Fremde Haut - Jagd auf Nebel und Schatten - Sabine Knop - E-Book

Fremde Haut - Jagd auf Nebel und Schatten E-Book

Sabine Knop

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Beschreibung

Die schüchterne Alicja flieht vor ihrem gewalttätigen Ex-Freund in die Einsamkeit eines Waldes. Als zwei Jäger in ihre Gegend kommen, ahnt sie nichts von den Geheimnissen, die sie mitbringen. Was Wilhelm und Ulf jagen, ist selbst für erfahrene Monsterjäger eine Herausforderung, denn das Wesen kann seine Gestalt ändern. Glücklicherweise ist die junge Frau im Wald genau das, was die Kreatur begehrt und somit der perfekte Lockvogel.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum
Widmung
Hinweis zu Content Notes
Prolog
Kapitel 1
1,5 Jahre zuvor
Kapitel 2
Kapitel 3
Ein Jahr zuvor
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Epilog
Danksagung
Content Notes
Wo die Totenblumen tanzen

Impressum

 

Fremde Haut Jagd auf Nebel und Schatten

 

1. Auflage 2024 Copyright Sabine Magdalene Knop

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Sabine Magdalene Knop (PID:23aa18) c/o auko.media Torgauer Str. 1A 04838 Eilenburg Deutschland / Germany / Allemagne

 

E-Mail: [email protected] Website: www.sabine-knop.de Instagram: @sabine_knop_schreibt

 

Lektorat / Korrektorat: Sarah Di Fabio – Enchanted Editing – www.enchanted-editing.de Unterstützend: Jenn Ashes, Instagram: @ashes.fehlerteufel Kapitelzierden: Canva Pro Covergestaltung: MostlyPremade – Nadine Most unter Verwendung von stock.adobe.com (Maxim, andreiuc88, Photosbyjam, serikbaib, Adikris) Illustrationen: Aylin Kayaloglu

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der eng bemessenen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar, sofern keine vorherige schriftliche Zustimmung des Autors eingeholt wurde. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, die öffentliche Zugänglichmachung und die Einspeicherung sowie Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

 

Fremde Haut

 

Jagd auf Nebel und Schatten

 

von

 

Sabine Knop

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Widmung

 

Für Oma Edeltraud, die leider nicht mehr lesen konnte, welche Abenteuer Opa Willy hier erlebt.

 

Wir vermissen euch.

 

 

Hinweis zu Content Notes

Liebe Lesende, dieses Buch enthält potentiell triggernde Inhalte, die am Ende dieses Dokuments aufgelistet sind. Über das Inhaltsverzeichnis gelangen Sie, ohne Umwege, direkt dorthin. Sie wurden ans Ende gestellt, da sie die Geschichte möglicherweise spoilern können. Um Ihnen das bestmögliche Leseerlebnis zu bieten bitte ich Sie, diese zu lesen, sollten Probleme mit gewissen Themen bestehen. Ansonsten gibt der Klappentext eine ungefähre Richtung zu erwartender Trigger.

Prolog

 

Er würde nie genug von diesem intensiv rauchigen Aroma bekommen. Wenn er weniger gute Manieren hätte, würde er jetzt anfangen, vor sich hin zu sabbern. Ihm war klar, dass Verena ihn genau beobachtete, während sie das Besteck neben den Tellern drapierte.

Er lauschte dem Lied der frohen Kunde von saftigem, meisterhaft gegrilltem Steak. Eine brutzelnde Melodie des Glücks.

»Du verliebst dich doch nicht gerade? Muss ich mir Sorgen um dich machen?« Die Glockenstimme seiner Frau lenkte seine Aufmerksamkeit nur kurz von seiner Aufgabe ab.

»Wo denkst du hin, Verena? Wenn überhaupt, wäre das nur eine kurze, bedeutungslose Affäre. Mehr nicht.« Für ein Augenzwinkern drehte er sich zu ihr um. Eine Welle der Wärme erfasste sein Inneres, als er sie, mit in die Hüften gestemmten Fäusten und offenem Mund, dort stehen sah. Sie konnte ihre Schauspielerei nur für einen Augenblick aufrechterhalten, warf ihm dann einen Luftkuss zu.

»Ich hole den Salat. Rufst du bitte die Zwillinge?«, bat sie ihn und verschwand durch die Terrassentür in die Küche.

»Klaro.« Mit einem Lächeln im Gesicht drehte er sich in Richtung Schaukel. Das freudige Quieken seiner Mädchen ließ keinen Zweifel daran, dass sie der Sonne entgegen wippten.

»Mädelssssss…« Plötzlich spürte er einen winzigen Stich am Hals bis tief unter die Haut. Seine Umgebung veränderte sich und statt in seinem Garten bei Sonnenschein, stand er mit einem Mal bei dunkelster Nacht vor dem Bürocontainer auf seiner Baustelle. Er konnte den Rohbau seiner Arbeitsstelle vor sich sehen und aus dem Augenwinkel schemenhaft die Silhouette eines Mannes mit Kapuzenpulli wahrnehmen.

Übelkeit stieg in ihm auf und instinktiv versuchte er, sich an die Einstichstelle an seinem Hals zu greifen. Ein brennender Schmerz am Handgelenk stoppte ihn jedoch und ließ ihn aus seinen Erinnerungen erwachen. Seine Unterarme befanden sich über seinem Kopf, seine Ellenbogen neben seinen Ohren. Die Handschellen hielten ihn fest im Griff. Sie waren mit einer Kette verbunden, die an der metallenen Containerwand über ihm befestigt war.

»Mmmppff…«, entkam es seinem staubtrockenen Mund. Langsam dämmerte die traurige Gewissheit wie ein ferner Sonnenaufgang. Er war im Inneren eines zwei mal drei Meter kleinen Materialcontainers gefangen.

Verena … Meine Mädchen …

Schwermut schnürte ihm die Brust ein. Er wollte tief Luft holen, aber seine Nase war verstopft. Verklebt von wiederholtem Nasenbluten. Also öffnete er die Lippen, um besser einatmen zu können. Sein Mund war so trocken, dass seine geschwollene Zunge am Gaumen klebte wie ein Klettverschluss. Der Geschmack von Metall und Staub zwang sich in seinen Mundraum.

Warum kann ich überhaupt noch etwas schmecken? Verena …

Schwach hauchte er die verbrauchte Luft wieder aus. Es war so unendlich anstrengend. Das letzte bisschen Kraft, das er noch hatte, wurde durch die Schmerzen aufgebraucht. Zögerlich versuchte er, seine Augen zu öffnen. Die sandähnliche Substanz, die sich in seinen Augenwinkeln und Wimpern gesammelt und alles verklebt hatte, schien mittlerweile schon unter seine Augenlider gekrochen zu sein. Jede Bewegung mit den Augäpfeln fühlte sich an, als würde ein Dorn durch seine Hornhaut fahren. Entgegen seinen Erwartungen schaffte er es, die Augen zu öffnen, und bereute es sofort. Gleißendes Licht in vollkommener Dunkelheit brannte sich auf seine Linse und blendete ihn.

Wann hat das endlich ein Ende? Ist ein neuer Tag angebrochen? Wie lange bin ich schon hier gefangen?

Langsam versuchte er es erneut. Er wandte sich zur Seite und konzentrierte sich auf die Schatten in der Ecke neben ihm.

Sein Magen fing an zu kribbeln, als sein Verstand ihm übersetzte, was er dort sah. Maden, Fliegen und Käfer. Was vorher ein unterbewusst wahrgenommenes Summen gewesen war, wurde jetzt durch den Anblick und die Erinnerung zu einem unerträglich lauten Brummen. Es mussten hunderte Insekten sein.

Obwohl er sich sofort wieder weggedreht hatte, war dieses Bild in die Rückwand seines Schädels eingebrannt. Jede Menge Erbrochenes. Exkremente aus der Zeit, in der er noch stehen oder hocken konnte und sich nicht selbst besudeln musste. Das alles war in Bewegung wie eine eigenständige Masse. Die gierigen, kleinen Viecher ließen keinen Zentimeter unberührt.

Etwas kitzelte ihn unter dem rechten Auge. Das Gefühl schien die Wange hinunterzufließen. Dann kehrte es ruckartig um und krabbelte auf sein Nasenloch zu.

Etwas versuchte, in seine Nase zu kriechen. Krampfhaft umklammerten seine Hände das kalte Metall der Kette, die seine Fesseln hielt. Schmatzend rissen sich seine Beine aus der schleimigen Verklebung seiner Ausscheidungen am Boden.

Hoch, hoch, weg, weg, weg.

»Mmmmppfffff…« Panik stieg in ihm auf. Er kam nicht mit den Händen an sein Gesicht, um das Insekt zu verscheuchen. Was auch immer es war, floh, als sein Fuß Halt am Boden fand und seinen Körper gegen die metallische Rückwand drückte. Er zog das zweite Bein nach, rutschte ab und landete unsanft auf seinem Steißbein, direkt in der Lache aus stinkendem Schleim. Die Handschellen schnitten schmerzhaft in seine entzündeten Wunden. Während er versuchte, gegen die Schmerzen und den Ekel anzukämpfen, spürte er schon die Schwerelosigkeit im Kopf. In seinem Blickfeld sammelten sich schwarze und weiße Punkte, die anfingen, hypnotisierend für ihn zu tanzen.

Das war nur eine Fliege … Ich kann nicht mehr …

Noch nicht. Lass mich noch einmal Sonnenstrahlen sehen.

Er schloss die Augen und versuchte, sich zu beruhigen.

Mach die Augen auf.

Langsamer als zuvor öffnete er seine Augen. Sein Blick folgte der wellenhaften Wand des Materialcontainers, in dem er gefangen war. Ihm gegenüber war eine Doppeltür. Der Ausgang aus seinem Gefängnis. Die Hoffnung, diesen zu erreichen, hatte ihn zu Beginn seiner Gefangenschaft fast wahnsinnig gemacht. Wäre er nicht so ausgetrocknet, hätte er sie anspucken können, so nah war die Freiheit. Durch die Spalten drang ein Anflug von Sonnenlicht, das ihn zu verspotten schien.

Verena … Meine Mädchen …

Für eine Sekunde war das Licht fort und dann umgehend wieder da.

Was war das? Geht da jemand vorbei? Ist da jemand vor der Tür? Wieder versuchte er, sich mit den Beinen hochzustemmen. Er wollte nach Hilfe rufen, doch gleißender Schmerz ließ ihn zusammenzucken.

Es war, als würde sich ein Skarabäus durch seinen Schädel fressen. Das alte Blut, das bei den vorherigen Migräneanfällen durch seine mittlerweile verstopfte Nase gelaufen war, rann ihm jetzt den Rachen hinab, direkt in seine Lunge. Krampfhaft zog sich alles in seinem Körper zusammen und er rang röchelnd nach Luft. Blut spritzte aus seinem Mund und lief ihm über das Kinn.

Das Rasseln in seinen Lungen machte ihm Angst. Der Schmerz machte ihn blind. Ein paar Mal versuchte er durch verzweifeltes Luftholen das Blut, das in seine Atemwege lief, zu verdrängen, dann gaben Körper und Geist den Kampf auf. Das Einzige, was seinen Leichnam davon abhielt, zur Seite zu kippen, waren die Fesseln an seinen Handgelenken.

Kapitel 1

 

Alicja war sich sicher, keiner der Anwesenden interessierte sich dafür, ob sie ein Profilbild in ihrem Skype-Account hatte oder nicht. Trotzdem saß ein mulmiges Gefühl in ihrem Bauch. Vorsichtig sah sie sich um. Die meisten Plätze in dem Internet-Café waren frei. Ein junger Mann saß an einem Bistrotisch direkt am Fenster. Er hatte Kopfhörer aufgesetzt und beachtete sie nicht. Ihr schräg gegenüber bemerkte sie den Haaransatz eines braunhaarigen Mädchens an einer der anderen Computer-Inseln. Sie sah kurz auf und Alicja konnte ihre weichen Gesichtszüge sehen. Sie schätzte sie auf ungefähr vierzehn.

Bestimmt hat sie strenge Eltern und kann zu Hause nicht ins Internet, fantasierte sie. Dann war da noch die Angestellte des Cafés. Sie lehnte sich mit ihrem Oberkörper gegen die Theke, umringt von Gebäck und hinter sich eine zischende Barista-Maschine. Unbeeindruckt von ihrer Umgebung tippte sie auf ihrem Smartphone herum.

Mit einer Mischung aus Vorfreude und Beklemmung starrte Alicja jetzt auf den Platz für ihr eigenes Profilbild. Er war leer. Kein Risiko eingehen, hatte Zuzanna gesagt, als sie das Benutzer-Konto gemeinsam für Alicja eingerichtet hatten. Es war ein neuer Account mit einer eigens dafür erstellten E-Mail-Adresse, die niemand kannte, außer den beiden Freundinnen.

Es dauerte einen Moment und sie begann auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Die Videoübertragung fing an, sich auf dem Bildschirm aufzubauen. Die pixelige Erscheinung einer Frau mit hohen Wangenknochen, vollen Lippen und einem wilden Haarknäuel auf dem Kopf, wurde immer deutlicher. Auch wenn sie nicht auf Frauen stand, fand sie ihre Freundin Zuzanna wunderschön. Sie genoss es, sie bei den wöchentlichen Videoanrufen sehen zu können. Doch heute war etwas anders.

»Was ist los? Du siehst aus, als hättest du eine Woche nicht geschlafen. So habe ich dich ja noch nie gesehen.« Erschrocken starrte sie auf das bewegte Bild ihrer Freundin auf dem Monitor. Selbst als Zuzanna nach der Geburt von Dawid ein paar Monate nicht richtig schlafen konnte, hatte sie nicht so ausgesehen.

»Ach Ala, ich wollte es dir eigentlich nicht erzählen, aber so langsam scheint es doch ernster zu werden. Werd jetzt nicht sauer, okay? … Ich habe Kopfschmerzen … Schon seit einer ganzen Weile.«

»Wie meinst du das, ›Schon seit einer ganzen Weile‹? Zuzia, wieso erzählst du mir das nicht?« Alicja bekam einen Kloß im Hals, während sie ihre Freundin mit Fragen bombardierte. Erst als sie aufhörte zu reden, um sich zu räuspern, ließ sie Zuzanna wieder zu Wort kommen.

»Tatsächlich schon bevor du abgereist bist. Aber da habe ich es noch für die üblichen Kopfschmerzen gehalten – zu wenig getrunken oder vielleicht Wetterfühligkeit. Es kam aber immer wieder und wurde schlimmer. Sowas hast du noch nicht erlebt, Ala. Ich musste mich übergeben vor Schmerz.« Zuzanna machte eine kurze Pause. »Jetzt darf ich zwei Mal die Woche in die Klinik nach Dortmund. Ich bin denen wohl genug auf den Sack gegangen, damit sie es ernst nehmen. Dass Mama einen Hirntumor hatte, hat sie dann wohl auch überzeugt, mich mal zu untersuchen. Wenn sie nicht bald was finden, soll ich stationär nach Bonn. Kurwa, Ala. Ich will nicht dahin, aber Maik behauptet, ich würde ihn manchmal komische Sachen fragen. Ich weiß davon nichts. Der Arzt meint, es könnte sein, dass ich mich daran nicht mehr erinnere, wenn es ein starker Anfall war. Kochana, ich möchte dich damit nicht belasten. Du hattest genug eigene Sorgen. Mach dir also bitte keinen Kopf. Was gibt’s Neues aus dem Wald?« Keck wie eh und je zwinkerte Zuzanna ihr durch den Bildschirm zu.

Alicja war bewusst, dass ihre Freundin überspielte, wie schlecht es ihr ging. Nach fast 18 Jahren Freundschaft kannte man sich eben. Und dann wusste man auch, wann es zu akzeptieren war, dass der andere nicht über etwas reden wollte. Trotzdem würde sie sich regelmäßige Updates zu der Kopfschmerz-Sache holen. Das stand fest.

»Das hättest du mir eher sagen müssen. Es gefällt mir nicht, dass du mir so spät davon erzählst. Bitte halt mich auf dem Laufenden und pass auf dich auf«, bat Alicja. »Im Wald gibt‘s nichts Neues. Aber jetzt, wo die Tage immer dunkler werden, werden die Bäume langsam unheimlich. Ich traue mich in so einer einsamen Gegend gar nicht mehr, meine Horror-Bücher zu lesen.«

Zuzanna war die einzige Person, die wusste, wo sie sich aufhielt und mit der sie sich unterhalten konnte. Sie war ihr Fels in der Brandung. Und das schon seit der fünften Klasse. Am ersten Tag in der Realschule hatte sich Zuzanna neben sie gesetzt, ›Hallo, ich bin Zuzia und ich find dich hübsch‹ gesagt und damit quasi beschlossen, dass die beiden Freundinnen sind. Zuzia war das komplette Gegenteil von ihr selbst und diejenige, die ihr den Spitznamen gegeben hatte. Alicja wäre zu lang und die Deutschen könnten es eh nicht richtig aussprechen. Sie war bis heute selbstbewusst, laut und aufgeschlossen – und Alas beste Freundin.

In der Schulzeit hatte Zuzanna sie immer wieder beschützt, wenn die anderen Mädchen dabei waren, sie zu umkreisen, um sie wieder einmal zwischen sich hin und her zu schubsen. Mit einem Mädchen, das sich nicht wehrte und überwiegend auf ihre eigenen Füße starrte, konnten eben nicht viele etwas anfangen. Ihre Freundin hatte teilweise sogar mit Schlägen gedroht, sollte jemand Ala je wieder nerven. Sie wusste bis heute nicht, was sie an ihr fand.

Auch wenn das Erwachsensein ihnen weniger Zeit füreinander ließ, versuchten sie so viel wie möglich gemeinsam zu unternehmen. Seit Zuzia geheiratet und ein Kind bekommen hatte, war dieses ›gemeinsam‹ das Fitnessstudio gewesen.

Ala nahm wieder einen Schluck des warmen Tees, den sie sich zuvor bestellt hatte, und fragte: »Dann gehst du wohl im Moment nicht so oft zum Sport, was?«

Die rhetorische Frage war als Ablenkung gedacht. Nicht nur für Zuzanna, sondern auch für sie selbst. Sie vermisste den intensiven Austausch mit ihrer Freundin – im Gegensatz zu der körperlichen Quälerei, der sie dort ausgesetzt war.

Ihre Freundin hatte sie nach der Geburt ihres Sohnes Dawid nahezu angefleht, sich mit ihr zusammen dort anzumelden, und Ala konnte ihr nichts ausschlagen. Jeden zweiten Tag gingen sie zum Training. Während Zuzia sich auf den verschiedenen Geräten austobte, erzählte Ala ihr, was in den Horror-Büchern passierte, die sie las. Die, die sie sich in der Hütte im dunklen Wald, gar nicht erst traute, aufzuschlagen. Ihre Freundin teilte die Begeisterung für dieses Genre zwar nicht, hatte sich beim Training aber geduldig die blutigen Einzelheiten angehört.

»Nein, leider nicht mehr so oft. Ich versuche an guten Tagen ein bisschen auf das Fahrrad zu steigen. Aber ohne deine Geschichten ist es nicht dasselbe. Schade, dass du im Moment nicht liest. Du solltest es versuchen. Vielleicht holst du dir dafür aber eher eine lustige Story. Irgendwas Fröhliches, Erfundenes. Hauptsache du erzählst mir nie wieder eine, die so endet wie die mit dem Einkaufen und der Milch – oder damit, dass du in einen Wald fliehen musst.« Die Augen von Zuzia sahen sie streng an und ihre Mundwinkel verzogen sich leicht zur Seite.

Ala stockte. Einkaufen? Milch? Doch der letzte Hinweis hatte ihr verraten, was sie meinte. Nein, so eine Geschichte – nach der sie sich in einen einsamen Wald verkriechen musste, wollte Ala definitiv nie mehr durchleben.

»Nein, nie wieder. Versprochen«, versicherte Ala. Wenn es überhaupt möglich war, vermisste sie ihre Freundin jetzt noch mehr als vor dem Videoanruf.

 

1,5 Jahre zuvor

 

Es war Sommer. Dicke Regentropfen fielen auf heißen Asphalt und Dampf stieg vom Boden hoch. Das Getümmel auf dem Parkplatz ließ keinen Zweifel daran, dass Monatsanfang war.

Ala durchsuchte ihr Portemonnaie, ihre Hosentaschen und dann das Ablagefach des Autos. Doch wie immer hatte sie kein passendes Geldstück für den Einkaufswagen dabei. Darum schnappte sie sich einen dieser kleinen Körbe beim Eingang und legte los. Zügig schlängelte sie sich durch die Gänge und versuchte, dabei möglichst unauffällig an den anderen Menschen vorbeizukommen. Sie wäre lieber allein gewesen als in so einem Gewusel. Leute standen zwischen den Regalen und unterhielten sich, versperrten den Weg. Ohne, dass sie sich entschuldigte, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie durch wollte, kam sie an einigen nicht einmal vorbei.

Wieso muss ich mich eigentlich entschuldigen, wenn andere rücksichtslos im Weg rumstehen? Endlich an der Kasse angekommen, hielt sie es dann nicht mehr aus und stellte den Korb auf den Boden vor sich. Sobald sich die Schlange in Bewegung setzte, schob sie ihn mit dem Fuß vor. Entgegen ihrer Planung war der Einkaufskorb so schwer geworden, dass der Tragebügel sich langsam und stetig in ihren Unterarm gedrückt hatte. Der so entstandene Blutstau hatte bereits ein Kribbeln in ihrer rechten Hand ausgelöst. Nachdem sie ihre Sachen auf das Band gelegt hatte, massierte sie sanft und unauffällig die schmerzende Stelle. Der Rückfluss des Blutes war genauso unangenehm wie das vorherige Taubheitsgefühl.

Als sie endlich an der Reihe war, nahm sie den Korb hoch, um ihn wieder mit ihren Einkäufen zu befüllen.

»Entschuldigung, aber den müssen sie hierlassen.« Die Stimme der Kassiererin klang genervt und streng. Wahrscheinlich hatte sie das heute nicht zum ersten Mal sagen müssen.

Ala wurde direkt so heiß im Gesicht, dass die Röte ihre unscheinbaren Sommersprossen übertönte.

Wie unangenehm. Muss sie das so laut sagen? Sie war sich sicher, dass jeder Mensch in diesem Laden sie jetzt anstarrte. Ohne ein Wort ging sie zum Anfang des Kassenbandes zurück und stellte dort ihren Korb zu den anderen.

Auf dem Weg zur Kassiererin fiel ihr Blick auf die Tragetaschen, die sie nun ohne Zweifel gut gebrauchen könnte. Doch ohne jemanden in der dichten Schlange an wartenden Einkaufenden anzusprechen, konnte sie diese nicht erreichen. Sie wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als ohnehin schon – oder sich nochmal entschuldigen müssen. Darum ging sie ohne Tasche zurück.

Sie zahlte und versuchte, ihre Einkäufe zusammen zu sammeln. Sie klemmte sich die ersten Sachen unter einen Arm und musste dann schnell feststellen, dass ihr mindestens noch eine Hand fehlte. Eine Frau, die hinter ihr in der Schlange stand, sah sie herablassend an. Alas übrige Sachen blockierten ihren Kassiervorgang.

Loch, tu dich auf. Die Frau musterte Ala von oben herab, nahm die übrigen Sachen und stapelte sie auf ihren Armen. Ala merkte gleich, dass der Karton mit Milch nicht stabil platziert war. Doch sie wäre eher gestorben, als sich zu beschweren oder darum zu bitten, den Milchkarton anders zu platzieren.

Sie lief Richtung Ausgang. Ihre Augen taten weh, von dem unnatürlichen Schielen. Sie wollte die Milch auf keinen Fall aus ihrem Blickwinkel lassen, aber auch nicht riskieren, mit jemandem zusammenzustoßen. Jeder Schritt brachte die Verpackung gefährlich zum Wackeln.

Die frische Luft, die durch die geöffneten Schiebetüren kam, ließ bei Ala ein Gefühl von Leichtigkeit aufsteigen. Erleichtert atmete sie aus, als sie ihr Auto erblickte und sicher war, es bis dorthin zu schaffen, ohne weitere, peinliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie machte einen großen Schritt darauf zu.

Das war der Moment der Unachtsamkeit, auf den das Universum gewartet hatte. Der Karton mit Milch fing an, gefährlich zu kippen und zu rutschen. Sie betete innerlich, dass er noch bis zu ihrem Wagen bei ihr bleiben würde. Doch selbst der Schlangentanz, den sie vollführte, um das Unvermeidbare zu stoppen, half nichts. Sie spürte, wie die kalte, glatte Verpackung der Milch sich langsam ihren Weg über ihren Unterarm erschlich und unbarmherzig nach unten kippte. Sie blieb stehen und kniff resignierend die Augen zusammen. Regen sammelte sich in ihrem Haar und auf ihren Schultern. Bitte lass es wenigstens niemanden sehen.

Sie konnte fühlen, wie der Karton den Kontakt zu ihrer Haut verlor und der Schwerkraft folgte. Doch anstelle eines nassen Klatschers der Verpackung auf dem feuchten Asphalt, vernahm sie ein kaum wahrnehmbares, dumpfes Geräusch. Auch folgte keine laute Explosion des Milchkartons über den Parkplatz. Sie öffnete zögerlich die Augen und sah einem paar kräftiger Hände entgegen. In ihrer Mitte lag der Karton Milch.

Sie waren muskulös, schwielig und sie gehörten niemandem, der am Schreibtisch arbeitete, sondern einem Mann, der Dinge mit seinen Händen baute. Sie schaute die Arme entlang auf ein paar Brustmuskeln, an denen deutlich das nasse, schwarze T-Shirt klebte. Darüber drückten sich runde, athletische Schultern gegen den Stoff. Zu guter Letzt sah sie in das symmetrische, markante Gesicht eines Mannes, der mindestens einen Kopf größer war als sie. Dunkle, fast schwarze Haare und wundervolle grüne Augen. Letztere stellten einen so krassen Kontrast zu dem Schwarz dar, dass sie durch ihre Präsenz hypnotisierend wirkten.

Ala war derart eingeschüchtert vom Aussehen des Mannes, dass sie sich kaum traute, ihm ins Gesicht zu schauen.

»Darf ich?«, fragte er – wohl aus reiner Höflichkeit, denn er griff direkt zu. Mit einem charmanten Lächeln nahm er ein paar andere Sachen von ihren Armen und folgte ihr wie selbstverständlich zu ihrem Auto.

Ala ging ohne ein Wort und völlig perplex vor ihm her. Den Blick gesenkt, steuerte sie quer über den vollen Parkplatz auf ihren Golf II zu. Ihr langes, dunkelblondes Haar fing an, vor ihre Augen zu rutschen und ihr die Sicht zu nehmen. Ihr schmales Gesicht verschwand schnell hinter den nassen Strähnen, die bis zu den Ellenbogen reichten. Dieser Mann vereinnahmte sie mit seiner Präsenz. Sie hatte das Gefühl, im Schatten eines Baumes zu stehen. Mit 1,75 Meter war Ala in der Bredouille, in hohen Schuhen größer zu sein als die meisten Männer. Da sie solche allerdings nur trug, wenn ihre beste Freundin es für nötig hielt, hatte sie das Problem nicht oft. Bei ihm hätte sie das selbst dann nicht.

Ihr Blick blieb weiter gesenkt – auch noch als die Einkäufe im Kofferraum verstaut waren. Sie schob nicht einmal ihre Haare hinter die Ohren, um besser sehen zu können, denn sie hoffte, dass so ihre Unsicherheit verborgen blieb.

»Danke schön«, stammelte sie vor sich hin. Dann wartete sie auf eine Floskel, die ihr klarmachen würde, dass er sich jetzt wieder den wichtigen Dingen in seinem Leben widmete. Er reagierte jedoch nicht. Stand nur da und schien auf etwas zu warten. Ala starrte auf seine Schuhe. Die Unsicherheit kroch wie eine Schlange ihre Kehle hoch.

Worauf wartet er? Unkoordiniert spielte sie mit ihren Fingern. Dabei spannte sie den Bauch an, um dem Drang zu widerstehen, hier und jetzt vor Nervosität an ihren Fingernägeln zu kauen.

Es half nichts – er ging nicht weg. Also zwang sie sich, ihn anzusehen. Zögerlich wanderte ihr Blick von seinen nassen Schuhen zu den Knien unter einer dunklen Jeans. Als sie an dem Saum seines T-Shirts ankam, versuchte sie den Kloß im Hals hinunterzuschlucken. Mit beiden Händen nahm sie die Strähnen vor ihrem Gesicht und führte die tropfenden Haare hinter ihre Ohren. Vom Rande des T-Shirts wanderte sie mit ihren Augen weiter seinen Körper entlang. In ihr tobte pures Chaos.

Während ihr Herz vor Aufregung raste und sie den Anblick heimlich genoss, waren ihre Muskeln so angespannt, dass sie bei dem kleinsten Schreck-Moment anfangen würde zu rennen.

Eine Weile starrte sie auf seine Brust. Als ihr klar wurde, was sie da tat, stieg ihr die Hitze erneut ins Gesicht und sie spürte, wie ihre Wangen rot glühten. Sie zwang sich, endlich auf sein Kinn zu sehen, dann auf seine Lippen und dann zur Nase. Erst als sich nach einer gefühlten Ewigkeit ihre Blicke trafen, sagte er mit einem Lächeln: »Gern. Ich bin Peter. Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?«

 

Kapitel 2

 

Sein Geländewagen war ein zuverlässiger Mitsubishi Pajero, mit dem er schon viel erlebt hatte, und doch dachte er: Wenn die Scheibenwischer etwas heftiger über die Windschutzscheibe fegen, reißen sie ab.

Der kräftige Wind und der Regen bewirkten, dass die Wischerarme sich quälend langsam zur rechten Seite hinarbeiteten, nur um kurz darauf zurückgeschleudert zu werden. Er empfand das Quietschen und Schlagen der Arme dabei fast schon als hypnotisierend rhythmisch.

Es war stockdunkel auf dieser verlassenen Landstraße. Der Regen und die Nacht verschlangen alles, was es an Licht einmal gegeben hatte. Nicht einmal der zunehmende, fast schon volle Mond war zu sehen. Dieser war, seit der Tag sein Ende gefunden hatte, wie ein Nachtlicht am Himmel mit ihm mitgefahren. Straßenbeleuchtung in dieser verlassenen Ecke Polens schien nicht beliebt zu sein.

Bis auf das Scheinwerferlicht vor ihm auf der Straße war das Hellste, was ihn jetzt begleitete, die Glut seiner Zigarette. Vermutlich trug der abgestandene, von der Heizung erwärmte Zigarettenrauch dazu bei, dass ihm langsam die Augen schmerzten. Sie fühlten sich trocken an und von Zeit zu Zeit war sein Blick etwas verschwommen. Es könnte aber auch an der Müdigkeit liegen – nach bald 1.300 Kilometern Fahrt mit nur kurzen Pausen.

Surrend ließ er das Fenster ein Stück runter und schnippte den Zigarettenstummel in den Regen. Höchstens 10 Sekunden hatte das gedauert und dennoch waren seine Finger dabei nass geworden.

Eine kurze Schimpftirade entkam seinen Lippen, um dem Ärger über sich selbst Ausdruck zu verleihen. Er war zu müde, um weiter durch diese verfluchte Nacht zu fahren. Doch jetzt half es nichts. Zwischen der Straße, auf der er sich befand, und dem Naturschutzgebiet, zu dem er wollte, gab es keinen Fleck mehr, wo er hätte Rast machen können.

Er nahm sich eine neue Zigarette aus der Schachtel in seiner Brusttasche und steckte sie an. Dann stieß er mit dem Zeigefinger gegen die Krempe seines Jagdhutes. Mehr sehen konnte er dadurch nicht. Durch die Scheibe konnte er nur vage die Straße im Scheinwerferlicht erkennen. Dahinter erahnte er tiefschwarze Schatten von Bäumen. Die unterschieden sich kaum von den etwas weniger schwarzen Wolken darüber.

Eine gute Stunde würde er für das letzte Stück der Reise Richtung Urwald brauchen. Den Schlüssel für die Hütte hatte er von dem Förster in Białystok bekommen, der die Häuser vermietete.

Sie musste sich ja die am dünnsten besiedelte Region Polens aussuchen, um zu verschwinden. Glücklicherweise gab es neben ihrer Hütte zwei weitere Unterkünfte in der Umgebung zu mieten. Eine für ihn und eine für Ulf. Somit waren jetzt alle Hütten belegt und es konnten keine ungebetenen Gäste dazustoßen.

Er freute sich darauf, auf seinen alten Freund zu treffen. Ulf war schon von klein auf in der Gilde und hatte ihm alles beigebracht, was er wissen musste.

Als Teenager waren sie sich auf einem abgelegenen Industriegelände begegnet. Ulf war gemeinsam mit seinem Vater wegen eines Auftrags dort gewesen. Beide waren damals von dem obdachlosen Straßenjungen angetan und nahmen ihn auf.

Obwohl – oder gerade weil Ulf ihn mit dem Rauchen und seinem silberwerdenden Haar aufzog, waren die Beiden nun schon seit vierzig Jahren wie Brüder.

Was hat er erwartet? Mit 55 wird das Haar nun mal dünner. Kann ja nicht jeder extra lange jung bleiben. Aber selbst der wird mal alt werden, da war er sich sicher. Immerhin war er von Haarausfall verschont geblieben und konnte sich einen pechschwarzen, nur gelegentlich von Silber durchzogenen Zopf binden. Und darauf kam es ihm am meisten an.

Eigentlich wollte er seinen Freund anrufen. Einmal, um sich während der Fahrt wach zu halten und zum anderen, um sich abzustimmen. Doch der Regen prasselte schon seit Białystok so aggressiv auf das Wagendach, als wollte er ihn persönlich aus dem Auto schwemmen. Darum entschied er sich, erstmal für sich selbst alles noch einmal durchzugehen. Er fuhr mit seinen, vom Nikotin gefärbten Fingern am stoppeligen Kinn entlang und nahm dann einen tiefen Zug von der Zigarette.

Alicja Mazur zu folgen, war ein strategischer Schachzug. Denn all die anderen Versuche, sein Ziel zu erreichen, waren in den vergangenen Jahren immer kurz vorher gescheitert. Es war nicht einfach gewesen, sie zu finden. Doch das machte es nur noch interessanter, sie aufzuspüren.

Ohne seine Kontakte zur Hackerszene hätte es wohl um einiges länger gedauert. Dann wäre, auf die altmodische Weise, Ulfs Spürnase zum Einsatz gekommen. Aber auch auf diese Art hätten sie sie sicher gefunden.

Die Frau im Wald war nicht das eigentliche Ziel, doch besser als gar nichts. Denn jedes Mal, wenn sie brauchbare Spuren fanden, verschwand seine Zielperson wieder. Deren Auftreten korrelierte oft mit unerklärlich schweren Fällen von Migräne oder Schwachsinnigkeit. Das erschwerte die Suche ungemein, denn Kranke gab es viele. Aber das machte es für ihn nicht unmöglich.

Letzten Monat hätten sie ihr Ziel wieder einmal fast gehabt, doch bevor sie zuschnappen konnten, war diesmal nicht nur er, sondern auch sie verschwunden. Allein bei dem Gedanken an die leere Wohnung kroch ihm die Galle den Hals hoch.

Tatsächlich fand er das Verhalten seines Zieles mittlerweile untypisch. Es verschwand in der Regel erst, wenn sein Opfer mittellos und verzweifelt dem Selbstmord nahe war. Alicjas Konten waren allerdings weiterhin prall gefüllt. Das ließ ihn langsam glauben, sie wären Komplizen oder gar ein echtes Paar.

Glücklicherweise gehörte Alicja, im Gegensatz zu ihrem potenziellen Partner, zu den modernen Menschen, die immer alles mit Karte bezahlten. Sie machte es Leuten wie ihm ungemein leicht, jeden ihrer Schritte zu verfolgen. Anhand der Abrechnungen, die er erhalten hatte, konnte er sehen, dass sie meist einmal die Woche nach Białystok fuhr, einkaufte und sich in einem Internet-Café aufhielt. Was genau sie dort tat, konnte er leider nicht herausfinden. Ihre alten E-Mail- und Social Media Konten waren kalt und ohne Aktivität, genauso wie ihr Handy. Doch was wollte sie sonst in einem Internet-Café am gefühlten Ende der Welt, wenn nicht Kontakt mit jemandem halten? Mit einem Verbündeten, der sich ebenfalls versteckte vielleicht? Sie war jetzt seit fast einem Monat dort. Soweit er wusste, allein.

Er schnippte die nächste Zigarette aus seinem Fenster und schloss es sogleich wieder. Der Regen ließ zwar etwas nach, doch sein Ärmel war jetzt trotzdem richtig nass. Die Nacht blieb schwarz wie eh und je. Der beginnende Wald türmte sich wie die Felswände in einer Schlucht neben der Straße auf. Wenn er versuchen wollte, zu telefonieren, sollte er es hier tun. Tiefer im Wald würde er keine Chance dazu haben. Er wählte Ulfs Nummer. Es klingelte nur einmal, dann hörte er schon die Stimme seines Freundes.

»Was ist das denn für ein Lärm bei dir?« Ulf schrie ins Telefon wie ein Matrose bei rauer See, was ihm ein leichtes Klingeln im Ohr bescherte. Die In-Ear-Kopfhörer schmetterten das Geschrei direkt gegen sein Trommelfell.

»Du kannst doch einfach dein Telefon leiser stellen, wenn dir das zu laut ist. Ich sitze im Auto bei apokalyptischem Regen, der sich aber wohl doch entscheidet, langsam weiterzuziehen. Ich schätze, in vierzig Minuten sollte ich bei der Hütte ankommen. Wann wirst du eintreffen?« Während er sprach, griff er mit den Fingern um seinen Ärmelsaum. Anschließend rieb er den Stoff gegen die Innenverkleidung der Fahrertür, um die letzten Regentropfen wegzubekommen.

»Ich bin noch in Dortmund und kann erst am Dienstag hier los. Wenn alles gut geht, bin ich abends da. Im schlimmsten Fall aber am Mittwoch. Hat sie irgendwas Interessantes gemacht oder gibt’s sonst etwas Neues?«

»Moment, das ist in vier Tagen. Warum kommst du nicht … Ach so. Ist es schon wieder diese Zeit im Monat?« Fast hätte er es vergessen. Wäre nicht das erste Mal, dass er sich nicht um die Mondphasen scherte. Sein Freund gab nur einen gepressten Laut genervter Zustimmung von sich, dann antwortete er auf die Frage. »Nein, nichts Neues. Sie geht einkaufen und ins Café, mehr nicht. Bin schon gespannt zu sehen, was sie sonst so den ganzen Tag macht. Ich frage mich immer noch, ob das nicht doch eine Falle ist.«

»Hmmm… wissen wir nicht. Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie wissen, was er so treibt. Sie müsste schon genauso gut schauspielern wie er, um das zu verstecken. Aber sei trotzdem vorsichtig.« Auch wenn Ulfs Worte Zweifel beinhalteten, schwang doch etwas Sorge darin mit.

»Bin ich immer. Ich kann ja erstmal den Test machen.« Er steckte sich erneut eine Zigarette an und zog lang den nikotinschwangeren Rauch in seine Lungen. Rauchen und telefonieren waren die einzige Beschäftigung, die er beim Autofahren hatte. Wobei er sich auch außerhalb des Autos gerne mit Ersterem beschäftigte.

»Kannst du nicht wenigstens beim Telefonieren nicht rauchen? Ach egal … Mach dein kurzes Leben ruhig noch kürzer. Du müsstest ja keinen Neuen suchen und anlernen.« Ulf machte eine kleine Pause. »Das mit dem Test ist eine gute Idee. Viel Glück. Wir sehen uns spätestens Mittwoch.« Resignation schwang in Ulfs freundlicher, offener Stimme mit.

»Wir sehen …«, setzte er an, doch da signalisierten ihm schon drei hohe Töne, dass sein Gesprächspartner entweder aufgelegt oder das Handy keinen Empfang mehr hatte. Ein kurzer Blick auf das Display schaffte Gewissheit. Keine Balken, kein Netz, kein Empfang. Ab jetzt war er wieder allein in der Finsternis. Er, seine Scheinwerfer und die Glut seiner Zigarette.

 

Kapitel 3

 

Der Novemberregen machte seinem Namen alle Ehre. Seit drei Wochen war sie schon in dieser Hütte und es hatte durchgehend geregnet. Dieses kleine Blockhäuschen aus Rundholz war von Zuzia als ein Ort der Abgeschiedenheit im Urwald Białowieża beworben worden.

»Dort wird er dich niemals finden«, hatte sie gemeint. »Ein Ort zum Entspannen und für Digital-Detox im Naturschutzgebiet. Das wird dir guttun.«

Das Gespräch von letzter Woche hallte noch in Alicjas Gedanken nach. Zuzia war krank. So wie sie es runtergespielt hatte, musste es was Ernstes sein. Vielleicht sollte sie nicht bis Samstag warten, um sich wieder bei ihr zu melden.

Nein, ich rufe vorher nochmal an. Morgen oder übermorgen. Dann würde sie wieder zu dem Internet-Café in der Stadt fahren. Es war tatsächlich so, dass sie hier im Wald keinen Empfang hatte. Für die Abgeschiedenheit, die sie brauchte, sollte es keinen besseren Platz geben. Ihr Ziel war nicht das Entgiften vom Einfluss der sozialen Medien, Telefonstrahlungen oder gar Feinstaub in den Großstädten. Nein, was sie wollte, war direkter. Sie wollte weg von ihrem Exfreund.

Ein Windstoß trieb dicke Regentropfen gegen ihr kleines Sprossenfenster. Sie selbst saß mit einer warmen Tasse Fencheltee daneben. Ihre Hand streichelte geistesabwesend den verlebten Sessel. Der Cordbezug war angenehm weich und kitzelte ihre Handinnenfläche. Die verblichene Farbe musste einmal ein kräftiges Rot gewesen sein, schätzte sie. Dann schweifte ihr Blick wieder zum Fenster. Der Ausblick wurde durch das fließende Wasser an der Scheibe unterbrochen. Dahinter könnte sie ohnehin nur in den dunklen, nassen Wald blicken. Selbst wenn es nicht regnen würde, wäre es nicht möglich, weit hineinzusehen. Der Urwald war alt und dicht bewachsen. Farne wuchsen hüfthoch und am Boden lagen alte Bäume und Stümpfe, die mit Moos bedeckt waren. Dieses geschützte Gebiet, so hatte sie im Prospekt gelesen, war zehntausend Jahre alt.

Sie liebte es, sich bei Tag die verschiedenen Rinden der Bäume anzusehen. Fichten, Eichen, Ahorn und Birken. Ein krasser Gegensatz zu den Monokulturen in Deutschland. Flechten krochen die dicken Stämme hinauf, als wäre man in einem verzauberten Wald. Es könnte ein malerischer Ort sein. Als sie am Ende des Herbstes hergekommen war, war er das auch. Mit seinen Blättern in orange, rot und gelb hatte er sie in eine Märchenwelt gezogen. Jetzt im Winter, mit kurzen Tagen und wenig Laub an den Bäumen, war er das nicht mehr. Heute, mit dem zusätzlichen Regen, war dieser Wald einfach nur furchtbar unheimlich – dunkel und voller Schatten.

Das Feuer im Kamin spiegelte sich im Glas des Fensters und intensivierte das Dunkel in den Ecken des Zimmers. Es tanzten zwischen den Rundhölzern, aus denen die Hütte gebaut worden war und hinter den Erhöhungen im groben Rigips an der Wand zum Schlafzimmer. Sie kamen abwechselnd in ihre Richtung, nur um dann gleich wieder zurückzuweichen. So viel Bewegung in ihren Augenwinkeln machte sie nervös. In diesem kleinen Raum hatte sie den Eindruck, die Schatten würden sie anspringen wollen. Doch ohne den Kamin würde sie frieren und so hatte sie keine andere Wahl, als zu versuchen, dieses ungute Gefühl an sich vorbeiziehen zu lassen. Unbewusst schweifte ihr Blick regelmäßig vom Fenster und dem Wald dahinter zur Tür ihr gegenüber.

Dahinter lag die altmodische Küche, die tatsächlich mit einem alten Holzofen ausgestattet war. Alas Oma hatte früher auch so einen gehabt. Die Küchenzeile hatte kleine runde Knöpfe als Griffe und war cremefarben gehalten. Bei ihrer Ankunft hatte sie schnell gemerkt, dass diese nur locker im Holz saßen und sich die Beschichtung nicht nur rau anfühlte, sondern teilweise schon abblätterte.

Im Dunkeln würde sie hier definitiv keine Schranktüren öffnen. Beim ersten Mal hatte sie sich vor dem schrillen Knarzen so erschrocken, dass sie beinahe nach hinten gestolpert wäre. Insgesamt hatte Ala den Eindruck, das Haus wäre lebendig. Es knackte und quietschte überall. Das Holz, aus dem es gemacht war, dehnte sich in der Wärme des Kamins und zog sich durch die Kälte des Winters wieder zusammen.

Der Ursprung der Angst, die in Ala steckte, lag aber nicht in dem Haus mit seinen Geräuschen und Schatten. Was ihren Magen regelmäßig verkrampfen ließ, war die Vorstellung, dass sich die Haustür öffnen würde, während sie in diesem Sessel saß. Das Gefühl hatte sie aus Deutschland mitgebracht. Die Angst davor, dass er hereinkam. Obwohl es hier anders war als zuhause, war die Situation trotzdem schwer zu ertragen.

Wie hatte es nur so weit kommen können? Sie war schon immer schüchtern und zurückhaltend gewesen. Doch wie konnte sie sich durch die Aufmerksamkeit, die ein schöner Mann ihr schenkte, nur selbst so verraten?

Sie nahm wieder einen vorsichtigen Schluck von ihrem warmen Tee, sah aus dem Fenster und atmete wehmütig aus.

Ja, wie ist es nur so weit gekommen? Sie dachte kurz an die Geschichte, die sie Zuzia erzählt hatte. Die, von der sie beim Skypen letzte Woche gesprochen hatte. Der verregnete Sommertag vor anderthalb Jahren, an dem sie einkaufen gewesen war. Mehr als einmal hatte sie sich mittlerweile gewünscht, die Milch wäre damals zu Boden gefallen und alle auf dem Parkplatz hätten sie ausgelacht. Es wäre besser gewesen, als Peter zu begegnen.

Mit einer Mischung aus Scham und Wut drehte sie sich von dem regennassen Fenster weg. Ihr Blick fiel auf das Selbsthilfebuch, das seit ihrer Ankunft nur einmal den Weg in ihre Hände gefunden hatte. Doch als Ala festgestellt hatte, dass es nicht darum ging, ihr zu helfen, sondern darum, dass der Autor seine Geschichte erzählen und verarbeiten konnte, hatte sie es weggelegt. Sie war nicht interessiert an dem Leid eines Fremden. Sie hatte genug davon in ihrem eigenen Leben – auch ohne, dass andere etwas dazutun mussten. Wieder schaute sie automatisch für einen Moment zur Tür.

Hör auf damit, Ala. Er kommt nicht. Er weiß nicht einmal, wo du bist. Diese mittlerweile einprogrammierte Angst, Peter könnte durch die Tür kommen und wieder sauer sein, auf sie, auf jemanden, auf irgendetwas, verfolgte sie sogar bis in den Urwald hinein.

Nein, er wusste nicht, wo sie war.

---ENDE DER LESEPROBE---