Friesisch Roulette - Marvin Entholt - E-Book

Friesisch Roulette E-Book

Marvin Entholt

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Beschreibung

Johann Renken schätzt nichts mehr als seine Ruhe und ein kühles Bier, aber plötzlich findet er eine Leiche in seiner Scheune. Er gerät tief hinein in den Schlamassel der unheimlichen Geschehnisse im bis dahin so beschaulichen Dorf Merschmoor. Erst die Leiche, dann ein einsames Auto, ein geplünderter Laden und eine Waffe, die ihm zugeschrieben wird: Nicht zuletzt Johanns Vergangenheit zwingt ihn, die für ein ostfriesisches Dorf ungewöhliche Häufung fremder Leichen aufzuklären, bevor dies der Polizei gelingt – denn durch eine Verkettung unglücklicher Umstände gerät Bauer Johann ins Visier von Kommissar Beckmann. Für den Ermittler, strafversetzt in die ostfriesische Ödnis, werden die Nachforschungen zur Nervenprobe. Nicht vertraut mit den lokalen Gepflogenheiten, beißt er sich die Zähne an den unverbindlichen Friesen aus. Eine Wand aus Schweigen wird für ihn zum schier unüberwindlichen Hindernis – und für Johann womöglich zur Rettung.

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Marvin Entholt

Friesisch Roulette

Der erste Fall für Hauptkommissar Martin Beckmann

Inhaltsverzeichnis

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Impressum

Marvin Entholt ist in Bremen geboren und aufgewachsen. Er studierte in München Politik und Philosophie sowie anschließend an der Hochschule für Fernsehen und Film Drehbuch und Regie. Er ist Regisseur, Produzent, Drehbuch- und Dokumentarfilmautor teils preisgekrönter Filme, vor allem für arte, ARD und ZDF. Er lebt in München und Berlin.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

© 2023 Blackbird Books Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Carlos Westerkamp Umschlagfoto: Marvin Entholt Umschlaggestaltung: Kirsten Breustedt ISBN 9783757971090

1

Detektiv zu werden war so ziemlich das Letzte, was sich Johann Renken je vorgestellt hatte. Aber nun stand er da, eine Leiche vor seinen Füßen, in der Hand eine Waffe, die vermutlich die Tatwaffe war und auf der nun nachweislich seine Fingerabdrücke prangten.

Und so musste er sich jetzt zwangsläufig ein paar Gedanken darüber machen, wie er in diese Situation geraten war. Er konnte sich nicht einmal erklären, warum er in der Scheune aufgewacht war – und weshalb er überhaupt dort gelegen hatte. Waren es die Biere, die ihn gefällt hatten? Er hatte nicht die leiseste Idee, was geschehen war. Vor allem aber: Woher kam die Leiche? Und: Wo sollte sie jetzt hin?

Alles sah danach aus, dass er sie zu einer solchen gemacht hatte. Würde ihm auch nur irgendjemand seine Unschuldsbeteuerungen abnehmen? Bei seiner Vorgeschichte? Wohl eher nicht. Er war ja selbst nicht sicher, ob er nicht etwas mit dem Tod des Mannes zu tun hatte.

Es war ein später Samstagabend im September. Johanns Atem wurde langsam ruhiger. Ob vor Erschöpfung oder Erleichterung, egal, er warf die letzte Schaufel Erde auf den Haufen, der die zuvor von ihm ausgehobene Grube in seiner Scheune wieder füllte.

Noch einmal leuchtete er mit der Taschenlampe den Boden ab, ob ihm auch wirklich kein Beweisstück durch die Lappen gegangen war.

Er strich sich den Schweiß aus der Stirn, tätschelte wie jeden Abend die selbstzufrieden grunzende Sau Elfi und ging hinüber ins Haus. Für die wenigen Kopfsteinpflastermeter über den Hof brauchte er heute länger als sonst.

Johann nahm eine Flasche »Landbier dunkel« aus dem Kühlschrank, schob auf dem Küchentisch mehrere Ausgaben der »Ostfriesischen Nachrichten« und ein begonnenes Kreuzworträtsel beiseite und setzte sich. Er ploppte mit beiden Daumen die Flasche auf, nahm einen kräftigen Schluck, stellte das Bier vor sich ab und schaute geradeaus. So wie jeden Abend in den letzten acht Jahren. Nur dass er auf dem Hof heute nicht mehr allein war mit Elfi. Da lag jetzt dieser Tote in seiner Scheune, von dem er nicht einmal wusste, wer er war.

Johanns Schädel schmerzte. Er dröhnte mehr als nach einem ganzen Kasten Bier nebst Schnapsbegleitung. Danach hatte er eigentlich nie Kopfschmerzen, und gestern hatte es nicht mal Schnaps gegeben. Aber heute fühlte es sich an, als hätte ihm jemand mit einer Schaufel eins übergezogen.

Ob er so schlimm aussah, wie er sich fühlte? Johann machte sich in letzter Zeit Gedanken, ob die in beachtlicher Zahl konsumierten Landbiere nicht nur in den grauen Zellen Unheil anrichten, sondern auch in seinem Gesicht Spuren hinterlassen könnten. Derlei Familientradition wollte er nicht unbedingt pflegen.

Er wankte bedächtig ins Bad und blickte über Dosen mit Rasierschaum und ein angestaubtes »Old Spice«-Rasierwasser hinweg in den Spiegel.

Johann erschrak, denn auf seiner von Haarwuchs schon lange unbehelligten Stirn klebte Blut. Angetrocknetes Blut, das ihm aus der Haarinsel auf seinem Schädel in die Stirn gelaufen sein musste. Johann tastete vorsichtig sein Haupt ab und fühlte Schorf am Hinterkopf. Aber warum? Woher rührte die Wunde?

Fluchend schüttelte Johann in der schummrigen Diele die Filzpantoffeln ab und stopfte seine Füße in die Gummihalbschuhe, die er bei gutem Wetter bei der Arbeit auf dem Hof trug. Bei Schlechtwetter reichte das Gummi bis zum Knie.

Mit der Taschenlampe in der Hand schlappte er noch mal zur Scheune. Vielleicht kam ihm dort eine Idee, wie er sich seine Kopfwunde eingehandelt haben könnte.

Er schaltete das viel zu schwache Deckenlicht an und leuchtete mit der Taschenlampe in der Scheune umher. Elfi erwachte von dem späten Besuch und rammte grunzend die Holzbohlen, die ihren Verschlag einrahmten.

Der Lichtstrahl der Taschenlampe fiel auf die Grube, die Johann vorhin zugeschüttet hatte. Mit dem Fuß verteilte er etwas Stroh darüber.

Der Lichtkegel seiner Lampe irrlichterte durch die Scheune wie die weithin sichtbaren Himmelsstrahler der Großraumdisco im übernächsten Ort, die Johann am Wochenende vom Schlafzimmerfenster aus sehen konnte, wenn die Wolken niedrig genug hingen.

Während Johanns Gedanken abschweiften zum »Sunrise« und zu seinen Überlegungen, wie es dadrinnen wohl zugehen mochte, wie die Frauen und Mädchen angezogen wären und ob es leicht wäre, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, obwohl ihm klar war, dass, selbst wenn man gemeinhin sagen würde, dass es leicht wäre, es ihm trotzdem vollkommen unmöglich wäre – da fiel das Licht seiner Lampe auf die Holsteiner Schaufel, mit der er vorhin die Grube gegraben und wieder zugeschüttet hatte, und er entdeckte eine kleine Blutspur, genau dort, wo das Schaufelblatt am Stiel befestigt war.

Johann war ja nun kein Detektiv und erst recht kein Spurensicherer der Kripo, aber nach seinem ganz persönlichen Eindruck hatte das Blut auf seiner Stirn und das auf der Schaufel dieselbe Farbe und war im selben Maße angetrocknet. Damit erklärten sich Johann auch sein dröhnender Kopfschmerz und das Gefühl, als habe er mit der Schaufel eins übergezogen bekommen.

Offenbar hatte er tatsächlich eins mit der Schaufel übergezogen bekommen, und dann musste ihm irgendwer den unbekannten Toten in die Scheune gebracht und ihm die Waffe in die Hand gedrückt haben.

Seine Erkenntnis brachte Johann keinen entscheidenden Schritt weiter. Allerdings beruhigte es ihn, dass er anscheinend nicht der Täter war. Johann misstraute allen Menschen und damit folglich auch sich selbst.

Er schaltete das Licht in der Scheune aus. Elfi rumpelte noch einmal grunzend gegen den Verschlag, ehe sie sich mit einem lauten Seufzer ins Stroh plumpsen ließ.

Johann schlurfte über den Hof zurück, wechselte in der Diele wie im Schlaf sein Schuhwerk zurück auf Filz, ging in die Küche, nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Küchentisch.

Für den vollkommen aussichtslosen Überlebenskampf zweier Fliegen am Klebestreifen über dem Tisch hatte er weder Auge noch Ohr.

Mit seinen erdigen Fingern faltete Johann den kleinen Zettel auf, den er in der Tasche des Toten gefunden hatte.

Anscheinend ausgerissen aus einem kleinen Notizbuch, kariertes Papier wie in den alten Schulheften, keine guten Erinnerungen, darauf mit Kugelschreiber die Notiz »H.S.« und, mit einem anderen Stift geschrieben: »Sand–9 1602«.

Johann nahm einen Schluck aus der Bierflasche, einen langen, auch wenn das sein Denkvermögen nicht gerade erhöhen würde. »H.S. Sand–9 1602«, das war so viel wert wie gar kein Hinweis. Oder noch weniger. Das konnte alles und nichts heißen. »H.S.«! Heiliger Strohsack, heißer Spargel, Heinrich Siedenbiedel, dem der Krämerladen gehörte, Heu und Stroh … Johann ließ seinen lange nicht mehr strapazierten Denkapparat losrattern.

Und Sand minus neun? Was für Sand? Und warum minus neun? Was war Sand für eine Einheit, von der man neun abziehen konnte?

Dann fiel Johanns Blick auf die Waffe, die auf dem Küchentisch lag.

Keine so gute Idee, die offen rumliegen zu lassen, dachte er. Vielleicht vermisste ja jemand den Toten, und es gab Spuren, die zu seinem Hof führten.

Johann nahm die Waffe und hielt sie unterhalb der Tischkante, als könnte ihn jemand beobachten. Er betrachtete das Ding von allen Seiten. Sah aus wie die Pistole, die er als Junge mal beim Fasching getragen hatte. Eigentlich hatte es sich um einen Revolver gehandelt, wie es sich gehörte für einen Cowboy, aber für ihn war es immer eine Pistole. Von dem Unterschied hatte er erst in einem Fernsehkrimi gehört und gleich wieder vergessen, was jetzt was war.

Dieses Ding hatte jedenfalls eine Trommel und einen Abzugshahn zum Spannen. Nur eine Patrone steckte drin.

Komisch, dass so was überhaupt noch verwendet wird, überlegte Johann. Er hatte gedacht, dass alle, die jemanden umbringen wollten, diese modernen Waffen benutzen, die auch die Polizisten im Fernsehen immer mit beiden Händen in die Höhe hielten, wenn sie sich seitlich in einen Raum hineinbewegten, in dem sich vielleicht ein Bösewicht versteckte, der auch so ein Ding dabeihatte und damit jederzeit auf sie feuern könnte.

Johann nahm das alte Küchenhandtuch von der Kommode, das mindestens ebenso lange keine Waschmaschine gesehen hatte wie seine Hose. Mit dem Tuch, durch dessen Schmutz noch schwach das rote Karomuster schimmerte, wischte er die Pistole ab. Spuren beseitigen, das ist wichtig, dachte er sich, polierte die Waffe mit für ihn ungewöhnlicher Hingabe und verstaute sie dann mitsamt dem Tuch in der Schublade des alten Küchenbuffets.

Er setzte sich, nahm den letzten Schluck aus der Flasche, stand wieder auf, öffnete die Schublade, griff sich das Küchentuch mit der Waffe darin, kontrollierte die Mausefallen, löschte das Licht und ging über die knarzenden Stufen nach oben ins Schlafzimmer.

Sicher ist sicher, dachte er sich und verstaute die eingewickelte Waffe unter seinem Kopfkissen. Morgen muss sie aus dem Haus. Der Graben hinter dem Haus, das wäre ein guter Platz. Oder hinterm Deich. Aber erst morgen. Das reicht.

2

Dieses leichte Bizzeln! Johann liebte dieses Geräusch. Die meisten Menschen würden nicht glauben, dass er so etwas überhaupt wahrnahm, aber er war stolz auf seine feinen Sinne.

Das Bizzeln der Nescafé-Körnchen, wenn das kochend heiße Wasser auf sie traf im Becher, dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber das war für Johann der famose Auftakt in den Tag, die Verheißung von Wärme und Klarheit, mit der das gefriergetrocknete Koffein die Restbestände der sechs abendlichen Biere aus seinem Körper vertreiben sollte.

»Hallo«, tönte eine Männerstimme aus der Diele, während Johann noch den Strudel in seinem Becher betrachtete.

Johann stieß die Küchentür auf und sah wortlos die beiden ungebetenen Gäste an, die schon mitten in seiner Diele standen. Städter, ganz klar, er Mitte vierzig, so eine alberne Jacke mit irgendeinem Yachtclub-Emblem, obwohl der Mann wahrscheinlich nicht mal Bug und Heck unterscheiden, geschweige denn erklären konnte, was eine Vorschot ist; sie vielleicht zehn Jahre jünger, blond, nicht peinlich angezogen, aber irgendwie streng.

»Zentraler Kriminaldienst der Polizeiinspektion Leer/Emden«, so stellten sie sich vor, »Hauptkommissar Martin Beckmann, Oberkommissarin Carola Hartung.«

Das klang bedrohlich, und der Hauptkommissar schaute recht grimmig. Johann konnte nicht ahnen, dass dies rein gar nichts mit der Mission der beiden zu tun hatte, sondern mit dem Umstand, dass der Beamte sich jedes Mal, wenn sie sich vorstellten, darüber ärgerte, dass »Oberkommissarin« nach einem höheren Dienstgrad klang als »Hauptkommissar«. Das war zwar nicht richtig, aber was wussten die Leute denn schon?

Ob Johann jemanden gesehen habe, sie hätten am Ortsrand ein Auto gefunden, und der Fahrer sei verschwunden.

Johann zuckte mit den Schultern, rang sich ein »Nö« ab, die peinliche Segeljacke bedankte sich und machte mit seiner strengen Begleiterin kehrt.

Der Kaffee in der Küche hatte ausgestrudelt. Johann war sauer, sein morgendliches Ritual war von diesen Idioten unterbrochen worden, der Kaffee war nicht mehr so brühheiß, wie er sein musste, sein Start in den Tag war verdorben.

Johann schüttete den Kaffee weg, goss sich einen neuen auf, aber die Freude war nicht mehr dieselbe wie beim ersten Aufguss, das Bizzeln blieb geheimnislos.

Elfi war guter Dinge, die Hühner auch: fünf Eier. Die Waffe musste weg, aber mal nur keine falsche Hast. Johann inspizierte wie gewohnt den Gemüsegarten. Reichlich Kohlrabi, Porree, ein paar Gurken, das Karottengrün machte schon schlapp, dafür gedieh die Friesische Palme prächtig und reichte Johann schon bis zur Hüfte. Johanns zuständiges Hirnareal signalisierte vorfreudigen Appetit: Mit den kühleren Tagen im Oktober würden die Pflanzen in der Krone eine feinkrause Rosette ausbilden, die nach den ersten Frösten süßlich im Geschmack wurde.

In Johann keimte neben Appetit sofort wieder alter Ärger, hatte neulich doch so ein dämlicher Fernsehkoch behauptet, dass Frost überhaupt keinen Einfluss auf den Geschmack von Grünkohl hätte. Was wusste der denn! Aber jeder glaubt den Mist, wenn er erst einmal gesagt ist, grummelte Johann in sich hinein.

Er hatte den Fernseher aus Protest aus- und seither nicht mehr eingeschaltet. Blöd wegen der Tiersendungen, die er so gern sah. Johann rang mit sich, wem sein Fernsehboykott mehr schadete. Vielleicht sollte er doch nicht so streng sein. Aber wehe, es tauchte wieder eine Kochmütze auf, dann könnte er die auf der Stelle – sofort fiel ihm die Waffe wieder ein.

Johann begutachtete noch flink sein Experiment, er hatte die Sorten Niedriger Grüner Krauser und Frosty gekreuzt und auf ein Grünkohlwunder gehofft, aber das Ergebnis war mickrig.

Er sammelte drei Schnecken vom Salat und warf sie über den kaputten Maschendraht. Johann schaffte es nicht, sie wegen Mundraubs zum Tode zu verurteilen. Aber sie sollten wenigstens mit ihm in einen Wettkampf um das Grünzeug treten. Einen etwas ungleichen Wettkampf, zugegeben.

Die Pappeln neben dem Haus rauschten. Johann schloss die gewohnte Wette mit sich selbst ab, richtete den Blick gen Himmel und war zufrieden: Die Intensität des Laubgeräusches hatte ihn die Windgeschwindigkeit richtig einschätzen lassen. Die Wolken jagten flach über ihn hinweg, die helle untere Schicht schneller als die obere, Nordwest fünf bis sechs, und er wusste genau, wie viel Kraft er würde aufwenden müssen, um an den Deich zu kommen. Lästig, aber es musste ja sein.

Er schwang sich aufs Fahrrad, in der alten Satteltasche das Küchentuch mit dem Revolver. Kaum kam er aus der Deckung des Hauses, spürte er den Nordwest fünf bis sechs schon in seinen Waden.

Er radelte in den Feldweg Richtung Jümme-Deich. Einmal rechtsrum, dann ging es geradeaus. Irgendjemand kam ihm in der Ferne entgegen. Viele Möglichkeiten, wer das sein konnte, gab es nicht. Neben Johanns Hof lagen östlich von Merschmoor nur drei andere Gehöfte.

Johann hatte ein paar Minuten gegen den Nordwest fünf bis sechs angetreten, als er erkannte, dass es die Ahlers war, die ihm auf ihrem Rad entgegenkam. Ausgerechnet, dachte Johann, die schwatzt immer, dass einem die Ohren bluten. Er überlegte kurz, ob er umkehren oder auf irgendeine Weide abbiegen und Arbeit vortäuschen sollte, aber es gab kein Entrinnen, der Weg führte stur geradeaus, links ein kleiner Graben, rechts der Elektrozaun mit Kühen dahinter.

Zu lange überlegt, die Ahlers hatte ihn schon erreicht und steuerte so auf Johann zu, dass er anhalten und absteigen musste. Er ahnte, dass Wilmine ihn nicht sonderlich mochte und für einen seltsamen Eigenbrötler hielt, vermutlich, weil sie seine Reserviertheit spürte. Doch ihr Drang, draufloszuplappern und neuen Tratsch zu verbreiten, siegte über jegliche Befindlichkeit.

Ob er denn schon gehört habe, dass beim Siedenbiedel eingebrochen worden sei, dass die Polizei schon da war und man noch gar nicht wisse, was denn alles gestohlen worden sei. Dabei hätten sie doch gerade erst das Geschäft renoviert. Die arme Meta Siedenbiedel, und so ein Durcheinander im ganzen Laden, furchtbar.

Johann ließ den Redeschwall über sich ergehen, und als Wilmine Ahlers wegen allmählich einsetzender Schnappatmung Luft holen musste, brummte Johann ein »Tja, denn ’nen schönen Tach noch«, schwang sich aufs Rad und umkurvte die irritierte Wilmine Ahlers, die erst einen Bruchteil ihres Tratschvorrats losgeworden war.

Sowenig Johann das Geplappere von der Ahlers sonst interessierte, der Bericht vom Einbruch bei Siedenbiedel brachte ihn jetzt doch zum Nachdenken. War der Siedenbiedel nicht eine mögliche Erklärung für das »H.S.« auf dem kleinen Karozettel gewesen? Aber was würde das dann bedeuten? Sollte der gute alte Heinrich Siedenbiedel den Einbrecher überrascht, mit einem Revolver niedergestreckt und dann mit dem Auto zu Johann verfrachtet haben, um die Spuren zu verwischen? Ausgeschlossen! Oder etwa nicht?

Mittlerweile hatte Johann den Flussdeich erreicht. Eine kleine Gruppe Fahrradfahrer in grellbunten Jacken kam ihm entgegen, alle leicht über ihre Lenker gekrümmt. Einer brüllte seinen Mitradlern etwas zu. Sein Ruf blieb unerwidert.

Milchschafe arbeiteten sich am Deichhang grasend synchron gegen den Wind vor. Der Nordwest zauste an ihrem Fell.

Johann lehnte sein Fahrrad an die Böschung, nahm die eingewickelte Pistole und stieg deichan, in Gedanken noch immer in Siedenbiedels Reich aus Gartenscheren, Fonduebesteck, Schrauben, Glühbirnen und Teegeschirr. Selbst Lebensmittel gab es in dem Krämerladen. Eine Spitzen-Mettwurst.

Johann versuchte, sich einen Gegenstand auszudenken, den es bei Siedenbiedel nicht gab, und ihm fiel zunächst nichts ein. Ehrgeizig darauf konzentriert, dem Kaufmann doch eine Lücke in seinem Sortiment nachweisen zu können, warf Johann die eingewickelte Pistole in weitem Bogen ins Wasser.

Teewurst!, triumphierte Johann innerlich. Teewurst gab es nicht beim Siedenbiedel. Mettwurst ja, aber Teewurst nein.

Dass es vielleicht nicht so eine gute Idee gewesen war, die Waffe in seinem alten Küchentuch wegzuwerfen und auch nicht an die Gezeiten zu denken, die hier bis in den Flusslauf spürbar waren, daran dachte Johann in diesem Moment nicht.

3

Nicolaj trat fluchend gegen den Kotflügel. Heute lief wirklich alles gründlich schief. Ach was, nicht nur heute, im Grunde seit Wochen und nicht erst, seit dieser verdammte Vlad verschwunden war. Jetzt stand er selbst jedenfalls mitten in der Pampa, mit einem Auto, das nicht mehr fuhr.

Die Idee, an der Tankstelle ein Auto zu klauen, das mit geöffneter Tür und Schlüssel im Zündschloss dastand, war ihm als geradezu genialer Plan erschienen, für den er sich selbst am liebsten auf die Schultern geklopft und in den Ganovenolymp aufgenommen hätte. Wahnsinnig raffiniert: kein mühseliges Aufbrechen, niemand, der einen beobachten konnte. Einfach den richtigen Moment abpassen, reinspringen, anlassen und weg. Todsicher. Eigentlich.

---ENDE DER LESEPROBE---