Knochentanz - Sandra Dünschede - E-Book

Knochentanz E-Book

Sandra Dünschede

3,8

Beschreibung

In einer regnerischen Aprilnacht ereignet sich in Hamburg auf dem Ring 3 ein folgenschwerer Unfall. Ein Kleintransporter rast mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum. Doch der tödlich verunglückte Fahrer ist nicht der einzige Tote am Unfallort. Im Laderaum des Fahrzeugs liegen fünf Leichen - eine davon mit einer Schusswunde. Was bedeutet dieser grausige Fund? Wer sind die Toten? Peer Nielsen von der Mordkommission begibt sich mit seinem Team auf Spurensuche und stößt dabei auf eine unfassbare Realität im medizinischen Alltag.

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Sandra Dünschede

Knochentanz

Kriminalroman

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Friesenschrei (2015), Friesenlüge (2014), Friesenkinder (2013), Nordfeuer (2012), Todeswatt (2010), Friesenrache (2009), Solomord (2008), Nordmord (2007), Deichgrab (2006)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Carolin Weinkopf / photocase.de

ISBN 978-3-8392-4750-1

Widmung

Für Erika,

die den Stein ins Rollen brachte …

Auszug aus dem StGB

§ 168 Störung der Totenruhe

(1) Wer unbefugt aus dem Gewahrsam des Berechtigten den Körper oder Teile des Körpers eines verstorbenen Menschen, eine tote Leibesfrucht, Teile einer solchen oder die Asche eines verstorbenen Menschen wegnimmt oder wer daran beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer eine Aufbahrungsstätte, Beisetzungsstätte oder öffentliche Totengedenkstätte zerstört oder beschädigt oder wer dort beschimpfenden Unfug verübt.

(3) Der Versuch ist strafbar.

Strafgesetzbuch (StGB)

1. Kapitel

»Hm.« Polizeihauptkommissar Ladwig kratzte sich am Kinn, während er auf die geöffneten Ladetüren des Transporters blickte.

Der Kastenwagen war auf regennasser Straße augenscheinlich ins Schlingern geraten und beinahe ungebremst frontal gegen einen Baum gekracht. Ladwig war aus dem Kommissariat Niendorf zeitgleich mit dem ebenfalls verständigten Rettungswagen am Unfallort eingetroffen. Die Notärztin hatte versucht, den Fahrer zu reanimieren. Doch vergeblich. Der Mann war noch vor Ort verstorben.

Kommissar Ladwig hatte mit seinen Leuten die Unfallstelle abgesichert und den Verkehrsunfalldienst informiert. Der war kurze Zeit später aus der Stresemannstraße angerückt, ebenso wie ein Sachverständiger von der DEKRA. Während die Kollegen die Spuren gesichert und den Unfallverlauf rekonstruiert hatten, war Ladwig zurück zu seinem Einsatzwagen gegangen und hatte den Abschleppdienst gerufen. Die Nacht war ungemütlich und er wollte schnell zurück ins Warme. Ähnlich schien es den Kollegen zu ergehen, denn schon bald hatte man mit der Räumung der Unfallstelle beginnen wollen – dabei aber eine grausige Entdeckung gemacht.

Ladwig trat näher an die Heckklappe des Transporters. Er fröstelte, und das nicht nur aufgrund des nasskalten Wetters. Ein leicht süßlicher Geruch wehte ihm entgegen, als er die Klappe ganz öffnete, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Seine Augen streiften die bleichen Körper, die dicht gedrängt auf der Ladefläche lagen. Er spürte, wie Übelkeit ihn zu überwältigen drohte, und wandte sich ab.

»Ist der Wagen auf ein Bestattungsinstitut zugelassen?«, fragte er seinen Mitarbeiter, den er angewiesen hatte, den Halter des Fahrzeugs zu ermitteln. Der junge Beamte schüttelte stumm seinen blassen Kopf. »Hätte ich mir auch nicht vorstellen können«, murmelte Ladwig vor sich hin. Welches seriöse Unternehmen transportierte auf diese Weise schon die sterblichen Überreste seiner Kunden? Wieso aber befanden sich die Leichen in dem Wagen? Wieder kratzte er sich am Kinn, während er noch einmal in den Transporter blickte.

»Der Fahrer ist nicht hier gemeldet«, erklärte ein weiterer Polizist, der plötzlich wie aus dem Nichts neben dem Hauptkommissar auftauchte. »Rumäne mit Wohnsitz in Slobozia.« Er folgte Ladwigs Blick. »Ist das Blut?« Der Kollege deutete auf einen der toten Körper.

»Nicht unwahrscheinlich, oder?«, grummelte Ladwig, der eine Menge Arbeit auf sich zukommen sah. Alleine der Bericht. Was sollte er da schreiben?

»Aber Tote bluten doch nicht mehr, oder?« Der Beamte reckte seinen Kopf in die Höhe, während Ladwig überlegte, was als Nächstes zu tun war. Sie mussten die Unfallstelle räumen, aber wohin mit den Leichen? »Das ist doch eine Schussverletzung!« Der andere Polizist hatte sich weit vorgelehnt, um besser in das Innere des Wagens blicken zu können. »Und die ist frisch, oder?« Ohne Ladwigs Antwort abzuwarten, kletterte der Mann auf die Ladefläche und bemühte sich, Platz zwischen den Leichen zu finden.

Seit dieser Mitarbeiter in das Team gekommen war, zeichnete er sich vor allem durch unüberlegten Übereifer aus. Schon so einige Male war er über das Ziel hinausgeschossen, aber in diesem Fall war Ladwig dankbar über das Vorpreschen des Polizisten. »Dann rufe ich am besten die Mordkommission!«, atmete er erleichtert auf.

2. Kapitel

Peer Nielsen drehte sich stöhnend in seinem Bett herum. Er wollte nicht aufwachen. Mit aller Gewalt versuchte er, den Traum festzuhalten. Zu schön war die Frau, die neben ihm am Strand lag und die ihn gerade mit einem verführerischen Lächeln gebeten hatte, ihren Rücken mit Sonnenmilch einzucremen. Er spürte ihre weiche, samtige Haut unter seinen Händen, doch ein penetrantes Piepsen machte ihm klar, dass dies nur ein weiches Jerseybettlaken war, über das seine Finger zärtlich strichen. »Verdammt«, zischte er und angelte noch schlaftrunken nach seinem Handy auf dem Nachttisch.

»Nielsen.« Er hielt die Augen geschlossen, während ihm eine Stimme am anderen Ende der Leitung etwas von einem Unfall mit fünf Leichen erzählte. »Und?« Was hatte er mit Unfallopfern am Hut?

»Das sind keine Unfallopfer. Einer der Männer weist eine Schussverletzung auf!«

Noch immer verstand Peer die Zusammenhänge nicht, aber da er Rufbereitschaft hatte, blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich das anzuschauen. »Gut, ich komme«, seufzte er daher ins Telefon und zog dabei die Bettdecke über den Kopf. Einen kurzen Augenblick gab er sich dem Gedanken hin, einfach weiterschlafen zu können. Das Trommeln des Regens auf den Dachfenstern ließ ihn zusätzlich zögern. Bei diesem Wetter schickte man doch keinen Hund auf die Straße, und er sollte sein warmes Bett verlassen, nur weil es auf dem Ring 3 einen Unfall gegeben hatte, für den er wahrscheinlich noch nicht einmal zuständig war? Verdammt. Nielsen schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Es nützte nichts, das war nun einmal sein Job. Stöhnend erhob er sich und tapste in die Küche. Für einen Kaffee blieb ihm zwar keine Zeit – aber ein Energiedrink tat’s auch. Während er in seine Jeans und einen Pullover schlüpfte, stürzte er die kalte Flüssigkeit zum Wachwerden hinunter. Dann riss er seine Jacke vom Garderobenhaken, griff nach den Autoschlüsseln und zog die Tür seiner kleinen Dachgeschosswohnung hinter sich zu.

Sein Auto stand zum Glück direkt vor dem Haus. Mit wenigen schnellen Schritten hatte er es erreicht und stieg ein. Er startete den Motor und drehte beinahe zeitgleich den Regler der Heizung hoch. Sein noch bettwarmer Körper gewöhnte sich nur langsam und äußerst schmerzlich an die nasskalte Umgebung. Zum Glück verfügte der Kombi über eine Sitzheizung, die Peer auf der höchsten Stufe anschaltete. Noch einmal seufzte er, ehe er den Gang einlegte und Gas gab.

Um diese Zeit waren die Straßen beinahe leer, daher sparte er sich das Blaulicht, ohne das er tagsüber niemals so schnell vorangekommen wäre. Nur wenige Minuten und er sah bereits die abgesperrte Unfallstelle auf dem Ring 3. Nielsen hielt am Straßenrand und stieg aus. Regen schlug ihm ins Gesicht und noch einmal verfluchte er innerlich seinen Job, Petrus und Tief »Mathilda« oder wer auch immer dafür verantwortlich war, dass er in Nullkommanichts bis auf die Haut durchnässt war und wie ein Schneider fror. Er blickte sich um und sah einen jungen Beamten auf sich zustürmen. »Kommen Sie! Hier!« Der Polizist winkte ihm zu. Peer nickte und hielt Ausschau nach seinem Mitarbeiter, aber Michael Boateng schien noch nicht vor Ort zu sein. Seltsam, fand Nielsen und eilte durch den Regen zur Unfallstelle.

Der Kastenwagen sah übel zugerichtet aus. Kein Wunder, dass der Fahrer nicht überlebt hatte. Peer kam gerade hinzu, als die Männer vom Bestattungsunternehmen das Unfallopfer in einen Metallsarg legten. Weiter hinten am Straßenrand sah er weitere Leichenwagen.

Neben dem Transporter, im Schutz des Baumes stand ein anderer Polizist und rauchte. »Nielsen, Mordkommission«, rief er dem Mann zu. Der nickte lediglich und wies mit seiner glühenden Zigarette auf den Kastenwagen. Peer wandte sich irritiert um und ging zum Heck. Die Beamten hatten inzwischen einen Scheinwerfer auf die Ladefläche gerichtet, sodass die bleichen Körper ihm quasi entgegenstrahlten. Trotzdem konnte er kaum glauben, was er sah.

»Wo kommen die denn her?«

»Das wüssten wir auch gerne.«

Der rauchende Polizist war neben ihn getreten. »Ladwig, PK 24«, stellte er sich endlich vor. Der Kollege schien reichlich mitgenommen von dem grausigen Fund und auch Peer musste schlucken, ehe er seinen Blick erneut auf die Leichen richtete.

»Einer der Toten weist eine recht frische Schussverletzung auf. Deshalb haben wir Sie gerufen«, erklärte Ladwig, während Peer versuchte, das Bild vor sich auf der Ladefläche irgendwie zu verarbeiten. Er hatte zwar in seiner Laufbahn schon etliche Leichen gesehen – zum Teil stark verwest oder entstellt, aber so viele tote Menschen auf einem Haufen waren ihm noch nicht begegnet.

»’Tschuldigung, Chef, ging nicht schneller«, näherte sich Michael Boateng keuchend. In der Dunkelheit war der Schwarzafrikaner kaum auszumachen. »Mein Wagen ist nicht … Mein Gott, was ist das denn?« Sprachlos und mit weit aufgerissenen Augen drängte sich Boateng zwischen Nielsen und Ladwig.

»Keine Ahnung«, presste Peer hervor und wollte sich auf die Ladefläche schwingen. Sein erster Versuch scheiterte, da er mit den nassen Sohlen seiner Schuhe am Rand abrutschte. Beim zweiten Mal aber fand er Halt und stand plötzlich zwischen den Leichen. Ein leicht süßlich modriger Geruch stieg ihm in die Nase und er musste sich anstrengen, um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken.

»Hat jemand mal Handschuhe?«

Boateng war im Gegensatz zu seinem Chef wie immer bestens ausgerüstet und zog aus seiner wetterfesten Goretex-Jacke ein Paar Latexhandschuhe. »Bitte!«

Peer nickte schweigend und kniete sich zwischen die Toten. Die Übelkeit lauerte nach wie vor gleich hinter seinem Kehlkopf, sodass er kaum zu schlucken wagte. Auch seine Atmung beschränkte er auf ein Minimum, denn auf der Ladefläche war der Leichengeruch um ein Vielfaches intensiver.

Vorsichtig drehte er den obersten Körper ein Stück zu sich. Die Leichenstarre schien erst einzusetzen, lange konnte der Mann also noch nicht tot sein. Auf der bleichen Brust war deutlich die Schusswunde zu erkennen, wegen der man ihn gerufen hatte.

Die anderen Toten schienen allerdings keine Verletzungen aufzuweisen. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Das würde erst eine Obduktion zeigen.

»Die Spurensicherung soll sich das anschauen und anschließend müssen die Leichen in die Rechtsmedizin«, sagte Nielsen zu Boateng und sprang von der Ladefläche.

»Geht klar, ich kümmere mich.«

»Wer hat den Unfall eigentlich gemeldet?«, wandte sich Peer an Ladwig. Der zog bereits an einer weiteren Zigarette, die er nun jedoch auf den Boden warf und austrat. Mit fahrigen Fingern nestelte er an seiner Jacke und holte sein Merkbuch hervor. »Eine gewisse Klara Vossen«, las Ladwig vor, als er die entsprechende Seite gefunden hatte. »Wir haben die Dame befragt, aber sie hat den Unfall nicht gesehen. Ist vorbeigekommen, nachdem der Wagen den Baum bereits gerammt hatte.«

»Ich möchte trotzdem ihre Personalien«, forderte Peer. »Gab es weitere Zeugen?«

Kommissar Ladwig zuckte mit den Schultern. »Uns sind keine bekannt.«

Nielsen blickte sich um. Viel Verkehr gab es um diese Zeit nicht; schon gar nicht bei dem Wetter. Gut möglich, dass niemand den Unfall beobachtet hatte. »Und der Halter des Fahrzeuges?«

»Kleinunternehmer aus Altona. Haben wir aber bisher noch nicht erreichen können.«

3. Kapitel

»Und ihr habt keine Ahnung, woher diese Leichen kommen?« Gerhard Fritsche, Peers Chef, blickte ihn mehr als erstaunt an.

Nielsen war direkt vom Einsatzort ins Präsidium gefahren und hatte eine Besprechung, die er für 9 Uhr ansetzte, vorbereitet. Nun saß das gesamte Team inklusive seinem Vorgesetzten in großer Runde zusammen und alle schauten ziemlich ratlos aus der Wäsche. Solch einen Fall hatte es in Hamburg noch nicht gegeben – jedenfalls nicht, soweit sich die Anwesenden erinnern konnten.

Peer schüttelte den Kopf. »Dafür haben wir die Adresse der Zeugin. Du, Boateng«, nickte er seinem Mitarbeiter zu, »fährst gleich nachher zu ihr und befragst sie noch einmal. Nimm Jens mit«, bestimmte er.

»Und was ist mit dem Wagen?«, fragte Fritsche.

»Ist bei der Spusi.«

»Das meine ich nicht.«

Peer wusste ganz genau, worauf sein Chef hinauswollte. Schließlich war er schon einige Jahre Leiter einer Mordbereitschaft. Doch den Kleinunternehmer aus Altona wollte er selbst unter die Lupe nehmen. Vorher musste er allerdings in die Rechtsmedizin. Die Leichen vom Ring 3 hatten erste Priorität, daher war die Untersuchung gleich heute Vormittag angesetzt.

»Also, Lutz, du verfasst noch einen Zeugenaufruf für die Presseabteilung und Carsten, du gehst bitte mal die Vermisstenmeldungen der letzten Monate durch. Vielleicht finden wir da einen Ansatzpunkt«, verteilte er weitere Aufgaben an sein Team und überging dadurch die Frage seines Vorgesetzten. »Also, an die Arbeit!«

»Mann, wie viele kommen denn noch?«, wunderte sich Dr. Choui, der gerade wichtige Dokumente zur Abholung durch einen Kurier am Empfang des Rechtsmedizinischen Institutes abgab. Natürlich war er über den Unfall auf dem Ring 3 informiert, trotzdem erstaunte ihn die Anzahl der Toten, die am Seiteneingang des Instituts zur Untersuchung angeliefert wurden. Da kam eine Menge Arbeit auf ihn und seine Mitarbeiter zu. Die Lehrveranstaltung am Nachmittag würde er wohl absagen müssen. Er informierte rasch seine Sekretärin und ging anschließend gleich hinunter in den Keller. Zunächst wollte er sich einmal einen Überblick verschaffen, ehe er die Arbeit aufteilte.

»So, das ist die Letzte«, verkündete der Bestattungsunternehmer und ließ sich den Empfang der sechs Leichen von Dr. Choui quittieren. »Das muss ja ein heftiger Unfall gewesen sein, bei so vielen Toten.«

Der Mann im dunklen Anzug nickte. »Schon, aber fünf waren ja schon tot.«

»Waren schon tot?« Der Rechtsmediziner reichte dem Bestattungsunternehmer mit verwirrter Miene die unterschriebenen Papiere zurück.

Der nickte. »Lagen hinten auf der Ladefläche des verunfallten Transporters.«

Das roch nach einem spektakulären Fall und Dr. Choui liebte solche Fälle. Sofort machte er sich daran, den ersten Leichensack zu öffnen. Langsam legte er den bleichen Körper frei. »Nanu«, entfuhr es ihm, »den kenne ich!«

Peer hatte nur noch seine Jacke und die Autoschlüssel aus seinem Büro geholt und war schnell aus dem Polizeipräsidium verschwunden. Im Grunde genommen hatte er es nicht eilig, in die Rechtsmedizin zu kommen, aber der Sinn stand ihm an diesem Morgen auch nicht nach weiteren Fragen seines Chefs. Der meinte es wahrscheinlich nur gut und grundsätzlich pflegten die beiden ein sehr freundschaftliches Verhältnis, schließlich hatte Gerhard Fritsche sich stets für Peer eingesetzt und seine Karriere vorangetrieben. In letzter Zeit jedoch empfand Nielsen die beinahe väterliche Fürsorge ein wenig lästig und er ging seinem Chef daher so weit wie möglich aus dem Weg.

Er lenkte den Wagen durch den dichten Verkehr Richtung Eppendorf. In einer Seitenstraße, in der es wie in einer gewöhnlichen ruhigen Wohngegend aussah, befand sich das Rechtsmedizinische Institut.

»Moin!«, grüßte er flüchtig die Dame am Empfang, die ihm die Tür geöffnet hatte und mitteilte, dass Dr. Choui sich bereits im Keller befand.

Peer schluckte. Nicht mal eine kleine Gnadenfrist war ihm vergönnt. Er öffnete die Tür zum Untergeschoss und versuchte, das beklemmende Gefühl, das ihm jedes Mal, wenn er diese Stufen hinabstieg, beinahe den Atem nahm, zu ignorieren.

Er hatte die Leichen doch bereits am Unfallort gesehen, versuchte er sich zu beruhigen. Außerdem war das nicht seine erste Obduktion. Schon des Öfteren war Peer bei einer Leichenöffnung dabei gewesen. Trotzdem würde er sich nie daran gewöhnen und das spürte er auch heute, als er sich mit flatterigen Fingern einen der grünen Kittel zuband.

Bereits hier in dem kleinen Raum neben dem Zutritt zum Obduktionsbereich hörte er, dass in dem Institut Hochbetrieb herrschte. Stimmen hallten durch die gekachelten Kellerräume. Das scheppernde Rattern der Bahren drang an sein Ohr. Langsam griff er nach ein paar Schutzüberziehern für seine Schuhe, streifte sie über und holte ein letztes Mal tief Luft, ehe er um die Ecke bog. Die Plastikschoner raschelten unter seinen Sohlen, während er den Gang hinunter in Richtung der Kühlfächer ging. Direkt davor lag der Raum, in dem die Leichen angeliefert wurden und in dem Dr. Choui gerade eine erste äußere Leichenschau an dem Mann mit der Schussverletzung durchführte. Als der Rechtsmediziner ihn sah, hielt er kurz inne.

»Guten Tag, Kommissar Nielsen! Na, da haben Sie mir ja reichlich Arbeit beschert.«

Peer schluckte, konnte seinen Blick aber nicht von dem inzwischen beinahe komplett erstarrten Körper wenden. »Können Sie denn schon etwas sagen?«, fragte er, obwohl er wusste, dass sich Dr. Choui meist sehr bedeckt hielt, ehe die Untersuchungen nicht vollständig abgeschlossen waren.

»Ja.«

»Ja?« Peer glaubte, sich verhört zu haben, und schaffte es endlich, sich vom Anblick der Leiche zu lösen.

Der Mediziner nickte. »Einer von denen war schon mal hier.«

»Hören Sie, Ihr Vater ist ein erwachsener Mann. Wenn er nicht suizidgefährdet ist oder sonst ein außergewöhnlicher Umstand vorliegt, können wir nicht einfach nach ihm suchen.« Kommissar Franke schaute die junge Frau am Empfang des PK25 in Bahrenfeld eindringlich an. Er verstand ja, dass sie sich Sorgen um ihren Vater machte, weil er sich zwei Tage lang nicht bei ihr gemeldet hatte, aber er hatte bei Weitem nicht genügend Personal, um nach jedem zu suchen, der für ein paar Tage mal von der Bildfläche verschwand.

»Aber zu Hause ist er auch nicht.« Die Tochter sah ihn aus tränenfeuchten Augen an. Sie war eine attraktive Frau, sah sehr gepflegt aus und machte auf ihn einen intelligenten Eindruck. Keiner dieser Fälle, bei denen sich Leute aufgrund ihres Alkoholpegels in die Haare bekamen, gegenseitig aufeinander losgingen und dann, wenn einer die Flucht ergriffen hatte, hier aufschlugen, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. »Vielleicht besucht er jemanden?« Franke konnte sich Hunderte von Gründen vorstellen, warum jemand nicht zu Hause war. »Oder er ist verreist?«

Die Rothaarige schüttelte ihren Lockenkopf. »Doch nicht, ohne mir Bescheid zu geben. Und auf der Arbeit hat er sich auch nicht gemeldet.«

Franke musste zugeben, dass der Fall seltsam klang, dennoch konnte er der Frau nicht helfen. »Haben Sie denn die Freunde Ihres Vaters schon alle angerufen? Vielleicht weiß da jemand was? Oder Sie versuchen es mal in den Krankenhäusern.« Er wusste selbst, wie wenig beruhigend das klang, aber als erwachsener Mann war man seiner Tochter gegenüber ja keine Rechenschaft schuldig. Möglich, er hatte eine Frau kennengelernt?

»Mein Vater«, begann die Rothaarige, doch dann schüttelte sie den Kopf. Scheinbar sah sie ein, dass man ihr hier nicht helfen konnte. Sie klemmte ihre Handtasche unter den Arm, steckte das Foto in ihre Manteltasche und drehte sich ohne ein weiteres Wort um. Franke beobachtete jeden ihrer Schritte, bei welchen die Schuhe laut auf dem Boden klackten.

»Mannomann, was die immer für Vorstellungen haben«, drang die Stimme von Frankes Kollege aus dem Hinterzimmer. »Erst neulich war hier eine ältere Frau, deren Hund im Volkspark abgehauen war. Richtig beschimpft hat die mich, als ich ihr gesagt habe, dass wir dafür nicht zuständig sind. Wofür sie überhaupt Steuern zahle«, der Polizist schüttelte den Kopf

»Naja, ein Hund ist ja nun auch ein bisschen was anderes als ein Vater.« Franke konnte die attraktive Rothaarige schon verstehen. Nur sein Kollege sah das anders.

»Ach wat. Der sitzt wahrscheinlich in irgendeiner Kaschemme und säuft sich die Hucke voll.«

»Waaaas?«

Peer war mehr als erstaunt. Damit hatte er nicht im Geringsten gerechnet. »Wirklich?«, versicherte er sich vorsichtshalber noch mal, doch Dr. Choui erklärte erneut, einen der Toten schon einmal auf dem Tisch gehabt zu haben. »Das war ein Gewebespender. Sieht man gleich an den Schnitten. Muss nur in den Akten nachschauen, wie er hieß.«

»Gewebespender?« Peer hatte zwar schon gehört, dass man heutzutage neben den Organen auch andere Teile des menschlichen Körpers entnahm, aber in Berührung war er mit dieser Thematik noch nicht näher gekommen. »Hier?« Er blickte sich entgeistert um.

»Ja, ja«, nickte der Rechtsmediziner. »Nicht alle Leichen, die zu uns kommen, werden obduziert. Auch Leute mit dem Wunsch, nach dem Tod anderen Menschen Gewebe zu spenden, landen bei uns. Das kann eine Augenhornhautspende für erblindete Patienten, die Herzklappenspende zur Transplantation oder die Spende von Stützgeweben, zum Beispiel Knochengeweben sein.«

Peer nickte zaghaft. Die Vorstellung, man würde nach seinem Tod an ihm herumschnippeln, erzeugte bei ihm eine Gänsehaut, obwohl derlei Entnahmen sicherlich wichtig waren, und es wahrscheinlich auch in diesem Bereich viel zu wenig Spender gab.

»Und die anderen Leichen?«, versuchte er dennoch möglichst schnell das Thema zu wechseln.

Dr. Choui hob abwehrend die Hände. »Nicht jeder Tote landet bei uns. Zwar leistet sich Hamburg den Luxus, jeden unerklärlichen Todesfall bei uns untersuchen zu lassen, aber es gibt ja auch eine Menge natürliche Todesursachen. Außerdem führe ich nicht jede Leichenschau persönlich durch.«

»Können Sie denn etwas zu den Todeszeitpunkten sagen?«

Der Mediziner wiegte seinen Kopf hin und her. »Auf jeden Fall sind die länger tot, als der Mann mit der Schussverletzung. Aber wie lange, ist schwierig zu sagen. Ein paar Tage aber bestimmt.«

Ein paar Tage, wunderte sich Nielsen. Wieso lagen die dann nicht schon längst unter der Erde? »Und der mit der Schussverletzung?«

»Da kann der Todeszeitpunkt noch nicht lang zurückliegen. Vielleicht ein Tag, höchstens zwei. Aber Näheres kann ich Ihnen erst nach der Obduktion sagen.«

Peer nickte. So kannte er den Rechtsmediziner. Auf Spekulationen ließ der sich selten festnageln und letztendlich halfen ihm diese bei seinen Ermittlungen auch nicht weiter. »Gut, dann schicken Sie mir doch die Obduktionsberichte, wenn Sie so weit sind.« Die Anwesenheit bei den Obduktionen sollte ruhig der neue Staatsanwalt übernehmen, der gerade von Herrn Holst, dem Sektionsassistenten, zu ihnen geführt wurde, dachte Peer.

»Mach ich«, bestätigte Dr. Choui. »Kann aber ein wenig dauern.«

Nielsen warf einen letzten Blick über die Bahren mit den Leichen und verabschiedete sich dann. Diese Kellerräume bedrückten ihn, daher beeilte er sich, in den kleinen Vorraum zu gelangen, wo er den Kittel zurück auf einen Haken hängte und die Schutzüberzieher für die Schuhe in den Müll warf. Schnell hastete er die Kellertreppe hinauf und flüchtete an die frische Luft.

»So schlimm?«

Eigentlich rechnete Peer damit, in das Gesicht eines Sektionshelfers oder Rechtsmediziners zu blicken, als er sich umdrehte, doch neben dem Eingang drückte sich eine andere Visage herum. »Herr Pisto!«

»Ganz recht«, entgegnete der Mann und warf seine Zigarette auf den Boden. »Habe gehört, dass es bei dem Unfall letzte Nacht einen grausigen Fund gegeben hat.«

Wie schnell sich diese Neuigkeit doch herumgesprochen hatte, überlegte Peer und schüttelte seinen Kopf.

Der Journalist grinste. »Kommen Sie, Herr Kommissar. Ein paar Infos.«

Nielsen drehte sich auf dem Absatz um und beeilte sich, zu seinem Wagen zu kommen.

Pisto folgte ihm. »Weiß man schon, wer die Toten sind? Wie sind die in den Unfallwagen gekommen?«

Peer drückte auf den Schlüssel und augenblicklich löste sich die Verriegelung.

»Sie können mir doch wenigstens verraten, wie viele es waren. Und was ist mit dem Fahrer?« Die Fragen schossen wie eine Gewehrsalve aus dem Mund des Journalisten.

Nielsen öffnete die Autotür, hielt kurz inne und wandte sich um. »Wir haben eine offizielle Pressestelle. An die können Sie sich gerne wenden!« Obwohl er dem Typen am liebsten den Marsch geblasen hätte, blieb er freundlich. Er war schließlich lernfähig. Vor Jahren hatte er einem aufdringlichen Journalisten ordentlich seine Meinung gegeigt und es dadurch auf die Titelseite der Hamburger Morgenpost geschafft. Das passierte ihm nicht noch einmal. Obwohl diese Aasgeier seiner Ansicht nach keine freundliche Behandlung verdient hatten. Immer auf der Suche nach sensationellen Neuigkeiten, oftmals am moralischen Abgrund. Alleine schon, ihm hier aufzulauern. Wahrscheinlich hatte der Reporter bereits die Anlieferung der Leichen beobachtet oder sogar fotografiert. Nur eine Frage der Zeit, bis man die Bilder in den Nachrichten würde sehen können. Ohne ein weiteres Wort stieg Peer in den Wagen und fuhr los.

4. Kapitel

Michael Boateng starrte durch die Windschutzscheibe auf ein Mehrfamilienhaus in Schnelsen. Hier sollte die Frau wohnen, die gestern als Erste am Unfallort gewesen war und den Rettungswagen verständigt hatte. Neben ihm saß sein Kollege Jens Schnitter, den er laut Peers Anweisung zur Befragung mitgenommen hatte, und wartete auf eine Reaktion von ihm. Hoffentlich ist sie zu Hause, dachte Boateng, machte jedoch keinerlei Anstalten auszusteigen. Der nächtliche Einsatz steckte ihm noch in den Knochen. Immer wieder schob sich das Bild der Leichen auf der Ladefläche des verunglückten Transporters in seine Gedanken. Bleiche Haut, starre Augen. Und dann dieser Geruch. Er hatte das Gefühl, dass er trotz ausgiebiger Dusche noch immer nach Verwesung roch.

Die Tür des Mehrfamilienhauses wurde geöffnet und eine Frau trat hinaus. Sie trug ein dunkles Kostüm und trippelte auf ihren Pumps den Plattenweg zum Parkplatz entlang.

Boateng stieg aus, sein Kollege folgte ihm. »Frau Vossen?«

Die Dame blieb abrupt stehen und verlor dadurch beinahe das Gleichgewicht auf ihren Stöckelschuhen. Unsicher blickte sie sich um.

»Kommissar Michael Boateng«, stellte er sich vor, während er auf sie zuging. »Und das ist Kommissar Schnitter. Wir sind von der Polizei, Mordkommission.«

Bei der Nennung seiner Abteilung weiteten sich Klara Vossens Augen gehörig, während sie zögernd nickte. »Ich bin in Eile«, stotterte sie und setzte sich wieder in Bewegung.

»Ich habe nur ein paar Fragen zu dem Unfall.«

»Da habe ich schon alles zu gesagt.« Klara Vossen steuerte auf einen schwarzen Smart zu, der vor den angrenzenden Garagen stand.

Mit wenigen großen Schritten hatte Michael Boateng die trippelnde Frau überholt und stellte sich ihr in den Weg. »Es geht ganz schnell«, versicherte er und sah, wie sie schluckte. Der Frau ging es vermutlich ähnlich wie ihm. Obwohl sie die Leichen auf der Transportfläche nicht gesehen hatte. Dafür aber den sterbenden Fahrer, dessen Anblick sich wahrscheinlich ebenso in ihr Gedächtnis gebrannt hatte.

»Gut«, lenkte sie ein, da ihr anscheinend klar wurde, dass sie ihn anders ohnehin nicht loswerden würde. »Dann fragen Sie.«

»Können Sie mir bitte kurz schildern, was gestern am Unfallort passiert ist?«

Unverständnis schoss ihm aus ihrem Blick entgegen. »Das habe ich doch schon Ihrem Kollegen alles erzählt«, seufzte sie. »Ich war auf dem Nachhauseweg vom Spätdienst, als ich plötzlich diesen Wagen am Straßenrand gesehen habe. Ich habe angehalten und gesehen, dass der Fahrer blutend hinter dem Steuer saß. Doch die Tür klemmte, sodass ich ihn da nicht rausholen konnte. Daher habe ich sofort den Rettungsdienst informiert. Von den anderen Autos hat ja keines angehalten«, flüsterte sie. Die Bilder des Unglücks übermannten sie. Eine Träne bahnte sich einen Weg über ihre Wange. Jens Schnitter, der inzwischen zu den beiden getreten war, wühlte aus seiner Jackentasche ein Packet Tempos und reichte es ihr.

»Danke.« Klara Vossen nahm eines der Taschentücher und schnäuzte sich kräftig die Nase.

»Hat der Fahrer zu dem Zeitpunkt denn noch gelebt?«, fragte Boateng weiter.

Sie nickte. »Er hat geschrien vor Schmerzen.«

»Und hat er auch etwas gesagt?«

»Gesagt?« Sie schaute ihn nachdenklich an. »Könnte sein, dass er etwas sagen wollte. Aber ich habe das nicht verstanden. Hörte sich an wie ›Cadaver‹.«

Noch immer reichlich wütend bog Nielsen von der Max-Brauer-Allee auf die Auffahrt zu einem kleinen Hinterhof ab. So oder so würde der Journalist jetzt wahrscheinlich wieder Gerüchte verbreiten und die Polizei als unfähig und vor allem unkooperativen Verein darstellen. Er fühlte sich machtlos gegen diese Medien, die er verteufelte, aber ab und zu dennoch brauchte. Wie sonst sollten sie beispielsweise ihren Zeugenaufruf publik machen? Und wer wusste schon, ob sie in diesem Fall die Presse nicht noch öfters um Mithilfe bitten mussten? Bisher jedenfalls hatten sie noch nichts; außer ein paar Leichen und den verunglückten Transporter, der jener Autovermietung gehörte, die ihren Sitz in diesem rumpligen Hinterhof hatte. Peer parkte den Wagen und blickte sich um. Kreuz und quer standen verschiedene Mietfahrzeuge, die sich nicht unbedingt im besten Zustand befanden. Eher schrottplatzreif, schoss es ihm durch den Kopf und er fragte sich, wer sich hier wohl einen Wagen mietete, wo es doch genügend renommierte Autovermietungen in der Stadt gab, die sicherlich auch nicht viel teurer waren. Rechter Hand befand sich der Eingang zu einem Büro, jedenfalls deutete die schaufensterartige Verglasung an, dass dahinter nicht unbedingt Wohnraum zu finden war. Er steuerte auf den Eingang zu und entdeckte ein schäbiges Firmenschild, das jedoch den Gesamteindruck des Unternehmens nur unterstrich.

Es gab keine Klingel, daher trat er einfach ein und rief dabei ein »Tag« in den schummrigen Raum.

»Guten Tag«, hörte er die Erwiderung seines Grußes, noch ehe er die Person richtig ausmachen konnte. Hinter einem alten Holzschreibtisch, auf dem haufenweise bunter Nippes stand, saß ein Mann um die vierzig und blickte ihn aus dunklen Löchern an.

»Herr Öztürk?«

»Ja.«

»Peer Nielsen, Mordkommission.« Er wartete auf die Reaktion des anderen, doch von der Miene des Unternehmers ließ sich nichts ablesen.

»Mordkommission?«, fragte der Mann und stand dabei auf. »Sie kommen aber nicht wegen meines Transporters, oder?«

»Doch, schon.«

Auf der Stirn seines Gegenübers bildeten sich Falten. Peer war sich jedoch unsicher, ob die Überraschung von Herrn Öztürk echt oder lediglich vorgetäuscht war. Hatte der Mann gewusst, was in seinem Wagen transportiert wurde? »Ermittelt die Mordkommission jetzt schon bei Unfällen? Es war doch ein Unfall, oder?«

»Auch.«

»Auch?« Wieder runzelte der Kleinunternehmer die Stirn, kniff diesmal sogar die Augen leicht zusammen. Zeitgleich spürte Peer Nielsen einen Stich in der Magengegend.

»Ich möchte wissen, ob Sie den verunglückten Mann, der den Transporter von Ihnen gemietet hat, kannten.«

Sofort schüttelte der andere den Kopf. Etwas zu schnell, befand Peer und bohrte daher weiter. »Aber Sie haben ihm den Wagen vermietet, oder war das Fahrzeug gestohlen?«

»Nein, nein, aber ich kann mich ja nicht an jeden Kunden erinnern«, beeilte sich Herr Öztürk zu erklären.

»Dann suchen Sie bitte einmal den Mietvertrag heraus.« Er glaubte dem Mann nicht. Wie ein florierendes Unternehmen sah diese Kaschemme jedenfalls nicht aus. Und anscheinend gab es auch keine Mitarbeiter. Der Inhaber musste dem Kunden also begegnet sein.

»Das dauert aber einen Moment.«

»Ich habe es nicht eilig.« Er wandte sich zu dem großen Fenster um und blickte schweigend hinaus. Hinter sich hörte er Schritte, dann das Rascheln von Papier.

»Ach, hier ist der Vertrag ja schon«, hörte er kurz darauf Herrn Öztürks Stimme. »Da war aber alles in Ordnung. Führerschein und so habe ich kontrolliert.«

Peer nahm die Unterlagen und musste zugeben, dass auf den ersten Blick alles ordnungsgemäß wirkte. »Ich nehme das mit«, bestimmte er.

»Nein, das geht nicht. Ich brauche den Vertrag für die Versicherung.«

»Dann machen Sie bitte eine Kopie.«

»Kopie?« Herr Öztürk schaute ihn an, als habe er einen doppelten Salto oder sonst ein Kunststück von ihm verlangt. Doch wie sich herausstellte, besaß der Unternehmer kein Kopiergerät.

»Fax?«, erkundigte Peer sich und reichte dem Mann seine Karte, als dieser nickte.

Joswig Klatten kletterte in den kleinen Elektrowagen und startete den beinahe geräuschlosen Motor. Nach der Mittagspause hatte er mehrere Gräber neu bepflanzt, nun war es an der Zeit, die Kompostbehälter zu leeren. Eigentlich war dies die Aufgabe seines Kollegen, doch der war seit zwei Tagen nicht zur Arbeit erschienen. Krank gemeldet hatte er sich laut dem Chef nicht, obwohl das gar nicht seiner Art entsprach. Aber jetzt im Frühjahr gab es viel Arbeit, sodass Joswig gar nicht dazu gekommen war, sich weiter Gedanken darüber zu machen. Wirklich dicke waren die beiden ohnehin nicht, vielmehr ärgerte er sich, die Aufgaben des Kollegen nun auch noch am Hals zu haben.

Trotzdem die Sonne sich tagsüber langsam durch den Hochnebel gekämpft hatte, war es empfindlich kalt und Joswig zog den Reißverschluss seiner wattierten Arbeitsjacke bis zum Kinn hoch. Er lenkte den Wagen mit dem Anhänger über die sandigen Wege und stoppte kurz darauf vor dem ersten Müllbehälter. Immer wieder ärgerte er sich über die Leute, die achtlos einfach jeglichen Müll auf den Komposthaufen warfen. Konnten die denn nicht lesen? Außerdem war Mülltrennung in Hamburg etwas Selbstverständliches. Das kannte doch bereits jedes Kind. Er fischte ein paar Plastikblumentöpfe zwischen verwelkten Blumen und Gestecken heraus und begann anschließend, den restlichen Müll mit einer Mistgabel auf den Anhänger zu laden. Der feuchte Dreck wog schwer, Joswig kam ins Schwitzen und verfluchte seinen Kollegen, der ihn mit dieser miesen Aufgabe alleine ließ. Und dann diese Rückenschmerzen. Ein paar Mal pausierte er, ehe der Behälter leer war und er die Mistgabel auf den Anhänger warf.

Bei dem Gedanken an die weiteren Komposthaufen brauchte er gleich noch eine Pause. Er setzte sich auf das Elektromobil und zog aus der Tasche seiner Jacke eine Packung Zigaretten. Genussvoll inhalierte er den Rauch und ließ seine Gedanken mit den Schwaden davontreiben. Was sein Kollege jetzt wohl trieb? Ob er einfach blaumachte? Es sich gutgehen ließ? Warum nicht? Schließlich arbeiteten sie sich hier den Buckel krumm, da konnte man sich auch mal eine Auszeit gönnen, dachte Joswig, schrak aber dennoch auf, als sich Motorengeräusch näherte. Sofort meldete sich sein schlechtes Gewissen. Sicher der Chef, vermutete er und warf die Zigarette ins Gebüsch. Schnell ließ er den Motor des Elektrowagens an und fuhr zum nächsten Abfallbehälter.