Friesennebel - Sandra Dünschede - E-Book

Friesennebel E-Book

Sandra Dünschede

4,5

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Gustav Nissen, Bewohner des Pflegeheims ‚Olenglück‘, wird von Nordic-Walkern tot im Legerader Wald in Nordfriesland gefunden. Schnell stellt sich heraus, dass der Mann keines natürlichen Todes gestorben ist. Hatte der Sohn des Toten, der durch die hohen Heimkosten sein Erbe gefährdet sah, seine Finger im Spiel? Oder leistet im Heim jemand illegal Sterbehilfe? Kommissar Thamsen verfolgt mehrere Ansätze, doch erst ein Undercovereinsatz seines Freundes Haie im Pflegeheim scheint den Nebel zu lichten…

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Seitenzahl: 272

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Sandra Dünschede

Friesennebel

Ein Fall für Thamsen & Co.

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Kofferfund (2016), Friesenmilch (2016), Knochentanz (2015), Friesenschrei (2015), Friesenlüge (2014), Friesenkinder (2013), Nordfeuer (2012), Todeswatt (2010), Friesenrache (2009), Solomord (2008), Nordmord (2007), Deichgrab (2006)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ksl / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-5302-1

Widmung

Für die Risum Girls – weil Heimat verbindet

Prolog

Diese Nacht war düster und kalt. Dichte Nebelschwaden zogen über die schwarze Landschaft, hingen träge über dem feuchten Gras, hüllten alles ein wie in Watte, die sämtliche Geräusche schluckte. Das Knacken klang daher ohrenbetäubend. Einige Vögel flatterten erschrocken in der Dunkelheit auf.

Eine Gestalt, die in dem dichten Nebel kaum auszumachen war, hielt abrupt inne, obwohl sie selbst das Geräusch verursacht hatte. Die kleinen Atemwölkchen, die stoßweiße aus dem Mund drangen, vermischten sich sofort mit den feuchten Schwaden, lösten sich darin auf.

War es ein Fehler gewesen, hierherzukommen? War der Plan doch nicht so genial wie gedacht? Würde diese Aktion nicht ablenken von den anderen? Eine falsche Fährte legen? Die Person lauschte ins Schwarz, das sie umgab.

Stille. Nichts als Stille. Der Schatten bewegte sich lautlos weiter, während innerlich Erinnerungsfetzen wie Blitzlichter aufflammten. Schummrige Notbeleuchtung, das Quietschen von Gummisohlen auf Linoleum, der Geruch von Urin und Desinfektionsmittel. Dann das kalte Metall der Türklinke in der Hand, ein leises Schnarchen, nein, eher eine Art Grunzen, das verstummte, sobald das weiche Kissen sich auf das Gesicht senkte und fest auf Mund und Nase gedrückt wurde. Ein gewohnt kurzes Zucken, leicht zu bändigen, ganz leicht und dann Stille.

Ein Wagen tauchte plötzlich wie aus dem Nichts auf, dessen Lichter wie kleine Blitze kurz beim Öffnen der Verriegelung aufflammten. Die Gestalt glitt eilig auf den Fahrersitz, zündete den Motor und starrte auf den finsteren Feldweg, der wegen des Standlichtes, das lediglich eingeschaltet worden war, kaum auszumachen war. Langsam rumpelte das Auto vorwärts, fort von dem kleinen Waldstück, in dem sich die Bäume wie schwarze Krallen in den Himmel streckten, fort von der Dunkelheit, fort vom Tod.

1. Kapitel

Der Harndrang weckte Haie Ketelsen wie jeden Morgen gegen 5.30 Uhr. Er spürte den Druck schon eine Weile, und doch zögerte er, dem Bedürfnis, seine Blase zu erleichtern, nachzugeben. Um diese Uhrzeit war es stockdunkel, und als Haie seinen Fuß unter der Bettdecke hervorstreckte, spürte er die Kälte des Morgens in der Luft hängen. Er war schon immer jemand, der nur bei geöffnetem Fenster schlafen konnte, hasste aber die kühlen Temperaturen in dieser Jahreszeit, die sein Schlafzimmer über Nacht in einen wahren Eisschrank verwandelten.

Haie stöhnte. Es nützte nichts. Er musste raus. Viel länger würde er nicht einhalten können. Oder doch? Er konzentrierte sich mit geschlossenen Augen darauf, bewusst an etwas anderes als an seine randvolle Blase zu denken. Allerdings mit wenig Erfolg. Er schlug die warme Daunenbettdecke zur Seite und wälzte sich aus dem Bett, was gar nicht so einfach war, denn seine Knochen wollten ihm nicht so recht gehorchen, und es dauerte einen Moment, bis er sich aufgerichtet hatte und eilig nach seinen Pantoffeln angelte. Es wurde höchste Eisenbahn. Er hatte lange gewartet. Zu lange?

Schnell schlurfte er zur Tür, durch einen kleinen Flur und stieg die steile Treppe hinab, die unter seinen Schritten knarzende Geräusche von sich gab. Ansonsten war es still im Haus. Tom und Niklas schliefen noch, nur Haie musste dringend auf die Toilette. Sein ganzer Körper war derart auf das bevorstehende Urinieren fixiert; da war in Haies Kopf für mehr kein Platz. Daher konnte er, wenngleich er den Stapel Videospiele auf einer der Treppenstufen sah, nicht auf das Hindernis auf seinem Weg zum Klo reagieren. Es knackte laut, als er auf die oberste Plastikhülle trat, die sich gleich unter seinem Fuß verselbstständigte und mit ihr Haies gesamter Körper.

»Uargh«, war alles, was Haie neben wildem, unkontrolliertem Strampeln und Rudern mit Armen und Beinen zustande brachte. Halt fand er jedoch keinen, sodass er letztendlich kopfüber die Stufen hinunterfiel und auf den harten Fliesenboden krachte, auf dem sein Sturz mit dem Geräusch brechender Knochen und einem markerschütternden Schmerzensschrei endete.

Sterne tanzten vor Haies Augen, und ein Ohnmachtsgefühl drohte ihn zu überrollen, das lediglich von seinen animalischen Schreien zurückgehalten wurde.

Urplötzlich tauchte Toms Gesicht vor seinem auf. Kalkweiß wirkte es wie ein Geist, und Haie schrie noch lauter. Er spürte nicht, wie Niklas ihn berührte, er hörte nicht, was Tom zu ihm sagte, sein Körper schien nur aus diesem dumpfen Schmerz zu bestehen, dessen Ursprung er nicht genau lokalisieren konnte. War es der Arm oder das Bein oder beides? Wieder kam diese dunkle Wand auf ihn zu, er schluckte und unterbrach dadurch für den Bruchteil einer Sekunde sein Geschrei.

»Haie«, brüllte Tom ihn in diesem Moment an. »Ich bringe dich ins Krankenhaus.« Er zerrte an Haies Arm, der daraufhin zu explodieren schien. »Auuuuuuhhhh!« Sofort ließ Tom den Freund los. Sein Herz pochte bis zum Hals, der staubtrocken war. Was sollte er tun? Sein letzter Erste-Hilfe-Kurs war so lange her, er erinnerte sich nicht daran, was in solch einem Fall zu tun war. Er hatte ja noch nicht einmal eine Ahnung, was mit Haie wirklich los war. Womöglich machte er es mit seinen Hilfeversuchen nur noch schlimmer. »Rede mit ihm«, trug er schließlich Niklas auf, der mit großen Augen und offenem Mund neben seinem Patenonkel am Boden saß.

Tom hastete ins Wohnzimmer, riss das Telefon aus der Ladestation und wählte 112.

2. Kapitel

Monika Jensen drückte energisch ihre Zigarette im Aschenbecher auf der kleinen Veranda aus und schlüpfte dann durch die gläserne Schiebetür zurück ins Warme. Ein Blick auf die Uhr über der Tür des Gemeinschaftsraumes sagte ihr, dass ihre Schicht anfing, genau in diesem Moment. Sie hätte jedoch gar nicht auf die Uhr zu schauen müssen, denn pünktlich zum Arbeitsbeginn hörte sie die beiden Kollegen von der Nachtschicht auf dem Gang. Plaudernd kamen sie näher und betraten den Raum. Die Erleichterung, nun Feierabend zu haben, stand ihnen förmlich in ihre Gesichter geschrieben, und Monika beneidete die beiden, hatte sie die Arbeit doch noch vor sich.

»Irgendetwas passiert heute Nacht?«, fragte sie die Kollegen, die allerdings nur den Kopf schüttelten. »Nichts Besonderes, alles wie immer«, gab die ältere der beiden Frauen Auskunft. Monika nickte und knöpfte ihr weißes kittelartiges Oberteil zu. »Ach doch«, entfuhr es da der anderen der beiden Mitarbeiterinnen, »vielleicht schaust du als Erstes nach Frau Bertram. Die hatte heute Nacht Schmerzen, und ich habe ihr ein paar Ibu gegeben. Vorhin schlief sie noch, aber besser du behältst sie heute im Auge.«

»Alles klar.« Monika schlurfte in ihren Plastikpantoffeln los und holte zuallererst den Rollwagen aus einer angrenzenden Kammer, der die Utensilien für die Morgentoilette der älteren Herrschaften enthielt. Seit mehr als 20 Jahren arbeitete sie als Altenpflegerin, und die Arbeitsabläufe waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Sie dachte meist gar nicht mehr darüber nach, was als Nächstes zu tun war, sondern verrichtete automatisch ihre Arbeit. Mit den älteren Menschen kam sie gut klar. Schon immer. Als junges Mädchen hatte sie zu Hause geholfen, die Großeltern zu versorgen. Wahrscheinlich war damals der Berufswunsch in ihr gekeimt, denn als sie nach dem Schulabschluss eine Ausbildung als Altenpflegerin angeboten bekommen hatte, hatte sie nicht groß darüber nachgedacht, sondern die Chance ergriffen. Viel zu überlegen war ohnehin nicht Monikas Art. Sie machte immer einfach – das brachte ihrer Ansicht nach weitaus mehr als zu grübeln. Da kam man womöglich nur auf dumme Gedanken oder wurde depressiv. Denn wenn Monika klar werden würde, dass auch sie wahrscheinlich eines Tages in solch einer Pflegeeinrichtung vor sich hin leben würde, ginge ihr der Job vermutlich nicht so leicht von der Hand. Man durfte sich das Schicksal der alten Leutchen nicht zu sehr zu Herzen nehmen. Das war zwar nicht immer einfach, aber wenn man alles zu sehr an sich heranließ, all das Leid, das Sterben, das Vergessen, dann konnte man daran selbst zugrunde gehen. Das hatte sie schon bei einigen ihrer Kollegen im Laufe ihrer Berufszeit erlebt. Wie sie jedes Mal in tiefe Trauer stürzten, wenn ein Bewohner verstarb, oder ein Demenzkranker mehr und mehr vergaß und nicht mehr Herr über den eigenen Körper war. Natürlich war das schwer zu ertragen, aber es half niemandem, wenn man sich all dieses Leids annahm und am Ende womöglich selbst daran kaputtging.

Sie öffnete leise die Tür zum Zimmer von Frau Bertram. Sie wollte die alte Dame nicht wecken, falls sie noch schlief. Dabei ging es Monika weniger darum, dass die Frau ausruhte, sondern vielmehr wollte sie selbst von dem Gejammer der Bewohnerin verschont bleiben. Sie kannte Frau Bertram schließlich und glaubte daher nicht, dass ein paar Ibuprofen das Problem der alten Dame gelöst hatten. Doch zum Glück schlief die Frau. Monika vernahm ein leichtes Schnarchen und schloss leise die Tür.

»Guten Morgen, Frau Siebert!« Ganz anders betrat sie den nächsten Raum, den sie mit großen Schritten durchquerte, um am Fenster die Vorhänge zur Seite zu ziehen. Draußen war es zwar noch nicht ganz hell, aber allein durch die lautstarke Begrüßung und das klappernde Geräusch der Gardinenringe wachte die Bewohnerin auf. Monika drehte sich um und lächelte die kleine runzelige Frau an, die sie reichlich schlaftrunken anblickte. Doch Monika kannte keine Gnade. Schwungvoll schlug sie die Bettdecke zurück und drückte beinahe zeitgleich den Knopf, der den oberen Bettbereich nach oben surren ließ. Sie wandte sich um, holte den Rollwagen und begann zügig mit der Morgentoilette.

Nachthemd aus, Windel aus, mit dem Seifenlappen Gesicht und Hals, dann Oberkörper und Intimbereich sowie den Rest einschließlich der Füße abwischen. Abtrocken, frische Windel anlegen sowie saubere Kleidung anziehen. Zum Schluss das Gesicht eincremen, kämmen, fertig war Frau Siebert. Monika hob die Frau in ihren Rollstuhl, den sie anschließend ans Fenster schob. »Ich hole Sie gleich zum Frühstück«, verabschiedete sie sich für den Moment und eilte zum nächsten Zimmer. Morgens war es oft hektisch, zumal ihre Kollegin, die mit ihr auf dieser Etage den Frühdienst hatte, meist später kam. Frauke war alleinerziehend und musste daher zunächst die Kinder in die Schule und zur KiTa bringen. Die Heimleitung hatte die Verspätung offiziell genehmigt, da es schwer war, geeignetes Personal zu finden.

Monika kam damit klar, da sie sich wie immer keine Gedanken darüber machte, ob das nun ungerecht gegenüber den anderen Mitarbeitern war oder sie deswegen in den frühen Morgenstunden Stress hatte. Es nützte doch nichts, die Arbeit musste getan werden.

Erneut riss sie die Zimmertür schwungvoll auf und betrat mit einem lauten »Guten Morgen, Herr Nissen« den Raum, ging direkt zum Fenster, wo sie wie zuvor bei Frau Siebert zuerst die Gardinen aufzog. Monika wandte sich mit einem Lächeln herum, stoppte aber in der Bewegung und blinzelte. Einmal, zweimal. Das Bett des Bewohners war leer. Etwas ratlos blickte sie sich im Zimmer um und bemerkte dabei, dass der Rollstuhl von Herrn Nissen fehlte. Hatte jemand den Mann abgeholt? Vielleicht zu einem frühen Arzttermin? Oder was war hier los? Wieso hatten die Kolleginnen sie nicht informiert? Es kam nicht selten vor, dass Bewohner aus dem Heim ausbüxten, aber bei Herrn Nissen war das nicht vorstellbar. Der war viel zu schwach, um sich alleine in den Rollstuhl zu setzen und davonzurollen. Aber vielleicht hatte er Unterstützung gehabt? Manchmal rotteten sich die Bewohner des Heimes gegen das Pflegepersonal zusammen.

Mit energischen Schritten stampfte Monika über den Flur zurück in den Gemeinschaftsraum. Die Kolleginnen saßen bei einer Tasse Kaffee zusammen und klönten.

»Sagt mal, was ist mit Herrn Nissen?«

Die beiden Frauen schauten auf. »Wieso?«

»Der ist nicht auf seinem Zimmer.«

»Was?«, entfuhr es der Älteren. »Bei meinem Rundgang heute Nacht war der aber da.«

Monika nickte. »Und heute Morgen? Sollte er zum Arzt oder so?«

Die Kolleginnen schüttelten synchron den Kopf und standen auf. Fast, als glaubten sie Monika nicht, folgten sie ihr zu dem Zimmer von Gustav Nissen. Doch das Bild, das sich ihnen bot, war unmissverständlich. Der Bewohner war verschwunden.

3. Kapitel

»Jetzt beeil dich, Niklas!« Tom stand vor seinem Wagen auf dem Parkplatz des Niebüller Krankenhauses und wartete auf seinen Sohn, der mit dem Anschnallgurt der Rücksitzbank kämpfte. Der Junge war völlig durch den Wind. Der Sturz seines Patenonkels sowie der anschließende Auftritt der Rettungssanitäter, die Haie schließlich mit Blaulicht und lautem Tatütata abtransportierten, hatten ihn erschreckt.

Noch nie hatte Niklas einen Menschen derart schreien hören. Er hatte fürchterliche Angst. Außer seinem Vater und Haie hatte er niemanden, denn seine Mutter war gestorben, als er klein war. Er kannte sie lediglich von Bildern und aus den Erzählungen seines Vaters und Haies, die den Jungen gemeinsam großzogen.

Endlich hatte Niklas sich von dem Gurt befreit und folgte seinem Vater im Laufschritt zum Eingang des Krankenhauses.

»Wo werden denn die Notfälle angeliefert?«, fragte Tom den Mann am Informationsschalter.

»Zu wem wollen Sie denn?«

»Haie Ketelsen.«

Der Mitarbeiter tippte den Namen auf der Tastatur ein und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm.

»Ist noch nicht erfasst. Da müssen Sie warten.«

Niklas schluckte und griff nach Toms Hand.

»Hören Sie, er hatte einen Unfall. Wir sind seine Familie und müssen wissen, was mit ihm ist. Wo ist er?«

»In die Notaufnahme können Sie nicht. Nehmen Sie hier vorne Platz, und ich versuche mal, etwas für Sie rauszufinden.« Der Blick des Mannes ruhte dabei auf Niklas, dem mittlerweile Tränen über die Wangen kullerten. »Okay?«

Die beiden nickten stumm und setzten sich in eine kleine Warteecke, gleich in der Nähe des Eingangs. »Es wird schon nicht so schlimm sein«, versuchte Tom, seinen Sohn zu beruhigen, fand aber selbst, dass er nicht besonders überzeugend klang. Er machte sich große Sorgen um den Freund. Ein Sturz in Haies Alter war nicht ohne. Er hatte schon von Leuten gehört, die nach solch einem Unfall gar nicht wieder auf die Beine gekommen waren. Er holte geräuschvoll Luft und spürte, wie Niklas immer näher an ihn heranrückte. Tom legte den Arm um ihn und zog ihn ganz dicht zu sich. Eigentlich war der Junge nicht mehr derart kuschelig, suchte nur noch selten seine Nähe, aber in dieser Situation tat es beiden gut, sich gegenseitig festhalten zu können. So aneinandergekrallt verharrten sie eine halbe Ewigkeit. Ganz ruhig saßen sie da und warteten, nahmen die Welt um sich herum kaum wahr; weder die anderen Besucher, die an ihnen vorbeieilten, noch die Patienten, die sich die Beine vertraten und dabei nach einer Abwechslung des öden Krankenhausalltags suchten. Daher musste der Mann vom Infoschalter Tom auf die Schulter fassen, um auf sich aufmerksam zu machen.

»Ich habe gerade Bescheid von der Station, Herr Ketelsen liegt auf Zimmer 312. Sie können zu ihm.«

»Danke«, erwiderte Tom und stand auf, während Niklas ihn bereits am Arm Richtung Fahrstühle zerrte.

»Wir nehmen die Treppe.«

»Aber wir müssen schnell zu Haie!«, protestierte Niklas, der sehr wohl wusste, dass sein Vater nicht gerne Aufzug fuhr. Irgendwann hatte er einmal etwas wie »schlechte Erfahrungen gemacht« gemurmelt, aber nie weitere Diskussionen über das Thema zugelassen. So auch heute nicht. Energisch stieß Tom die Tür zum Treppenaufgang auf und nahm die ersten Stufen, während Niklas nur widerwillig folgte.

Drei Stockwerke waren jedoch für keinen der beiden ein Problem, und sie hatten ihr Ziel vermutlich sogar schneller erreicht als mit einem Fahrstuhl, der womöglich auf jeder Etage einen Stopp eingelegt hätte. Im Flur der Station blickte Tom sich suchend um und wandte sich dann nach rechts. Viel Betrieb herrschte auf dem Gang nicht, lediglich ein älterer Mann an Krücken kam ihnen entgegen, und eine Krankenschwester huschte an ihnen vorbei.

Niklas Turnschuhe quietschten auf dem Bodenbelag, aus dem Schwesternzimmer hörten sie ein Radio spielen, sonst war es ruhig.

»Tom?«, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich und drehte sich um. Ein Stück den Gang hinunter war Dirk Thamsen aus einem der Zimmer getreten und schaute ihn mit großen Augen an. Der befreundete Kommissar schloss die Tür hinter sich, kam auf sie zu und ließ seinen Blick zwischen Tom und seinem Sohn hin und her wandern.

»Didi!«, rief Niklas, warf sich in dessen Arme und umklammerte ihn. Dirk hob ihn hoch, drückte ihn an sich und trat zu Tom. »Was ist los? Was macht ihr hier?«

Ehe der Freund etwas erwidern konnte, sprudelte es aus Niklas heraus: »Onkel Haie hatte einen Unfall und ist mit dem Krankenwagen hierher gebracht worden!«

»Was?« Thamsen setzte den Jungen ab. »Und was ist mit ihm?«

»Das wissen wir nicht genau. Sind gerade auf dem Weg zu ihm.«

»Ich komme mit.« Gemeinsam legten sie die letzten Meter zum Zimmer 312 zurück. Niklas lief dabei zwischen den Männern und hatte jeweils eine Hand ergriffen.

Zögernd klopfte Tom an die Tür und öffnete anschließend. Haie lag in einem Bett direkt am Fenster und döste. Sein rechtes Bein wurde in einer Art Schlinge in der Luft gehalten. Sein linker Arm war verbunden und ruhte auf einem extra Kissen.

Der Zimmergenosse grüßte freundlich, als die drei an Haies Bett traten. Tom fasste den Freund an der Schulter, der daraufhin die Augen öffnete.

»Oh, hat mein Unfall sich schon bis zur Polizei herumgesprochen«, bemerkte er im Flüsterton und verzog dabei seinen Mund zu einer Art Grinsen, was ihm jedoch nicht so recht gelingen wollte.

»Wenn du solch seltsame Sachen machst«, erwiderte Dirk und drückte leicht Haies Hand.

»Da braucht man wohl nicht zu fragen, was du hast«, bemerkte Tom und ließ seinen Blick über die Verbände schweifen. »Oder gibt es weitere Verletzungen?«

»Weitere? Das reicht«, stöhnte Haie. »Das sind Schmerzen, die wünscht man seinem ärgsten Feind nicht. Und das alles wegen ein paar dämlicher Videospiele.«

»Videospiele?«, fragte Dirk, während Niklas bei dem Wort schuldbewusst den Kopf senkte.

»Ach egal, kann ja keiner etwas dafür, dass ich so tollpatschig bin«, tat Haie die Umstände seines Unfalls ab, da er merkte, wie sehr Niklas der ganze Vorfall mitnahm. »Was machst du überhaupt hier?«, versuchte er, das Thema zu wechseln, obwohl die anderen ihm ansahen, wie anstrengend die Unterhaltung für ihn war.

»Habe einen Kollegen besucht«, antwortete Thamsen, »der einen Arbeitsunfall hatte. Brauchte noch eine Unterschrift für den Bericht.«

»Arbeitsunfall?«, hakte Haie nach, dem trotz Schmerzen wilde Szenen von Schießereien oder Messerstechereien durch den Kopf jagten.

»Ja, aber so schlimm wie du ist der nicht dran«, entgegnete Dirk. »Hatte einen Auffahrunfall und muss zur Beobachtung ein, zwei Tage hier bleiben.«

»Apropos hierbleiben«, mischte Tom sich nun ein. »Hast du eine Ahnung, wie lange die dich im Krankenhaus behalten wollen?« Er wusste selbst, dass solch ein Klinikaufenthalt alles andere als verlockend war, sah sich aber mit Haies Zustand alleine ein wenig überfordert. Der Freund konnte wahrscheinlich noch nicht einmal ohne Unterstützung auf Toilette gehen.

»Na, ein paar Tage muss ich wohl im Krankenhaus bleiben, zumindest bis die wissen, ob der Bruch operiert werden muss.«

Tom nickte, während Niklas schwieg. »Dann ruh’ dich am besten aus. Niklas und ich kommen später noch einmal und bringen dir ein paar Sachen.«

»Das ist nett«, bedankte sich Haie und schloss die Augen. Der Unfall, die Schmerzen, überhaupt die ganze Aufregung hatten ihn mehr mitgenommen, als er vor den anderen zugeben mochte. Die Erschöpfung übermannte ihn, und die Wirkung der Medikamente, die man ihm gegen die Schmerzen gegeben hatte, tat ihr Übriges. Er merkte gar nicht mehr, wie die drei aus dem Zimmer schlichen und leise hinter sich die Tür schlossen.

4. Kapitel

»Und wann haben Sie Herrn Nissen zuletzt gesehen, Frau Schlüter?« Ansgar Rolfs blickte fragend auf eine der Pflegerinnen, die in der Nachtschicht eingeteilt gewesen war. Nachdem Monika Jensen das Verschwinden des Bewohners bemerkt und man keine plausible Erklärung dafür hatte finden können, hatte sie die Polizei verständigt. Sie waren schließlich für den Mann verantwortlich und mussten sich darum kümmern, dass sein Aufenthaltsort geklärt wurde. Da sie wenig zu den Umständen des Verschwindens beitragen konnte, hatte sie sich daran gemacht, die restlichen Bewohner auf ihrer Etage zum Frühstück zurechtzumachen. Die Arbeit musste ja trotz aller Aufregung erledigt werden, und letztendlich war Herr Nissen in der Schicht ihrer Kolleginnen abhandengekommen. Also konnten die sich um die Vermisstenanzeige kümmern.

»Ja, also ich mache immer einen Rundgang in der Nacht«, gab die ältere der beiden Pflegerinnen Auskunft. »Gestern war das so gegen zwei Uhr. Ich erinnere mich gut daran, denn Frau Bertram hat etwa um die Zeit geklingelt und nach einem Schmerzmittel verlangt, und nachdem ich es ihr gebracht habe, bin ich in die anderen Zimmer. Aber da war alles in Ordnung, und Herr Nissen lag hundertprozentig in seinem Bett.«

Ansgar nickte und schrieb sich einige Stichpunkte in sein Merkbuch. »Und sonst ist Ihnen nichts aufgefallen in der Nacht? Irgendwelche Geräusche, die ungewöhnlich waren oder Ähnliches?«, fragte er anschließend. Irgendwie musste Herr Nissen herausgelangt sein. Er konnte sich gut vorstellen, dass einige der Bewohner dieses Heim wie ein Gefängnis betrachteten, und hielt daher ein Ausreißen nicht für unwahrscheinlich. Vielleicht hatte der Mann es nicht mehr ausgehalten? Rolfs stellte sich ein Leben in solch einer Einrichtung nicht gerade prickelnd vor.

»Nein, da ist uns nichts aufgefallen. Wenn wir etwas gehört hätten, hätten wir nachgeschaut.«

Ansgar bezweifelte zwar, dass die Damen bei einer angeregten Plauderei im Gemeinschaftsraum überhaupt mitbekommen hätten, wenn ein Rolli über den Flur geschoben worden wäre, sagte aber nichts.

»Gut, dann benötige ich ein Foto von dem Vermissten.«

Wieder war es Frau Schlüter, die ihm nun das Bild reichte. »Ist aus der Bewohnerakte. Extra für solch einen Fall.«

»Für solch einen Fall?« Rolfs hob die Augenbrauen.

»Na ja, es kommt ab und zu vor, dass jemand ausbüxt«, grinste Frau Schlüter.

Kann ich mir gut vorstellen, dachte Ansgar Rolfs und nickte. »Wir melden uns bei Ihnen, wenn es etwas Neues gibt«, verabschiedete er sich und verließ mit schnellen Schritten die Pflegeeinrichtung.

»So, das sollte erst einmal reichen«, beschloss Tom und zog den Reißverschluss der kleinen Reisetasche zu. Er hatte für Haie ein paar Sachen zusammengesucht; Waschzeug, Pyjama, Morgenmantel, Pantoffeln und ein paar andere Dinge, von denen er glaubte, dass der Freund sie benötigte.

Niklas hatte ein Buch dazugelegt. Nordische Sagen und Märchen. »Das mag er doch so gerne«, hatte der Junge erklärt.

»Wir halten gleich beim Supermarkt und kaufen Obst und ein paar von Haies Lieblingskeksen.« Das Krankenhausessen hatte mit Sicherheit kein Feinschmeckerniveau. Außerdem war Obst gesund, und ein paar Naschereien waren gut für die Seele, befand Tom, als sie wenig später vor dem kleinen Spar-Markt in der Dorfstraße hielten.

»Na Niklas, heute gar nicht in der Schule?«, beäugte Helene den Jungen neugierig, als die beiden den Laden betraten. Der emsigen Kaufmannsfrau entging in dem Dorf so gut wie gar nichts. Stets hielt sie ihre Kunden auf dem neuesten Stand und galt damit als einer der Umschlagplätze für Neuigkeiten im Dorf. Um dieser Bezeichnung allerdings gerecht zu werden, bedurfte es einer permanenten Befragung jedes Kunden.

»Onkel Haie hatte einen Unfall, und wir mussten ihn ins Krankenhaus bringen«, gab Niklas sogleich bereitwillig Auskunft. »Ach, wirklich?« Helene blickte auf Tom, der lediglich nickte und sich einen Einkaufskorb schnappte. Er lebte gerne in diesem kleinen nordfriesischen Dörfchen, aber die Neugierde einiger Bewohner, insbesondere der Kaufmannsfrau, ging ihm oftmals gehörig auf die Nerven. Über alles und jeden wurde in diesem Laden diskutiert. Na gut, in dem Ort geschah meist nicht sonderlich viel, da waren Hochzeiten, Ehebrüche, neue Autos oder eben ein Unfall eine Sensation. Daher ließ sich Helene nicht so leicht abspeisen. Während Tom an der Obsttheke ein paar Äpfel auswählte, trat sie neben ihn und drapierte die Salatköpfe neu.

»Ein Unfall, ja, so was ist schnell passiert. Wie geht es Haie denn?«

»Och, geht schon«, entgegnete Tom und packte Trauben in eine Tüte.

Doch Helene hatte durch ihre jahrelangen Befragungen ganz besondere Taktiken entwickelt. »Na ja, in dem Alter ist das nicht ohne. Das hat schon so manch einen ins Pflegeheim gebracht.«

Das saß, Tom hielt in der Bewegung inne. So explizit waren zwar seine Gedanken heute Morgen an Haies Bett nicht gewesen, aber in die Richtung hatte er zumindest gedacht, als er sich fragte, wie er Haie zu Hause gesundpflegen sollte. Er musste schließlich arbeiten – und Niklas war auch noch da. Und er hatte nicht einmal Ahnung in dem Bereich. Er war zwar gesund und einigermaßen kräftig, aber ob er Haie beispielsweise in ein Bett heben konnte, bezweifelte er. Der Freund wog an die 100 Kilo, die mussten erst einmal bewegt werden. Außerdem war Haie in seinem Zustand nicht besonders wendig.

»Aber so schlimm wird es nicht sein, oder?« Helene hatte wohl bemerkt, dass sie auf dem richtigen Weg war.

»Na ja«, äußerte Tom nun seine Bedenken. »Ein Bein und ein Arm sind gebrochen, also er wird schon eine Weile Unterstützung brauchen.«

»Ach so, aber das wird ja wieder.« Helene drehte sich zur Kasse um, an der eine andere Kundin zwischenzeitlich ihre Einkäufe aufs Band gelegt hatte. Der Unfall schien nicht spektakulär genug für ihre Zwecke, da hätte Haie wahrscheinlich auf den Kopf stürzen und anschließend gelähmt sein müssen, dachte Tom nun, als ihn die Kaufmannsfrau einfach so stehenließ. Energisch packte er seine restlichen Einkäufe in den Korb und sammelte Niklas bei den Süßigkeiten ein. An der Kasse gab es einen kleinen Stau. Zwar stand nach wie vor dieselbe Kundin vor Helene, doch die hatte noch nicht einen Preis in die Kasse getippt, sondern referierte momentan über die Zustände im nahegelegenen Pflegeheim.

»Das ist doch kein Wunder, wenn die Leute abhauen.« Tom kannte den Hintergrund des Gespräches nicht, und ehrlicherweise interessierte der ihn auch nicht. Es wurde seiner Ansicht nach zu viel getratscht im Dorf, daher räusperte er sich laut, was ihm einen verächtlichen Blick der beiden Frauen einbrachte, letztendlich aber dazu führte, dass Helene abkassierte und er nach kurzer Zeit den Laden verlassen konnte, während die andere Kundin sich mit ihren Tüten in der Hand mit der Kaufmannsfrau über die Pflegeeinrichtung austauschte.

Tom verstaute seine Einkäufe im Auto, erinnerte Niklas daran sich anzuschnallen, und stieg ins Auto. Als er den Motor gestartet hatte und auf der Dorfstraße Richtung Bundesstraße fuhr, lief gerade der Verkehrsfunk. Eigentlich interessierte Tom sich nicht für die Durchsage, aber als das ortsansässige Pflegeheim genannt wurde, drehte er den Ton lauter und verstand nun den Hintergrund des Gespräches der beiden Frauen. Es war eine Vermisstenmeldung eines Mannes, der spurlos aus dem Heim verschwunden war.

Er musste grinsen, denn unweigerlich entstand vor seinem inneren Auge das Bild eines türmenden Haies aus der Pflegeeinrichtung. Solch eine Aktion konnte er sich gut von dem Freund vorstellen. Wer wusste schon, was für Pflegedrachen die da beschäftigten.

»Na, schauen wir erst einmal, wie es Haie geht«, sagte Tom leicht schmunzelnd an Niklas gewandt.

5. Kapitel

Die Sonne hatte sich nach einem kleinen Intermezzo hinter eine graue Wolkenwand verzogen, als Luise und Sönke Martiensen sich von den Mitgliedern der Nordic Walking-Gruppe verabschiedeten. Seit einigen Wochen trafen sie sich mit ein paar anderen älteren Leuten unter der Leitung einer Dozentin der Volkshochschule zum Walken am Legerader Wald. Ihr Arzt hatte ihnen mehr Bewegung verordnet, und die beiden hatten daher beschlossen, sich der Gruppe anzuschließen. Am Anfang hatten sie Mühe, mit den anderen Schritt zu halten, denn schließlich waren sie Anfänger und es fehlte ihnen an Übung und Kondition. Mittlerweile jedoch hatten Luise und Sönke sich zu wahren Nordic Walking-Fanatikern entwickelt, und daher hängten sie nach der offiziellen Runde eine Route dran. In dem Nordic Walking-Park der Stadt gab es sieben verschiedene Touren, da wurde es den beiden nie langweilig.

Sie winkten den anderen ein letztes Mal, nahmen ihre Stöcke und gingen klack, klack, klack, los. Sie schlugen den Weg Richtung Legerader Wald ein und waren bald von Bäumen umgeben. »Löp ruhig een Stück för, ick kumm glix. Ik mutt ut de Büx«, bemerkte Sönke Martiensen kurze Zeit später. Luise nickte ihm lediglich zu und schritt weiter in das kleine Waldstück hinein. Sie mochte es, ein Stück für sich alleine zu laufen. Nur sie und die Natur. Herrlich. Spontan beschloss sie, einen kleinen Umweg zum See zu machen, wobei die Bezeichnung See für den überschaubaren Tümpel übertrieben war. Aber trotzdem fand sie es nett dort an dem kleinen Gewässer, und da Sönke ohnehin nicht zu hören war, konnte sie den Umweg leicht meistern und vermutlich sogar vor ihm auf den regulären Weg dazu stoßen.

Kurz darauf sah sie die Oberfläche des Gewässers, über der ein sanfter grauer Schleier hing, durch die Bäume schimmern. Sie bahnte sich einen Weg ans Ufer und verweilte dort einen Moment. Wie herrlich ruhig es hier war. Sie sog die Luft tief in ihre Lunge, ehe sie sich zum Gehen wandte, denn trotz der Idylle fröstelte sie in den leicht feuchten Sportsachen nach einer Weile. Energisch stieß Luise ihren Walking-Stock in den Boden, erstarrte aber sogleich. Ihr Blick haftete an einem Rollstuhl, in dem augenscheinlich ein Mann schlief. Sie schaute sich um, aber ansonsten war niemand zu sehen. Seltsam, wie war der Mann hierhergekommen?

Etwas zögerlich näherte sie sich dem Rollstuhl, doch der Mann regte sich nicht, obwohl sie versuchte, durch eine laute Begrüßung auf sich aufmerksam zu machen. »Moin!«

Sie wollte den anderen schließlich nicht zu Tode erschrecken. Aber auch auf ihr Rufen tat sich nichts, und so langsam stieg in Luise ein ungutes Gefühl hoch, das ihr einen zusätzlichen Schauer über den Rücken jagte. Der Mann saß nach wie vor leicht zusammengesunken in dem Rollstuhl. Nur noch einen Schritt, und sie hatte den Stuhl erreicht. Die Walking-Stöcke schleifte sie mittlerweile hinter sich her, während sie langsam einen Fuß vor den anderen setzte. Ehe sie ganz um den Rollstuhl herumgetreten war, wusste sie, dass der Mann nicht schlief.

»Hilfe!«, entfuhr es ihr augenblicklich. »Sönke!«

»Ich hoffe, ich habe an alles gedacht!« Tom packte Haies Sachen in einen Schrank im Krankenzimmer, während Niklas auf dem Bett saß und die Verbände bestaunte. »Ansonsten musst du anrufen. Telefon hast du dir sicherlich bestellt, oder?«

Der Freund nickte. »Ist ja ohnehin nicht für lange. Wahrscheinlich kann ich schon bald nach Hause.«

Tom verzog den Mund zu einem angestrengten Lächeln, während er sich einen Stuhl an Haies Bett zog. »Darüber wollte ich ohnehin mit dir sprechen.«

»Ach ja?« Haie runzelte die Stirn.

»Nun ja, also, ich muss nächste Woche arbeiten und …«, stammelte Tom.

»Und?«

»Ich weiß nicht so recht, wie …«

»Papa meint, du bist ein Pflegefall«, sprudelte es aus Niklas heraus.

Haie zeigte sich einigermaßen gefasst, obwohl ihn die Äußerung sehr traf, wie ihm trotzdem anzusehen war. »Da hat Papa recht. Schau mich mal an. Ich kann mir nach dem Kacken nicht mal den Po abwischen.«

»Mal im Ernst, Haie, ich habe wirklich Bedenken, wie wir das packen sollen«, entgegnete Tom trocken.

»Hast ja recht. Aber da gibt es bestimmt eine Lösung, oder? Vielleicht eine private Pflegekraft?«

»Alles eine Frage des Geldes«, mischte sich plötzlich Haies Bettnachbar ein. »Wenn du genügend Geld hast, kannst du dir alles leisten. Ansonsten bleibt nur einer der Pflegedienste, aber da auf die Schnelle jemanden zu bekommen, ist beinahe unmöglich.«

Haie und Tom schauten den Mann mit großen Augen an, während Niklas die Gunst des Augenblickes nutzte und sich über die mitgebrachten Kekse hermachte.

»Ich kenn mich ein wenig aus. Meine Frau ist seit einigen Jahren ein Pflegefall, nach einem Schlaganfall.«

»Und wer kümmert sich um sie?« Tom interessierte dieses Thema, schließlich stand er vor einer ähnlichen Herausforderung, nur dass er mit Haie nicht verheiratet war. Aber sie lebten zusammen, waren eine Familie, da hatte er Verantwortung für den Freund.

»Mia liegt seit einiger Zeit im Heim. Das mit dem Pflegedienst hat nicht geklappt. Die kamen, wie sie lustig waren.« Der andere Patient schüttelte den Kopf.

Im Heim, schoss es Haie durch den Kopf. Es war sein schlimmster Albtraum, in einer solchen Einrichtung dahinvegetieren zu müssen. Er war so froh gewesen, als Tom ihn damals gefragt hatte, ob er zu ihm und Niklas ziehen würde, denn seit der Scheidung von Elke stand er alleine da. Kinder hatte er keine und auch sonst niemanden, der sich um ihn kümmern würde. Daher hatte er eigentlich gedacht, dass Tom und Niklas … Er schluckte.

»Aber mit dem Heim bin ich auch nicht zufrieden. Irgendetwas stimmt da nicht. Die sterben da wie die Fliegen.«

Tom starrte auf den anderen, während in seinem Kopf die Gedanken durcheinanderflogen. Ein Heim kam für ihn nicht infrage, aber dennoch fühlte er sich überfordert mit der Situation. Und wenn auf einen Pflegedienst kein Verlass war, was blieb dann?

»Naja, es wäre nur eine Kurzzeitpflege«, versuchte er einzulenken und wandte sich zu Haie um. Der schaute betreten auf Niklas, der genüsslich an einem Keks knabberte. »Oder was meinst du?«

»Hm, sieht auf den ersten Blick ganz friedlich aus. Als ob er eingeschlafen wäre«, kommentierte Thamsen den Leichenfund im Legerader Wald. Sönke Martiensen war auf das Rufen seiner Frau dieser sogleich zur Hilfe geeilt und hatte die Polizei über die grausige Entdeckung informiert.