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Dürrenmatt hat mit seinen Stücken das Theater revolutioniert. Die Tragödie im klassischen Sinn ist für ihn überholt, stattdessen soll das Tragische in der Komödie zum Ausdruck kommen. Grotesk ist hier das Stichwort, das Mittel, dessen er sich für seine Theaterstücke bedient. In diesem Band erfahren Sie mehr über Dürrenmatts Poetik der Komödie. Im Speziellen werden dabei „Die Physiker“ und „Der Besuch der alten Dame“ unter die Lupe genommen. Aus dem Inhalt: Poetik der Komödie, „Die Physiker“, „Der Besuch der alten Dame“, Dramentheoretische Studien und Deutungsversuche, Das Groteske
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Seitenzahl: 220
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Friedrich Dürrenmatts Theaterstücke
Erläuterungen zu „Die Physiker“
Friedrich Dürrenmatts Poetik der Komödie dargestellt an den Dramen „Romulus der Große“, „Der Besuch der alten Dame“, „Die Physiker“, „Der Meteor“ und „Dichterdämmerung“
Von Eveline Zubriggen, 1997
Jan Matthison beklagt sich in Friedrich Dürrenmatts Wiedertäufer-Drama über die entwürdigende Art, mit der die Sache der Täufer dargestellt werde, und erklärt erbost, dass „der Schreiber dieser zweifelhaften und in historischer Hinsicht geradezu frechen Parodie des Täufertums nichts anderes ist als ein im weitesten Sinne entwurzelter Protestant, behaftet mit der Beule des Zweifels, misstrauisch gegen den Glauben, den er bewundert, weil er ihn verloren“[1], und Uebelohe, einer Gestalt aus „Die Ehe des Herrn Mississippi“, zufolge ist Dürrenmatt ein „verlorener Phantast“, „ein Liebhaber grausamer Fabeln und nichtsnutziger Lustspiele“, der Schauspieler und Publikum „heimtückisch“ in eine Handlung „hineingelistet“ habe, bei der es nicht sicher sei, „ob er sich planlos von Einfall zu Einfall treiben liess, oder ob ein geheimer Plan ihn leitete.“[2]
Friedrich Dürrenmatt, Autor und Ziel dieser zwei seiner Figuren in den Mund gelegten ironischen Selbstbetrachtung, ist zweifelsohne ein moderner Klassiker. Seine Werke, die Romane nicht weniger als die Dramen, gehören längst zum Bildungsfundus unserer Zeit, sie sind Teil des Bücherkanons in den Schulen und erfreuen sich nicht nur weltweiter Aufführungen, sondern haben mittlerweile auch in der Filmgeschichte ihren Platz. Erinnert sei hier etwa an den mit Heinz Rühmann unter dem Titel „Es geschah am hellichten Tag“ verfilmten Roman „Das Versprechen“.
Ganz offensichtlich treffen Dürrenmatts Werke auch heute noch den Nerv der Zeit. Themen wie die atomare Bedrohung oder Kindsmisshandlungen sind in aller Munde und verleihen dem Werk Dürrenmatts eine fast schon gespenstische Aktualität. Dies freilich sollte nicht erstaunen, war er doch ein Schriftsteller – als Dichter wollte er nie bezeichnet werden – der sich mit den brennenden Fragen seiner und unserer Zeit intensiv auseinandergesetzt hat und dieser Zeit in seinem Werk Gestalt gegeben hat. So impliziert die Beschäftigung mit Dürrenmatt per se auch das Herangehen an die drängenden Probleme der Gegenwart.
Ziel dieser Arbeit ist es herauszufinden, inwiefern und wie Friedrich Dürrenmatt seine aus der Auseinandersetzung mit der Welt erwachsene Poetik der Komödie in seinen Dramen „Romulus der Große“, „Der Besuch der alten Dame“, „Die Physiker“, „Der Meteor“ und „Dichterdämmerung“ umgesetzt hat.
Dürrenmatts literaturtheoretische Ausführungen stehen in engem Zusammenhang mit seinem persönlichen Weltbild. Es wird deshalb zum besseren Verständnis notwendig sein, zunächst seine Ansichten über unsere Welt zu reflektieren, um anschließend die Konsequenzen für Dürrenmatts Literatur – in Theorie und Praxis – ziehen zu können. Dabei gilt es zu beachten, dass diese drei Bereiche (Weltbild, Literaturtheorie und literarische Praxis) einander in einem sehr komplexen Wechselverhältnis immer wieder gegenseitig beeinflusst haben.
In seinem 1954/55 gehaltenen Vortrag „Theaterprobleme“ charakterisiert Dürrenmatt unsere moderne Welt als ein aufgrund wachsender Bevölkerungszahlen, der Technisierung, der Medien und anonymen Verwaltungsapparate unpersönlich und unwirklich gewordenes Chaos. Der heutige Staat sei „unüberschaubar, anonym, bürokratisch geworden.“[3] Im Gegensatz etwa zur Zeit Schillers fehlen „die echten Repräsentanten, und die tragischen Helden sind ohne Namen.“[4] Die Welt ist voller Tragödien, „die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden. Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen. Ihre Macht ist so riesenhaft, dass sie selber nur noch zufällige, äussere Ausdrucksformen dieser Macht sind, beliebig zu ersetzen, ...“.[5]
Als besonders gravierend empfindet Dürrenmatt die Unabsehbarkeit dieser ständigen Machtpotenzierung und der Machtmittel selber: „Die Atombombe kann man nicht mehr darstellen, seit man sie herstellen kann. Vor ihr versagt jede Kunst als eine Schöpfung des Menschen, weil sie selbst eine Schöpfung des Menschen ist. Zwei Spiegel, die sich ineinander spiegeln, bleiben leer.“[6] Die Moderne lasse sich somit weit besser mit einem Kanzlisten oder einem Polizisten wiedergeben als mit einem Bundesrat oder Bundeskanzler, denn „die Kunst dringt nur noch bis zu den Opfern vor, dringt sie überhaupt zu Menschen, die Mächtigen erreicht sie nicht mehr. Kreons Sekretäre erledigen den Fall Antigone.“[7]
Um die Orientierungslosigkeit des modernen Menschen zu veranschaulichen, benutzt Dürrenmatt oft das Motiv des Labyrinths. Sein Vater hatte ihm schon als Kind die Geschichte des im Labyrinth umherirrenden Minotaurus erzählt, die ihn umso mehr faszinierte, als er selbst die ländliche Umgebung Konolfingens und später die Stadt Bern als labyrinthisch empfand: „Mein Leben begann in einer gespenstischen Idylle, und diese Idylle empfand ich als labyrinthisch.“[8] Die daraus resultierende Angst gehört sicherlich zu den primären Erfahrungen des Autors und hat wohl auch zum Teil seine späteren Pläne, über Kierkegaard zu promovieren, motiviert.
Die Welt steht für Dürrenmatt also als ein „Ungeheures da, als ein Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muss, vor dem es jedoch kein Kapitulieren geben darf.“[9] Dürrenmatt setzt dieser fragwürdigen weil fragwürdigen realen Welt seine Gedankenwelt entgegen. Seine Art, dieses chaotische Labyrinth zu bewältigen, ist das Schreiben.
Dürrenmatt bekennt in seiner Betrachtung „Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit“ freimütig, dass er es nicht liebe, vom Sinn der Dichtung zu reden. Er schreibe, weil er den Trieb dazu habe und weil er es liebe, Geschichten zu erzählen, „ohne mich bemüßigt zu fühlen, bei der Auflösung der Welträtsel dabei zu sein.“[10] Dies scheint ein krasser Widerspruch zum oben Gesagten zu sein, ist aber der Ausdruck von Dürrenmatts Antipathie gegen das Anbieten von fertigen Lösungen, die der geneigte Leser nur noch zu übernehmen braucht. Dürrenmatt zufolge ist der Autor „weder Zyniker noch Moralist. Er stellt weder seine Person zur Diskussion noch seinen Glauben, weder seine Überzeugungen noch seine Zweifel, obgleich er weiß, dass dies alles unbewusst mitspielt. Gerade deshalb. Allein seine Versuche und Experimente in einem schwierigen Metier zählen.“[11]
Aus diesem Grunde wehrt sich Dürrenmatt auch sehr vehement gegen eine Zuordnung seiner Person zu irgendeiner Ideologie. In den „Zehn Paragraphen zu ‘Romulus der Große’“ stellt er beispielsweise klar: „Der Verfasser ist kein Kommunist, sondern Berner“,[12] und gleich am Beginn seiner Ausführungen zu den „Theaterproblemen“ betont er nachdrücklich, er stehe mit seinen Dramen nicht „als Handlungsreisender irgendeiner der auf den heutigen Theatern gängigen Weltanschauungen vor der Tür, sei es als Existentialist, sei es als Nihilist, als Expressionist oder als Ironiker ...“.[13] Mehr noch – er schiebt den Ball zum Publikum zurück: „Darin, dass viele der heutigen Zuschauer in meinen Stücken nichts als Nihilismus sehen, spiegelt sich nur ihr eigener Nihilismus wieder. Sie haben keine andere Deutungsmöglichkeit.“[14]
Der Schriftsteller soll entschieden den Tiefsinn fahren lassen, „indem er die Welt als Materie verwendet. Sie ist der Steinbruch, aus dem der Schriftsteller die Blöcke zu seinem Gebäude schneiden soll. Was der Schriftsteller treibt, ist nicht ein Abbilden der Welt, sondern ein Neuschöpfen, ein Aufstellen von Eigenwelten, die dadurch, dass die Materialien zu ihrem Bau in der Gegenwart liegen, ein Bild der Welt geben.“[15]
Dass das nicht immer einfach ist, wird in den „Fingerübungen zur Gegenwart“ deutlich: „In dieser Zeit Schriftsteller sein zu wollen, heißt mit dem Kopf durch die Wand rennen.“[16] Gerade das aber tue er leidenschaftlich gern, und er sei der Meinung, dass Wände gerade dazu erfunden seien. Er sei ja Schriftsteller geworden, „um den Leuten lästig zu fallen“,[17] und er kümmere sich nicht um die Frage, ob er ein guter Schriftsteller sei. Er hoffe jedoch, „dass man von mir sagen wird, ich sei ein unbequemer Schriftsteller gewesen.“[18]
Dürrenmatt schließt seine „Fingerübungen“ mit einem für ihn typischen sinnigen Wortspiel und einer mahnenden Vision, die den Sinn des Schriftstellerdaseins noch einmal prägnant zusammenfasst: „Ich bin Protestant und protestiere. Ich zweifle nicht, aber ich stelle die Verzweiflung dar. Ich bin verschont geblieben, aber ich beschreibe den Untergang; denn ich schreibe nicht, damit Sie auf mich schließen, sondern damit Sie auf die Welt schließen. Ich bin da, um zu warnen. Die Schiffer, meine Damen und Herren, sollen den Lotsen nicht missachten. Er kennt zwar die Kunst des Steuerns nicht und kann die Schiffahrt nicht finanzieren, aber er kennt die Untiefen und die Strömungen. Noch ist das offene Meer, aber einmal werden die Klippen kommen, dann werden die Lotsen zu brauchen sein.“[19]
Dürrenmatts Äußerungen zum Theater haben wie seine Werke experimentellen Charakter und stellen nicht ein in sich geschlossenes, nach wissenschaftlichen Regeln erstelltes System dar. Nicht selten bleiben frühere Auffassungen neben revidierten stehen, sodass sich Widersprüche ergeben. Zudem sind einige Äußerungen als Reaktion auf verbale Attacken von Kritikern entstanden und dementsprechend plakativ, pointiert-ironisch formuliert. Zieht man ferner in Betracht, dass Dürrenmatt unter anderem aufgrund seiner Abneigung gegen die etablierte Literaturwissenschaft vieles gerade nicht sagt – „gewiss, auch ich habe eine Kunsttheorie, was macht einem nicht alles Spaß, doch halte ich sie als meine private Meinung zurück (ich müsste mich sonst gar nach ihr richten) und gelte lieber als ein etwas verwirrter Naturbursche mit mangelndem Formwillen“[20] – so scheint es tatsächlich ein schwieriges Unterfangen zu sein, wenigstens die zentralen Punkte seiner Poetik der Komödie aufzuzeigen. Dennoch soll dieser Versuch gewagt werden, auch wenn sich Missverständnisse einzuschleichen drohen, „indem man verzweifelt im Hühnerstall meiner Dramen nach dem Ei der Erklärung sucht, das zu legen ich beharrlich mich weigere.“[21]
Wie lässt sich nun unsere aus den Fugen geratene Welt gestalten? Friedrich Dürrenmatt verwirft in den „Theaterproblemen“ die Möglichkeit, sie etwa mit der Dramatik Schillers darzustellen, da Kunst nie wiederholbar sei: „Schiller schrieb so, wie er schrieb, weil die Welt, in der er lebte, sich noch in der Welt, die er schrieb, die er sich als Historiker erschuf, spiegeln konnte. Gerade noch.“[22] Eine historische Dramatik lässt sich also nicht einfach bruchlos auf unsere Zeit übertragen.
Darüber hinaus scheint es Dürrenmatt aber auch unmöglich zu sein, den Gegebenheiten der Gegenwart entsprechende Tragödien zu schreiben: „Die Tragödie, als die gestrengste Kunstgattung, setzt eine gestaltete Welt voraus. Die Komödie – sofern sie nicht Gesellschaftskomödie ist wie bei Molière – eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz begriffene, eine Welt, die am Zusammenpacken ist wie die unsrige.“[23]
Es fehlt aber nicht nur am Zustand der Welt, sondern auch an der Ethik der Menschen: „Die Tragödie setzt Schuld, Not, Mass, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt.“[24] Dürrenmatt geht sogar so weit, das heutige Gewissen als pervertiert zu bezeichnen, denn: „Es lautet nicht: Ich bin gut. Es lautet: Die anderen sind ja auch schlecht.“[25]
Somit kann nicht erstaunen, dass Dürrenmatt das Fazit zieht: „Uns kommt nur noch die Komödie bei“,[26] denn: „Wer so aus dem letzten Loch pfeift wie wir alle, kann nur noch Komödien verstehen.“[27] Das ist aber nicht zwangsläufig resignativ gemeint: „Nun liegt der Schluss nahe, die Komödie sei der Ausdruck der Verzweiflung, doch ist dieser Schluss nicht zwingend. Gewiss, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser Welt sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt, sondern eine Antwort, die man auf diese Weise gibt, und eine andere Antwort wäre das Nichtverzweifeln, der Entschluss etwa, die Welt zu bestehen, ...[28]
Es ist durchaus nachvollziehbar, dass Dürrenmatt aufgrund seiner Weltsicht und seiner Auffassung von Tragödie diese als Darstellungsform für unsere Zeit verwirft. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die Komödie dieser Aufgabe gerecht zu werden vermag. Das hat Dürrenmatt durchaus gesehen und sich bemüht, eine Form der Komödie zu finden, mit deren Hilfe unsere Welt gestaltet werden kann, denn „man kann in der heutigen Welt auch in bewusster Form nicht mehr naiv sein. Die reine Welt des harmlos Komödiantischen ist vorbei.“[29]
Dürrenmatt unterscheidet in seiner „Anmerkung zur Komödie“ zwischen der aristophanischen Tradition der Komödie und der „neuen attischen Komödie“,[30] die die europäische Komödienliteratur von Menander über Plautus bis hin zu Molière viel stärker beeinflusst habe als das aristophanische Komödienmodell, das sich bei Gozzi, Raimund, Nestroy und später bei Wedekind und Brecht erkennen lasse. Der Unterschied liegt für Dürrenmatt vor allem darin, dass die attische Komödie die Typisierung bestimmter Stoffe einleitete und von der Tragödie gewisse dramaturgische Gesetze für den Bau der Komödie übernahm. Bei Aristophanes dominiert jedoch der theatralische Einfall, der die Gestaltung der Gegenwart grotesk deformiert und dadurch Distanz schafft. Die distanzschaffende Wirkung der Komödie bezeichnet zugleich einen weiteren Unterschied zwischen Komödie und Tragödie: „Die Tragödie überwindet die Distanz. Die in grauer Vorzeit liegenden Mythen macht sie den Athenern zur Gegenwart. Die Komödie schafft Distanz.“[31]
Der Einfall hat aber neben dem Schaffen der Distanz noch eine weitere Funktion. Durch ihn wird das anonyme Publikum als Publikum erst möglich: „Der Einfall verwandelt die Menge der Theaterbesucher besonders leicht in eine Masse, die nun angegriffen, verführt, überlistet werden kann, sich Dinge anzuhören, die sie sich sonst nicht so leicht anhören würde. Die Komödie ist eine Mausefalle, in die das Publikum immer wieder gerät und immer noch geraten wird.“[32] Allerdings können die Dramatiker das Publikum so zwar überlisten, jedoch nicht zwingen, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen oder diese gar zu bewältigen.
Dürrenmatt betont ausdrücklich, dass der Einfall an sich noch kein Problem ist, sondern höchstens Konflikte schaffen kann. Genau das ist aber auch seine Absicht, denn wenn der Dramatiker vom Problem ausgehe, dann habe er es auch zu lösen. Gehe er jedoch vom Konflikt aus, dann „braucht er keine Lösung, sondern nur ein Ende. ... Die Beendigung eines Konflikts kann glücklich oder unglücklich ausfallen, der Dramatiker hat nicht ein Problem zu lösen, sondern eine Geschichte zu Ende zu denken.“[33] Und eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, „wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“[34]
Mit der schlimmstmöglichen Wendung einer Geschichte konfrontiert zu werden, erschreckt den Zuschauer und enthüllt ihm gleichzeitig eine groteske, paradoxe Wirklichkeit. Insofern liegt bei Dürrenmatt der Verfremdungseffekt nicht primär in der Regie, sondern im Stoff selbst: „Die Komödie der Handlung ist das verfremdete Theater an sich (und braucht gerade deshalb nicht verfremdet gespielt zu werden, es kann es sich leisten, darauf zu verzichten).“[35]
Es fällt auf, dass Dürrenmatt die Komödie nicht über die Figuren charakterisiert, wie dies etwa in den Typenkomödien Molières (z.B. „L’avare“ (dt. „Der Geizige“), „Le malade imaginaire“ (dt. „Der eingebildete Kranke“) etc.) der Fall ist. Im Gegenteil: Die Figuren können nicht nur nicht-komisch, sondern sogar tragisch sein. Komisch ist vor allem das Geschick, das ihnen widerfährt. Das Theorem von der schlimmstmöglichen Wendung impliziert zudem einen radikalen Verzicht auf das Gattungsmerkmal des versöhnlichen Schlusses.
Nachdem wir uns oben mit Dürrenmatts Forderung nach der schlimmstmöglichen Wendung bekannt gemacht haben, stellt sich nun die Frage, wie sich diese konkret manifestiert. Es ist nicht so, dass man aus dem vorangegangenen Geschehen quasi bruchlos auf sie schließen könnte: „Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.“[36] Dabei vermag der Zufall die Menschen umso wirksamer zu treffen, „je planmässiger“[37] sie vorgehen: „Planmässig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie zu vermeiden suchten (z.B. Oedipus).“[38]
Schlimmstmöglich bedeutet also nicht zwangsläufig, dass Blut vergossen wird oder viele Leichen die Bühne bevölkern, sondern dass etwas geschieht, das sich der Kontrolle der Figuren (vorerst) entzieht bzw. ihren ursprünglichen Plänen diametral entgegenläuft. Es ist Dürrenmatts Absicht, „to show the reaction of the individual to circumstances beyond his control.“[39] Der Zufall selbst ist dabei unabwendbar – „Die betroffene Figur kann ihn ebensowenig vermeiden wie herbeiführen“[40] – und dem Schicksal der klassischen Tragödie nicht unähnlich.
Der wirksame Einsatz des Zufalls soll die Identifikation des Zuschauers verhindern. Würde Dürrenmatt freilich alle Abläufe für alogisch erklären, wäre sein Theater absurd. Der Zufall tritt nur an bestimmten wirkungsmächtigen Punkten des Verlaufs in Kraft. Wenn der Extremfall eingetreten ist, verläuft alles planvoll. Obwohl der Zufall also die äußere Tektonik des Werks bricht, kann die innere Logik dennoch folgerichtig sein – und auf diese kommt es letztlich an: „Die immanente Logik eines Stückes hat zu stimmen, nicht die äusserliche.“[41]
Der Einbezug des Zufalls wird wiederum mit Blick auf unsere Welt begründet. Es ist ein Irrtum zu glauben, alles planen und genau voraussehen zu können: „Ein Geschehen kann schon allein deshalb nicht wie eine Rechnung aufgehen, weil wir nie alle notwendigen Faktoren kennen, sondern nur einige wenige, meistens recht nebensächliche. Auch spielt das Zufällige, Unberechenbare, Inkommensurable eine zu grosse Rolle. ... Der Einzelne steht ausserhalb der Berechnung.“[42] Wir haben uns darüber klar zu werden, „dass wir am Absurden, welches sich notwendigerweise immer deutlicher und mächtiger zeigt, nur dann nicht scheitern und uns einigermassen wohnlich auf dieser Erde einrichten werden, wenn wir es demütig in unser Denken einkalkulieren.“[43]
Weil die Figuren in Dürrenmatts Werken immer wieder über solche Zufälligkeiten stolpern, die für sich genommen oft nichts anderes als eigentliche Lappalien sind, spricht Neumann in diesem Zusammenhang von einer „Dramaturgie der Panne“[44] und resümiert: „Alle Stücke Dürrenmatts ziehen ihre Wirkung aus dem Widerspiel zweier Bereiche: der weitgespannten, aus zahllosen Bühneneinfällen gespeisten konventionellen Ordnungswelt und dem Einbruch von irrationalen Zufällen aller möglichen Provenienz in diese.“[45]
Dürrenmatts Zuwendung zu einer neuen Form der Komödie schließt keineswegs die totale Absage an das Prinzip des Tragischen ein. Er bezeichnet das Vergnügen zwar als „Fliegenfänger der Kunst“,[46] betont aber, dass das nicht heiße, dass „ein heutiges Drama nur komisch sein könne. Die Tragödie und die Komödie sind Formbegriffe, dramaturgische Verhaltensweisen, fingierte Figuren der Aesthetik, die Gleiches zu umschreiben vermögen.“[47] Das Tragische ist immer noch möglich, „auch wenn die reine Tragödie nicht mehr möglich ist. Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervorbringen als einen sich öffnenden Abgrund, ...“.[48] Die Paradoxie und die Groteske sind die zentralen Mittel, mit denen Dürrenmatt der Komödie tragische Wirkung abgewinnt.
Es gehört zum Wesen der Groteske, dass sie beim Zuschauer ambivalente Gefühle weckt. Einerseits möchte man über das Gehörte oder Gesehene lachen, aber dieses Lachen bleibt einem im Halse stecken, weil man mit einer minimen Zeitverzögerung bereits vom Schauer gepackt wird und sich Abgründe zu öffnen beginnen. Das Groteske ist für Dürrenmatt „ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt, und genauso wie unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht mehr auszukommen scheint, so auch die Kunst, unsere Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr.“[49] Dürrenmatt macht nicht zuletzt deshalb so oft von ihm Gebrauch, ja kultiviert es geradezu, weil es „die Perversionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit sichtbar macht. Es fungiert daher als Mittel zur Selbsterkenntnis der Gesellschaft. Dabei bedient es sich formal mit Vorliebe der Kontraste und Paradoxien, um die Erwartung des Rezipienten überraschend zu täuschen und ihn dadurch zum Nachdenken anzuregen.“[50]
Dürrenmatt betont in den Punkten 19 und 20 der „21 Punkte zu den Physikern“: „Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit“ und „Wer dem Paradoxen gegenübersteht, setzt sich der Wirklichkeit aus.“[51] Paradoxien sind also für ihn ästhetischer Ausdruck der Realität, wes-halb nicht selten der Eindruck entsteht, dass in Dürrenmatts Theater die Welt auf dem Kopf steht – was sie ja in seinen Augen auch tatsächlich tut! Eine Geschichte, die über Zufälle stolpernd der schlimmstmöglichen Wendung zustrebt, ist für Dürrenmatt zwar „grotesk, aber nicht absurd. Sie ist paradox.“[52] Das Paradoxon als nur scheinbare Widersinnigkeit, als zunächst verblüffender Kontrast, vermag dabei den Zuschauer bei genauem Hinsehen auf eine höhere Wahrheit zu verweisen.
In der „Anmerkung zur Komödie“ erläutert Dürrenmatt den Unterschied zwischen der romantischen Groteske und seiner Auffassung von ihr: „Es ist wichtig, einzusehen, dass es zwei Arten des Grotesken gibt: Groteskes einer Romantik zuliebe, das Furcht oder absonderliche Gefühle erwecken will (etwa indem es ein Gespenst erscheinen lässt), und Groteskes eben der Distanz zuliebe, die nur durch dieses Mittel zu schaffen ist. ... Das Groteske ist eine äusserste Stilisierung, ein plötzliches Bildhaftmachen und gerade darum fähig, Zeitfragen, mehr noch, die Gegenwart aufzunehmen, ohne Tendenz oder Reportage zu sein. ... Das Groteske ist eine der grossen Möglichkeiten, genau zu sein.“[53]
Wir können somit mit Hoffmann festhalten: „Dürrenmatt incluye en el mundo de sus comedias lo grotesco y mezcla lo lúgubre con lo cómico, borrando casi los límites entre los géneros dramáticos. ... El elemento cómico des sus tragicomedias no tiene un matiz humorístico, sino satírico y el elemento trágico refleja el esfuerzo heroico, pero insensato, de levantar un orden en el mundo informe cuyo aspecto grotesco revela la tragicomedia.“[54]
Dürrenmatt hat in den „Dramaturgischen Überlegungen zu den ‘Wiedertäufern’“ am Modell des großen Forschers Scott einige seiner zentralen Theoreme prägnant zusammengefasst. Da Dürrenmatts dramaturgische Grundüberzeugungen und das, was ihn etwa von Shakespeare, Brecht oder Beckett trennt, meines Erachtens nirgends derart treffend formuliert wird, soll das „Modell Scott“ als Schlusspunkt der theoretischen Betrachtung der Poetik der Komödie und als Übergang zum nächsten Kapitel trotz seines Umfangs ungekürzt zitiert werden:
„Shakespeare hätte das Schicksal des unglücklichen Robert Falcon Scott doch wohl in der Weise dramatisiert, dass der tragische Untergang des grossen Forschers durchaus dessen Charakter entsprungen wäre, Ehrgeiz hätte Scott blind gegen die Gefahren der unwirtlichen Regionen gemacht, in die er sich wagte, Eifersucht und Verrat unter den anderen Expeditionsteilnehmern hätten das Uebrige hinzugetan, die Katastrophe in Eis und Nacht herbeizuführen, bei Brecht wäre die Expedition aus wirtschaftlichen Gründen und Klassendenken gescheitert, die englische Erziehung hätte Scott gehindert, sich Polarhunden anzuvertrauen, er hätte zwangsläufig standesgemäss Ponys gewählt, der höhere Preis wiederum dieser Tiere hätte ihn genötigt, an der Ausrüstung zu sparen; bei Beckett wäre der Vorgang auf das Ende reduziert, Endspiel, letzte Konfrontation, schon in einen Eisblock verwandelt, sässe Scott anderen Eisblöcken gegenüber, vor sich hinredend, ohne Antwort von seinen Kameraden zu erhalten, ohne Gewissheit, von ihnen noch gehört zu werden.
Doch wäre auch eine Dramatik denkbar, die Scott beim Einkaufen der für die Expedition benötigten Lebensmittel aus Versehen in einen Kühlraum einschlösse und in ihm erfrieren liesse. Scott, gefangen in den endlosen Gletschern der Antarktis, entfernt durch unüberwindliche Distanzen von jeder Hilfe, Scott, wie gestrandet auf einem anderen Planeten, stirbt tragisch, Scott, eingeschlossen in den Kühlraum durch ein läppisches Missgeschick, mitten in einer Grossstadt, nur wenige Meter von einer belebten Strasse entfernt, zuerst beinahe höflich an die Kühlraumtüre klopfend, rufend, wartend, sich eine Zigarette anzündend, es kann ja nur wenige Minuten dauern, dann an die Türe polternd, darauf schreiend und hämmernd, immer wieder, während sich die Kälte eisiger um ihn legt, Scott, herumgehend, um sich Wärme zu verschaffen, hüpfend, stampfend, turnend, radschlagend, endlich verzweifelt Tiefgefrorenes gegen die Türe schmetternd, Scott, wieder innehaltend, im Kreise herumzirkelnd auf kleinstem Raum, schlotternd, zähneklappernd, zornig und ohnmächtig, dieser Scott nimmt ein noch schrecklicheres Ende, und deshalb ist Falcon Robert Scott im Kühlraum erfrierend ein anderer als Falcon Robert Scott erfrierend in der Antarktis, wir spüren es, dialektisch gesehen ein anderer, aus einer tragischen Gestalt ist eine komische Gestalt geworden, komisch nicht wie einer, der stottert, oder wie einer, der vom Geiz oder von der Eifersucht überwältigt worden ist, eine Gestalt, komisch allein durch ihr Geschick: Die schlimmstmögliche Wendung, die eine Geschichte nehmen kann, ist die Wendung in die Komödie.“[55]
Wenn nun der Versuch unternommen werden soll, Friedrich Dürrenmatts Theaterkonzeption in das literaturgeschichtliche Umfeld einzuordnen, gilt es, insbesondere zwei zentralen Aspekten nachzugehen: seinem Verständnis der Komödie als Tragikomödie und dem Moment der intendierten Reflexion über das auf der Bühne Dargestellte.
Guthke verweist bereits in seiner Einleitung zur „Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie“ auf die seit der Goethezeit nicht mehr verhallende Klage, „dass es im deutschsprachigen Raum nie zur Ausbildung einer Lustspieltradition gekommen ist.“[56] Unter den unzähligen Argumenten für diese These zieht sich wie ein roter Faden die Behauptung hindurch, dass das Lebensgefühl der Deutschen vorwiegend tragisch sei, und man verweist gerne auf Goethe, der es als Charakter der Deutschen bezeichnet hat, „dass sie schwer werden über allem und alles schwer über ihnen.“[57]
Man könnte einwenden, dass es doch sehr wohl auch bei uns gute Lustspiele gibt und als Beispiele etwa Gotthold Ephraim Lessings „Minna von Barnhelm“ oder Heinrich von Kleists „Der zerbrochene Krug“ nennen. Ob dabei aber gleich von einer Lustspieltradition gesprochen werden kann, darf zumindest bezweifelt werden, auch wenn man der oben dargelegten pseudo-ethnologischen Erklärung vielleicht nicht in allen Punkten folgen mag. Nun ist es aber auch eine Tatsache, dass einige unserer besten Komödien recht eigentlich Tragikomödien sind, weshalb mir Guthkes Frage, ob „denn vielleicht im Deutschen die tragische Komödie zu einer beachtlicheren Tradition ausgebildet sei als die reine Komödie“[58] und sich das deutsche Lustspielproblem etwa durch den Einbezug der Tragikomödie lösen ließe, durchaus berechtigt erscheint.
Richtet man nun den Blickwinkel auf diesen Aspekt, erkennt man unschwer, dass Friedrich Dürrenmatt mit seinen tragischen Komödien sicher einen Höhepunkt in der Geschichte derselben darstellt, jedoch keineswegs originär ist, sondern vielmehr auf einer langen Tradition aufbaut. Dabei ist es für die Tragikomödie kennzeichnend, dass das Tragische und das Komische sich nicht ihn höherem Verstehen auflösen, sondern in ihrer Eigenqualität bestehen bleiben:
„ ... ihre Identität wird eine dynamische, spannungsvolle, die durch das Tragische das Komische verschärft und vertieft und das Tragische durch das Komische.“[59]
Diese Entwicklungslinie führt uns – um nur die Meilensteine zu nennen – von Lessing über Lenz und Kleist zu Hoffmann, der zur Erkenntnis gelangt: „Nur im wahrhaft Romantischen mischt sich das Komische mit dem Tragischen so gefügig, dass beides zum Totaleffekt in eins verschmilzt und das Gemüt des Zuschauers auf eine eigene, wunderbare Weise ergreift.“[60]
Es folgen Büchner, Grabbe und Hebbel, dessen Charakteristik der Tragikomödie – „Man möchte vor Grausen erstarren, doch die Lachmuskeln zucken zugleich; man möchte sich durch ein Gelächter von dem ganzen unheimlichen Spuk befreien, doch ein Frösteln beschleicht uns wieder, ehe uns das gelingt“[61]