zu beeindrucken. Und sie machte auch noch andere Bemerkungen über ihn!

Er gelangte an die weiße Steintreppe mit dem Eisengeländer, beugte sich darüber und rief in die leere Halle hinunter:

»Nicole!«

Er rief leise, doch seine Stimme hallte durch das ganze Haus.

Vielleicht wollte er gerade umkehren und sich wieder im warmen Frieden seines Arbeitszimmers verkriechen.

Da glaubte er, einen leisen Schritt über seinem Kopf wahrzunehmen, obwohl doch niemand diesen Teil des zweiten Stockwerks bewohnte, dessen Mansarden einst für die Dienstboten bestimmt gewesen waren, als man noch über einen Diener, über Chauffeur, Gärtner und Zimmermädchen verfügte.

Nicole schlief am Ende des linken Flügels, und ihr Vater tappte durch einen Korridor gleich jenem, der zu seinem Zimmer führte; nur fehlte hier eine der drei Lampen an der Decke. Er blieb vor einer Tür stehen und hatte den Eindruck, dass darunter Licht hervordrang, das plötzlich erlosch.

»Nicole …«, rief er noch einmal.

Er klopfte an die Tür. Seine Tochter fragte:

»Was ist?«

Er hätte schwören können, dass die Worte nicht vom Bett kamen, das sich links befinden musste – zumindest stand es das letzte Mal dort, als er zufällig, vielleicht zwei Jahre zuvor, das Zimmer seiner Tochter betreten hatte.

»Machen Sie auf!«, sagte er nur.

»Einen Augenblick …«

Der Augenblick war sehr lang, und hinter der Tür bewegte sich jemand in dem Bemühen, das so leise wie möglich zu tun.

Am Ende des Korridors war eine Wendeltreppe, auf die alle Gänge des Hauses mündeten und die für die Dienstboten bestimmt war.

Loursat wartete immer noch, als eine Stufe dieser Treppe knackte. Da war kein Zweifel möglich. Und als er sich, so rasch er konnte, umdrehte, war er sicher, absolut sicher, dass dort jemand hinunterging, eher ein Mann als eine Frau, er hätte sogar beschwören mögen, dass es ein junger Mann in einem beigen Regenmantel war.

Die Tür öffnete sich, Nicole sah ihren Vater mit ihrer gewöhnlichen Ruhe an, ohne Neugier, ohne Zuneigung, mit einer Ruhe, die von einer vollkommenen Gleichgültigkeit kam.

»Was wünschen Sie?«

Die Deckenlampe und die Nachttischlampe waren eingeschaltet, das Bett zerwühlt, doch Loursat fand die Unordnung künstlich. Und Nicole, obwohl im Morgenrock, hatte noch ihre Strümpfe an.

»Haben Sie nichts gehört?«, fragte er und sah dabei wieder zur Wendeltreppe.

Sie empfand das Bedürfnis, zu erklären:

»Ich habe geschlafen.«

»Es ist jemand im Haus.«

»Glauben Sie?«

Nicoles Kleidungsstücke lagen auf dem Boden verstreut.

»Ich glaube, es hat jemand geschossen …«

Er ging zum Ende des Korridors. Er hatte keine Angst, war nicht beunruhigt. Fast hätte er die Achseln gezuckt und wäre wieder in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt. Und doch, wenn wirklich jemand geschossen hatte, wenn er richtig gesehen hatte, wenn ein junger Mann den offenen Raum am Ende des Korridors eben durchquert hatte, dann war es besser, nachzusehen.

Das Erstaunlichste war, dass Nicole ihm nicht sofort folgte. Sie blieb noch einen Augenblick in ihrem Zimmer, und als er sie hinter sich fühlte und sich umdrehte, hatte sie ihre Strümpfe ausgezogen.

Das war ihm gleichgültig. Sie konnte tun, was sie wollte. Nur ganz unbewusst hatte er dieses Detail registriert.

»Ich bin sicher, dass eben ein Mann hier hinuntergegangen ist. Da ich die Tür unten nicht gehört habe, muss er sich irgendwo im Dunkeln versteckt haben.«

»Ich frage mich, was ein Dieb hier will. Außer alten Büchern …«

Nicole war größer als er, ziemlich kräftig, sogar ein bisschen dick, mit schwerem, rotblondem Haar, heller Haut und den für Rothaarige typischen fahlen Augen.

Sie folgte ihm ohne Begeisterung und ohne Furcht, ebenso übellaunig wie er.

»Ich höre nichts mehr«, stellte er fest.

Er betrachtete seine Tochter und dachte, dass sie vielleicht einen jungen Mann bei sich gehabt hatte. Er war wieder drauf und dran, in sein Arbeitszimmer zurückzugehen.

Zufällig hob er den Kopf zum Treppenhaus und sah einen hellen Schein.

»Im zweiten Stock brennt Licht.«

»Vielleicht ist es Fine?«

Jetzt warf er ihr einen langen, verächtlichen Blick zu. Was hätte Fine um Mitternacht in diesem Flügel des Hauses, dessen Zimmer nur noch als Abstellkammern dienten, zu suchen? Außerdem war Fine so ängstlich, dass sie, wenn Loursat verreist war, bei Nicole schlafen wollte und ihr Bett in deren Zimmer schaffte!

Er ging hinauf, Stufe um Stufe, in der Gewissheit, seiner Tochter auf die Nerven zu fallen. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er von seinen rituellen Bewegungsabläufen abwich.

Er drang dabei in eine fast unbekannte Welt ein. Er blähte die Nasenlöcher, denn während er vorwärtsging, glaubte er immer deutlicher Pulvergeruch wahrzunehmen.

Der Korridor im zweiten Stock war eng. Früher einmal hatte man einen alten Teppich hingelegt – sicher, als die Teppiche im ersten Stock erneuert worden waren, und das lag mehr als dreißig Jahre zurück! An den Wänden entlang liefen Regale, vollgestopft mit broschierten Büchern, Zeitschriften, Illustrierten und unvollständigen Zeitungsjahrgängen.

Nicole folgte immer noch gleichmütig ihrem Vater auf den Fersen.

»Da sehen Sie – niemand ist da!«

Sie fügte nicht hinzu:

›Sie haben wieder einmal zu viel getrunken!‹

Doch es lag in ihrem Blick.

»Jemand muss aber die Lampe angemacht haben!«, entgegnete er und zeigte auf eine brennende Birne.

Er bückte sich, sprach dann weiter:

»Und hat seine Zigarette, die noch glüht, hierhingeworfen!«

Die Zigarette, die er aufhob, hatte den abgeschabten rötlichen Teppich angesengt.

Er schnaufte, weil er die Treppe hinaufgestiegen war. Unentschieden machte er ein paar Schritte, fragte sich dabei immer noch, ob er nicht besser wieder in sein Zimmer ginge.

Seine Erinnerungen an dieses Stockwerk reichten fast alle in seine Kindheit zurück, als die drei Kammern links noch Dienstbotenkammern gewesen waren. Die erste die von Éva, einem Zimmermädchen, das lange Zeit seine heimliche Liebe gewesen war und das er eines Abends mit dem Chauffeur in einer Stellung überrascht hatte, die für ihn unvergesslich blieb.

Die hintere Kammer hatte Eusebius bewohnt, der Gärtner, zu dem er ging, um Spatzenfallen zu bauen.

Er hatte den Eindruck, als sei die Tür zu dieser Kammer nicht richtig geschlossen. Er ging darauf zu, und diesmal blieb seine Tochter zurück, während er die Tür ohne Neugierde aufstieß, um zu sehen, was aus dem Zimmer des Gärtners geworden war.

Der Geruch ließ keinen Zweifel mehr, und außerdem war da eine leichte Bewegung, oder vielmehr ein Zucken von Leben.

Er tastete nach dem Lichtschalter. Er wusste nicht mehr, auf welcher Seite er sich befand. Das Licht ging an, und Loursat sah sich zwei Augen gegenüber, die ihn anstarrten.

Er bewegte sich nicht. Er hätte sich auch nicht bewegen können. Dafür war die Situation, waren diese Augen zu außergewöhnlich.

Es waren die Augen eines Mannes, der auf einem Bett lag. Die Decke verbarg nur einen Teil seines Körpers. Ein Bein hing herab, mit einem riesigen Verband, vielleicht einer Schiene, wie man sie bei Knochenbrüchen anbringt.

Das alles nahm Loursat kaum wahr. Was zählte, waren diese Augen eines Unbekannten, die ihn anstarrten, unter seinem Dach, mit einer schrecklichen Frage.

Es war der Körper eines Mannes, und auch das Gesicht, die dichten, zu einer Bürste geschnittenen Haare; aber die Augen waren die eines Kindes, große, verschreckte Augen, in denen Loursat Tränen zu sehen glaubte.

Die Nasenflügel bebten, die Lippen bewegten sich. Es war der Anfang einer Schnute, so wie sie jemand macht, der zu schreien versucht oder zu weinen.

Ein Geräusch … Ein menschliches Geräusch … Eine Art Gurgeln, Wimmern, wie die ersten Laute eines Neugeborenen …

Dann, sofort darauf, ein so plötzliches Erstarren, dass Loursat einen Augenblick aufhörte zu atmen.

Er fing sich wieder, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sagte mit einer Stimme, die er so hörte, als ob es die Stimme eines anderen sei:

»Er ist bestimmt tot …«

Er drehte sich zu Nicole um, die etwas weiter entfernt im Korridor wartete, mit bloßen Füßen in hellblauen Pantoffeln. Er wiederholte:

»Er ist bestimmt tot …«

Dann, grübelnd:

»Wer ist das?«

Loursat war nicht betrunken. Er war es nie. Je später am Tag es wurde, desto schwerer wurde sein Gang, auch sein Kopf, vor allem sein Kopf. Seine Gedanken flochten sich weich ineinander, und es kam vor, dass er halblaut vor sich hin sprach, Worte, die niemand hätte verstehen können und die die einzigen wahrnehmbaren Zeichen seines Innenlebens waren.

Nicole betrachtete ihn erstaunt, als ob das Außergewöhnliche an diesem Abend nicht der Schuss, die brennende Lampe, dieser hinter einer Tür sterbende Mann wären, sondern Loursat selbst, der gelassen und wuchtig blieb.

 

Die Kassiererin des Kinos schloss endlich den Glaskäfig, der den ganzen Winter über ihre Marterstätte war, trotz der mitgebrachten Wärmflaschen. Die Pärchen zögerten einen Augenblick unter dem Licht und verschwanden dann in der feuchten Dunkelheit. Bald würden sich in den verschiedenen Vierteln die Türen öffnen und wieder schließen, Stimmen in den Straßen ertönen:

»Bis morgen …«

»Gute Nacht …«

In der Präfektur wurde Orangensaft gereicht, was ein erstes Zeichen zum Aufbruch sein sollte.

 

»Hallo! Rogissart? …«

Der Staatsanwalt stand im Nachthemd da, denn er hatte sich nie an einen Schlafanzug gewöhnen können, runzelte die Stirn, sah zu seiner Frau, die die Augen von ihrem Buch hob.

»Was sagen Sie? … Wie? …«

Loursat war in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt, und Nicole, immer noch im Morgenrock, stand neben der Tür. Die Zwergin Fine hatte noch kein Lebenszeichen von sich gegeben, und falls sie wach war, hatte sie sich sicher schlotternd vor Angst in ihr Bett verkrochen und lauschte von da aus auf die Geräusche des Hauses.

Loursat, der den Hörer aufgelegt hatte, wollte sich ein Glas einschenken, doch die Flasche war leer. Er hatte seine Tagesration verbraucht. Er musste in den Keller hinuntergehen, in dem man noch immer kein elektrisches Licht hatte legen lassen.

»Ich nehme an, man wird Sie verhören«, sagte er zu seiner Tochter. »Sie sollten sich gut überlegen, was Sie sagen. Vielleicht können Sie sich anziehen?«

Sie sah ihn hart an. Das war ohne Bedeutung, da sie sich nicht mochten, da es schon immer abgemacht war, dass sie sich außerhalb der Mahlzeiten nicht umeinander kümmerten. Und auch die Mahlzeiten nahmen sie schweigend und nur aus Gewohnheit zusammen ein, weil es so üblich war.

»Wenn Sie den Mann kennen, ist es vielleicht vernünftiger, das sofort zuzugeben. Und was den andern betrifft, den ich hinuntergehen sah …«

Sie wiederholte, was sie bereits zuvor beteuert hatte:

»Ich weiß nichts.«

»Wie Sie wollen. Man wird Fine verhören, und sicher auch das Hausmädchen, das Sie hinausgeworfen haben …«

Er sah sie nicht an, hatte aber trotzdem das Gefühl, dass sie das beeindruckte.

»Sie werden jeden Augenblick hier sein«, schloss er, während er aufstand und zur Tür ging.

Es würde lange dauern! Rogissart würde nicht allein kommen, sondern seinen Protokollführer benachrichtigen, den Polizeikommissar oder die Mordkommission. Im Wandschrank des Raucherzimmers waren Schnäpse und Liköre. Loursat trank nie davon, und er suchte eine Kerze, um in den Keller zu gehen. Er fand eine in der Küche, in welcher er herumtastete, denn er war wie ein Fremder in seinem eigenen Haus, in dem er nur seinen unmittelbaren Bereich kannte.

In dieser Küche, früher, zur Zeit von Éva …

Er nahm eine Flasche vom Regal, ging keuchend wieder nach oben, blieb im Erdgeschoss stehen und war so neugierig, die Tür der Lieferantentreppe zu untersuchen, die auf eine Sackgasse, die Impasse des Tanneurs, führte.

Die Tür war nicht verschlossen. Er öffnete sie, wurde unangenehm von der Kälte und dem Geruch der Mülleimer überrascht, schloss die Tür wieder und machte sich auf den Weg zu seinem Arbeitszimmer.

Nicole war nicht mehr da. Vermutlich zog sie sich an. Er hörte Geräusche auf der Straße, öffnete einen Fensterladen, entdeckte einen Streifenpolizisten, den Rogissart wahrscheinlich benachrichtigt hatte und der am Rand des Gehsteigs wartete.

Er zerbrach sorgfältig das Wachs und entkorkte die Flasche, während er an den Mann da oben dachte, den Toten, der eine Kugel in die Brust bekommen hatte, aus nächster Nähe; eine Kugel, die jemand abgeschossen hatte, der nicht kaltblütig gewesen sein konnte, denn statt das Herz zu treffen, war sie viel weiter oben eingedrungen, fast in den Hals.

Deshalb hatte der Verwundete auch sicher, statt zu schreien, nur dieses Gurgeln herausbringen können. Er war, ein Bein aus dem Bett herausgestreckt, an seinem Blutverlust gestorben.

Es war ein Koloss, umso beeindruckender, da er lag und sich nicht rührte. Stehend wäre er sicher um einen Kopf größer als Loursat gewesen. Seine Züge waren hart, die eines kräftigen Bauern, eines Gewaltmenschen.

Loursat wäre sehr überrascht gewesen, wenn er sich nach einem halben Glas Burgunder selber hätte sagen hören:

»Merkwürdig!«

Über sich hörte er ein Geräusch. Fine bewegte sich in ihrem Bett. Aber sie würde nur aufstehen, wenn man sie dazu zwänge.

Im Hôtel de Paris spielten drei Handelsreisende Karten, mit dem Wirt, der von Zeit zu Zeit auf die Uhr sah. Die Brasserien schlossen. Der Concierge der Präfektur schloss ebenfalls die schweren Torflügel, und das letzte Auto entfernte sich.

Es regnete immer stärker, schräg wegen des Windes, der von Nordwesten kam und über dem Meer sicher als Sturm fauchte.

Loursat, die Ellbogen auf seinen Schreibtisch gestützt, kratzte sich am Kopf, während die Zigarettenasche auf seine Rockaufschläge fiel. Er ließ den Blick seiner großen grünen Augen umherwandern, seufzte, oder besser keuchte, und murmelte:

»Es wird sie ganz krank machen!«

Sie, das waren alle, Rogissart als Erster, oder vielmehr Laurence, seine Frau, die sich noch mehr um solche Sachen kümmerte, das Gute und das Böse, um das, was man tat, und das, was man hätte tun sollen; und dann die andern– das ganze Gericht zum Beispiel –, die nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten, wenn es Loursat einmal einfiel, eine Verteidigung zu übernehmen; die Justizbeamten, die Kollegen, und dann die Leute wie Dossin, sein Schwager, Hersteller von Dreschmaschinen, der sich mit den Politikern einließ und anfing, nach dem Sitz eines Landrats zu schielen; dessen Frau Marthe, immer krank, immer leidend, immer in duftige Gewänder gehüllt, und doch die Schwester von Loursat, der sie seit Jahren nicht gesehen hatte; die Bewohner der Straße, die angesehenen Leute, die, welche etwas hatten, und die andern, die nur so taten, als ob; die Kaufleute und Hoteliers, die Leute vom Verkehrsverein ebenso wie die vom Großen Zirkel, die von der Oberstadt wie die von der Unterstadt.

Man würde eine gerichtliche Untersuchung einleiten müssen!

Weil ein Unbekannter in einem der Betten seines Hauses …

Und er, Loursat, war im Grunde mit ihnen allen verwandt, mit allen, die zählten, blutsverwandt oder durch Heirat; er, der Enkel des früheren Bürgermeisters, der seine Straße hatte und sein Denkmal in einer Grünanlage!

Er leerte sein Glas und goss sich ein neues ein, für das er keine Zeit mehr hatte, denn auf der Straße hörte man jetzt Autos kommen, mindestens zwei; und Fine lag immer noch in ihrem Bett. Nicole kam nicht zurück, sodass er hinuntergehen musste, mit unsicheren Schritten, die Riegel der Tür suchen, die zu öffnen er nicht mehr gewohnt war, während draußen Autotüren zuschlugen.

2

Es war elf Uhr, als er die Augen öffnete; doch das wussteer noch nicht, da er sich nicht die Mühe machte, den Arm nach seiner Weste auszustrecken, um seine Uhr herauszuholen. Im Zimmer herrschte Halbdunkel, doch in den geschlossenen Fensterläden waren zwei kleine runde, sehr helle Löcher.

Diese leuchtenden Augen betrachtete Loursat mit tiefem Ernst, genauer gesagt, mit dem Ernst, den Kinder wertlosen Dingen entgegenbringen: Es ging darum, herauszufinden, was für Wetter draußen war. Wenn er auch nicht eigentlich abergläubisch war, so schaffte Loursat sich doch zum persönlichen Gebrauch seine kleinen Glaubensauffassungen: so zum Beispiel, dass die Tage, an denen er richtig geraten hatte, gute Tage waren.

Er entschied: Sonne! Dann drehte er sich schwerfällig um und drückte auf den Klingelknopf, der in der Grabestiefe von Fines Küche Lärm auslöste. Fine war gerade dabei, einem Polizisten, der behaglich am Tisch saß, ein Glas Wein einzuschenken. Der Polizist fragte:

»Was bedeutet das?«

Und sie, gleichgültig:

»Nichts weiter.«

Loursat wartete mit offenen Augen und hörte auf die Geräusche im Haus, die zu weit entfernt waren und zu unbestimmt, um für ihn eine bestimmte Bedeutung zu haben. Er drückte erneut auf den Klingelknopf. Unten sah der Polizist zu Fine, die mit den Schultern zuckte.

»Von mir aus kann er krepieren!«

Sie nahm einen Topf mit Kaffee vom Feuer, füllte eine Kanne, griff nach einer mit Fliegen bedeckten Zuckerdose, die auf dem Tisch stand. Oben hielt sie sich weder damit auf, zu klopfen, noch, Guten Morgen zu sagen. Sie stellte das Tablett auf einen Stuhl, der als Nachttisch diente, ging zum Fenster und öffnete die Läden.

Loursat glaubte, er hätte verloren. Der Himmel war trüb, grau wie Quecksilber, doch blitzschnell hellte er sich auf, verdunkelte sich dann aber wieder, denn Regenwolken trieben über ihn hin, und sein Atem war eisig.

»Wer ist unten?«