Schweiß, Blut und Tränen - Harley Kindred - E-Book

Schweiß, Blut und Tränen E-Book

Harley Kindred

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Beschreibung

"Ich kann nichts; nicht jagen, nicht einmal mich selbst beschützen und es gibt nirgendwo einen Ort, zu dem ich gehöre!" Seit dem Tod seiner Mutter ist William auf der Suche nach seinem Platz in der Welt. Es zieht ihn von Dorf zu Dorf, bis er in Doncaster beim alten Barbier unterkommt. Von diesem bekommt der fleißige Handwerker eine Arbeit, ein Dach über den Kopf, ein warmes Bett und jeden Tag eine Mahlzeit. Allerdings verliebt sich der Außenseiter Hals über Kopf in die Tochter des Barbiers und William tut alles, um zu beweisen, dass er eine Familie allein versorgen kann. Doch das Pech scheint an ihm zu haften; er verliert alles und wird geächtet, sodass er in den Barnsdale Forest fliehen muss, in dem obendrein eine gefährliche Räuberbande ihr Unwesen treibt. Unter ständigen Kämpfereien muss er dafür sorgen, dass er in der bedrohlichen Wildnis einen sicheren Unterschlupf zum Überleben errichtet und Nahrung findet. Aber die Tage im Wald werden immer kälter. Schweiß, Blut und Tränen ist Teil der multiperspektiven, nicht-chronologischen Heptalogie "Narren der Gerechtigkeit", die in sieben Bänden von einer englischen, mittelalterlichen Legende erzählt. Jeder Teil ist aus der Perspektive von Nebenrollen geschrieben.

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Seitenzahl: 207

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Schweiß, Blut und Tränen Verliebt und Geächtet

Teil 01

aus der Heptalogie »Narren der Gerechtigkeit«vonHarley Kindred

Impressum

© 2024 Harley Kindred

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

Kontakt: [email protected]

Lektorat/ Korrektorat: Petra Jocelyn Höhne

Covergestaltung: Loredana Bursch

Selfpublishersportal: epubli

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Vorwort

In der Heptalogie »Narren der Gerechtigkeit« geht es um eine bekannte Legende aus dem mittelalterlichen England. Es ist meine Lieblings-Geschichte (an späterer Stelle wird verraten, um welche es sich handelt), die ich seit meiner Kindheit kenne und von der ich jede Original-Ballade gelesen, und so gut wie jede Verfilmung, Serie und Buch gesehen habe.

Ich fand es schon immer spannend zu sehen, wie unterschiedlich Menschen auf ein und dieselbe Situation reagieren können. Aus dem Grund wollte ich die Legende aus den verschiedenen Perspektiven der Nebenrollen darstellen, weshalb manche Szenen häufiger vorkommen könnten, aber eben mit den jeweiligen Gedanken und Gefühlen des Protagonisten. In meinen Romanen versuche ich zwischen unterschiedlichen Ansichten sowie Realität und Fiktion Brücken zu schlagen. So sind sich zwar Historiker über manche Gegebenheiten nicht einig, aber in meinen Büchern finden diese Differenzen einen kleinen Platz. Auch wenn die Geschichte im historischen Mittelalter stattfindet, so spielen moderne Themen, wie Freundschaft, Identität, Sexualität, Mobbing, Entwicklung und Wahrnehmung für mich nach wie vor eine wichtige Rolle.

»Schweiß, Blut und Tränen« stellt die individuelle Sichtweise von William dar. Er ist ein junger Mann, hilfsbereit, handwerklich sehr geschickt und erfinderisch. Allerdings wird er von der Gesellschaft ständig ausgeschlossen und sucht im Laufe der Geschichte nach seiner Familie und seinen Platz in der Welt. Als eine der wichtigsten Nebenrollen in der Legende hatte ich Wills Sicht zuerst veröffentlicht und vieles aus meinen Erfahrung beim Outdoor-Training und Wanderungen miteinfließen lassen. Bei seinem handwerkliches Geschick habe ich vom Talent meines Herzmensch und Lebenspartner inspirieren lassen.

Dieser Teil wurde neu überarbeitet und ist bereits in dem Hardcover »Narren der Gerechtigkeit – Schweiß, Blut und Tränen« enthalten. Es gibt neue Szenen und Informationen, aber die Geschichte ist dieselbe.

Triggerwarnung:

Die Heptalogie findet im Mittelalter statt. In dieser Zeit ist es manchmal gewalttätig und brutal zugegangen. Aber auch in fiktiven Szenen gibt es Auslöser wie Krankheit, Tod, Feuer, körperliche, sexistische und mentale Gewalt, Vergewaltigung, Blut, Suizid und Tierquälerei (Jagd). Diese werden auch in meinen Geschichten erwähnt und zum Teil beschrieben.

Einige Leser*innen könnten das verstörend finden.

Bitte achtet auf euch und sucht euch ggf. Hilfe oder jemanden mit dem ihr über die Themen reden könnt, wie Eltern, Freunde oder andere Erwachsene. Ihr seid nicht allein.

Hier gibt es kostenlose Nummern gegen Kummer:

Hilfetelefon für Kinder und Jugendliche: 116111

Hilfetelefon bei Sexuellen Missbrauch: 0800 22 55 530

Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen: 08000 116 016

Hilfetelefon bei Gewalt gegen Männer: 0800 1239900

Kapitel 1: Der Verstoßene

Wie ein schüchternes Mädchen blickte die Sonne hinter den Hügeln hervor und begann zögerlich mit ihren Strahlen die Grafschaft Yorkshire und ganz England zu wecken. An diesem Spätsommermorgen im Jahre 1190 war die Luft erfrischend kühl und es roch nach feuchter Erde. Die Tiere waren bereits putzmunter; wie kleine Kinder jagten die Schwalben einander am Himmel und die Feldlerchen tauchten in ein grünes Meer unreifen Weizens, aus dem vereinzelt roter Mohn und blaue Kornblumen hervorstachen.

Träumend blickte der junge Handwerker William über die friedlichen Wiesen von Barnsdale, das ihn an seine Heimat, dem kleinen Dorf Studley im fernen Warwickshire, erinnerte. Dabei spürte er, wie ihm die Sonne seine Haut wärmte. Lächelnd versank er in diese idyllische Landschaft, ehe er gähnte herzhaft und dabei die rasch näherkommenden Hufschläge überhörte. Es war ein Reiter, der nach Doncaster wollte.

»Aus dem Weg, du Lump!«

Erschrocken drehte sich William zu der Stimme um. Beim Anblick der drohenden Gefahr riss er die Augen auf und sprang zur Seite – gerade noch rechtzeitig, bevor ihn die Hufe des Pferdes treffen konnten. Er landete auf der feuchten Erde des Weizenfeldes. Der Reiter aber ritt unbeeindruckt weiter. Der Handwerker sah entsetzt an sich herab: Der vom Morgentau genässte Weizen klebte an seinem Leinenhemd, seine Hände und Knie waren braun von der Erde, ebenso die Hose. So hatte er sich seinen Auftrag nicht vorgestellt.

An diesem Tag war er auf dem Weg in den Barnsdale Forest, um dort ein Reh für seinen Herrn zu jagen. Dabei hatte er keine Erfahrung als Jäger. Er war lediglich ein Tagelöhner, der bereits im zarten Alter von 14 Wintern über zehn Jahre von Dorf zu Dorf gezogen war, um Arbeit zu finden. Im vergangenen Herbst war er in der Stadt Doncaster beim alten Barbier untergekommen. Wenn er fleißig war und sich vor keiner Arbeit scheute, bekam er von dem alten Greis eine Unterkunft, ein warmes Bett und eine Mahlzeit am Tag. Zudem hatte sich der junge Mann mit Isabella, der Tochter des Barbiers, angefreundet und fühlte sich in der Gesellschaft der freundlichen Familie sehr wohl. Normalerweise war Will für die Reparaturen an Haus und Hof verantwortlich, doch an diesem Morgen hatte sein Herr ihn mit einem neuen Auftrag überrascht: »Gehe morgen in den Wald und jage ein Reh für mich.«

Mit gemischten Gefühlen dachte Will an den Augenblick zurück, da er einerseits nicht wusste, wie er das anstellen sollte, aber andererseits seinen Herrn nicht verärgern wollte. ›Ob er mich und Isabella doch beim Küssen in der Scheune beobachtet hat?‹, fragte er sich und dachte an die sinnlichen Lippen seiner Liebsten Isabella, die er einige Tage zuvor unerlaubter Weise geküsst hatte. Mit einer erfolgreichen Jagd erhoffte er sich, dem alten Barbier beweisen zu können, dass er der richtige Mann für dessen Tochter war. Sobald er den alten Greis ein getötetes Reh als Trophäe nach Hause brachte, würde dieser sicherlich einer Heirat zustimmen. Doch noch ahnte er nicht, welche Folgen seine Naivität nach sich ziehen würden.

Nach etwa drei Stunden erreichte William die ersten Bäume des Barnsdale Forest. Je mehr er sich dem Wald näherte, umso langsamer wurden seine Schritte, bis der Junge vor den Birken, Eichen und Linden stehen blieb. Mit einem flauen Gefühl im Magen fuhr er herum und betrachtete versonnen den Weg, den er bis hierher gegangen war. Mit leeren Händen konnte er nicht zurückkehren, also musste er es zumindest versuchen.

›Möglicherweise ist das Jagen nicht so schwer und ich lerne es schnell‹, dachte er und betrat zuversichtlich den Wald, in dem die unterschiedlichsten Laubbäume dicht nebeneinander wuchsen. Zunächst kam ihm die Jagd fast wie ein Spaziergang vor, so wie er es sich immer vorgestellt hatte: Die Vögel sangen ihre Lieder und der Wind blies pfeifend durch die Äste. Der Boden war nur mit wenig Laub und Geäst bedeckt, sodass er fast geräuschlos umherwandern konnte. Auf der Suche nach Wild wanderte er in Gedanken versunken weiter. Das Knacken kleiner Zweige unter seinen Füßen ließ einige Eichhörnchen rasch das Weite suchen. Eine ganze Weile waren die kleinen Nager und Singvögel die einzigen Tiere, die er zu Gesicht bekam, bis er endlich auf einer Lichtung ein Reh entdeckte. Er versteckte sich hinter einer Eberesche und hoffte, es nicht zu verschrecken. Das Reh beobachtend, zog er langsam sein Jagdmesser aus dem Futteral seines Gürtels.

Gänzlch unerwartet hörte er eine fremde Stimme: »Das würde ich an Eurer Stelle nicht tun.« Die besonnenen und doch unerwarteten Worte ließen Will erschrocken zusammenfahren. Auf der Suche nach dem Ursprung der Stimme legte er den Kopf in den Nacken, sah nach oben zu den Ästen der Bäume, nach links, rechts, hinter sich und wieder zum Reh. In aller Ruhe graste das Tier an derselben Stelle. Da er niemanden entdecken konnte, glaubte er, sich die Warnung nur eingebildet zu haben. Daher zuckte mit den Schultern und begann vorsichtig auf das Tier zu zuschleichen. »Wollt Ihr das wirklich tun? Bedenkt, man könnte Euch …«

Ungehalten fuhr William der Stimme ins Wort: »Ich will. Ich muss. Ich werde!«

»Auch wenn Ihr damit gegen das Gesetz …«

»Pah! Niemand, den ich nicht sehen kann, sagt mir, was ich zu tun oder zu lassen habe!« Erneut sprach Will dazwischen, denn er wollte dem alten Barbier unbedingt eine Trophäe mit nach Hause bringen.

»Das hatte ich nicht vor«, hörte er über sich in den Baumkronen, »ich sagte, dass ich es nicht tun würde, und fragte Euch, ob Ihr Euch sicher seid.«

In dem Moment entdeckte er in den Ästen einer Eiche einen Menschen, dessen Gesicht von einer Kapuze überschattet wurde. ›Ein Mann‹, glaubte er. ›Ich konnte ihn nicht sehen, weil seine Kleider die Farben der Bäume tragen. Aber wieso will er mich davon abhalten? Will er mir wirklich nur helfen? Wohl kaum! Außerdem: Warum sollte ich auf ihn hören? Nein, ich sollte mich nicht von ihm ablenken lassen.‹ Entschlossen drehte er sich um und schaute nach dem Reh. Das Tier hatte das Gespräch der beiden nicht bemerkt und graste friedlich weiter. Zur Jagd bereit hob Will sein Messer und schlich zum nächstgelegenen Strauch.

»Wollt Ihr es wirklich nur damit jagen? Das halte ich für keine gute Idee.«

›Weiß er etwa, dass ich kein Jäger bin?‹, fragte sich William, ließ die angespannten Schultern sinken und suchte erneut in den Ästen der Bäume nach der Gestalt, jedoch war dort niemand mehr zu sehen. Ihm gingen die eindringlichen Warnungen nicht mehr aus dem Kopf. Womöglich war er jemandem mit Erfahrung in der Jagd begegnet und konnte etwas lernen. »Und sagt Ihr mir auch warum?«

Anstatt sofort zu antworten, ließ sich die zwielichtige Gestalt geschwind an einem Seil zu Boden gleiten und schlich zu ihm ins Versteck. Aufmerksam beobachtete der Handwerker, wie sein Gegenüber das Reh nicht mehr aus den Augen ließ, einen Bogen vom Rücken nahm, um gleich darauf die Sehne einzuspannen. ›Also ist er tatsächlich ein Jäger …‹

»Das Reh ist schnell und geschickt. Sollte es nur ein verdächtiges Geräusch hören, wird es davonlaufen. Solltet Ihr es trotz seines guten Hörsinns erreichen und mit Eurem Brotmesser angreifen, könnte es sich mit seinen Hufen verteidigen. Und glaubt mir, so ein Huf im Magen schmerzt sehr.« Mit konzentriertem Blick richtete der ihm unbekannte Mensch den gespannten Pfeil auf das Reh.

›Der will mir wohl meine Beute streitig machen!‹ Verunsichert zischte Will: »Wartet!«

»Keine Sorge. Ich nehme Euch Eure Beute nicht weg. Das Reh habt Ihr zuerst entdeckt. Ich helfe Euch nur, es zu jagen.«

»Das ist sehr freundlich von Euch. Aber ich will nicht in Eurer Schuld stehen.«

»Ihr habt mich nicht darum gebeten, es zu tun. Ich tue es freiwillig, ohne einen Lohn dafür zu verlangen.«

»Das kann ich nicht annehmen, und auch wenn es eine Ewigkeit dauern wird, bis ich etwas gefangen habe – so muss ich es selbst tun«, erklärte William entschlossen und drehte sich zu seiner Beute.

»Dann solltet Ihr Euch einen Vorteil verschaffen.«

In einer Mischung aus Dankbarkeit und Unwillen hielt der Unerfahrene seufzend inne. »Was meint ihr damit?«

»Das Reh ist schneller als Ihr und kann zudem sehr gut hören. Also solltet Ihr das Tier in eine Situation bringen, in der es Euch nicht mehr davonlaufen kann.«

Der Handwerker dachte nach. »Hmm, meint ihr so etwas wie eine Grube?« Daraufhin erhielt er ein zustimmendes Nicken. »Aber wie bekomme ich es da wieder heraus?«

»Nun, das ist wohl einer der Gründe, weshalb die feinen Herrschaften in Gruppen auf die Jagd gehen. Allein wird das sehr schwierig werden, da das Tier sehr einiges wiegt.«

»Ja, aber Ihr geht doch allein auf die Jagd. Wie schafft ihr das?«

»Für mich reicht ein Kaninchen zum Abendessen oder ein Fisch. Demnach muss ich kein ausgewachsenes Reh legen. Zudem benutze ich meinen Bogen, um schnelle Tiere zu jagen. Allerdings spielt das wohl nun keine Rolle mehr.«

Verwirrt drehte sich William um: Das Reh war verschwunden. »Verflucht. Das wird dem alten Barbier nicht gefallen.«

»Dann hätte er einen erfahrenen Jäger anheuern sollen.«

»Ihr habt gleich erkannt, dass ich kein Jäger bin, nicht wahr?«

»Nichts für ungut, aber das lag auf der Hand. Aber ich bin sicher, Ihr habt andere Talente.«

»Nun ja, als Tagelöhner bin ich schon weit rumgekommen und erledige jede Arbeit, die ich finden kann. Jedenfalls; ich bin William aus Studley. Aber man nennt mich Will.« Er streckte seine Hand zum Gruß aus. Sein Gegenüber zögerte zunächst, nahm aber dann die Hand und schüttelte sie. »Freut mich, Euch kennenzulernen. Wie ist Euer Name?«

»Was? Mein Name? Nun, man nennt mich Robert. Robert von Loxley. Freut mich ebenso.« Robert zog die Hand wieder zurück und musterte Will. »Ihr scheint ein netter Kerl zu sein. Wenn Ihr wollt, dann schieße ich Euch ein Reh. Wie Ihr das zu Euren Herrn transportiert, ist dann Eure Angelegenheit.«

Freudig lächelte der Handwerker. »Für den Transport hatte ich auf dem Weg hierher schon ein paar Ideen. Ich wollte mir aus Ästen und meiner Kordel einen Schlitten bauen.«

»Macht das. Dann ist das also abgemacht: Ich schieße Euch das Reh und Ihr sorgt für den Transport.«

»Wartet! Was habt Ihr davon? Ich kann Euch nicht entlohnen.«

»Eines Tages könnt Ihr mir sicher einen Gefallen tun«, erwiderte Robert lächelnd und verschwand im dichten Gehölz.

Einen Augenblick lang hing William seinen Gedanken nach. Selten war er jemandem begegnet, der nichts außer einem Gefallen in der Zukunft als Lohn verlangte. Ob dieser Robert tatsächlich ein Reh für ihn jagte, würde sich noch herausstellen. Bis dahin wollte der Tagelöhner mit dem Bau des Schlittens fertig sein. Deshalb begab er sich auf die Suche nach langen, kräftigen Ästen. Zwei große fand er auf dem Boden, da diese von den Bäumen abgebrochen und heruntergefallen waren. Einen weiteren, etwas kleineren Ast schnitt er mit seinem Jagdmesser von einer Birke ab. Er legte die Äste auf den Boden, sodass diese ein großes Dreieck bildeten. An den Enden band er sie mit seiner Kordel zusammen. Als er damit fertig war, betrachtete er sein Werk. Es war groß und stabil genug für ein ausgewachsenes Reh – da war er sich sicher. Im gleichen Moment fiel ihm jedoch ein Denkfehler auf: Das Reh würde beim Transport durch den Zwischenraum der Äste hindurchfallen. Also brauchte er etwas, womit er die Lücke füllen konnte. Eine Weile dachte er über sein Problem nach und wünschte sich, er hätte am Morgen mehr als ein Jagdmesser und Kordel eingepackt. Unvorbereitet, wie er war, fühlte er sich gezwungen, sein eigenes Hemd zu verwenden. Ohne es aufzuknüpfen, zog er es über den Kopf und schob es über die Spitze seines Dreiecksschlittens. Verschwitzt betrachtete er sein Werk. Ob es ihm damit gelingen würde, das Tier bis nach Doncaster zu transportieren?

›Es sind bereits Stunden vergangen. Wo steckte dieser Robert bloß?‹, dachte Will nach einer unendlichen Wartezeit und lief ungeduldig auf und ab. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, denn bald würde die Sonne untergehen. Seufzend ließ er sich am Fuße einer Linde nieder.

Kurz darauf sprang er wieder auf, da es hinter ihm raschelte und zwischen den dicht gewachsenen Bäumen tauchte Robert mit einem getöteten Rehbock auf.

»Oh, du bist wieder zurück? Das ging ja schnell«, grüßte Will.

Gemeinsam zogen sie das gelegte Tier zu dem improvisierten Schlitten. Dabei erhaschte Will einen Blick auf das Gesicht seines Gegenübers, das die meiste Zeit durch die Kapuze im Verborgenen blieb: Roberts Haut war wie die Kleidung in Braun- und Grüntönen gefärbt. Verwundert legte der Handwerker die Stirn in Falten, versuchte aber höflich zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen.

»Damit willst du das Reh transportieren?«, fragte Robert, umkreiste den Kadaver und musterte mit neugierigen Blicken Wills Schlitten. »Das wird sehr anstrengend werden.«

»Habe ich eine Wahl? Ich kann schlecht von Euch verlangen, mit mir das Reh bis nach Doncaster zu tragen.«

»Nah, Doncaster ist nicht unbedingt die Stadt, die ich besuchen möchte. Ich bleibe lieber im Wald.«

»Mehr könnte ich auch nicht von Euch verlangen«, entgegnete Will und hob zum Dank seine gefalteten Hände in die Luft.

»Es stellt sich mir dennoch die Frage, ob es halten wird.«

»Das werde ich dann sehen. Jedenfalls danke ich Euch für Eure Hilfe, Robert.«

»Gerngeschehen.« Als Robert das Tier in die Mitte des Schlittens legte, tropfte Blut auf das Hemd hinab. »Wie mir scheint, werdet Ihr ein neues Hemd brauchen.«

»Das … das äh, werde ich gleich meinem Schneider sagen, wenn ich nach Hause zurückgekehrt bin«, betonte Will ironisch und dachte bitter daran, dass das sein einziges gutes Hemd war. Währenddessen wickelte er die Ärmel um das Reh herum, damit es nicht vom Schlitten fiel.

»Dieser Barbier sollte Euch ein neues kaufen. Immerhin hat er Euch hierhergeschickt.«

»Das kann ich ihm ja vorschlagen. Er will sicher nicht, dass ich seine wunderschöne Tochter im blutbeschmutzten Hemd heirate.«

»Oh, Ihr werdet also heiraten?«

»Oder zum Teufel gejagt«, Will lachte zynisch auf, »kommt drauf an, ob der alte Barbier gute Laune hat. Und das ist wiederum davon abhängig, wie viel er gegessen hat. Aber natürlich werde ich mir ein anderes besorgen und mich umziehen, bevor ich um die Hand seiner makellosen Tochter anhalte.«

Robert nickte ihm lächelnd zu. »Dann wünsche ich Euch viel Glück.«

»Das werde ich brauchen! Allerdings werde ich ihm mit dieser Trophäe beweisen, dass ich ein guter Mann für seine Tochter bin. Ihr müsstet meine Liebste mit Euren eigenen Augen sehen, Robert. Isabellas bildhübsches Gesicht, ihre himmelblaue Augen und ihr goldenes Haar – sie ist wahrhaftig ein Engel! Wir kennen uns erst seit dem letzten Herbst, aber es kommt mir so vor, als würde ich sie bereits mein Leben lang kennen!« Er dachte an Isabella und seufzte wohlig. »Deshalb habt vielen Dank. Ich werde mich bei Gelegenheit revanchieren. Eure Hilfe werde ich niemals vergessen!«

Die beiden verabschiedeten sich von einander, ehe sich Will in die Hände spuckte, die beiden Enden seines Schlittens nahm und diese kräftig zog. Er stolperte nach vorn, da er mit dem Gewicht des Tieres nicht gerechnet hatte. Bei Robert hatte das viel leichter ausgesehen. So nahm er alle Kraft zusammen, die er aufbringen konnte, um seine Beute nach Hause zu bringen.

Ein paar Mal musste er eine Pause einlegen. So war es bereits dunkel, als er Doncaster erreichte. Die Last des Tieres zehrte an seinen Kräften, ebenso die ungewohnten Bewegungen seiner Arme und Beine.

Alsbald schaffte er es über die Flussbrücke bis an die Stadtmauer und das Tor. In dem Glauben von den Torwachen Hilfe beim Transport zu erhalten, band er das Reh los und zog sein Hemd von den Ästen. Es war blutdurchtränkt und stank nach totem Tier. Dennoch zog er es sich über, da der Abendwind ihn frieren ließ.

»Hey! Stehen bleiben!«, rief eine Wache, die unter dem Stadttor stand und mit dem Finger auf den ahnungslosen Handwerker deutete.

Fragend drehte sich Will um und zeigte auf sich selbst. »Meint Ihr mich? Oh, ich mag zwar nicht so aussehen, aber ich bin ganz harmlos!«

Die Torwache lief zu ihm, dicht gefolgt von einem seiner Kameraden. »Wo hast du dieses Tier erlegt?«

Sein Kumpan schloss sich dem Verhör an: »Das ist doch dieser William, der Tagelöhner! Bist du nicht der heimatlose Mann, der beim Barbier lebt?«

»Ja, der bin ich.«

»Und das Tier? Hast du es selbst gejagt? Mit deinen eigenen Händen getötet?«

Nicht ohne Stolz nickte Will. »Ich habe es mit eigener Kraft den gesamten Weg von Barnsdale Forest bis hierher geschleppt.«

»Barnsdale Forest, sagst du?«

»Ihr habt ganz richtig gehört. Es war ein langer Weg, aber ich habe es noch vor der Sperrstunde geschafft.«

Die Torwachen zögerten kurz und nickten dann einander einstimmig zu. »Dann müssen wir dich festnehmen, William aus Studley.«

»Was?!«

»Es ist verboten, in den königlichen Wäldern zu jagen.« Mit gezückten Waffen traten sie auf ihn zu.

Verängstigt und entsetzt wich Will einige Schritte zurück. »Aber das wusste ich nicht! Der alte Barbier hat mir den Auftrag erteilt!«

»Unwissenheit schützt vor Bestrafung nicht«, sprach einer der beiden und sein Kamerad fügte hinzu: »Es tut uns leid, aber wir müssen dich festnehmen. Erst morgen früh können wir deine Situation dem Sheriff unterbreiten.«

Verzweifelt erkannte Will, dass er eine Straftat begannen hatte und damit zum Versbrecher wurde. Doch er wollte nicht ins Gefängnis, nicht einmal für eine Nacht und schon gar nicht für ein Verbrechen, dessen er sich nicht schuldig fühlte. »Der alte Barbier hat mich hereingelegt!«, wiederholte er flehend. »Ich wusste doch nicht … Ich habe doch gar nicht …«

Die Torwachen schüttelten stumm ihre Köpfe und schritten weiter auf ihn zu, um ihn gefangen zu nehmen.

Will trat rückwärts, stolperte und fiel. Rasch sprang er wieder auf die Beine und rannte, so schnell er konnte. Immer wieder schaute der Geächtete hinter sich, aber nach einer Weile verfolgten ihn die Torwachen nicht mehr. Allerdings machte es die Dunkelheit ihm schwerer, etwas weiter vor ihm etwas zu erkennen. Langsam beruhigte er sich und blieb schließlich stehen. Außer Atem stützte er sich auf seinen Oberschenkeln ab und spürte seine unruhige Atmung und seinen hastigen Herzschlag in der Brust. Der Ruf einer Eule ließ ihn furchtsam zusammenfahren. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass die Geräusche für ihn ungewohnt waren, da er sich nur selten zu später Stunde draußen aufhielt.

›Warum musste ausgerechnet mir dieses Unglück geschehen? Was habe ich verbrochen, dass mir dieses Schicksal widerfährt?‹, dachte Will. Vor Kälte zitternd irrte er ziellos umher. Bald konnte er die Hand nicht mehr vor Augen sehen. Darum streckte er seine Arme aus, um sich den Weg zu ertasten und nicht gegen einen Baum zu laufen. Auf diese Weise wanderte er eine Zeit lang weiter, bis er erschöpft auf die Knie sackte, auf allen vieren zu einem Busch krabbelte, um sich dort zusammen zu kauern und im Selbstmitleid zu suhlen. ›Der alte Barbier ist daran schuld. Er wollte nicht, dass ich Isabella heirate, auch wenn wir uns von ganzen Herzen lieben! Hätte ich ihm doch widersprochen, wäre ich doch niemals in diesen verdammten Wald gegangen! Und wenn ich diesem Robert von Loxley nicht begegnet wäre, hätte ich auch keinen Kadaver nach Doncaster gebracht! Jetzt bin ich geächtet und werde Isabella nie wieder sehen. Mir bleibt nichts, außer dieses blutbefleckte, stinkende Hemd … so tief bin ich gesunken ...‹

In dieser Nacht schlief William sehr unruhig. Die Geräusche um ihn herum weckten ihn ständig aus seinem Schlummer. Der Boden war hart und kalt. In der Ferne dämmerte es allmählich. Da er ohnehin nicht mehr schlafen konnte, stand er auf. Er musste sich etwas zu essen besorgen, weshalb er das nächste Dorf Brodsworth aufsuchen wollte. Plötzlich flog laut zischend ein Pfeil dicht an seinem linken Ohr vorbei und landete hinter Will in einem Baum. Zu Tode erschrocken war er zu einer Eissäule erstarrt und spähte in die Richtung, in der er den Schützen vermutete. Hatte man ihn nun doch gefunden?

Aus heiterem Himmel hörte er einen lauten, von kindlichen Jubel, der sich ihm näherte. Ein kleiner Junge, der nicht älter als acht Jahre alt war, kam auf der Suche nach seinem Pfeil zwischen drei Eichen hervorgelaufen. Er trug einfache Bauernkleidung und eine kaputte Mütze, hatte eine kleine Schleuder am Gürtel befestigt und pfiff eine fröhliche Melodie.

Als er den vor Schreck erblassten William in dem blutigen Hemd entdeckte, verebbte seine kindliche Unbeschwertheit augenblicklich. Nach Luft schnappend blieb er stehen und starrte diesen mit weit aufgerissenen Augen an.

»D-d-das … das tu-tu-tut mir leid! Das wo-wo-wollte ich nicht!«, stotterte das Kind, machte auf der Stelle kehrt und rannte davon.

Verwundert schaute der Handwerker ihm nach, denn außer dem Schrecken war ihm nichts passiert, wofür sich der Junge entschuldigen musste. »Hey! Warte doch mal!«, rief er und eilte hinterher. Gleich hinter den Eichen befand sich ein Feld, das brach lag. Von Weitem konnte Will ein Haus am Ende des Ackers erkennen, auf das der kleine Bursche zulief. In dem Moment kam eine kräftige Bäuerin heraus, die das verängstigte Kind in die Arme schloss.

»Ich wollte das nicht, ehrlich nicht, Mutter! Es war nicht meine Absicht!«, erklärte der Junge aufgeregt. Die Bäuerin legte ihm die Hände auf die Schultern und entgegnete: »Wie oft habe ich dir gesagt, dass du vorsichtig mit dieser Waffe sein sollst!«

Als sich der Geächtete mit dem blutigen Hemd ihnen näherte, zog sie den Atem ein und hob die Hand vor ihren Mund.

»Keine Sorge, er hat mich nicht verletzt«, erklärte Will beschwichtigend »Er hat mich nicht einmal getroffen. Der Pfeil ist ganz knapp an meinem Ohr vorbeigeflogen.«

»Aber das Blut!« Die Frau zeigte auf Williams Hemd.

Da fiel ihm wieder ein, dass er voller Rehblut war. »Oh, achso das. Das ist nicht mein Blut.«

Die Bäuerin beäugte ihn von oben bis unten, ehe sie ihren Sohn schützend hinter sich schob. »Lauf ins Haus, Arien.«

Panisch versuchte der Junge die Tür zum Haus zu öffnen, jedoch klemmte diese. Er zog und zerrte heftig an ihr, ohne dass sich die Tür bewegte.