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Die Jagd auf Nebel und Schatten geht weiter! Er verlangt ein Leben für ein Leben … Alicja ist auf dem besten Wege, Monsterjägerin zu werden. Die tief empfundene Abscheu gegen unmenschliche Wesen treibt sie an. Doch für Rul, den Anführer der Gilde und Vater ihres verstorbenen Geliebten, ist sie eine heuchlerische Mörderin. Deshalb schickt er sie auf eine unlösbare Mission. Zusammen mit ihrem Mentor Wilhelm muss sie, entgegen ihrer Überzeugung, mit Vampiren verhandeln. Inmitten der holprigen Kontaktversuche stellen diese eine beunruhigende Veränderung bei dem Monsterjäger fest: An ihm haftet ein schwarzer Schatten. Um ihren Mentor zu retten, wird Alicja allerdings mehr benötigen, als nur die Unterstützung der Vampire.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Ruls Fluch Jagd auf Nebel und Schatten 2
1. Auflage 2024 Copyright Sabine Magdalene Knop
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Sabine Magdalene Knop (PID:23aa18) c/o auko.media Torgauer Str. 1A 04838 Eilenburg Deutschland / Germany / Allemagne
E-Mail: [email protected] Website: www.sabine-knop.de Instagram: @sabine_knop_schreibt
Lektorat / Korrektorat: Sarah Di Fabio – Enchanted Editing – www.enchanted-editing.de 2. Korrektorat: LYRA LEKTORAT – www.lyra-lektorat.de Kapitelzierden: Canva Pro Covergestaltung: MostlyPremade - Nadine Most unter Verwendung von stock.adobe.com (robsonphoto, terra.incognita, faestock) Illustrationen: Yves Münch – [email protected]
Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der eng bemessenen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar, sofern keine vorherige schriftliche Zustimmung des Autors eingeholt wurde. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, die öffentliche Zugänglichmachung und die Einspeicherung sowie Verarbeitung in elektronischen Systemen.
von Sabine Knop
Liebe Lesende, dieses Buch enthält potentiell triggernde Inhalte, die am Ende dieses Dokuments aufgelistet sind. Über das Inhaltsverzeichnis gelangen Sie ohne Umwege direkt dorthin. Sie wurden dort platziert, da sie die Geschichte möglicherweise spoilern können. Um Ihnen das bestmögliche Leseerlebnis zu bieten, bitte ich Sie, diese zu lesen, sollten Probleme mit gewissen Themen bestehen. Ansonsten gibt der Klappentext eine ungefähre Richtung zu den zu erwartenden Triggerpunkten.
Rul
»Hast du alles, Wolf?«, fragte die Greisin mit dem Krächzen eines Raben in der Stimme. Ihre knorrigen Finger streckten sich nach Rudolf aus.
»Ich denke schon«, antwortete er und umfasste dabei den Trageriemen seines Beutels. Es fühlte sich falsch an, hier zu sein und um das zu bitten, worum er bat. Doch er ertrug nicht länger, dass diese Mörderin durch die Gilde stolzierte. Sie trainierte jeden Tag, unterhielt sich mit den anderen und lachte. Das alles mit einer Leichtigkeit, als hätte sie vergessen, dass sie seinen Sohn umgebracht hatte. Dass sein Tod ihren Ausführungen nach ein tragischer Unfall gewesen war, spielte für ihn keine Rolle. Er selbst war dazu verdammt, ihr bei diesem Schauspiel zuzusehen.
Er! Rudolf Eberwin. Werwolf und Oberhaupt der Monsterjäger-Gemeinschaft. Darauf eingeschworen, keinem Menschen etwas zuleide zu tun, und sie vor den finsteren Wesen dieser Welt zu schützen. Natürlich konnte er ihr nicht selbst etwas antun, das würde seinem Kodex widersprechen. Aber die Hexe vor ihm, die konnte es. Der Rabe auf ihrer Schulter starrte ihn an. Schien jede seiner Bewegungen zu verfolgen und dabei abzuwägen, wann er in die Falle tappen würde.
Trotz der Vorahnung, dass dieses Treffen nicht gut ausgehen würde, stand Rudolf vorgebeugt vor dem alten Weib, die Augenbrauen tief über den Augen hängend.
»Zeig her, was du mitgebracht hast. Zeig mir das Persönliche«, forderte sie und streckte ihm dabei ihre Hand entgegen.
Er kramte kurz in seinem Beutel und zog dann ein Stoffbündel heraus. Die Hexe riss es an sich und faltete es ungeduldig auf.
In der finsteren Hütte war kaum Licht vorhanden. Doch selbst im flackernden Schein der Kerzen begann das Silber zu glänzen.
Gespannt beobachtete er ihre Handgriffe. Würde sie das Metall berühren? Würde ihre Haut bei dem Kontakt genauso zischen und verbrennen wie seine – wie die aller Monster?
Die Alte nahm den Griff des Dolches und zog ihn aus der Scheide. Ihre Haut zeigte keinerlei Reaktion. Vor Überraschung bildeten sich Falten auf seiner Stirn. Sie hatte die Bewegung gesehen und grinste ihn schadenfroh an. Breit genug, dass er ihre fauligen Zähne sehen konnte. Rudolf war sich sicher, einen modrigen Geruch wahrzunehmen.
Er versuchte, den Ekel hinunterzuschlucken und mit ihm das Gefühl, das seinen Magen hinaufkroch und ihn stetig daran erinnerte, dass es falsch war, hier zu sein.
Das Weib mit dem strohigen Haar musterte den Dolch.
»Blaues Blut? Wer wurde damit getötet?«, fragte sie, ohne den Blick von der Waffe zu nehmen.
»Mein Sohn«, murmelte Rudolf so leise, dass es beinahe ein Hauchen war.
»Ja, dein Wolfssohn. Dieser Dolch wurde von fremder Hand geführt«, merkte sie an und schaute auf den tödlichen Gegenstand.
»Ist das ein Problem? Er war in ihrem Besitz. Vor, während und nach dem Mord«, sagte er durch zusammengepresste Zähne.
»Nein. Ihre Energie haftet daran. Ich spüre, wie ihre Schuld sich festgesaugt hat wie ein Blutegel. Das Haar wird den Weg weisen, zu welchem Besitzer des Dolches der Schatten soll. Hast du es dabei?« Sie leckte sich die trockenen Lippen und entblößte eine Zunge voller Altersflecken. Der Anblick erinnerte Rudolf an eine schimmlige Rosine. Er räusperte sich kräftig, um ein angewidertes Stöhnen zu unterdrücken, und heftete anschließend seinen Blick wieder auf seinen Jutebeutel.
Er musste kurz danach suchen, doch dann ertastete er die kleine Dose. Entdeckt hatte er sie zwischen dem Sammelsurium seiner Erinnerungsstücke. Mit diesen Pfefferminzdosen hatte sein Junge als Kind gerne gespielt, Kräuter und manchmal auch kleine Frösche gesammelt. Jetzt bewahrte dieses fröhliche Kinderspielzeug die blonde Strähne einer Mörderin auf.
Als er wieder zu der Hexe sah, zog diese ein langes Haar aus der Scheide des Dolches. Sie starrte es an, als würde es mit ihr reden. Als hätte es ihr die Antwort zu einem alten Rätsel verraten. Auch ihr beinah erschrockener Blick, als Rudolf zu sprechen begann, war seltsam.
»Dann brauchst du die anderen Haare wohl nicht?«, fragte er unschlüssig.
»Es kann nicht schaden, sie zu haben, falls der Fluch verstärkt werden muss. Gib her«, forderte sie und nahm die Dose an sich. Sie klappte sie auf und betrachtete die vier Härchen, die er aus Alicjas Bürste gezogen hatte.
Auf diesen Haaren ruhte ihr Blick nicht sonderlich lange. Sie drehte sich zu ihm um und fragte erfreut: »Was hast du mir noch mitgebracht? Etwas Verdorbenes?« Sie stieß ein hohes, schrilles Kichern aus, das den Vogel auf ihrer Schulter dazu veranlasste, das Weite zu suchen. Zu Beginn klang es wie ein Husten und wurde dann zu einem Geräusch, als wäre jemand einer Maus auf den Schwanz getreten.
Er griff erneut in seine Tasche, holte ein kleines zusammengefaltetes Stück Küchenrolle hervor und reichte es ihr. Sie nahm es nah an ihre Nase und sog dann tief den Geruch des Papiers ein.
»Ah! Du hast mir eine Blume mitgebracht, Wolf. Wie aufmerksam von dir.«
Sie faltete das Papier auseinander und enthüllte, was einst rote Blüten gewesen waren. Erneut roch sie daran und murmelte: »Papaver rhoeas.«
Der Klatschmohn war bräunlich und verschrumpelt. Er hatte so lange in der Gilde in einer kleinen Vase mit Wasser gestanden, dass flaumiger Schimmel den Stamm hochgekrochen war. Die Blume stank wie Kompost und zog winzige Fliegen an.
Die Alte kicherte erneut. »In einigen Ländern ist sie das Symbol zum Gedenken an gefallene Soldaten. Sie steht für dein Leid, Wolf«. Damit drückte sie den Finger in seine Wunden und leckte sich erneut über die Lippen, als könnte sie in diesem Augenblick seinen Schmerz schmecken.
Wenn die Mörderin wusste, wofür diese Blumen standen, und sie deswegen in der ganzen Gilde aufstellte, dann war sie noch kaltblütiger, als er angenommen hatte. Jetzt würde sein Herz jedes Mal brennen, wenn er diese leuchtend roten Blumen sah.
Die Hexe kicherte erneut. Er konnte spüren, wie das Blut aus seinem Kopf in seine Körpermitte floss und seine Sinne schärfer wurden. Seine Fingerspitzen kribbelten und er hatte Mühe, seine Beine ruhig zu halten.
Alles in ihm sträubte sich dagegen, dieser Frau zu vertrauen. Die wachsende Angst in ihm machte das mehr als deutlich. Gefahr lag in der Luft.
Zwei Gegenstände noch. Dann konnte er gehen und musste Walpurga Hausmännin nie wiedersehen.
Er reichte ihr das Einmachglas mit dem weißen Pulver. Ihre Hände schnappten danach wie ein Krokodil nach seiner Beute. Ihre langen Nägel klimperten gegen die Oberfläche des Behältnisses.
»Aus Disteln, ja?«, fragte sie misstrauisch.
Er nickte. »Pottasche aus Disteln. Ich habe sie selbst gepflückt und die Asche hergestellt. Reinere hast du noch nie erhalten«, sagte er stolz. Sie hatte ihm klar gemacht, dass die Kaliumsalze in dieser Substanz rein sein mussten, um das violette Feuer zu entzünden. Es war das Tor zur Schattenwelt. Ohne Tor kein Fluch.
»Dann hast du jetzt alles, was du brauchst«, sagte er, in der Hoffnung, sie würde das vergessen, was für ihn zu beschaffen am schwersten gewesen war.
»Ja, für den Fluch habe ich alles. Wenn du mir meine Bezahlung gibst, werde ich sofort beginnen.«
Mit beiden Händen formte sie wie ein Bittsteller eine Schale und starrte ihn mit offenem Mund und leuchtenden Augen an. Er atmete tief ein, sodass sein Brustkorb spannte, legte den Beutel vor sich auf den Tisch und nahm vorsichtig die durchsichtige Plastiktüte heraus.
Im Inneren befand sich ein Herz in der Größe einer kleinen Faust. Er legte die Tüte in die Hände der Hexe, die mit geschlossenen Augen zu genießen schien, was sie da hielt. Seine Kehle schnürte sich zu.
Das Herz eines Kindes hatte sie als Bezahlung gefordert. Bevor sie den Auftrag für den Fluch angenommen hatte, war ihr erster Vorschlag gewesen, Alicja lebendig zu ihr zu führen. Sie könnte ihre Energie gebrauchen, was auch immer dieses bösartige Weib damit gemeint hatte. Doch die Mörderin seines Sohnes zu entführen, war genauso ausgeschlossen, wie sie eigenhändig aus dem Weg zu räumen. Daraufhin hatte die Hexe den Auftrag angenommen, gegen Bezahlung mit einem Kinderherz.
»Erzähl mir von dem Kind«, forderte sie mit leuchtenden Augen. Rudolf räusperte sich.
»Er war ein kräftiger Bursche von sechs Jahren. Ein Weise bei uns in der Gilde. Er hat schon öfter versucht, davon zu rennen. Man wird ihn nicht vermissen«, berichtete er und schluckte schwer. »Du hast jetzt alles, was du verlangt hast. Wirst du ausführen, worum ich dich gebeten habe? Ich muss zurück, bevor es Tag wird.«
Erneut erklang ihr hohes, quietschendes Kichern. Sie zeigte mit ihrem knöchernen Finger auf ihn und sagte: »Deinen Fluch sollst du bekommen, Wolf. Ein schwarzer Schatten, der seelisches Leid mit sich bringt, bis der Lebenswille versiegt.«
Mehr als ein stockendes Nicken brachte er nicht zustande. Dann drehte er sich von dem Tresen weg, schritt durch die Schatten der Flammen zur Tür und dahinter in den dunklen Wald, ohne sich umzusehen.
Mit einem Stoßgebet in seinem Kopf flehte er alle Mächte dieser Welt an, dass die Alte nicht bemerkte, dass es das Herz eines Lammes gewesen war.
Alicja
Es zischte, der Geruch von versengtem Haar lag in der Luft. Nur flüchtig, aber intensiv genug, um Alicja Mazur ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.
Ein Knurren holte sie zurück in den Kampf. Ihr Gegner war gewaltig. Der Werwolf hatte die Größe eines Kleinwagens und Zähne so lang wie ihre Hand.
Er kauerte sich in Richtung Boden und lief vor ihr einen Halbkreis ab. Alicja schlich rückwärts vor ihm her. Als der übergroße Gegner sich ihr zuwandte, blieb sie stehen. Die Knie gebeugt wartete sie darauf, dass er zum Sprung ansetzte. Er schickte noch einen drohenden Ton vor, senkte den Kopf zum Boden und stieß sich dann mit den Hinterbeinen vom Grund ab.
Sie hatte darauf spekuliert, dass er so vorgehen würde, und ließ sich auf die Knie fallen, um sich mit dem Oberkörper zurückzulehnen. Dabei hob sie ihr Schwert vor ihre Brust und drückte es gegen ihren Angreifer. Die Haut am Brustkorb des Wolfes begann zu zischen. Rauch stieg seine Flanke hinauf. Die Schwaden stammten von den versengten Haaren, die sich von seiner Brust bis kurz vor seine Männlichkeit zogen. Eines seiner Hinterbeine landete auf ihrer Schulter und verursachte einen blendenden Schmerz, der sie aufschreien ließ, doch das Schwert hielt sie umklammert.
Das mächtige Tier rutschte mit den Vorderbeinen aus und kam auf dem Waldboden neben ihr auf. Mit einer Drehung auf einem Knie und zitternden Armen kam sie an seiner Seite zum Stehen und hielt das Schwert auf seine Kehle gerichtet.
»Gibst du auf?«, fragte sie zwischen zusammengepressten Kiefern hindurch. Ihr hätte es gefallen, entspannt zu klingen, doch der Schmerz ihrer ausgekugelten Schulter zog sich durch ihren gesamten Arm. Schweiß rann ihr die Schläfen hinab.
Die Hand, mit der sie das Schwert hielt, zitterte. Es war eine stumpfe Attrappe mit Silberbeschlägen. Jeder sollte es mitbekommen, wenn sie den Werwolf traf, doch töten können sollte sie ihn damit nicht. Der hob kurz den Kopf, um Ala anzusehen, ließ ihn dann wieder sinken und atmete lautstark aus. Etwas Staub wirbelte vom Boden auf, als der Luftstoß seine Nase verließ.
Seit etwas über einem Jahr hatte sie sich auf diesen Moment vorbereitet und jetzt, wo das Schlimmste vorüber war, traute sie sich nicht, sich umzudrehen. Bis zu dem Augenblick, in dem das erste Klatschen ertönte. Ein zweites Paar Hände stimmte mit ein, dann ein weiteres. Alicja straffte ihre Schultern, so gut es mit dem Schmerz darin eben ging, und drehte sich um. Sie blickte in vier zufriedene Gesichter, in ein mürrisches mit leicht erhobenen Mundwinkeln und in eines, das eiskalte Verachtung ausstrahlte.
»Eine nette Aufführung. Doch hätte er wirklich die Absicht gehabt, dich tot zu sehen, wärst du das jetzt auch. Mich blendest du damit nicht.« Der Hüne, der sie verspottete, war Rudolf. Von seinen Freunden Rul genannt.
Die Wut, die in ihr aufflammte, schluckte sie hinunter. Sie wusste, warum er sie hasste, und konnte es verstehen. Mehrfach hatte sie versucht, ihm zu erklären, dass das Geschehene nie ihre Absicht gewesen war, und dass sie Ulf, seinen einzigen Sohn, geliebt hatte. Er hatte es nicht hören wollen. Alicja wusste, sein Schmerz saß zu tief. Mehr als einmal mussten die anderen Gildenmitglieder ihn zurückhalten, wenn seine Wut bei ihrem Anblick überhandzunehmen drohte. Mittlerweile konnte er sie wenigstens ansehen, ohne sich in einen Wolf zu verwandeln. Doch sie befürchtete, dass der Hass und die Verachtung wohl nie ganz vergehen würden.
Sein Bruder Olaf und sein einstiger Ziehsohn Wilhelm hatten sich bereit erklärt, sie als Lehrling in der Gilde zu unterrichten, und die anderen hatten zugestimmt, sie aufzunehmen, wenn sie die Prüfungen bestehen sollte.
Diese anderen waren Paul und Kurt, die eigentlich nicht mehr im aktiven Jagddienst standen. Als Hausmeister und Gildenarzt hatten sie sich mittlerweile in eine Art Monsterjäger-Ruhestand begeben. Doch durch den Verlust von Ulf und der körperlichen Einschränkung Wilhelms wurden sie erneut auf die Jagd geschickt. Zuletzt waren da noch Sven und Daniel. Mit Mitte dreißig waren sie das jüngste Jägergespann und viel unterwegs. Ala kannte sie kaum.
Alle waren sie nun hier, um ihre Prüfungen zu bezeugen. Sie hatte bereits in Waffenkunde geglänzt und die unterschiedlichen Waffen mit verbundenen Augen identifiziert, geschwungen, geladen oder entschärft. Sie hatte selbsthergestellte Silbermunition präsentiert und die Klingen ihrer eigens geschärften Schwerter, Säbel und Dolche prüfen lassen.
Auch als sie zu Monstern befragt worden war, hatte sie deren Eigenschaften benennen und die Arten, wie man sie töten konnte, aufzählen können.
Übrig blieb nur noch der Übungskampf mit einem Werwolf der Gilde. Das einzige Problem war, dass es eigentlich nicht derjenige sein durfte, der sie trainiert hatte. Doch alle waren sich einig, dass es auf keinen Fall Rudolf sein konnte, gegen den sie kämpfen musste, und so war es dann doch Olaf geworden. Mehr Werwölfe gab es in der Gilde nicht. Die anderen waren Menschen wie sie.
Während Alicja jetzt die Gesichter der Gildenbrüder musterte, musste ihr Trainer sich zurückverwandelt und angezogen haben, denn sie spürte seine Hand auf ihrer verletzten Schulter.
»Gut gemacht, Ala. Jetzt beiß bitte mal hier drauf«, sagte er und reichte ihr ein Stück Holz. Allein die Berührung seiner Hand bewirkte, dass sich Tränen in ihren Augen sammelten. Das Letzte, was sie wollte, war, diesen Ausdruck von Schwäche vor Rudolf zuzulassen. Daher blinzelte sie ein paar Mal, um es zu unterdrücken. Sie nahm es in ihre zitternde Hand und steckte es sich zwischen die Zähne, dann kniff sie die Augenbrauen zusammen und fixierte sich auf Wilhelm, der ihr aufmunternd zunickte.
Sie spürte, wie Olaf ihren Arm mit seinen großen Händen umklammerte und dann ohne Vorwarnung einmal kräftig dran zog. Der Knorpel in ihrer Schulter knarzte, als der Oberarmkopf zurück in die Gelenkpfanne glitt. Der Schmerz strömte in den Arm, den Rücken und tief in ihren Magen. Ohne die Umarmung ihres Trainingspartners wäre sie umgekippt. Ihr Wille kam nicht gegen das Brennen in der Schulter und das Ziehen der Sehnen an. Tränen entkamen ihren Augenwinkeln.
Als sich ihr Kreislauf einigermaßen beruhigt hatte, und sie wieder aufsehen konnte, war immer noch der Hauch eines schadenfrohen Lächelns um Rudolfs Augen zu erkennen.
Wilhelm schritt auf sie zu und legte ihr die Hand, die noch greifen konnte, auf ihre gesunde Schulter. Die andere war in einem Kampf zertrümmert worden, und seine Finger dadurch grotesk versteift.
»Ich bin stolz auf dich. Du hast es dir redlich verdient, eine von uns zu werden.«
»Nicht so schnell! Ich akzeptiere diesen Kampf nicht. Er ist gegen die Regeln. Sie soll sich beweisen, indem sie einen Auftrag für uns erledigt«, verlangte Rudolf.
»Das ist unüblich. Deine Abneigung sollte keinen Einfluss auf die Ausbildung bei der Gilde haben«, konterte Wilhelm.
»Diese Missgunst steht dir nicht, Bruder«, stimmte Olaf zu.
Rudolf lachte kalt. »Ihr solltet euch durch eure Zuneigung nicht so blenden lassen. Die Regeln besagen, dass sie nicht gegen ihren Trainer kämpfen darf, um ihr Können am Ende der Ausbildung zu beweisen. Ich verstehe, dass ihr sie nicht gegen mich antreten lassen wollt, aber dieser Mangel muss ausgeglichen werden. Einen Auftrag im Namen der Gilde auszuführen, sollte daher als Ehre verstanden werden.«
Ala machte einen Schritt auf Rudolf zu. Sie hielt sich dabei an ihrem verletzten Arm fest. Zum einen, weil jede Bewegung schmerzte, zum anderen, um sich selbst Halt zu geben. Im Augenwinkel war ihr aufgefallen, dass einige der Gildenbrüder unauffällig nickten und abwechselnd ihr ältestes und das möglicherweise neueste Mitglied betrachteten. Schleichend breitete sich Gemurmel unter ihnen aus.
»Ich mach’s! Und wenn ich zurückkehre, erkennst du meine Ausbildung als abgeschlossen an, richtig?«, fragte sie Rudolf voller Hoffnung, während ihr Innerstes zu beben schien. Würde er ihr wirklich eine Chance geben?
»Richtig«, sagte er gelassen, während er seinen Kopf ein wenig anhob und dann in die Runde fragte: »Sind alle damit einverstanden?« Sie nickten und einige murmelten zustimmend.
»Was ist die Aufgabe?«, drängte Olaf zu erfahren. Sie machten Jagd auf alle Arten von bekannten Monstern und hatten über die Jahrhunderte ihr Wissen zusammengetragen. Darunter waren Vampire, Gestaltenwandler, Nachtmahre und selbst Werwölfe, die für andere Menschen eine Gefahr darstellten. Sie hoffte auf eine solche Jagd, dann würde sie sich endlich beweisen können.
Ala sah zu Wilhelm, der sie mit seinem Blick zu fixieren schien. Ein Schmatzen unterstrich seinen mürrischen Gesichtsausdruck. Ihr war klar, dass er nicht begeistert davon war, dass sie diese Herausforderung angenommen hatte. Und das, ohne zu wissen, um was es dabei ging. Zu oft schon hatte er versucht, ihr einzubläuen, weniger impulsiv zu sein.
Rudolf trat in die Mitte und drehte sich zu jedem Einzelnen, während er sprach: »Wir brauchen einen neuen Bund mit den Vampiren. Ihr wisst, dass die alte Verbindung abgerissen ist. Die Zuflucht der Zivilisierteren unter ihnen wurde vernichtet. Es gehen Gerüchte um, dass sich diejenigen ohne Sinn für Recht und Ordnung vermehren und zu einer Art Plage werden könnten. Unser Informant hat Hinweise auf die letzten Bewohner, die in dieser Zuflucht gewesen sein sollen. Sie scheinen sich zu verstecken.«
Ala verzog sich der Magen. Einen Bund mit ihnen konnte er unmöglich ernst meinen. Sie hasste Monster. Dunkle Wesen wie diese hatten ihr Leben zerstört und sie überhaupt erst in die Lage gebracht, sich ihrer Vernichtung zu widmen.
Er wandte sich ihr zu und schaute ihr in die Augen. »Du suchst sie, findest heraus, was passiert ist, und bittest sie um eine erneute Kooperation mit uns, wie sie schon seit jeher bestand.« Das Grinsen, das er ihr schenkte, ließ keinen Zweifel daran, dass er überzeugt davon war, sie würde scheitern. Vermutlich hoffte er, dass sie bei dem Versuch ums Leben kommen würde. Sie selbst glaubte in diesem Moment, er würde recht behalten. Ein kurzer Blick zu Wilhelm zeigte ihr, dass seine Mundwinkel noch weiter nach unten gezogen waren als sonst.
Wenn es das war, was sie tun musste, um in die Gilde aufgenommen zu werden, dann würde sie sich zusammenreißen müssen. Sie würde es Rudolf schon zeigen, aber was war, wenn …
»Was ist, wenn sie mich angreifen?«, fragte sie ihn.
»Dann darfst du dich mit deinen herausragenden Kampfkünsten verteidigen und zurückkommen«, antwortete er sarkastisch. Das Schweigen der anderen Gildenmitglieder ließ Alicja vermuten, dass sie auch nicht besonders scharf auf diese Aufgabe waren. Sie musste sich unwillkürlich fragen, ob sie mehr wussten, als Rudolf ihr erzählte.
»Ich werde mit ihr gehen«, rief Olaf entschlossen über sie hinweg.
»Niemand geht mit ihr«, knurrte Rudolf seinem Bruder entgegen. »Es ist ihre Prüfung. Niemand darf sie im Kampf unterstützen.«
Der Schmerz in ihrer Schulter war durch den Tumult und all die neuen Informationen um sie herum beinahe vergessen. Ihr Magen zog sich zusammen. Allein gegen wer weiß wie viele Vampire? Er schickte sie auf einen Selbstmordauftrag und sie hatte einfach zugestimmt. Sie musste wirklich lernen, ihr Temperament zu zügeln. Wie oft hatte Wilhelm ihr das schon gesagt? Und genau jetzt, in diesem Moment, hatte sie damit besonders viel Mühe. Am liebsten wäre sie Rudolf direkt an die Gurgel gesprungen und hätte ihm mit den Silberplatten an ihrem Übungsschwert das Gesicht versengt.
»Dann werde ich mit ihr gehen. Ich kann nicht mehr kämpfen und respektiere die Regeln der Gilde. Eine davon besagt, dass ein Jäger nicht allein aufbrechen darf. Meine Gesellschaft wird also nicht schaden«, sagte Wilhelm.
Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie sagen, Rudolfs Gesicht zeigte einen Anflug von Schmerz. Es konnte ihm nicht gefallen, dass sein eigener Bruder und sein Ziehsohn für Ala einstanden. Wilhelm sah zwar älter aus als Rudolf, doch das lag allein daran, dass er ein Mensch war. Mit seinen zahlreichen Verletzungen, den steifen Fingern, dem blinden Auge und all den Narben wirkte er verbraucht. Das Haar, das er in einem Zopf zusammengebunden hatte, war mittlerweile mehr weißgrau als schwarz und der Hut, den er stets auf dem Kopf trug, machte ihn auch nicht jünger. Ala wusste, dass er von Ulf und Rudolf aufgesammelt worden war, als er noch ein obdachloser Jugendlicher gewesen war.
»Willy, das kann ich nicht … Das ist zu … Du …«, rang sein Ziehvater nach Worten.
»Hör auf zu stottern, Rul. Ich weiß, dass ich ein Krüppel bin. Dennoch bin ich ein guter Begleiter und ihr Mentor. Ich gehe mit, und es gibt keine Regel, die das verbietet. Im Gegenzug kann ich dann ihren Erfolg oder Misserfolg bezeugen.« Er drehte sich zu seinen Gildenbrüdern und fragte in die Runde: »Ist das nicht in eurem Sinne?« Erneut flammte Gemurmel zwischen ihnen auf.
»Wie du willst. Holt euch die nötigen Informationen von Thomas, und brecht so bald wie möglich auf. Es muss erledigt werden, bevor die Vampire uns überrennen«, sagte Rudolf und verschwand in Richtung Gildenhaus. Es war ein wunderschönes, zweistöckiges Fachwerkhaus mitten im Odenwald. Alicja hatte es bereits als ihr neues Zuhause angesehen. Nun war sie sich nicht sicher, ob es das wirklich werden würde.
Sie sah sich verwirrt zu Willy um. »Wer ist Thomas?«
Willy stöhnte und rieb sich die Stirn unter der Hutkrempe. Während er sich eine Zigarette aus der Brusttasche fummelte, sagte er: »Hol mir meinen Laptop und ein Glas Bier. Alles andere erzähle ich dir, wenn es wieder leer ist.«
Ohne ein weiteres Wort ging auch er zusammen mit den anderen zum Haus. Olaf blieb neben ihr stehen und schaute sie mit traurigen Augen an.
»Da hast du dir ganz schön was eingebrockt. Thomas ist der Hacker, der mit uns zusammenarbeitet. Er findet Menschen, Monster und Informationen, aber das weißt du bereits. Jetzt weißt du auch endlich seinen Namen. Zumindest dieses Geheimnis hat Rul für dich gelüftet.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Lass uns reingehen und schauen, was wir gegen den Bluterguss unternehmen, den du an der Schulter bekommst.«
Wilhelm
Ungeduldig trommelte er mit seiner Hand auf die Holzplatte. Er überlegte schon, ob er sich das Bier nicht doch selbst holen sollte. Mit einem Schnalzen der Zunge, testete er, wie es um die Trockenheit in seinem Hals stand.
»Fünf Minuten gebe ich ihr noch«, grummelte er sich selbst zu. Er hatte keine Lust aufzustehen.
Es gab Tage, da dachte er kaum an seine Verletzungen, oder zumindest belasteten sie ihn dann nicht so schwer. Das waren immer diejenigen, an denen er mit Ala trainierte. Egal ob Waffenkunde und Schmiedekunst, das Studium des Diarium Monstrosum oder Schwertkampf- und Schießtraining, sie war stets Feuer und Flamme.
Sein Wissen weiterzugeben, gab ihm eine Aufgabe und auch wenn er ihr neu erworbenes Temperament oft als Fluch abtat, war sie für ihn wie eine Tochter. Er wusste nur zu gut, dass sie mit ihrer aufgedrehten Art versuchte, ihre Schuldgefühle zu verdrängen.
Jetzt war ihre Ausbildung beinahe beendet und sie hatte einfach Hals über Kopf diesen Auftrag angenommen. Er hatte bereits seit einiger Zeit das Gefühl, dass seine Verletzungen nun doch präsenter wurden. Die eigene Nutzlosigkeit schrie ihn förmlich an.
Seine trommelnde Hand war die einzige, mit der er noch halbwegs greifen konnte. Der krumme Unterarm ließ es allerdings nicht mehr zu, einen halben Liter Bier zu heben. Die anderen Finger konnten das erst recht nicht. Sie waren für immer entstellt. Seine linke Gesichtshälfte war mit Narben übersät und wurde von einem großen Loch auf Höhe des Jochbeines dominiert. Das linke Auge war blind und halb geschlossen, denn die Nerven auf dieser Seite waren geschädigt. Meist war nur das Weiß zu sehen. Ab und an ließ das Aufblitzen eines kleinen Stücks seiner Iris erahnen, dass es sich bewegte.
Vierzig Jahre lang war er Monsterjäger gewesen und dann musste eine unerfahrene, schüchterne Frau kommen, um ihm das Leben zu retten. Diese war mittlerweile alles andere als schüchtern und sollte besser lernen, ihr neues Temperament zu zügeln.
Noch immer ließ sie ihn warten. Er atmete tief ein und versuchte anschließend, ein bisschen Negativität mit einem Seufzer aus seinem Körper zu vertreiben. Mit zwei Fingern rückte er seinen Hut zurecht und stützte sich mit dem Unterarm auf dem Tisch ab, um aufzustehen.
Erleichtert ließ er sich wieder auf die Holzbank fallen, als er Alas Stimme hörte.
»Ganz sicher, Olaf. Ich habe ihn in meiner Kammer gelassen, seit wir hier angekommen sind. Gerade wollte ich ihn zum Reinigen holen … Er ist weg!« Ihre Worte waren so energisch, dass sie von den Wänden des steinernen Flures als kurzes Echo zurückgeworfen wurden.
»Mach dir keine Sorgen. Ich werde gleich nochmal nachsehen, wenn du willst. Er wird hier schon nicht weggekommen sein«, versicherte ihr der jüngere Bruder von Rudolf.
Wilhelm schüttelte den Kopf. Der Wolf hatte wirklich einen Narren an Ala gefressen und sie merkte es nicht, oder wollte es nicht wahrhaben.
»Danke Olaf, aber das mache ich lieber selbst. Er ist mir wichtig und du solltest ihn eigentlich nicht sehen. Immerhin …« Ihre Worte gerieten ins Stocken. Sie kamen an dem Druchgang zum Speisesaal an. Wilhelm sah sie dort stehen. Alas traurige Augen fanden seine und er nickte ihr aufmunternd zu.
Alle wussten, was sie meinte. Mit dem Dolch, den sie suchte, hatte sie Ulf getötet. Es war sein Blut, das sie noch entfernen musste. Wilhelm hatte ihn ihr damals zu ihrem eigenen Schutz geliehen und sie hatte ihn genutzt, um …
Olaf legte ihr ohne ein weiteres Wort eine Hand auf die Schulter. In der anderen trug er Willys Laptop für Ala. Sie selbst hielt sein lang ersehntes Bier, bei dem die Schaumkrone fehlte.
Erneut seufzte er. Ala besann sich und lief zusammen mit ihrem Helfer auf Wilhelm zu. Bevor sie sich setzte, stellte sie stolz das schale Bier vor ihm ab, öffnete den Laptop und fuhr ihn hoch.
Er legte seine Hand auf ihre und veranlasste sie so, für einen Moment innezuhalten und ihn anzusehen. Sie war der einzige Mensch in der Gilde, der das Mitleid für ihn gut zu kaschieren wusste. Wenn Ala ihn ansah, dann waren da tiefe Dankbarkeit, Freundschaft und immer auch ein kleiner Hilferuf, der ihm klarmachte, dass sie ihn brauchte. Das war besser als die traurigen Blicke, die ihm vor Augen führten, was er jetzt war. Nutzlos.
»Belaste dich nicht so deswegen. Wie ich schon sagte, werde ich ihn ohnehin nicht mehr brauchen.« Er versuchte, so viel Wärme in seine Worte zu legen, wie er konnte. Aber allein diese Tatsache auszusprechen, stach ihm mitten ins Herz.
»Du willst ihn nicht zurück? Soll ich dir einen Neuen schmieden? Ich möchte nicht, dass du wegen mir keinen mehr hast, und jetzt traue ich es mir emotional endlich zu, mich darum zu kümmern.« Ihre Augen waren geweitet und Wilhelm befürchtete, dass sie jeden Moment in Tränen ausbrechen könnte, oder schlimmer, in einen Schwall voller Entschuldigungen.
»Es liegt nicht an dem Dolch, Ala. Ich kann nicht mehr kämpfen. Ich brauche keinen. Wenn es dir so wichtig ist, suchen wir gleich alle danach. Aber zuerst müssen wir Thomas kontaktieren«, erinnerte er sie mit Nachdruck an ihre eigentliche Aufgabe.
Voller Vorfreude nahm er die Tulpe mit zu wenig Gerstensaft in seine Hand und hob das Glas an die Lippen. Der niedrige Kohlensäuregehalt trübte das Trinkerlebnis etwas, doch zumindest war es noch kühl. Er verzichtete darauf, Ala zurechtzuweisen. Sie war bald kein Lehrling mehr, und dann sollte er sich sein Bier selbst holen. Etwas anderes hätte er von da an ohnehin nicht zu tun.
»Wer genau ist denn jetzt Thomas?«, fragte Ala.
Wilhelm nahm noch einen großen Schluck, leckte sich genüsslich über die Oberlippe und stellte das Glas vor sich auf den Tisch.
»Thomas ist ein Freund der Gilde, aber wir kennen ihn nicht persönlich. Er ist so ein unsichtbarer Hacker, aber er hilft uns schon, solange ich denken kann. Tatsächlich ist er eine genauso große Hilfe, wie er ein Geheimniskrämer ist, und auch wenn wir nur seinen Vornamen haben, darf dieser nur Gildenmitgliedern genannt werden. Langsam glaube ich, dass er selbst ein Vampir, Werwolf oder etwas anderes mit langer Lebenserwartung sein könnte. Rudolf hat schon mit ihm geschrieben, als wir noch Kinder waren.«
»Das stimmt«, schaltete sich Olaf ein, der ungefragt gegenüber von Wilhelm Platz genommen hatte. »Wir haben eines Tages einen Brief erhalten. Ohne Absender und unterschrieben mit T. Ein besorgter Jemand schrieb von Vampiren, die an der Grenze zu Frankreich wüteten. Er behauptete, wenn wir nicht bald etwas unternähmen, würde es publik, dass diese Geschöpfe existieren.« Er sah von Wilhelm zu Ala, als er weitersprach. »Rul und ich fuhren hin und fanden schnell Hinweise, die auf drei Vampire hindeuteten. Sie waren rücksichtslos und ließen blutleere Leichen in Häusergassen liegen.«
Wilhelm hörte sich seine Ausführungen an und schmatzte missbilligend. Wenn das so weiterging, würden sie heute nicht einmal die E-Mail schreiben. Er setzte gerade an, weiter zu erklären, als Olaf fortfuhr.
»Das muss so in den 70ern gewesen sein. Willy, du warst noch nicht bei uns, oder?«
»Nein«, grummelte er als Antwort, »war ich noch nicht. Können wir jetzt …«
»Moment! Ein Vampir? Wir holen uns Infos von ’nem Blutsauger?«, fragte Ala empört.
Wilhelm graute vor der Vorstellung, dass sie, mit ihrer Abneigung gegen alle Monster dieser Welt, genau diese um eine Kooperation bitten sollte. Bevor ihm erneut ein Stöhnen entkommen konnte, setzte er das Bierglas wieder an und nahm einen tiefen Schluck. Mit verzogenem Mundwinkel stellte er fest, dass es danach leer war.
Er hatte Olafs Schulterzucken zur Kenntnis genommen und räusperte sich, um zum Wesentlichen zu kommen.
»Du solltest langsam an deiner Einstellung arbeiten, oder hast du deine Aufgabe schon vergessen?«, fragte er, ohne ihr Zeit für eine Antwort zu lassen. »Es ist egal, wer oder was er ist. Seine Hinweise waren immer korrekt und zu unseren Gunsten und das schon länger, als du … vielleicht sogar wir beide, auf dieser Erde wandeln. Gerade dir sollte bewusst sein, dass nicht jedes übernatürliche Geschöpf ein Feind sein muss. Es gibt einige wenige, die uns helfen. Thomas ist in der Lage, herauszufinden, wo wir mit unserer Suche anfangen sollten. Wenn du aber mit solch einer Abneigung zu diesen Vampiren gehen willst, können wir auch gleich hierbleiben.« Er bemerkte etwas zu spät, wie ihm die Hitze in den Kopf stieg. Doch er konnte sich nicht dagegen wehren, dass vor seinem inneren Auge Bilder aufkamen, die zeigten, wie Ala die Fremden provozierte und sie dann beide abgeschlachtet wurden, ohne dass er sich auch nur ansatzweise verteidigen konnte. Was hatten sie sich da bloß eingebrockt?
Er verlagerte seine Aufmerksamkeit abwechselnd von Ala zu Olaf. Beide sahen ihn mit großen Augen an, während sie kerzengerade auf der Holzbank saßen.
Immer noch ernst, aber mit weicherem Tonfall erklärte er: »Ala, wenn sie uns angreifen, kann ich nichts tun. Bitte gib ihnen keinen Grund dazu.«
»Woher willst du wissen, dass sie das nicht ohnehin tun? Wir kennen sie nicht und nur, weil sie wahrscheinlich mit denen zusammenwohnten, die uns früher geholfen haben, müssen sie das nicht genauso handhaben«, fragte Olaf mit erhobener Augenbraue.
»Ja! Das sind Monster!», rief Ala unbeeindruckt von der Standpauke vor wenigen Momenten. Wilhelm sah den gequälten Ausdruck des Werwolfs am Tisch. Anstatt ihn weiterhin auffordernd anzusehen, glitt Olafs Blick nun auf seine Hände auf der Holzplatte. Dabei wussten sie doch alle, dass sie damit nicht die Werwölfe der Gilde meinte. Was Ulf zu verdanken war.
»Ich habe eine Theorie und werde sehen, ob Thomas mir diese bestätigen kann. Fakt ist, die Zuflucht der Vampire in Rumänien, in welcher angebliche Urvampire wohnten, wurde zerstört. Sie waren es, die uns geholfen haben und die dort und überall auf der Welt zugesehen haben, dass Vampire ihre Opfer wegräumen und unentdeckt bleiben. Wer auch immer das getan hat, wollte die Rangordnung ändern oder hatte eine Rechnung bei den Bewohnern offen. Es werden nun gehäuft blutleere Leichen in der Gegend gefunden, wo einst die Zuflucht war. Wenn es also jemand von da weggeschafft hat, bevor sie zerstört wurde, dann denke ich, dass es sich dabei um Individuen handelt, die mit dem ganzen Wüten dort nichts zu tun haben wollen. Die Chancen stehen gut, dass sie demnach keine blutrünstigen Monster sind. Sonst hätten sie gleich in Rumänien bleiben und sich für die Zerstörung ihres Zuhauses rächen können.«
»Das klingt alles eher vage, was du da sagst«, merkte Olaf an.
»Und darum brauchen wir Thomas«, antwortete er und deutete auf den Laptop vor Ala.
Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Was haben wir denn mit dieser Zuflucht zu tun? Wir können nicht sicher sein, dass sie uns nicht ohnehin angreifen. Du solltest nicht mitkommen, Willy«, sagte sie entschlossen.
»Kommt nicht in Frage«, riefen Olaf und er wie aus einem Mund.
Willy warf Olaf einen kurzen Seitenblick zu und setzte dann wieder zu einer Erklärung an: »Hör zu. Wir sind eh zu wenig Jäger und in Zukunft wird sich das wohl nicht ändern. Die Leute glauben nicht mehr an sowas wie Monster, und Gerettete bekommen oft gar nicht mit, in welcher Gefahr sie schwebten. Zumindest früher konnten wir diese Personen noch zu uns holen. Ein bisschen wie bei dir, bevor du die Ausbildung angetreten hast.« Er machte eine kurze Pause, um die Erinnerung an den Kampf gegen den Gestaltenwandler zu verdrängen. Die Erinnerung daran, was dieses Wesen ihm und Ala angetan hatte … Die Explosion und … »Die Vampire in der Zuflucht haben uns geholfen. Sie wurde Burg Umbrelor genannt. Ihre Bewohner wollten auch nicht, dass alle Welt von ihrer Existenz erfuhr. Darum konnten wir ihnen uns bekannte Orte nennen, in denen unachtsam gehandelt wurde. Wo sich Leichen stapelten, die sich niemand erklären konnte, oder Personen plötzlich Superkräfte zu haben schienen. Sie kümmerten sich dann darum. Einige von ihnen sollen die Gabe besessen haben, zaubern zu können oder sowas. Sie waren immer sehr effizient mit ihren Vertuschungsaktionen. Halfen, das Gleichgewicht zu erhalten. Allein schaffen wir das nicht. Deshalb schreibst du jetzt Thomas und fragst ihn, was er zu den Überlebenden des Angriffs auf dieser Burg weiß, und ob er herausfinden kann, wo diese sich aufhalten. Seine E-Mail-Adresse erscheint automatisch, sobald du seinen Namen in die Adresszeile tippst.« Er stieß seine Hutkrempe nach oben und sagte schließlich zu Olaf: »Wir beide gehen jetzt eine rauchen und suchen dann den Dolch. Ala soll sich auf ihre Aufgabe konzentrieren.«
Willy war erleichtert, als beide nickten und niemand einwarf, dass Olaf doch gar nicht rauchte. Sie hatten verstanden, dass er nicht mehr diskutieren wollte.
Sie fanden den Dolch nicht, aber Wilhelm war auch nicht erpicht darauf, ihn zu finden. Nutzen könnte er ihn ohnehin nicht und das Blut seines besten Freundes wollte er auch nicht unbedingt sehen.
Seine Finger und sein Gesicht pochten. Mittlerweile glaubte er, sich sogar einzubilden, die Narben der Splitter in seinen Beinen spüren zu können, die er bei der Explosion damals abbekommen hatte.
Er war erschöpft und immer öfter hatte er eine Stimme im Kopf, die ihm riet, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Warum auch nicht? Was sollte er noch hier?
Seine Kammer war wie die von allen anderen. Diese alten Häuser waren nicht für Luxus eingerichtet worden. Früher war er nur selten hier gewesen. Doch ohne auf Jagd zu gehen …
Die Matratze knarzte, als er sein Gewicht auf sie verlagerte. Beim Abstützen auf dem weichen Untergrund schmerzten seine Hände. Bevor er vollends zum Liegen kam, nahm er eine Dose von seinem Nachttisch und schluckte eine der Schmerztabletten darin. Dann lehnte er sich zurück und starrte an die Decke.
Er ließ sich von der imaginären Last ins Bett drücken. Das Zimmer war dank des Lichts, das sich durch den Spalt unter der Tür mogelte, voller Schatten, genauso wie seine Gedanken. In dieser Position starrte er eine Weile vor sich hin, bis ihn ein aufdringliches Vibrieren aus seiner Einsamkeit riss. Der Bildschirm seines Smartphones erhellte den Raum. Ein genervtes Stöhnen entkam ihm. Dabei merkte er, dass die Schmerzen in seinem Gesicht bereits nachgelassen hatten.
Eigentlich war sein Innerstes erfüllt von Lustlosigkeit und Leere, doch etwas tief in ihm trieb ihn an, sein Handy in die Hand zu nehmen. Er sträubte sich zuerst, aber das Gefühl ließ ihn nicht in Ruhe. Er spürte einen undefinierbaren Antrieb. Lebenswillen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit des Haderns nahm er das Gerät mit der trotzigen Empfindung eines Rebellen in seine Hand. Nach der vorübergehenden Erblindung durch das Display konnte er erkennen, dass er eine E-Mail von Thomas erhalten hatte. Warum hatte er Ala die Nachricht auch von seinem Laptop aus schreiben lassen?
Der Nebel um seine Gedanken lichtete sich und er richtete sich auf, um die Informationen zu lesen.
Als er die E-Mail fast beendet hatte, klopfte es an seiner Tür.
»Willy, bist du da? Geht es dir gut?«, fragte Ala.