Kommt Zeit, kommt Schlag - Harley Kindred - E-Book

Kommt Zeit, kommt Schlag E-Book

Harley Kindred

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Beschreibung

»Ständig kommt mir dieses stinkendes Lasterbalg in die Quere! Aus dem Nichts taucht dieser miese Halunke immer dann auf, wenn ich mir einen wunderbaren Plan ausgedacht habe! Verdammtes Großmaul!« Er ist groß, muskulös, stark und hat immer einen Fluch auf den Lippen. Seitdem John geächtet wurde, beschützt der Räuberhauptmann eine kleine Gruppe von einfachen Männern und ist für das Wohlergehen von drei halbstarken Jungen verantwortlich. Das ist nicht immer so leicht, da er sich obendrein mit allerlei Plagegeistern herumschlagen muss, die ihm ihre Regeln aufzwingen und seine Autorität streitig machen wollen. Mit Kraft, Mut und Tatendrang stellt er sich jedem Herausforderer und jedem noch so schweren Schicksalsschlag. Letztendlich stehen er und seine Gefährten einer unüberwindbaren Gefahr gegenüber. Für das Überleben seiner Bande muss John über seinen Schatten springen und seine Sturheit überwinden. Kommt Zeit, kommt Schlag ist Teil der multiperspektiven, nicht-chronologischen Heptalogie "Narren der Gerechtigkeit", die in sieben Bänden von einer englischen, mittelalterlichen Legende erzählt. Jeder Band ist aus der Perspektive von Nebenrollen geschrieben.

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Seitenzahl: 211

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kommt Zeit, kommt Schlag Freunde oder Feinde

Teil 01

aus der Heptalogie »Narren der Gerechtigkeit«vonHarley Kindred

Impressum

© 2025 Harley Kindred

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

Kontakt: [email protected]

Lektorat/ Korrektorat: Petra Jocelyn Höhne

Covergestaltung: Loredana Bursch

Selfpublishersportal: epubli

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Vorwort

In der Heptalogie »Narren der Gerechtigkeit« geht es um eine bekannte Legende aus dem mittelalterlichen England. Es ist meine Lieblings-Geschichte (an späterer Stelle wird verraten, um welche es sich handelt), die ich seit meiner Kindheit kenne und von der ich jede Original-Ballade gelesen, und so gut wie jede Verfilmung, Serie und Buch gesehen habe.

Ich fand es schon immer spannend zu sehen, wie unterschiedlich Menschen auf ein und dieselbe Situation reagieren können. Aus dem Grund wollte ich die Legende aus den verschiedenen Perspektiven der Nebenrollen darstellen, weshalb manche Szenen häufiger vorkommen könnten, aber eben mit den jeweiligen Gedanken und Gefühlen des Protagonisten. In meinen Romanen versuche ich zwischen unterschiedlichen Ansichten sowie Realität und Fiktion Brücken zu schlagen. So sind sich zwar Historiker über manche Gegebenheiten nicht einig, aber in meinen Büchern finden diese Differenzen einen kleinen Platz. Auch wenn die Geschichte im historischen Mittelalter stattfindet, so spielen moderne Themen, wie Freundschaft, Identität, Sexualität, Mobbing, Entwicklung und Wahrnehmung für mich nach wie vor eine wichtige Rolle.

»Kommt Zeit, kommt Schlag« handelt von John, den Räuberhauptmann und zeigt seine Sichtweise auf die Legende. Er ist ein sechsunddreißig Jahre alter Mann, der eine fluchende Schnauze am Kopf hat und mit seinen Fäusten ungestüm auf jeden einprügelt, der sich ihm in den Weg stellt. John ist sehr stur, engstirnig und streitsüchtig, darüberhinaus aber auch stark, ausdauernd und tatkräftig.

Seine Perspektive verkörpert meine innere Stärke und meinen eigenen Ärger, den ich aber nicht an anderen sondern am Boxsack auslasse. Die Arbeit an den Romanen hat mich ermutigt, mehr aus mir herauszukommen und für mich einzustehen, auch wenn ich niemals so gemein mit Kindern umgehen würde, wie er.

Triggerwarnung:

Die Heptalogie findet im Mittelalter statt. In dieser Zeit ist es manchmal gewalttätig und brutal zugegangen. Aber auch in fiktiven Szenen gibt es Auslöser wie Krankheit, Tod, Feuer, körperliche, sexistische und mentale Gewalt, Vergewaltigung, Blut, Suizid und Tierquälerei (Jagd). Diese werden auch in meinen Geschichten erwähnt und zum Teil beschrieben.

Einige Leser*innen könnten das verstörend finden.

Bitte achtet auf euch und sucht euch ggf. Hilfe oder jemanden mit dem ihr über die Themen reden könnt, wie Eltern, Freunde oder andere Erwachsene. Ihr seid nicht allein.

Hier gibt es kostenlose Nummern gegen Kummer:

Hilfetelefon für Kinder und Jugendliche: 116111

Hilfetelefon bei Sexuellen Missbrauch: 0800 22 55 530

Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen: 08000 116 016

Hilfetelefon bei Gewalt gegen Männer: 0800 1239900

Kapitel 1: Der Steg der Schande

Es war bereits Herbst im Jahre 1190, als John aus Worksop zufrieden von dem kleinen Hügel hinab zu seinem Ziel blickte: Das idyllische Dorf Whitwell lag zu seinen Füßen.

In diesen frühen Morgenstunden war das einfache Volk von England bereits auf den Beinen; die Bauern arbeiteten auf ihren Feldern und ihre Frauen kümmerten sich um die Tiere. So war auch der Sechsunddreißigjährige schon unterwegs.

Jeder Mann, der ihm auf seinem Weg ins Dorf entgegenkam, grüßte John freundlich und respektvoll. Ein paar Schritte weiter hörte er, wie ein Bauer zu seinem Knecht leise über ihn sprach: »Das ist ein harter Knochen. Mit dem legt sich keiner an!«

Als John an zwei Kindern vorbeikam, die auf einer Wiese in der Nähe der Straße miteinander wie kleine Zicklein stritten, blieb er einen Moment lang neben ihnen stehen, räusperte sich und verschränkte die Arme streng. Augenblicklich verstummten die beiden Jungen und schauten mit offenem Mund zu dem Hünen auf. Er musterte sie und bevor er etwas sagen konnte, rannten sie furchtsam davon, fast so, als hätten sie einen gefährlichen Bären gesehen.

Schmunzelnd setzte er seinen Weg nach Whitwell, dem kleinen Dorf in Derbyshire, fort. Schon bald waren die ersten Häuser zu sehen. Aus einem kam gerade ein älterer Mann, der lächelte und ihm zuwinkte. »Schön dich wiederzusehen, John!«

»Gleichfalls! Wie geht es deinem Bein?«

»Ist fast gesund. Danke nochmals für deine Hilfe. Ohne dich säße ich immer noch unter dem Karren fest.« Der Alte streckte demonstrativ sein rechtes Bein aus.

Milde erwiderte John das Lächeln. »Ach, das war doch eine Kleinigkeit für mich.«

»Oho, du bist also der Held von Whitwell!« Mit großen Schritten trat eine Nachbarin aus ihrem Haus, ging ganz nah an den kräftigen Mann heran, musterte bewundernd seine muskulösen Oberarme und strich prüfend mit ihrem Zeigefinger darüber. Schmachtend blickte sie ihn an. »Der alte Hubert hat mir die Geschichte erzählt, wie du ihn gerettet hast. Komm mit herein! Ich stelle dich meinem Vater vor, mein weißer Ritter!«

John schüttelte ablehnend den Kopf und entzog sich ihren Händen. »Such dir einen anderen Ritter, Weib! Ich bin zwanzig Jahre verheiratet und meine Frau wartet schon auf mich! Also lass mich gefälligst in Ruhe!« Er war kein Held. Er war ein Räuberhauptmann und Bandenanführer, aber das sollte er ihr lieber nicht sagen.

»Wie redest du eigentlich mit mir? Weißt du nicht, wer ich bin?« Empört schnappte die Abgewiesene nach Luft. Unter ihrem lauten Gezeter duckte sich er genervt und ließ sie einfach stehen. Wäre diese keifende Furie nicht hier, wäre das ein wunderbarer, kleiner Ort.

»Molly, gleich bin ich bei dir«, sagte er entschlossen zu sich selbst und schritt rasch weiter, denn viel länger wollte er sein Eheweib nicht warten lassen. Sie waren bereits zu lange von einander getrennt.

Über einen kleinen Trampelpfad, der sich verspielt hinter dem Dorf schlängelte, erreichte John schließlich den Hof seiner Tante. Zu seinem Glück hatte sie damals Molly bei sich aufgenommen. Obwohl sie über Monate hinweg voneinander getrennt waren, schien es für sie das Beste. Eine Frau gehörte nun mal nicht zu einer Bande von Geächteten und schon gar nicht in den Wald.

Als er sich dem Haus näherte, drang eine fremde Stimme an sein Ohr: »… aus Nottingham, fürwahr!«

»Nottingham …«, grummelte John und verbarg sein Gesicht unter seiner Kapuze. Der Name dieser gottverdammten Stadt brachte das Muskelpaket dazu, sich vorsichtshalber hinter ein paar Kisten zu verstecken. Es war, als hätte ihn das Pech von dort bis hierher verfolgt. Mit den Stadtbewohnern gab es nichts als Ärger.

Nach einem schlimmen Brand in Worksop vor zwei Jahren hatten er und weitere Bewohner des Dorfes in der Stadt Nottingham ihr Glück gesucht. Sein Freund Neridan war beim örtlichen Schmied untergekommen und ihn selbst hatte die Miliz aufgenommen. Doch zwischen ihm und dem damaligen Sheriff von Nottingham war ein heftiger Streit entstanden, der dazu führte, dass nicht nur er, Molly und ihr gemeinsamer Sohn Oscar geächtet wurden, sondern auch alle, die mit John verbündet waren. Seitdem wurden sie in der ganzen Grafschaft gesucht und mussten in den Norden nach Yorkshire fliehen.

»Auf Wiedersehen!«, rief eine überaus fröhliche Stimme.

Vorsichtig spähte John aus seiner Deckung hervor, um festzustellen, wer der Fremde war. Es handelte sich lediglich um einen Hausierer, der von Ort zu Ort reiste und seine Waren verkaufte.

Ungesehen und hinter den Kisten verborgen wartete der große Kerl ab, bis der Hausierer außer Sichtweite war. Dann kam er erleichtert aus seinem Versteck heraus und suchte nach seiner Frau. Diese fand er am Brunnen in der Nähe. Auf Zehenspitzen schlich er sich an, um sie ein wenig zu erschrecken.

»Du bist und bleibst ein großes Kind, John. Aber darum liebe ich dich ja!«, sprach Molly unerwartet und drehte sich zu ihm um. Mit einem strahlenden Lächeln lief sie auf ihn zu.

Er breitete die Arme aus und umschloss sanft seine kleinere Frau. »Wie konntest du mich hören?«

»Deine Nase quietscht ganz leise, seitdem du dich damals mit dem Hauptmann geprügelt hast und er sie dir gebrochen hat.« Sie löste sich von ihm und schaute an ihrem Mann vorbei. »Wo sind die anderen? Ich hatte gehofft, endlich meinen kleinen Jungen wiederzusehen.«

»Ich musste sie zurücklassen. Zusammen fallen wir zu sehr auf.«

»Aber du hättest zumindest unseren Sohn mitbringen können! Seit so langer Zeit habe ich ihn nicht mehr gesehen … ich verpasse jeden seiner Schritte!« Angespannt rieb sich Molly ihre Arme und schaute ihn vorwurfsvoll an. In ihren Augen bildeten sich kleine Tränen.

Er konnte verstehen, dass sie Oscar vermisste. Doch konnte er nur Unterhalt für seine Frau bezahlen und den Achtjährigen wollte John ohnehin viel lieber in seiner Obhut haben. »Molly … ich weiß, du vermisst ihn sehr, aber er braucht mich.«

»Er braucht auch seine Mutter! Oder du nimmst mich mit! Ich will sowieso weg … deine Tante kann mich nicht leiden.«

Liebevoll zog er sie zu sich heran. »Liebling, du weißt, dass das noch viel gefährlicher wäre. Eine Frau …«

»… gehört nun mal nicht in den Wald – ich weiß …«

»Ich will dich doch nur beschützen.« John seufzte, als er spürte, wie sie sich mit ihren Fingern an sein Hemd krallte. Er verabscheute diese Diskussionen.

Schniefend schaute Molly zu ihm auf und legte ihm eine Hand an die Wange. »Ich mache dir ja keine Vorwürfe, nein, ich … ich freue mich, dass du mich besuchen kommst.«

»Du bist meine Frau – das ist das Mindeste, was ich tun kann.«

Vertrauensvoll nahm sie ihren Mann an die Hand und zog ihn ein paar Schritte weiter zu einer Bank. Dort ließen sich die beiden nieder. »Du musst mir alles erzählen. Wie geht es meinem Jungen? Wie groß ist er mittlerweile geworden? Und was ist mit den anderen? Hat Eldred noch diesen schlimmen Husten, von dem du mir neulich erzählt hast?«

»Ganz ruhig, ich werde dir alles erzählen, aber nacheinander. Du plapperst ja noch mehr als Much.«

Molly kicherte und hielt sich dabei die Hand vor den Mund. »Treiben dich Much und Bucky mit ihrem Schabernack immer noch zur Weißglut?«

»Eher mit ihren Spielereien. Much träumt ständig vor sich hin und Bucky stiftet ihn und Oscar dauernd zu Unfug an.«

»Sie sind doch noch Kinder!«

»In ihrem Alter habe ich schon gearbeitet!«, maulte John und verdrehte genervt die Augen.

»Gib ihnen noch etwas Zeit. Sie kümmern sich doch so schön um unseren kleinen Oscar und sonst hat er ja niemanden.«

»Da hast du natürlich recht. Nun also, Eldreds Husten ist besser geworden, aber seine Stimme ist noch sehr kratzig und er hört immer schlechter.«

Hastig begann sie in ihrem Beutel zu kramen. Sie holte ein Gefäß heraus und öffnete es. Darin waren ein paar getrocknete Kräuter, die John zwar schon einmal gesehen hatte, sie aber nicht namentlich zuordnen konnte. »Bring ihm das. Möglicherweise wird es damit besser. Das ist eine besondere Mischung, die ich von ein paar Mönchen bekommen habe.«

»Ich richte ihm deine Grüße aus.« Nickend nahm er das Gefäß an sich.

»Ja, und auch den anderen. Wie geht es Neridan und Aleden?«

»Unkraut vergeht nicht.« Auf seine abfällige Antwort hin stieß ihn Molly theatralisch gegen den Oberarm und schüttelte den Kopf. »Ach, du weißt schon, es ist alles beim Alten.«

»Das ist schön.«

Die beiden unterhielten sich, bis es schließlich dunkel wurde. Sie hatten sich lange nicht gesehen und dementsprechend eine Menge zu erzählen. Als sie bemerkten, dass es mittlerweile Nacht war, stahlen sie sich leise in das Haus von Johns Tante. Diese schlief bereits laut schnarchend in der warmen Stube, weshalb sie sich ganz vorsichtig hineinschlichen. Sie quetschten sich zu zweit in Mollys kleines Bett – wobei die Füße des Hünen etwas heraushingen – und er schloss endlich seine Frau zärtlich in die Arme. Zufrieden aneinander gekuschelt schlummerten sie bald darauf ein.

In aller Frühe machte sich John am nächsten Morgen auf den Rückweg zum Barnsdale Forest, nachdem er seine Tante mit ein paar Münzen für Mollys Aufenthalt bezahlt hatte. Viel länger konnte er nicht bei seiner Frau bleiben, denn seine Gefährten brauchten ihn sicherlich – das spürte er. Ohne ihn waren sie verloren.

Sein Gefühl war goldrichtig: Die Kinder hatten nichts als Unfug im Kopf. So hatten sie von einem Jäger die Kaninchen gestohlen und hatten sich Ärger eingehandelt. Außerdem hatte der Älteste Bucky den Müllerssohn Much während ihres kindlichen Spiels an einem Baum festgebunden und ihn dort vergessen, bis dessen Leib nach Stunden taub und kalt war. Der Junge musste deswegen einige Tage das Bett hüten. Allmählich wurde es Zeit, dass das Bandenoberhaupt ihnen wieder Zucht und Ordnung beibrachte.

An diesem Morgen bemerkte er, dass die Jungen ohne seine Erlaubnis fortgegangen waren.

»Die wollten die Wäsche am Fluss waschen«, erklärte Aleden, der seinen Krug in ein Weinfass tauchte. Er war ein loyaler Mann, jedoch nicht der Zuverlässigste.

Sorgenvoll verfinsterten sich Johns Gesichtszüge. »Da ist doch was faul! Neridan, komm mit mir!«

»Sei nicht so hart mit den Jungen. Die wollten sicher nur ein wenig im Wald herumtollen«, sprach Neridan mit besonnener Stimme. Es gab kaum etwas, wodurch der Schmied die Beherrschung verlieren würde. Er war der Ruhepol des Anführers.

Sogleich machten sie sich auf die Suche nach den vermissten Jungen. Am Fluss trafen sie zunächst nur auf die beiden Älteren, die das Nesthäkchen Oscar aus den Augen verloren hatten.

»Habe ich euch nicht schon tausend Mal gesagt, ihr sollt ihn nicht alleine lassen? Wenn ihm irgendwas passiert ist, dann werde ich euch eure Flausen austreiben und euch beide nicht einen, sondern zwei Köpfe kürzer machen!« John tobte in einer Mischung aus Wut und Sorge um sein einziges Kind. Bucky und Much waren nach dem Brand und den Tod ihrer Eltern gewissermaßen zu seinen Ziehkindern geworden. Auch wenn er alles tat, um sie zu beschützen, so hatte sein Herz über die Jahre nur wenig Gefühl für sie übrig.

»Oscar!«, riefen die beiden mit weit aufgerissenen Augen und zeigten auf den Kleinen, der über den Waldweg näher humpelte. Seine Hände waren aufgeschürft und seine Knie mit Leinenbinden verbunden.

»Was ist passiert? Warum ist Oscar verletzt? Verdammt noch mal, redet endlich!«, schnauzte der Räuberhauptmann und wandte sich dabei bewusst an die Älteren, denn sein Sohn sprach seit dem Überfall auf ihr geliebtes Dorf in Worksop nicht mehr.

Ängstlich begann Much zu stammeln: »Tut … tut mir leid, John, wir … wir … wir wollten …«

»Wir wollten dir eine Freude machen!«, rief Bucky dazwischen und hob selbstbewusst das Kinn.

Doch die Antwort machte John fuchsteufelswild. »Was soll das heißen? Glaubt ihr, ich freue mich, wenn auch nur einer von euch verletzt ist?«

»Nein, wir wollten bei den Höfen im Westen Hühnereier und ein Fass Wein stehlen. Damit wollten wir dich überraschen. Aber man hat uns entdeckt und wir mussten fliehen.«

Johns Blick wanderte von Bucky zu Oscar, der aufgrund seiner geringen Größe nicht so schnell laufen konnte wie die anderen. »Und ihr Dummköpfe habt Oscar einfach zurückgelassen? In eurem Alter habe ich schon gearbeitet und Verantwortung übernommen! Ich werde euch eine Lektion erteilen!« Obwohl sie mit dem Schrecken und Oscar mit nur ein paar blutigen Schrammen davongekommen waren, baute sich er wie ein zorniger Bär vor Bucky und Much auf. Wieder einmal waren sie ungehorsam gewesen und hatten aufgrund ihrer Unerfahrenheit und Naivität ihr Leben riskiert.

Als er seine Hand an seinen Dreschflegel legte, um die aufmüpfigen Jungen zu bestrafen, sprang Neridan für sie in die Bresche und schob sich zwischen den Wutbären und die Kinder. »John, es wird Zeit. Wenn wir sie nicht auf das Leben vorbereiten, wird ihnen eines Tages noch mehr widerfahren als ein paar blutende Knie. Du kannst sie nur beschützen, indem du ihnen zeigst, wie sie am besten auf sich selbst aufpassen können.«

Immer noch rot vor Zorn sah er seinen Freund an. Neridan war ein kluger Mann, der ihm stets mit Rat und Tat zur Seite stand. Und auch dieses Mal bewies er wahre Größe und schaffte es, Johns Groll zu besänftigen, indem er ihm eine Alternative bot. »Da hast du recht. Das machen wir. Wir werden sie auf das Leben vorbereiten.«

Darauf folgten sehr anstrengende Tage – sowohl für die Jungen als auch für ihn selbst. Obwohl sich Bucky und Oscar beim Kampftraining gut schlugen, so bereitete ihm besonders Much Kopfzerbrechen. Der Müllerssohn war furchtsam, extrem tollpatschig und hielt nicht einmal harmlose Schläge aus. So musste sich John für ihn eine Aufgabe überlegen, die ungefährlich war und bei der er dennoch genügend Erfahrung sammeln konnte.

Einerseits gab es einige strategisch wichtige Positionen im Wald, die perfekt geeignet waren, um sich auf die Lauer zu legen und vorbeiziehende Händler und Bauern zu überfallen. Andererseits gab es eine Abkürzung durch den Wald, bei der man über einen Steg den Fluss Went überqueren musste, jedoch nur zu Fuß, da der Übergang sehr schmal war. Aus diesem Grund kamen hier selten Händler und Großbauern vorbei, da sie mit ihren Pferdewagen und Karren den Steg nicht überqueren konnten.

Außerdem war in der gesamten Grafschaft Yorkshire mittlerweile bekannt, dass gefährliche Schurken im Barnsdale Forest ihr Unwesen trieben, denn ihre zahlreichen Überfälle und ausgeschmückte Erzählungen hatten die Gerüchteküche ordentlich brodeln lassen. So konnten sie sich bei ihren Überfällen auf wenige Orte konzentrieren.

John entschied, dass Much die Bewachung des Stegs übernehmen und von unwissenden Wanderern Wegzoll verlangen sollte. Doch der junge Tagträumer war nicht nur ängstlich, sondern überdies faul, unaufmerksam, ablenkbar und sehr leichtgläubig.

Darum wanderten John und Neridan zum Steg, um sicherzustellen, dass Much keinen Unfug anstellte.

Gerade als sie nur noch wenige Schritte von dem Steg entfernt waren, konnten sie Stimmen hören: »Ja, ich bin Will Scarlett und das ist Robin Hood!« War der Junge in Gefahr?

Alarmiert zog Neridan seinen Schmiedehammer, doch John legte ihm eine Hand auf die Schulter und mit dieser Geste forderte er ihn stumm zum Abwarten auf. Er wollte sehen, wie Much mit dieser Situation umging. Dann deutete er zum Steg und sie schlichen näher heran. Auf dem einen Ende stand Much mit erhobenem Stab und ihm gegenüber standen zwei zwielichtige Gestalten in grünen und scharlachrotem Gewändern.

»Ihr habt mich überzeugt! Ich bin nur ein armer Müllerssohn und es war wahrlich töricht von mir, von Euch Wegzoll zu verlangen, meine Herren. Ihr dürft passieren. Bitte verschont mein Leben.« Ärger brodelte in John auf. Wie konnte sich der Junge nur so armselig aufführen? Er trat hinter den Jungen und schlug ihn mit der Faust auf den Kopf. »Much, du dummer Esel! Ich habe dir schon tausendmal gesagt: Wir lassen hier niemanden ohne Zoll durch, sei er Robin Hood, ein Räuber mit ausgefallenem Namen, oder der König persönlich! Vor dem Gesetz der Natur sind alle gleich und alle müssen einen Obolus bezahlen!«

»Verzeih mir, John!« Much trat beiseite, damit sein Ziehvater die Angelegenheit mit den Herausforderern regeln konnte.

John reagierte nicht darauf, sondern spuckte auf die Holzplanken. Er konnte weder mit Entschuldigungen noch mit Ausreden etwas anfangen. Er musterte die Fremden. Im waldgrünen Gewand stand ihm Robin Hood gegenüber, während sich dieser Will Scarlett mit dem zum Namen passenden roten Hemd dahinter wie ein feiges Huhn versteckte.

»Was ist mit dem ›Gesetz des Stärkeren‹? Wenn ich Euch im Kampf besiege, dann lasst Ihr uns über den Steg gehen – ohne einen Obolus bezahlen zu müssen«, forderte Robin und nahm einen Bogen vom Rücken.

Davon ließ sich John nicht beeindrucken, sondern lachte laut auf und schlug eine Hand auf den Oberschenkel. »Hahaha, du Wicht, willst mich herausfordern? Du scheinst wohl vor nichts und niemandem Angst zu haben. Dann werde ich dir jetzt eine Lektion erteilen, die du niemals vergessen wirst.« Dennoch musste er für einen Ausgleich sorgen. Er schaute sich um und entdeckte, dass der Müllerssohn einen langen Kampfstab in der Hand hielt. Auch sein ältester Freund hatte neben seinem Schmiedehammer stets einen langen Stock dabei. »Much, Neridan, gebt mir eure Stäbe!«

»Jawohl!« Als der Junge ihm seinen langen Stock zuwarf, fing John ihn ohne hinzusehen. Neridans Stab warf er diesem Robin Hood zu.

»Und was soll ich damit?«

»Du wolltest einen Kampf, den kannst du haben. Doch er soll gerecht sein und darum werden wir ihn mit gleichen Waffen ausführen. Du halbe Portion wirst keinen meiner Schläge aushalten. Falls doch, dürft ihr zwei Narren ohne Wegzoll passieren. Aber soweit wird es nicht kommen.«

Sein Gegenüber legte den Bogen ab und übergab alles an Will Scarlett. »Weißt du was? Ich habe es mir anders überlegt.«

»So? Das dachte ich mir schon.«

»Wenn ich gewinne, werdet ihr hier von niemandem mehr Wegzoll verlangen!«

Triumphierend grinste John. »Da das niemals geschehen wird, meinetwegen. Aber wenn ich gewinne – und das werde ich! – dann wirst du mir alles geben, was du in deinen Taschen hast!«

Wieder wandte sich Robin an Will und leerte demonstrativ die Taschen. Dabei sprachen die beiden leise miteinander, was aus der Entfernung nicht hörbar war.

Allmählich verlor er die Geduld, weshalb er laut hinüberrief: »Wollt ihr Turteltauben weiter nur reden oder willst du deinen großen Worten Taten folgen lassen, Robin Hood?«

Fast gleichzeitig betraten die beiden gegnerischen Parteien den Steg und hoben ihre Holzwaffen.

Ohne zu zögern schlug John unbarmherzig zu, doch Robin parierte die Angriffe geschickt. Wieder und wieder holte der Bandenanführer aus, aber sein Gegner duckte sich immer unter den Schlägen weg. Beim nächsten Hieb sprang Robin flink in die Luft und landete etwas weiter von ihm entfernt auf den Holzplanken.

Das ständige Rumgehüpfe dieser halben Portion machten den Hünen wütend, denn er sehnte sich schon lange nach einem ehrenhaften Kampf. »Du kleiner Wurm! Kannst du nicht mehr als dich ducken und wegspringen? Meinen Schlägen wirst du nicht immer ausweichen können!«

»Mach ihn fertig, John!«, hörte er Neridan rufen.

»Ja, John! Den besiegst du doch sogar im Halbschlaf!«

Das Anfeuern seiner Gefährten brachte sein Blut zum Kochen. Mit großen Schritten überwand er die Distanz und drosch mit grober Gewalt zu. Erneut schaffte es Robin, die Hiebe zu parieren und versuchte den größeren Kerl zu treten.

Amüsiert schaute dieser hinab. »Das nennst du einen Tritt?«

Die Antwort folgte in Form von starken Schlägen und dieses Mal wurde John an der Schulter sowie der linken Seite getroffen, was er aber mühelos wegsteckte.

»Los, Robin! Mach ihn fertig!«, rief dieser feige Will Scarlett, der sich wie ein kleines Mädchen hinter einem Baum versteckt hatte.

»Pah! Da schlägt mein Sohn ja kräftiger als du! Du Vogelschiss bist keine Herausforderung für mich!« Den nächsten Stockhieb wehrte John mit bloßer Hand ab und hielt dabei die gegnerische Waffe fest. Mit einem kraftvollen Ruck riss er den Stab aus Robins Händen. Mit der eroberten Waffe schlug er kraftvoll gegen den rechten Oberarm seiner Konkurrenz. Dann führte er die beiden Stäbe um Robin wie zu einem Schraubstock zusammen und drückte fest zu.

Keuchend wehrte sich sein Widerpart mit Tritten und Schlägen, sodass John die Stöcke fallen ließ und Robins Oberkörper mit seinen muskulösen Armen umschlang.

Unter dem heftigen Winden und Zerren machte er eine unerwartete Entdeckung: zwei leichte Wölbungen. ›Huch?! Ist dieser Robin etwa gar kein Kerl?‹

Diesen kurzen Augenblick der Unaufmerksamkeit wurde sofort ausgenutzt und so schaffte Robin es, sich aus den eisernen Griff des Muskelpakets zu befreien.

»Das Großmaul schaffst du mit links, John!«, rief Neridan ihm zu.

Sich seines Sieges sicher hob John seinen Stab auf und wandte sich mit einem breiten Grinsen auf den Lippen seinem Freund zu.

Plötzlich rannte Robin auf ihn zu und sprang ihm in die Arme, um mit bloßen Fäusten auf ihn einzuprügeln. Überrascht schwankte er ein wenig zurück. Mit dieser Kraft hatte er nicht gerechnet und er erkannte, dass er seine Konkurrenz unterschätzt hatte – etwas, was er nie und nimmer zugeben würde. Die eigene Waffe hämmerte er wütend in Robins Gesicht, bis sein Gegenüber die Hände verteidigend zum Kopf hob und sich von John schwer keuchend abwandte.

»John, der Stock!«, rief Much und deutete zu der gegnerischen Waffe, die mitten auf dem Steg lag.

Rasch überwand er die Distanz und nahm den Stock an sich. Erneut besaß er beide Stäbe, die er wild herumwirbelte. Siegessicher trat John vor Robin und grinste herablassend. »Irgendwelche letzten Worte?«

Ohne auf seinen provokativen Spruch einzugehen, trat Robin ihn heftig ins Gemächt.

Auch damit hatte er nicht gerechnet. Schmerzerfüllt krümmte er sich zusammen, beugte sich zitternd und stöhnend vor. Ihm wurde leicht schwindelig, sodass er das Gleichgewicht verlor.

Hektisch ruderte John mit den Armen in der Luft, ehe er auf der linken Seite des Stegs ins Wasser fiel. Sofort tauchte er unter und stieß mit den Füßen gegen den Grund des Flusses. Reflexartig schnellte er hoch zur Wasseroberfläche und schnappte dort verzweifelt nach Luft. Er wollte um Hilfe rufen, doch Wasser drang in seinen Mund und hinderte ihn am Schreien. Ihm war sterbensbang zumute.

Nirgendwo fand er Halt und trieb ungehindert weiter den Fluss hinunter, weshalb er panisch zu zappeln begann. Als er erneut untertauchte, schluckte er viel Flusswasser, das schmerzhaft seine Kehle verschloss. Erfüllt von Todesangst glaubte John, dass es nun endgültig um ihn geschehen war. Selbsthass durchdrang ihn bis ins Mark, denn nun war er aufgrund seiner Schwäche nicht mehr in der Lage, für Molly und Oscar zu sorgen. Schon wollte er aufgeben und sich dem Tod im Wasser ergeben, als er aus heiterem Himmel spürte, wie seine Arme gepackt wurden. Instinktiv versuchte er sich beim Auftauchen daraus zu befreien.

»Halt still!«, nahm er Robins Rufen wahr und bemerkte die körperliche Nähe, die ihm Hoffnung gab. »Ich werde dich retten, wenn du mich lässt!«

John gab nach und spürte, wie ein Arm seinen Oberkörper umschlang. Gemeinsam trieben sie weiter an der Oberfläche des Flusses.