Freudenberg - Carl-Christian Elze - E-Book

Freudenberg E-Book

Carl-Christian Elze

4,0

Beschreibung

Der 17-jährige Freudenberg spricht nur gezwungenermaßen mit seiner Umwelt, fühlt sich fremd in ihr. Er hat Sehnsüchte, Phantasien, Träume – doch ihm fehlen die Worte, um sich verständlich zu machen. Also treffen andere die Entscheidungen für ihn. Während eines Familienurlaubs an der polnischen Ostseeküste bietet sich unverhofft die Chance, sein fremdbestimmtes Leben hinter sich zu lassen: An einem verlassenen Strandabschnitt findet er den Leichnam eines Jungen, der von der Steilküste abgestürzt ist. Freudenberg vertauscht Kleidungsstücke, Brieftaschen und Ausweise, inszeniert seinen eigenen Tod und nimmt eine neue Identität an. Doch schon bald überfordert ihn die neu gewonnene Freiheit und er kehrt in die elterliche Kleinstadt zurück, wo man ihn gerade beerdigt hat. Ein Gerüst aus Lügen soll ihm den Rückweg in sein altes Leben ermöglichen, aber dieses Gerüst trägt nicht. In seinem sprachlich fulminanten Romandebüt erzählt Carl-Christian Elze von einem fast erwachsenen Kind, das anders ist als die anderen, erzählt von Schuld, Verdrängung und dem unstillbaren Wunsch, ein anderer zu sein.

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CARL-CHRISTIAN ELZE

FREU DEN BERG

ROMAN

Wer von uns kennt seinen Bruder? Wer von uns hat seinem Vater ins Herz geblickt? Wer von uns blieb nicht auf ewig gefangen? Wer von uns bleibt nicht für immer ein Fremder und allein?

Thomas Wolfe»Schau heimwärts, Engel«

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

WEITERE TITEL IN DER EDITIONA ZUR

1

Durch die Lüftungsschlitze roch Freudenberg das Meer. Gerd drehte sein breites Gesicht nach hinten, um rückwärts einzuparken. Freudenberg wich seinem Blick aus und schaute aus dem Seitenfenster. Neben der Bordsteinkante lag ein zerquetschter Igel. Der Bordstein schien fast einen Meter hoch zu sein. Es sah so aus, als wäre das Tier von einer Klippe gestürzt und nicht überfahren worden. Freudenberg vertiefte sich in den Anblick. Der Körper war eine einzige graue Masse, nur die kleine Zunge, die aus dem spitzen Kopf herausragte, war noch rot. Freudenberg musste an seine eigene Zunge denken, daran, dass sie ihm lästig war; schon immer. Schon als Kind hatte er instinktiv begriffen: ohne Zunge keine Sprache und ohne Sprache keine falschen Sätze und ohne falsche Sätze keine falschen Gedanken und Gefühle.

Der Motor verstummte und Freudenberg blickte nach vorn. Der Nacken seiner Mutter glänzte ihm weiß und verschwitzt entgegen. Er fühlte, dass seine Hände zu zittern begonnen hatten. Sie waren endgültig angekommen, in Międzyzdroje, Hotel Orion, ulica Kopernika 5.

Seit der Grenze hatte er den Namen des polnischen Ortes ununterbrochen im Mund bewegt und leise geübt – Miezentreue, damit hatte es angefangen, um sich den Namen überhaupt merken zu können, dann Międ-zys-droje und schließlich immer weniger zerdehnt: Międzys-droje, Międzysdroje – jetzt konnte er ihn beliebig oft und fehlerfrei vor sich hin flüstern wie ein Zauberwort.

Gerd öffnete die Wagentür und stieg als Erster aus. Freudenberg war froh, diesen fremdartigen Menschen nicht länger Vater nennen zu müssen. Seit seinem 17. Geburtstag im April hatte Gerd ihm erlaubt, ihn beim Vornamen zu rufen – das schönste Geburtstagsgeschenk überhaupt, dachte Freudenberg noch immer.

Als er die Augen schloss, spürte er seine Erschöpfung – als würde ihn etwas Schweres, etwas, das außerhalb von ihm hing, nach unten ziehen. Die ganze Fahrt über, mindestens vier Stunden lang, hatte er der gut gelaunten Gerd-Stimme zuhören und auch antworten müssen, während die Landschaft vollkommen flach und langweilig an ihm vorbeigezogen war. Nur manchmal hatte es ein wenig Ablenkung gegeben, Windräderhaufen zum Beispiel. Ein Zeitungsbericht über Fuchsfamilien war ihm wieder eingefallen, den er einmal in einer Zeitschrift beim Zahnarzt gelesen hatte: Immer mehr Fuchsfamilien saßen inzwischen nicht mehr im Wald, sondern unter den sich drehenden Klingen der Windräder und warteten darauf, dass ihnen die Krähen, wenn auch nicht gebraten, so doch sauber geköpft, vor die Füße fielen, praktisch ins Maul rein. Vergeblich hatte er nach roten Fellen Ausschau gehalten und sich gewünscht, ein Fuchs zu sein, einer Fuchsfamilie anzugehören.

Seine Mutter musste niesen, Freudenberg riss die Augen auf und sagte »Gesundheit«. Sie sahen beide vom Auto aus zu, wie Gerd die Gartentür öffnete und sich der gelben Fassade des Orion näherte. Dann verschwand er im Hotel, um auch dort die Dinge zu regeln. Gerd regelte die Dinge am liebsten allein und für alle. Als Freudenberg kurz vorm Hauptschulabschluss noch immer nicht hatte sagen können, wie es weitergehen sollte mit ihm und seinem Leben, war es Gerd endgültig zu bunt geworden. Wieder hatte sich Freudenberg ausweichend und zeitschindend verhalten, genauso ausweichend und zeitschindend wie immer, »seit seiner Geburt«, hatte Gerd plötzlich geschrien. Aber jetzt war Schluss damit! Alle Geduld war aufgebraucht! Es gab keinerlei Aufschub mehr – wer den Mund nicht aufmachte, hatte keinen Aufschub verdient: nicht eine Minute, nicht eine Sekunde! Schließlich hatte Gerd alle Dinge von einem Tag auf den anderen selbst geregelt. Metallverarbeitung war dabei herauskommen. Freudenberg war so erstaunt gewesen, dass er nichts zu antworten gewusst hatte, obwohl er eigentlich hätte wissen müssen, dass für Gerd kein Leerlauf, schon gar nicht im Lebenslauf, in Frage kam, und dass, wenn er selbst nichts sagte, Metallverarbeitung herauskommen würde, immer Metallverarbeitung herauskommen musste. Als Gerd damit herausgerückt war, hatte Freudenbergs Halsmuskulatur ihre Spannung verloren, was seinem Kopf den Anschein eines Nickens gegeben hatte. Dann sei ja alles geritzt, hatte Gerd gemeint und Freudenberg auf die Schulter geklopft, so kräftig, wie er konnte. Später beim Abendbrot hatte er es auch der Mutter verkündet, dass der Junge Metaller werde, und gerufen: »Aber vorher machen wir Urlaub, wie wär’s mit Ostsee?« Die Mutter hatte Freudenberg, der bewegungslos vor seinem Schnittenhaufen saß, eine Weile stumm angeschaut, dann aber laut Ja gesagt und genickt, so heftig genickt, als ob sie auch für Freudenberg mitnicken würde, und Gerd war zufrieden gewesen, nahezu glücklich.

Freudenberg ließ die Scheibe zur Gehwegseite herunter und Möwengeschrei schwappte herein. Er blickte schräg nach oben in eine Wolke aus Blättern und Ästen in Camouflage-Optik. Noch nie hatte Freudenberg Platanen gesehen, die so stark beschnitten waren, dass ihre Blätter wie aus Amputationsstümpfen heraushingen – als würden die Hände an den Ellenbogen nachwachsen. Freudenberg rieb sich die Augen, ihm war heiß und er war müde. Gerd hatte darauf bestanden, schon um sechs Uhr morgens loszufahren, um jeden Stau zu vermeiden. Freudenberg musste gähnen. Die Mutter drehte sich zu ihm um und fragte mit halbstündiger Verspätung, ob er die alten Frauen am Waldrand gesehen habe, die mit den vielen Körben. Freudenberg nickte mechanisch. Er hatte nur alte Männer ohne Körbe gesehen, sie hatten im Schatten gesessen und geraucht, vielleicht auch gelacht, zumindest hatten ihre Mundwinkel im Vorbeifahren so ausgesehen. »Die atmen doch den ganzen Tag Abgase ein«, sagte die Mutter, ohne eine Antwort zu erwarten. In diesem Punkt war sie anders als Gerd, mit der Mutter ließ es sich aushalten.

Gerd kam mit einem dicken Mann zum Auto zurück, der ununterbrochen grinste. Freudenberg und die Mutter stiegen aus und Gerd stellte ihnen Herrn Dobek vor, der sich verbeugte und der Mutter einen Handkuss gab. Freudenberg konnte sehen, dass es nicht bei einem Luftkuss blieb, sondern dass Dobeks Lippen sekundenlang breit und feucht auf dem Handrücken der Mutter lagen wie zwei Regenwürmer. Dann gab Dobek auch ihm die Hand, sie war schwer und behaart.

»Scheen, dass Sie da sind. Ist ganz scheenes Wetter hier«, sagte Dobek und ging lachend zur Einfahrt hinüber. Man konnte sehen, dass er einen schweren Hüftschaden hatte und beträchtlich schwankte. Bei jedem Schritt geriet sein massives Stammfett mit in Schwingung, sodass Freudenberg befürchtete, er könnte jeden Moment umfallen. Dobek nestelte an einem Vorhängeschloss herum und öffnete die Toreinfahrt zu den Stellplätzen. Freudenberg sah eine kleine Videokamera, die in etwa zwei Meter Höhe an der frisch verputzten Hauswand befestigt war. Auf eine Videokamera hatte Gerd besonderen Wert gelegt, erinnerte sich Freudenberg, denn bei jeder Übernachtungsanfrage hatte er als Erstes wissen wollen, ob es auch bewachte Parkplätze gebe. Letzten Endes hatte er sich für Dobek entschieden, der ihm mehrmals geschworen hatte, dass er die sichersten Parkplätze von ganz Międzyzdroje habe.

Gerd stieg wieder ins Auto ein und ließ den Motor an, während Dobek mit den Armen zu rudern begann und dabei verschiedene Zeichen gab, um Gerd beim Einparken zu helfen. Als Gerd mit dem Wagen durch die Toreinfahrt rollte, war er sofort gefangen. Der Parkschlauch war kaum breiter als der Wagen selbst, links stand unverrückbar die gelbe Hauswand und rechts ein grüner Maschendrahtzaun. Gerd öffnete die vorderen Fenster und klappte hastig die Außenspiegel ein, während Dobek rief: »Bis Ende durch, kommen noch andere deitsche Autos, aber vorsichtig!«

Freudenberg sah, wie Gerd davor zurückscheute und nicht noch tiefer in die Falle gehen wollte, es aber trotzdem tat. Der Mutter wegen. Damit sie sich nicht zu schämen brauchte. Immer müsse sie sich schämen, hatte Freudenberg ihn schon oft zur Mutter sagen hören, und das alles nur, weil sie keinen ausreichenden Willen besäße, auch keinen ausreichenden Willen, Freudenberg zu erziehen.

Obwohl man ihm ansah, dass er schon jetzt die größte Lust hatte, mit Dobek über diese völlig unzureichenden, geradezu beschissenen Stellplätze zu diskutieren, rollte Gerd zwanzig Meter tief in die Parkfalle hinein. Er wollte aussteigen, aber die wenigen Zentimeter zwischen Fahrertür und Hauswand reichten nicht aus. Er versuchte es über die Beifahrertür. Sein Rücken bog sich kräftig durch. Auch der Zaun wurde an der Stelle, wo Gerd sich herausstemmte, durchgebogen. Dobek lächelte anerkennend und rief noch einmal beruhigend: »Alles Video, kann nichts passieren!«

Gerd kroch mit verwüstetem Blick aus dem Auto und kämpfte sich zur Kofferraumklappe vor. Ohne ein Wort zerrte er das Gepäck heraus und starrte wütend auf den Schotterweg. Die Mutter reichte ihm ein Zellstofftaschentuch für die nasse Stirn, aber er wollte es nicht und schüttelte trotzig den Kopf. Schließlich riss er sich zusammen und drückte auf die Fernbedienung am Schlüssel. Das Auto verriegelte sich mit einem Klickklick.

Dobek war schon ins Orion vorausgeschwankt. Als sie eintraten, saß er in einem verglasten Rezeptionskasten und lächelte gutmütig durch eine Scheibe mit Sprechloch. Freudenberg blieb stehen und schaute sich im Foyer um. An den Wänden hingen Stillleben, ausschließlich Früchte, gemalt mit dicken, frohen Farben. Er sah die Halogenstrahler in der abgehängten Decke, die auf die Bilder gerichtet waren, um sie am Abend anzustrahlen. Im Moment schien nur die Mittagssonne herein, auf den gefliesten Boden, der kalt und weiß aufblendete. Als wäre man in einem Schlachthof gelandet, dachte Freudenberg. Er ließ sich in eine Sitzecke fallen und rote Kissen klappten und schwappten auf seine Schenkel wie Fleischstücke. Gleich neben dem Eingang standen verchromte Untertöpfe, aus denen lange, schlauchartige Gewächse wucherten, die ihn an Darmschlingen erinnerten. Freudenberg wandte seinen Blick ab und schaute wieder zur Rezeption, wo Gerd die Zimmerschlüssel von Dobek entgegennahm. Dobeks Hände wirkten im Vergleich zu seinem riesigen Körper viel zu klein, wie Puppenhände, dachte Freudenberg. Gerd drehte sich zu ihm um und gab ihm ein knappes Zeichen. Freudenberg stand auf und griff nach dem Mutterkoffer. Er hatte ihn schon vom Auto zur Rezeption getragen, an der gelb verputzten Hauswand und den Beeten mit dickblättrigen Pflanzen vorbei, sodass es ihm jetzt nur folgerichtig vorkam, ihn auch bis zum bitteren Ende zu tragen, bis in die Zimmerhölle hinein. Gerd ging voraus in Richtung Treppe und Freudenberg folgte ihm. Er trug den Mutterkoffer und seine Reisetasche bis in den zweiten Stock hinauf.

Die Treppe und die Gänge waren mit weichem, rötlichgrauem Teppichboden ausgelegt. Es lief sich wie auf … Freudenberg fiel wieder nur Fleisch ein, Gehacktes: Es gab dieses Durcheinander aus Blut- und Fetttönen in der Faser. Und es roch seltsam in diesem Orion, nicht nach Fleisch, sondern nach chemischen Stoffen, ungezügelten Reinigungskräften. Als ob man in diesem Hotel eine Menge zu reinigen hätte. Gleichzeitig bemerkte Freudenberg eine ungewöhnlich hohe Zahl von Fluchtwegeschildern überall an den Wänden. Aber vielleicht kam ihm die Zahl auch nur so hoch vor, weil er so oft hinschauen musste und immer dieselben Schilder sah, auch das war möglich, dachte er. Der polnische Strichmann unterschied sich kaum von dem deutschen, den er noch aus der Schule kannte – ein weißer Strichmann, der auf einem grünen Hintergrund einer weißen Türfläche entgegenrannte –, aber die Situation hier im Treppenhaus schien gefährlicher zu sein. Wie alle Strichmänner rannte auch der polnische die Wände entlang voller Hoffnung, dass hinter der weißen Tür nicht ein noch größeres Grauen auf ihn wartete, als das, vor dem er gerade davonlief. Doch hier war die Angst spürbarer, bildete sich Freudenberg ein, war das Grauen, das die Verfolgung aufgenommen hatte, greifbarer – obwohl es wie immer unsichtbar blieb.

Gerd war stehen geblieben und schloss die Zimmertür auf, dann betraten sie zu dritt den Raum. Die Mutter löste sich von ihnen und stieß als Erstes ins Bad vor, um dort alles lautlos zu inspizieren. Als sie wieder auftauchte, sah sie erleichtert aus. Anscheinend war alles gerade noch sauber genug gewesen. Freudenberg fühlte sich abgestoßen von ihrem zufriedenen Gesicht und stellte den Koffer neben das rostfarbene Sofa am Fenster. Durch die Gardinen kroch weiches Licht. Das Zimmer gefiel auch Gerd, er spazierte umher und pfiff durch die Zähne. Nach einer Weile blieb er vor Freudenberg stehen, boxte ihm leicht auf die Brust und meinte: »Jetzt besuchen wir dich!« Freudenberg nickte, aber die Mutter schüttelte den Kopf und sagte, sie packe lieber erst aus und komme nach.

Freudenberg machte sofort kehrt und trat zurück in den Flur. Dann lief er zu seinem Zimmer. Der Teppichboden war unverändert Fleischmasse, nur schien sie ihm jetzt noch tiefer, noch massiger zu sein, er kam kaum vorwärts. Als er sich umdrehte, sah er Gerd, der ihm mühelos folgte.

Im Zimmer angekommen, pfiff Gerd erneut durch die Zähne und tigerte umher. Er klopfte auf einen kleinen Fernseher, der an einem Metallgestell an der Wand befestigt war. »Immerhin«, meinte er, »vielleicht gibt es ja einen deutschen Sender.« Freudenberg zuckte mit den Schultern und sah über dem Bett ein Stillleben hängen. Diesmal waren es Blumen mit roten, igelartigen Blütenköpfen, Dahlien. Freudenberg trat näher heran und sah jetzt deutlich den Schriftzug Marianna D. – D. wie Dobek – und rührte sich nicht. Er musste nicht wie seine Mutter zuerst ins Bad stürzen, um zu entscheiden, ob er sich wohlfühlen konnte, er blieb einfach in der Mitte des Raumes stehen und wusste es sofort.

Freudenberg ging langsam zum Fenster, das zur Straße zeigte und zog die Gardinen zurück. Draußen schaukelten die Platanenblätter im Wind, der von der Ostsee herüberstrich, und in großer Höhe wurden Eiswolkenfetzen über den Himmel geschleift. Schließlich trat er auf einen lang gezogenen Balkon, der über die gesamte Straßenseite des Orion aufgespannt war und in den alle Zimmer einmündeten. Er lief ein paar Schritte und sah plötzlich seine Mutter durch die Scheibe. Er konnte nicht genau erkennen, was für ein Gesicht sie gerade machte, wahrscheinlich war es noch immer ein vom Toilettenanblick seliges. Freudenberg tat so, als ob er sie nicht gesehen hätte und lief zügig vorbei.

Liegestühle, Tische und Sonnenschirme aus schmutzigem, weißem Plastik standen herum. Vor jeder Balkontür waren sie angehäuft wie halb verrottete Walknochen. Freudenberg blieb stehen und schaute über das Geländer auf die Straße. Auf einmal stand Gerd hinter ihm und sog lautstark und genießerisch Meerluft in sich hinein. »Na los, atme auch mal richtig ein, herrlich ist das hier«, hörte er ihn sagen. Freudenberg tat ihm den Gefallen und atmete tief ein. Es war wirklich so: Herrlich fühlte es sich an in den Lungenflügeln, fast besser als Zigarettenrauch. Es tat gut, einfach nur hier zu stehen und zu atmen.

Gegenüber standen zwei Holzhäuser, die von der Witterung schon ganz dunkel verfärbt waren und auf deren Dächern Moos lag. Freudenberg musste lächeln, weil sie genauso aussahen, wie er sich als Kind die Hexenhäuser in russischen Volksmärchen vorgestellt hatte: Häuser, die aus ganzen Baumstämmen gebaut waren und auf Hühnerfüßen standen und vor deren Türen sich die Helden, die immergleichen Iwans, versammelten, um die Hexe Baba Jaga zu besiegen. Alles stimmte, sagte sich Freudenberg, bis auf die Hühnerfüße und die fehlenden Helden.

Freudenberg drehte sich um. Er wollte allein sein und rauchen. Auch Gerd hatte früher geraucht, sich dann aber für die Gesundheit entschieden, war zum Nichtraucher geworden, zum militanten. Was sollte er machen, fragte sich Freudenberg, Gerd stand wie angewurzelt da, schaute an ihm vorbei in die Ferne und schien glücklich zu sein. Auch glücklich mit ihm, dachte Freudenberg, was seltsam war und auch ein bisschen unangenehm. Soweit er sein Leben überblicken konnte, soweit seine Erinnerung überhaupt reichte, waren sie beide nie voneinander getrennt gewesen. Gerd war stets in seiner Nähe gewesen, war immer in der Metallverarbeitung gewesen, hatte immer nach Feierabend Zeit für ihn gehabt, den einzigen Sohn. Es war ein lückenloses Zusammenleben gewesen zwischen Gerd, der Mutter und ihm. Gerd war kein schlechter Vater, ganz und gar nicht, er hatte sich bemüht, siebzehn Jahre lang. Irgendetwas aber hatte von Anfang an nicht gepasst, von Anfang an nicht gestimmt.

Freudenberg wurde unruhig. Er wusste sich nicht anders zu helfen, als Gerd zu fragen, ob er ihm Geld geben könne: Er habe schon Hunger und wolle sich was zu essen kaufen, die Beine vertreten. Gerd lächelte und öffnete seine Brieftasche. Er zog zwei Hundert-Złoty-Scheine heraus. Freudenberg bedankte sich und Gerd klatschte ihm väterlich zwischen die Schulterblätter.

Als sie zur Mutter zurückkamen, war sie gerade dabei, die letzten Kleidungsstücke in den Schränken zu verstauen. Gerd meinte, der Junge wolle gleich los, um schon was zu essen, man könne sich ja wieder hier treffen, in genau einer Stunde. Die Mutter war einverstanden und sagte, Freudenberg solle aber vorsichtig sein, noch nicht allein ins Wasser gehen, sie gingen später alle zusammen. Freudenberg nickte. Dann lief er los. Er wollte endlich allein sein und rauchen, endlich tausend polnische Zigaretten rauchen und wie ein Schlot am Meer langziehen.

2

Freudenberg reichte Dobek den Zimmerschlüssel in den Rezeptionskasten und trat ins Freie. Er wandte sich unter den gestutzten Platanen nach links, lief die ulica Kopernika bis zum Ende und bog dann nach rechts in eine breitere Straße ein, die ulica Bohaterów Warszawy hieß. Sofort wurde er von einer halbnackten, lärmenden Menschenmasse erfasst, die ihn wie eine Welle mitriss und nur eine Richtung zu kennen schien. Inmitten der Welle wurde gelacht, gegrölt und krakeelt in einer Sprache, die Freudenberg nicht verstand, was ihm recht war. Sein Blick schwenkte hin und her, grell restaurierte Kurhäuser schabten an seiner Netzhaut vorbei, ein in die Länge gezogener Rummel drang von links mit Bumsmusik und Sirenengeheul in seine Gehörgänge ein, doch nichts davon war unangenehm, im Gegenteil, alles um ihn herum begann zu gleiten. Oder er selbst hatte angefangen zu gleiten, auch das war möglich. Freudenberg schaute an sich herab und sah seine Hände im Kreuzgang locker und gleichmäßig neben seinen Beinen pendeln, alle Muskeln und Knochen arbeiteten lautlos und präzise. Noch nie waren seine Gelenke besser geglitten als jetzt. Er konnte stolz auf seinen Körper sein, dachte Freudenberg plötzlich, es war ein Glücksfall, eindeutig ein Glücksfall, einen gleitenden Körper zu besitzen.

Freudenberg trieb weiter, bis sich die Strömung an einem größeren Platz verlangsamte und ihm die ersten Leute in die Hacken traten. Es war Mittagszeit. Niemand nahm Freudenberg wahr, niemand richtete ein Wort an ihn. Die Menschenmasse schien nur noch Augen, Ohren und Nasen für all die Köstlichkeiten zu haben, die in den vielen Buden vor sich hinbrutzelten. Sie verhielt sich so, als ob sie einem Schlachtruf zum Essen folgen würde. Auch Freudenberg konnte auf einmal nicht mehr stillhalten. Jetzt sofort müsse er anfangen zu essen, sagte er sich, jetzt sofort! Noch nie in seinem Leben hatte etwas so gut gerochen wie dieser Platz.

Freudenberg bezahlte sechs Złoty für eine Waffel mit Heidelbeeren und einem dicken Dach Schlagsahne, das an den Rändern abzustürzen drohte. Er leckte die Ränder mit der Zunge ab und verschlang die Waffel mit wenigen großen Bissen. Es schmeckte großartig. Als er wieder aufblickte, merkte er, dass er den Leuten im Weg stand. Er kämpfte sich durch das Gedränge, fand eine Bank, auf der noch ein einzelner Platz frei war, und setzte sich.

Neben ihm saßen kauende Polen. Ein kleines Mädchen hockte auf dem Schoß der Mutter und kleckerte ihr das spiralig aufgetürmte Eis auf den Rock, daneben ein Junge, etwas jünger als Freudenberg, dem Gesicht nach zweifellos der Bruder. Beide Kinder sahen aus wie rundbackige, kleine Bären. Freudenberg fühlte das angeschwitzte Fleisch des Jungen wie eine feuchte Wand an seinem Bein, blieb aber dennoch sitzen. Er versuchte, die Übersicht zu gewinnen. Um ihn herum wimmelte es von essenden Körpern. Einzig in der Mitte des Platzes, auf einem gepflegten und niedrig umzäunten Stück Rasen, war niemand. Nur eine kleine Sprenkleranlage, gerade außer Betrieb, stand da wie ein Denkmal. Am liebsten würden all diese Menschen in die Idylle einbrechen, dachte Freudenberg, aber so obrigkeitshörig und verstädtert, wie sie waren, traten sie sich lieber ununterbrochen auf die Füße und beschimpften sich gegenseitig, als verbotenerweise Gras umzuknicken.

Freudenberg schloss die Augen. Er spürte, dass er noch immer Hunger hatte, gleichzeitig fiel ihm auf, dass er das Meer nicht mehr riechen konnte, obwohl er sich sicher war, es gerade noch gerochen zu haben – noch kurz bevor er die Waffel verschlungen hatte –, was seltsam war. Er musste an eine Tiersendung denken, die er einmal vor Jahren nach der Schule gesehen hatte und in der berichtet worden war, wie es einem Wolf erging, der fette Beute gemacht hatte. Ein Wolf, der sich satt gefressen hatte, konnte eine Weile nicht mehr gut riechen, manchmal eine Woche lang nicht, das Fett verstopfte ihm die Nase oder stumpfte sie ab. Das Wild im Wald war dann sicher vor ihm. Aber auch der Wolf war dann sicher: sicher vor sich selbst – sicher vor seiner eigenen Gier, über den Hunger hinaus immer weiter zu raffen. Freudenberg öffnete die Augen. Er stand von der Bank auf und sprang zurück in die Menschenmenge, schwamm ein Stück mit, aber paddelte schon bald wieder heraus, um ein mit Pilzen und Käse überbackenes Baguette zu kaufen, Zapiekanka. Er biss gierig hinein und aß es schnell auf. Danach lief er zu einer anderen Bude, kaufte eine rote Knackwurst vom Grill und eine große Tüte Pommes Frites, und als könnte er nicht mehr aufhören zu schlingen, noch ein Lody und eine zweite Gofry, diesmal mit frischen Erdbeeren und Vanillesoße.

Freudenberg stutzte und ließ die erst halb aufgegessene Waffel fallen. Als hätte sich sein übersättigter Körper plötzlich entschieden zu streiken. Aber so war es nicht. Freudenberg beugte sich nach vorn und tupfte sich den Mund mit einer dünnen, fast durchsichtigen Serviette ab. Es war kein Blut zu sehen, nichts, nur ein paar Krümel, aber alles im Mund schmeckte metallisch: nach Eisen. Als ob er sich ein Stück Zunge abgebissen hätte ohne Schmerz zu empfinden. Freudenberg schluckte mehrmals mit viel Spucke ab. Es half nicht. Er ging zur Seite und versuchte sich im Gebüsch neben einem Kinderspielplatz zu übergeben, ohne Erfolg. Sich selbst den Finger in den Hals zu stecken, kam nicht in Frage, das war ihm schon immer übergriffig vorgekommen, auch wenn es der eigene Finger war. Schließlich lief er zu einem Kiosk und kaufte sich eine Packung Zigaretten, um diesen höllischen Geschmack loszuwerden, diesen Geschmack von Schrottplatz oder Gemetzel, je nachdem.

Als Freudenberg inhalierte, wurde es besser und er beruhigte sich. Vielleicht hatte es auch sein Gutes gehabt, dachte er: Wäre ihm nicht dieser Metallgeschmack in den Mund gefahren, hätte er nie wieder aufhören können zu schlingen; für den Rest seines Lebens hätte er schnappend und schluckend um dieses Rasenstück rennen müssen, immer wieder Waffeln und Fleisch und Zapiekanka verdauend ohne Aussicht auf Erlösung.

Freudenberg zog heftiger an seiner Zigarette und lief in Richtung Seebrücke, die direkt am Platz begann. Der Anfangsteil bestand aus zwei Türmen und einer kleinen Halle, in der es einige Cafés, Restaurants und Geschäfte gab. Als Freudenberg durch die hintere Tür der Halle trat, sah er endlich das Meer. Die Seebrücke reichte hunderte Meter weit in die Ostsee hinein und machte mittendrin einen Knick. Zum Glück waren nicht viele Menschen unterwegs, die meisten aßen noch immer, man kam gut voran. Freudenberg zählte seine Schritte, das Klacken auf dem Beton, 372.

Das Ende der Brücke war eine größere Plattform, an der auch Schiffe anlegen konnten. Freudenberg schnippte seine aufgerauchte Zigarette übers Geländer. Gleich darauf landete eine Möwe auf den Wellen und fraß sie auf. Die Möwe blieb schaukelnd auf der Wasseroberfläche sitzen und schaute erwartungsvoll nach oben. Freudenberg beugte sich über das Geländer, an dem ein einzelner orangefarbener Rettungsring mit einer langen Wurfleine befestigt war, und zündete sich eine neue Zigarette an. Wie ein Haustier blickte ihn die Möwe an. Er nickte ihr zu und es kam ihm so vor, als nickte sie zurück. Als er sich wieder aufrichtete und den Kopf drehte, sah er die Küstenlinie grüngelb und steil in der Ferne aufragen. Man sah deutlich die Wellen, die sich langsam, aber keinen Moment zögernd, auf die Küste zubewegten, um sich dort sanft das Genick zu brechen, wie in Zeitlupe.

Freudenberg fühlte sich wohl, die Sonne strahlte ihm warm auf Kopf und Nacken, und er blickte nach vorn, aufs offene Meer hinaus. Er suchte den Horizont nach einem Schiff ab, aber es war kein Schiff zu sehen, kein einziges. Immer sehnten sich die Menschen nach dem Meer, dachte er, weil sie selbst noch immer Meerwasser in sich trugen, in jeder einzelnen Zelle, doch wenn es soweit war, wenn sie endlich am Meer standen, vor dieser Ursuppe, dann war ihnen dieser Anblick auf einmal zu viel. Plötzlich kamen sie sich darin ersäuft vor wie Katzenjunge. Freudenberg wendete sich ruckartig ab und blickte nach unten auf den Betonboden der Brücke. Das war zweifellos konkret, aber auch keine Herausforderung. Er hob wieder den Kopf und schnippte den Filter ins Wasser, sah ihn unter sich schaukeln. Diesmal war keine Möwe zur Stelle, die sich darüber hermachte. Wahrscheinlich hatte es sich schnell herumgesprochen, dass seine Geschenke nicht ohne Nebenwirkungen blieben. Freudenberg musste lächeln bei dem Gedanken, obwohl ihm der Gedanke im Grunde unheimlich war. Schließlich kam er wieder in Gang und lief zurück.

Gerade als er auf den Platz treten wollte, hörte er Motorengeräusche und blieb stehen. Neben der Ausgangstür der Halle stand ein Fahrsimulator, den er beim Reingehen nicht bemerkt hatte. Der Simulator war spottbillig. Freudenberg quetschte sich hinein und steckte mehrere Münzen in den Schlitz. Er fuhr verschiedene Rennstrecken mit einem Ferrari F40 mit Schaltgetriebe. Er hätte es einfacher haben können mit einer Automatikeinstellung und einer automatischen Bremshilfe, aber er wollte selbst schalten und selbst bremsen. Fast ununterbrochen war er in Unfälle verwickelt und wurde dennoch von den vollbesetzten Tribünen fast hysterisch bejubelt. Vielleicht wurde er auch deshalb so bejubelt, schoss es ihm durch den Kopf, weil er so spektakulär starb und gleich darauf wieder auferstand? Er war wie ein Jesus im Ferrari. Ein Ferrari-Jesus, der sogar noch schneller und öfter auferstand als der echte. Alles war so einfach in dieser kleinen Simulatorwelt. Es gab genügend Leben. Ein neues Rennfahrerleben als Jesus kostete nur einen einzigen Złoty.

Im Automaten eingekeilt, bemerkte Freudenberg die bittenden Augen eines Jungen, der ihn von der Seite anstarrte. Er war viel jünger, vielleicht zehn Jahre alt. Freudenberg konnte sich nicht mehr konzentrieren und kletterte aus dem Plastiksitz. Er wollte nicht länger im Weg stehen, wenn es darum ging, auch einmal Siege einzufahren. Das Material, der Ferrari, war mit Sicherheit siegfähig, nur er selbst war es nicht gewesen. Der Junge lächelte übers ganze Gesicht, als er sah, dass Freudenberg ihm eine Fahrt übrig gelassen hatte. Freudenberg spürte, dass er sich mitfreute. Als ob sie miteinander verbunden wären, dachte er auf einmal; als ob in Wirklichkeit alles miteinander verbunden wäre, jeder Plastiksitz und jeder Rücken, jeder Schalter und jede Hand, jedes Ding und jedes Geschöpf.

Als Freudenberg zurück auf den Platz trat, schaute er auf seine Uhr, um zu sehen, ob er schon zurück zum Orion