Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Stell dich nicht so an! Als Mann musst du solche Schmerzen aushalten können! Männer weinen nicht!" In den Augen seines Ziehvaters ist Much ein Taugenichts, ein Faulpelz, ein Strohkopf. Dabei ist er nur ein armer Waisenjunge, der trotz aller Widrigkeiten versucht, im Wald zu überleben und allmählich erwachsen zu werden. Der naive Müllerssohn Much lebt mit einer Räuberbande im Barnsdale Forest, nachdem sie ihr geliebtes Dorf verloren haben und geächtet wurden. Auch wenn er ein unglaubliches Geheimnis erfährt und ihm das Leben vor so manche Herausforderungen stellt, so bewahrt er sich stets seine unbeschwerte Fröhlichkeit, seinen Optimismus und seine Offenheit. Gemeinsam mit seinen Freunden Bucky und Oscar verwandelt er langweilige Zeiten in phantastische Abenteuer. Als eines Nachts ein Feuer ausbricht, sieht sich Much erneut mit dem Tode konfrontiert.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 213
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Friede, Freude, Fegefeuer Zauberer und Drachen
Teil 01
aus der Heptalogie »Narren der Gerechtigkeit«vonHarley Kindred
Impressum
© 2024 Harley Kindred
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106
70736 Fellbach
Kontakt: [email protected]
Lektorat/ Korrektorat: Petra Jocelyn Höhne
Covergestaltung: Loredana Bursch
Selfpublishersportal: epubli
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
In der Heptalogie »Narren der Gerechtigkeit« geht es um eine bekannte Legende aus dem mittelalterlichen England. Es ist meine Lieblings-Geschichte (an späterer Stelle wird verraten, um welche es sich handelt), die ich seit meiner Kindheit kenne und von der ich jede Original-Ballade gelesen, und so gut wie jede Verfilmung, Serie und Buch gesehen habe.
Ich fand es schon immer spannend zu sehen, wie unterschiedlich Menschen auf ein und dieselbe Situation reagieren können. Aus dem Grund wollte ich die Legende aus den verschiedenen Perspektiven der Nebenrollen darstellen, weshalb manche Szenen häufiger vorkommen könnten, aber eben mit den jeweiligen Gedanken und Gefühlen des Protagonisten. In meinen Romanen versuche ich zwischen unterschiedlichen Ansichten sowie Realität und Fiktion Brücken zu schlagen. So sind sich zwar Historiker über manche Gegebenheiten nicht einig, aber in meinen Büchern finden diese Differenzen einen kleinen Platz. Auch wenn die Geschichte im historischen Mittelalter stattfindet, so spielen moderne Themen, wie Freundschaft, Identität, Sexualität, Mobbing, Entwicklung und Wahrnehmung für mich nach wie vor eine wichtige Rolle.
»Friede, Freude, Fegefeuer« stellt die individuelle Sichtweise von Much dar. Er ist ein zwölf-jähriger Junge, der sich im Laufe der Geschichte zum jungen Erwachsenen entwickelt. Much ist sehr weltoffen, feinfühlig, sensibel und hat eine große Vorstellungskraft. Seine Sichtweise verkörpert mein inneres Kind, das ich mir bislang und auch in Zukunft noch bewahren möchte. Auch habe ich meine Erfahrung in der Arbeit mit Kindern und deren Aussagen in meine Werke miteinfließen lassen, um deren Sicht auf die Welt darzustellen.
Dieser Teil wurde neu überarbeitet und ist bereits in dem Hardcover »Narren der Gerechtigkeit – Friede, Freude, Fegefeuer« (bei Tolino Media erschienen) enthalten. Es gibt neue Szenen und Informationen, aber die Geschichte ist dieselbe.
Triggerwarnung:
Die Heptalogie findet im Mittelalter statt. In dieser Zeit ist es manchmal gewalttätig und brutal zugegangen. Aber auch in fiktiven Szenen gibt es Auslöser wie Krankheit, Tod, Feuer, körperliche, sexistische und mentale Gewalt, Vergewaltigung, Blut, Suizid und Tierquälerei (Jagd). Diese werden auch in meinen Geschichten erwähnt und zum Teil beschrieben.
Einige Leser*innen könnten das verstörend finden.
Bitte achtet auf euch und sucht euch ggf. Hilfe oder jemanden mit dem ihr über die Themen reden könnt, wie Eltern, Freunde oder andere Erwachsene. Ihr seid nicht allein.
Hier gibt es kostenlose Nummern gegen Kummer:
Hilfetelefon für Kinder und Jugendliche: 116111
Hilfetelefon bei Sexuellen Missbrauch: 0800 22 55 530
Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen: 08000 116 016
Hilfetelefon bei Gewalt gegen Männer: 0800 1239900
Der Wind rauschte leise in den letzten Blättern der Bäume. Dadurch fiel eine Ahornfrucht sanft herab und landete vor einem zwölfjährigen Jungen auf dem trockenen Boden. Es war Much, der Müllerssohn, der den Nasenzwicker aufhob und in seinen Händen betrachtete.
»Seht mal! Eine Hexennase!«, rief er seinen beiden Freunden Bucky und Oscar zu und setzte die Frucht auf seine Nase. Er nahm seinen langen Stab – den er einmal gefunden hatte und seitdem immer dabei hatte – und klemmte sich diesen zwischen die Beine, genauso wie es die Hexen in all den Geschichten der Barden mit ihrem fliegenden Besen taten. Am liebsten hätte er sich jetzt hinauf zum Himmel erhoben und wäre mit den Amseln um die Wette geflogen.
Doch Bucky, der zwei Sommer vor ihm geboren war, legte ihm eine Hand auf die Schulter und holte ihn mit dieser Geste in die bittere Realität zurück. Es war Herbst im Jahre 1190 und die drei Kinder lebten mit einer Bande von Geächteten im Wald. Tag ein Tag aus waren sie auf der Suche nach etwas Essbarem und mussten sich vor gefährlichen Räubern sowie harten Gesetzesvollstreckern in Acht nehmen.
»Hör bitte auf zu spielen, Much, gleich wird es ernst«, flüsterte Bucky und dabei klang der nur ein wenig Jahre Ältere fast wie ein Erwachsener. Er deutete zum Ende des Weges. Dort lag ein großer Bauernhof, vor dem ein beladener Karren stand. »Du weißt doch, wir dürfen nicht mit leeren Händen zurückkehren, sonst müssen wir heute ohne Essen schlafen gehen.« Einerseits wusste der verträumte Junge, dass sein Freund recht hatte, denn sie waren geächtet und mussten stehlen, um über die Runden zu kommen. Andererseits bereitete es ihm Bauchschmerzen, wenn er nur daran dachte, jemandem etwas wegzunehmen.
»Können wir nicht doch nach Pilzen suchen?«
Bucky seufzte. »Leider nicht. Eldred meinte, die letzten Tage war es zu trocken für Pilze. Ich will ja auch nicht stehlen, aber einen weiteren Tag ohne Nahrung halte ich nicht aus.«
»Lasst uns doch nach Beeren suchen.«
»Much …«
»Sonst haben wir auch immer irgendwas im Wald gefunden und dieses Mal wird es nicht anders sein. Die Tiere mopsen einander auch nicht das Essen weg. Oder hast du mal einen Hasen gesehen, der einem Dachs die Würmer gestohlen hat? Ich jedenfalls nicht. Kommt, kehren wir um und dann wird uns was Besseres einfallen.« Neben ihm malte das jüngste Bandenmitglied, der kleine Oscar, mit dem Fuß in den staubigen Boden. »Was meinst du dazu, Oscar?«
Much wusste, dass der Achtjährige ihm nicht antworten würde. Seit dem Überfall vor zwei Wintern auf ihr geliebtes Dorf hatte Oscar kein Wort mehr gesagt. Damals waren Muchs Eltern ums Leben gekommen und John hatte ihn als seinen Ziehsohn aufgenommen, wodurch er und Oscar wie Brüder miteinander aufwuchsen. Darum versuchte er ihn immer wieder zum Reden zu motivieren. Aber auch dieses Mal runzelte Oscar nur die Stirn, hob die Schultern und ließ sie wieder sinken.
»Weißt du, ich würde auch viel lieber mit euch spielen. Aber denk mal daran, wie John reagieren wird, wenn wir gar nichts tun. Er sagt ja immer, wir sollten langsam erwachsen werden, mit dem Spielen aufhören und stattdessen unseren Teil zur Bande beitragen. Wenn er erfährt, dass wir die ganze Zeit wieder nur gespielt und nichts vorzuweisen haben, wird er fuchsteufelswild!«
In Muchs Innerem baute sich das Bild eines riesigen Mannes auf, der vor Wut ganz rot im Gesicht wurde und aus dessen Ohren Dampf trat. Er stellte sich vor, wie ihn der Bandenanführer packte und im hohen Bogen aus dem Barnsdale Forest warf. Bei der Vorstellung wurde der Junge ganz blass um die Nase, denn er wollte John nicht wütend machen.
»Willst du das?«, fragte der Ältere nach.
Ohne zu zögern, schüttelte Much den Kopf. »Nein, das will ich nicht.«
»Dann lass es uns schnell hinter uns bringen. Wir werden ja nicht alles mitnehmen, sondern nur so viel, wie wir benötigen.«
Leise raschelte das vertrocknete Laub unter ihren Füßen, als sie näher an den Hof des Bauern heranschlichen. Neben der Scheune gingen sie hinter einigen Kisten in Deckung. Von dort aus spähten sie zu dem Karren, vor dem ein Esel gespannt war und auf dessen Ladefläche einige Säcke und Kisten standen. Bucky schaute aus der Deckung hervor und sah nach links und rechts, ehe er hektisch den beiden Jüngeren zuwinkte. Rasch verließen sie ihr Versteck, eilten zum Karren und ergriffen wahllos jeweils einen Sack, der in Reichweite lag. Noch immer war der Bauer nicht zu sehen. Dennoch spürte Much ein starkes Ziehen in seinem Magen.
Mit der Beute in den Händen rannten sie zum Wald zurück. Doch bevor sie auch nur einen Fuß in die Schatten der Bäume setzen konnten, blieb Bucky so abrupt stehen, dass die Jüngeren in ihn hineinliefen. Zu allem Überdruss rutschten den beiden die Säcke aus den Händen und fielen zu Boden. Die Schlaufen öffneten sich, sodass die Kohlköpfe und Pastinaken in den Morast kullerten.
»So ein Schlamassel!«, jammerte der Müllerssohn, bückte sich und begann das Gemüse einzusammeln.
»Ähm, Much?«
»Die müssen wir im Fluss waschen. Aber ich glaube, das hätten wir sowieso! Auch wenn ja bekanntlich Dreck den Magen säubert, würde John nicht wollen, dass das Essen so schmutzig …«
»Much!«
Nach dem auffordernden Rufen seines Freundes blickte er auf und erst jetzt erkannte er, warum sie so ruckartig stehen geblieben waren: Jemand hatte sich ihnen in den Weg gestellt und bedrohte die Jungen mit Pfeil und Bogen. Erschrocken richtete er sich auf und hob sogleich seine Hände hoch, wie es die anderen bereits taten. »Wir sind unbewaffnet!«
»Das sieht er doch.« Bucky räusperte sich, um das Gespräch zu übernehmen.
Allerdings kam ihm der ängstliche Much zuvor: »Bitte tut uns nichts! Wir hatten Hunger, aber nichts zu essen! Bitte schießt nicht auf uns! Wir sind noch Kinder!« Die Worte polterten nur so aus ihm heraus, während sein Körper wie angewurzelt dastand und gleichzeitig wie Espenlaub zitterte. In seiner Angst sprach er absichtlich so gehoben, denn von dem alten Eldred wusste er, wie wichtig Respekt und Höflichkeit für die Erwachsenen waren. Dabei kam er nicht drumherum, sein Gegenüber anzustarren. ›Was hat er da im Gesicht? Ist das etwa Dreck? Und diese Kapuze und die grünen Gewänder verbergen ihn. Er ist bestimmt ein Räuber, der uns die Beute wegnehmen will! Dann ist ihm auch egal, ob wir Kinder sind oder nicht!‹
»Ich töte nur, wenn es unbedingt sein muss.«
›Hmm, die Stimme des Räubers klingt irgendwie verkrampft‹, dachte Much und legte verwundert den Kopf schief.
Bevor er etwas sagen konnte, ergriff Bucky das Wort: »Wenn Ihr uns nicht töten wollt, verratet uns doch bitte, wer Ihr seid und was Ihr von uns wollt.«
Ängstlich kniff der Jüngere die Augen zu. War es wirklich klug, einen bewaffneten Menschen so auszufragen? John hätte ihm dafür sicherlich eine Kopfnuss verpasst.
»Wer ich bin, tut nichts zur Sache. Ich bin hier, um euch an das Wort Gottes zu erinnern: Du sollst nicht stehlen.«
›Ein religiöser Räuber?‹, fragte sich Much. Auch ohne den Glauben an einen Gott wusste er, dass es nicht gerecht war, anderen etwas wegzunehmen. Dennoch faszinierte es ihn, zu sehen, wie jemand so vehement diese Werte verteidigte.
»Das wollten wir auch nicht!«, antwortete Bucky und der Müllerssohn fügte schnell hinzu: »Ehrlich nicht!«
»Dann bringt die Säcke zurück. Das oder ihr müsst den Bauern anders entschädigen.«
Fragend runzelte Much die Stirn. »Ent- was?«
»Der Bauer hat das ganze Jahr für seine Ernte schwer geschuftet. Wenn ihr drei ihm die Früchte seiner Arbeit wegnehmt, schadet ihr ihm. Also müsst ihr ihm dafür etwas anderes geben, ihn bezahlen oder etwas für ihn tun, sodass dieser Schaden wiedergutgemacht wird.«
Much konnte diese Sichtweise nachvollziehen und dachte: ›Eigentlich ist er kein schlechter Mensch. Bestimmt ist er auch gar kein Räuber, sondern ein Mann, der die armen Bauern beschützt. Also ein Held!‹
Doch Bucky schüttelte den Kopf. »Wisst Ihr, wir haben nichts, was wir ihm geben könnten und … und ohne das Essen müssen wir hungern!« Noch nie zuvor hatte Much miterlebt, wie Bucky den Ton gegenüber einem Erwachsenen hob. Vermutlich war es der Frust oder der Hunger, der aus ihm sprach.
›Ich habe von Anfang an gewusst, dass es eine schlechte Idee ist‹, glaubte Much, unterdrückte jedoch diese Gedanken, als ihm beim Anblick der bedrohlichen Pfeilspitze eine zündende Idee einfiel: »Mein guter Herr, wenn Ihr uns beibringt, wie man mit Pfeil und Bogen schießt, können wir selbst auf die Jagd gehen und müssen niemandem mehr etwas wegnehmen. Dann müsst Ihr zumindest uns nicht mehr davon abhalten, Gemüse vom Bauern zu stehlen. Was sagt Ihr dazu?« Hoffnungsvoll blickten die drei Jungen auf.
»Ich verstehe die Absicht hinter der Bitte. Doch kann ich sie euch leider nicht gewähren.« Aufgrund ihrer Enttäuschung seufzten die Jungen und ließen die Schultern hängen. »So hört meinen Gegenvorschlag: Ihr bringt die Säcke zurück und ich jage euch ein paar Kaninchen.«
»Das ist sehr großzügig von Euch.« Lächelnd deutete Much eine Verbeugung an.
»Aber es wird nur heute satt machen. Was ist mit morgen und übermorgen?«, fragte Bucky.
»Mehr kann ich heute nicht für euch tun.«
Schnell fügte der Jüngere hinzu: »Und das braucht Ihr auch nicht. Es ist nicht Eure Aufgabe, uns die Jagd beizubringen. Wo treffen wir uns?«
»Ein paar Schritte in diese Richtung befindet sich ein toter Ahorn. Sobald ihr die Säcke zurückgebracht habt, kommt ihr dorthin.«
Erleichtert hob Much die Kohlköpfe und die Pastinaken auf, verstaute sie und reichte einen Sack an den jüngeren Oscar weiter. Doch der Junge reagierte nicht und blickte Richtung Wald. Um seine Aufmerksamkeit auf die vor ihnen liegende Aufgabe zu lenken, stieß Much ihm leicht in die Seite und hielt Oscar den Sack unter die Nase. Dieser runzelte die Stirn, wirkte damit einen Augenblick lang so wütend wie sein Vater, das furchtlose Bandenoberhaupt, ehe er tonlos seufzte, die angespannten Schultern sinken ließ und den Sack entgegennahm.
»Meint ihr, er hält sein Wort?«, fragte Bucky in die Stille hinein.
Der Achtjährige nickte mehrmals und auch der Müllerssohn war davon überzeugt: »Ich glaube, er scheint ein guter Kerl zu sein.«
Damit war das geklärt und sie schlichen vorsichtig zurück. Je näher sie dem Hof kamen, umso langsamer wurden sie, denn jeder unaufmerksame Schritt konnte sie verraten. Geräuschvoll knackte ein kleiner Zweig unter Buckys Fuß und ließ die beiden jüngeren Jungen angsterfüllt mit zusammengekniffenen Augen erstarren. Als Much Nase heftig zu kribbeln begann, holte er tief Luft und hielt den Atem an, in der Hoffnung ein lautes Niesen verhindern zu können. In seiner Vorstellung sah er den starken Bauern, der durch ihn auf sie aufmerksam wurde und ihnen wütend hinterherjagte. Doch das Kribbeln verschwand und sie schafften es ungesehen bis zu einigen Kisten in der Nähe eines Schuppens, der direkt neben der Scheune war. Einen Moment lang verharrten sie dort, spähten die letzten Schritte zum Karren hinüber und lauschten.
Da hörte Much ein leises Schluchzen und Wimmern, das aus dem Inneren des Schuppens kam. Bevor er seine Freunde darauf aufmerksam machen konnte, gab Bucky das Signal zum Loslaufen. Der Ältere und der kleine Oscar schlichen voran, während Much durch ein winziges Loch in den Schuppen schaute und den Bauern erblickte. Dieser saß auf dem Boden und hatte den Kopf in seinen Händen vergraben.
›Warum weint er bloß?‹, dachte Much und bei diesem verzweifelten Anblick verspürte einen Funken Mitleid. Das hatte er nicht gewollt. Wenige Atemzüge später zerrte ihn Bucky hinter den Kisten hervor und auf die Beine, um ihn wieder daran zu erinnern, weshalb sie hergekommen waren.
Nachdem auch er den Sack zurück auf den Karren gestellt hatte, huschten die Jungen davon. Über seine Schulter sah Much noch einmal zurück. Hinter einigen Wolken schaute die Sonne hervor, blendete ihn und wärmte seine Wangen. Für einen winzigen Moment schloss er lächelnd die Augen und stellte sich vor, dass seine Mutter nun stolz auf ihn wäre, denn er hatte einen Fehler wiedergutgemacht.
Kurze Zeit später erreichten sie den abgestorbenen Ahorn, an dessen blattlosen Ästen drei tote Kaninchen hingen. Von dem Fremden war jedoch weit und breit nichts zu sehen.
»Wo ist er?«, fragte Much, der herumlief und sich vorsichtig umschaute. Es kam ihm vor, als würden sie beobachtet werden.
»Scheinbar nicht hier. Aber wir haben das, was wir wollten, und können ins Versteck gehen, ohne Stunk mit John zu bekommen.«
»Aber woher hat er gewusst, dass auch wir unser Wort halten würden?«
Bucky zuckte mit den Schultern und nahm sein Messer vom Futteral seines Gürtels, um die Kaninchen loszuschneiden. »Das weiß ich auch nicht. Vielleicht haben wir einfach nur Glück gehabt.«
Daraufhin brachten die Jungen die Beute in das Versteck ihrer Bande. Es war nicht sehr groß und bestand aus drei kleinen Baumhütten, die sie vor fast zwei Jahren eigenhändig gebaut hatten. In der Krone einer großen Eiche schliefen die drei Jungen, in den Ästen einer Buche daneben kamen der Schmied Neridan und der Bierbrauer Aleden unter. Nur John und Buckys Großvater Eldred bewohnten eine Hütte am Boden – wobei Ersterer seit Tagen unterwegs war. Ein großes Lagerfeuer, um das gefällte Stämme zum Sitzen einluden, befand sich unterhalb der Hütten.
Als sie das Versteck betraten, schauten Aleden und Neridan auf.
»Wo habt ihr die Kaninchen her?«, wollte Neridan wissen. Mit seinen dunklen, buschigen Augenbrauen und dem langen Bart wirkte er immer so streng auf den Müllerssohn.
»Die ha- …«
»Gefunden!«, unterbrach Bucky den jüngeren Much und stieß ihm in die Seite. »Die haben wir auf einem Spieß hängend gefunden. Der Jäger war nicht zu sehen und da haben wir uns die geschnappt.«
»Hatte John euch nicht aufgetragen, lediglich Beeren und Früchte im Wald zu suchen?«, fragte Neridan. »Es kann gefährlich werden, wenn ihr unvorbereitet von anderen stehlt.«
»Schon, aber die hingen einfach herum und da konnten wir sie doch nicht zurücklassen, oder?«
Aleden nickte anerkennend und rieb sich den deutlich sichtbaren Bauchansatz. »Gut gemacht.«
»John kommt morgen zurück. Macht ihm bis dahin keinen Kummer, verstanden? Und jetzt helft Eldred das Essen vorzubereiten.«
»Ja, Neridan.« Irritiert schaute Much zu seinem Freund und flüsterte ihm fragend zu: »Wieso hast du ihnen nicht die Wahrheit gesagt?«
»Das hätte zu lange gedauert«, antwortete Bucky, zuckte mit den Schultern und half seinem Großvater, die Kaninchen zu verarbeiten.
Zu ihrer Überraschung kehrte John am nächsten Morgen früher als geplant ins Versteck zurück. Aleden erzählte ihm von der Beute der Jungen und wie sie angeblich dazu gekommen waren.
»Ich bin sehr stolz auf euch, meine Söhne!«, sprach John und prostete ihnen mit seinem großen Trinkhorn zu. »Es ist wichtig, dass niemand zu Schaden kommt. Zuerst müsst ihr immer dafür sorgen, dass ihr in Sicherheit seid, klar?«
Die Jungen nickten. »Ja, John.«
»Danach kommen alle anderen.«
»Was ist mit euch oder Großvater?«, fragte Bucky nach.
»Wir beschützen euch, denn wir sind für euer Wohl verantwortlich. Wenn wir sterben, dann weil wir euch beschützt haben. Ihr seid noch jung und habt noch euer ganzes Leben vor euch. Aber ihr müsst noch viel lernen.«
Much war erleichtert, dass John ihnen nicht böse war. Er ertrug es nicht, wenn er seinen Anführer enttäuschte und John ihn mit diesem Blick ansah, ihm gemeine Wörter an den Kopf warf. Eines Tages wollte er so groß und stark sein wie John es war. Dazu musste er ihn gut beobachten und das ging nur, wenn der Hüne ihn auch ließ und gute Laune hatte.
»Weißt du, John, beim Spielen lernen Kinder viele Dinge ...«, deutete Bucky an und zwinkerte den beiden Jüngeren grinsend zu.
»Na los, geht meinetwegen spielen. Das habt ihr euch verdient!«
Freudig jubelten die Kinder auf und liefen auch schon los.
»Kommt, wir spielen Ritter und Knappe!«, rief Bucky und rannte voraus, dicht gefolgt von Oscar und Much. »Ich bin der Ritter Lancelot und du, Oscar, bist mein Knappe Theo. Ich werde dir alles beibringen; vom Schwertkampf, Bogenschießen, Reiten bis hin zu der Befreiung einer Prinzessin.« Während der Älteste sprach, begannen Oscars Augen vor Staunen zu leuchten.
»Oh, darf ich auch ein Ritter sein?«, fragte Much aufgeregt.
Zögerlich musterte Bucky ihn von oben bis unten. »Ich weiß nicht. Bist du sicher, dass du das willst? Wir müssen mit Oscar den Schwertkampf üben und du könntest dir wehtun.«
Aus eigener schmerzhafter Erfahrung wusste er, wie hart der kleine Junge zuschlagen konnte. Das musste Oscar von seinem Vater geerbt haben. »Hmmm, nein, das will ich nicht. Aber was bin ich dann? Etwa ein mächtiger Zauberer? Oder sogar ein Drache?« Neugierig war er sich, was sich Bucky für ihn überlegt hatte.
»Nein, du bist die gefangene Prinzessin.«
»Was? Aber ich habe doch gar kein Kleid!«
Bucky lachte laut. »Haha, ist das dein einziger Grund, nicht die Prinzessin spielen zu wollen?«
»Joar, also, ich ääh … Ich könnte doch auch den Drachen spielen! Irgendjemand muss ja das böse Ungeheuer darstellen.« Unsicher kratzte sich Much am Kopf.
»Nee, das geht nicht. Du bist nicht so groß wie ein Drache. Außerdem fände ich es nicht gut, wenn wir gegeneinander kämpfen müssten. Weißt du, den Drachen werden wir uns einfach ausdenken und so tun, als wäre er da.«
»Meinst du wirklich, ich soll die Prinzessin spielen? Aber ohne Kleid sehe ich gar nicht aus wie ein Mädchen.«
Lächelnd legte ihm Bucky eine Hand auf die Schulter. »Nimm einfach deinen Umhang und tu so, als wäre er dein Kleid. Du kannst auch das Tuch hier nehmen und es um den Kopf binden. Dann bist du bestimmt eine wundervolle Prinzessin.« Er überreichte ihm ein großes Tuch, das Much sofort umband.
Daraufhin öffnete er seinen Umhang und drehte sich um die eigene Achse, damit der Stoff flog. Mit einem Mal wurde in seiner Vorstellung aus dem Umhang ein schönes Kleid und seine Freude wuchs mit jeder Drehung, bis ihm schwindelig wurde. Laut lachend ließ er sich zu Boden fallen und schaute zum Himmel.
Währenddessen hatte Bucky dem kleinen Oscar einen großen Stock überreicht und übte die Fechtkunst mit ihm. Die in der Luft klatschenden Schläge erregten Muchs Aufmerksamkeit und er drehte sich zu ihnen auf die Seite. Allerdings fiel es ihm schwer, die beiden beim Kämpfen zu beobachten, denn er befürchtete, dass sich seine Freunde verletzen könnten. Ob er sie nicht besser davon abbringen sollte?
Der verkleidete Müllerssohn stand auf, klopfte die Blätter von seinem »Kleid« herunter, hob den Saum hoch und schritt zu ihnen hinüber. Er machte einen Knicks und sprach ganz höflich: »Mein Herr Knappe Theo, ich bin die Prinzessin … wie heiße ich eigentlich?«
»Hmmm, das kannst du dir aussuchen!«
Einen Augenblick lang dachte Much über den Namen einer Prinzessin nach. Ihm fiel nur ein Mädchenname ein, den er einmal von ein paar Mönchen aufgeschnappt hatte. Also räusperte er sich und begann von vorne. »Mein Herr Knappe Theo. Ich bin Prinzessin Hannah. Würdet Ihr mit mir tanzen?«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Oscar zu Bucky, der für ihn antwortete: »Der Herr Knappe muss das Fechten lernen, meine Herrin. Für einen Tanz hat er jetzt keine Zeit.«
»Aber auch Ritter müssen das Tanzen lernen.«
Seufzend legte Bucky seinen Stock beiseite und warf Oscar einen fragenden Blick zu, der diesen mit einem energischen Kopfschütteln erwiderte. Mit einem Mal schrie Bucky auf und zeigte zum Himmel. »Oh, verflixt! Was ist das?«, rief er, und obwohl nichts zu sehen war, schlug er seine Hände über dem Kopf zusammen. »Ein Drache! Ein Drache!«
Verwundert schaute sich Much um. »Drache? Ich sehe gar keinen …«
»Bringt euch in Sicherheit!«, brüllte Bucky.
»Was zum …?«
Gänzlich unerwartet rannte der Ältere auf den verwirrten Träumer zu, packte ihn und lief mit ihm gegen eine dicke Buche »Der Drache hat die Prinzessin entführt! Er bringt sie in seine Höhle, wo er sie gefangen hält.« Mit einem Seil band er Much am Baum fest.
»Wie soll mich ein Drache an einem Baum festmachen? Der hat gar keine Daumen und viel zu kurze Arme.«
»Much, spiel mit! Dann kann dich Oscar später befreien!«, flüsterte Bucky und hob erwartungsvoll die Augenbrauen.
Der Müllerssohn nickte zustimmend und verstellte seine Stimme: »Oh, nein! Der Drache hat mich entführt! Was soll ich bloß tun?«
»Genau so! Du wartest hier auf uns. Weißt du, ich muss Oscar noch ein paar Dinge beibringen und dann kommen wir, um dich zu befreien.«
Nachdem Bucky ihn festgebunden hatte, drehte er sich um und eilte davon. Bald darauf waren die Jungen nicht mehr zu sehen und Much blieb mutterseelenallein am Baum gefesselt zurück. Er starrte grübelnd vor sich hin und fragte sich, wie er die Zeit des Wartens verbringen sollte.
Also beschloss er, sich mithilfe seiner blühenden Phantasie vorzustellen, er wäre nicht Much, sondern die entführte Prinzessin Hannah. Sie war nicht im Wald an einen Baum festgebunden, sondern hoch oben auf einem Berg in einer dunklen Höhle. Einzig der matte Schein eines kleinen Feuers spendete ihr ein wenig Licht. Tiefer in der Höhle war ein lautes Geräusch zu hören, das sie an das tiefe Röcheln und Quietschen eines Blasebalgs in einer Schmiede erinnerte. Ein Husten dröhnte durch die Dunkelheit, auf das eine unheimliche Stille folgte. Die Prinzessin zitterte aber nicht vor Kälte, denn ein schleifendes Geräusch näherte sich ihr. Furchterfüllt hielt sie den Atem an, als ein monströser Drache vor ihr erschien. Er war so groß, dass sein Kopf beinahe gegen die Höhlendecke stieß. Zwei Mal schlug er mit seinen gigantischen Flügeln und dabei glänzten seine unzähligen steinharten Schuppen grünlich im Feuerschein. Trotz seiner schreckensvollen Erscheinung wirkte er dennoch majestätisch auf die Prinzessin.
»Ihr seid ein Drache! Ihr habt mich entführt!«, rief sie leise mit ihrem hellen Stimmchen, das sich vor Angst überschlug.
»Ja, ich bin ein Drache«, antwortete dieser mit einer tieferen und gleichzeitig näselnden Stimme, »aber ich ha- ha- hatschi!« Much musste niesen. So laut, dass aus den Ästen einer Buche in der Nähe ein paar Amseln schimpfend davonflatterten. Ob das Bucky und Oscar gehört hatten? Er lauschte, zuckte mit den Schultern und spielte weiter.
»Habt Ihr Euch erkältet?«
»Ja und darum kann ich Euch nicht entführt haben. Denn so etwas machen Drachen nicht. Warum sollten wir das auch tun? Wir haben Gold und andere Schätze, die wir horten. Wenn wir auch noch Prinzessinnen entführen, kommen ihre Ritter und wollen gegen uns kämpfen.«
Die Prinzessin nickte. »Ich habe mich schon immer gefragt, warum man sich solche unheimlichen Geschichten ausdenkt.«
»Außerdem hätte ich Euch gar nicht fesseln können«, der Drache hob seine Klauen und wies auf seine Krallen. »Die sind so scharf wie tausend Schwerter und damit hätte ich Euch eher aufgeschlitzt als gefesselt.«
»Wie bin ich dann hierher gekommen?«
»In der Nacht haben Euch ein paar Ritter hierher gebracht. Ich habe gehört, wie sie von einem jungen Knappen mit dem Namen Theo sprachen, der eine Prüfung bestehen muss.«
»Das tut mir leid. Hätten die Ritter von Eurer Erkältung gewusst, wäre ich vielleicht in eine andere Höhle gebracht worden.«