Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Schaumbergers Hauptwerk ist dieser tiefgründige Entwicklungsroman der die Geschichte eines Dorfschullehrers erzählt. Das literarische Schaffen Schaumbergers war bestimmt von den Menschen und der Landschaft seiner oberfränkischen Heimat.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 669
Veröffentlichungsjahr: 2012
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Fritz Reinhardt
Heinrich Schaumberger
Inhalt:
Heinrich Schaumberger – Biografie und Bibliografie
Fritz Reinhardt
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel
Letztes Kapitel.
Fritz Reinhardt, Heinrich Schaumberger
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849634681
www.jazzybee-verlag.de
Deutscher Volksschriftsteller, geb. 15. Dez. 1843 in Neustadt a. d. Heide (Sachsen-Coburg), gest. 16. März 1874 in Davos, wirkte als Volksschullehrer an mehreren Orten, seit 1869 in Weißenbrunn bei Schalkau (S.-Meiningen). Schaumbergers Gebiet ist die Dorfgeschichte auf dem lokalen Boden seiner engeren Heimat. Edle Gesinnung und sichere Darstellung der Charaktere bei schlichter volkstümlicher Sprache zeichnen seine Erzählungen aus, unter denen wir »Vater und Sohn« (4. Aufl. 1899), »Zu spät« (4. Aufl. 1895) und »Im Hirtenhaus« (7. Aufl. 1899) besonders hervorheben. In dem Roman »Fritz Reinhardt« (3. Aufl. 1881, 3 Bde.) hat S. seinen eignen Entwickelungsgang geschildert. Seine Werke erschienen seit 1875 mehrfach gesammelt, zuletzt als Volksausgabe in 2 Bänden (Wolfenb. 1905); »Sämtliche Werke«, herausgegeben von H. Möbius (Leipz. 1905, 8 Bde.). Vgl. Möbius, Heinrich S., sein Leben und seine Werke (Wolfenb. 1883); den Vortrag von E. Schreck (Bielef. 1896); H. C. H. Meyer, Heinrich S. und Rud. Köselitz. Dichter und Illustrator (Wolfenb. 1901).
Zwei junge Männer schritten am zweiten Pfingstfeiertag noch vor Sonnenaufgang zwischen fruchtbaren Saatfeldern am sanftabfallenden Hang des Kulm zum Steinschrot empor. Der im modischen, schwarzen Leibrock und mit dem grauen Filzhut war der junge Bergheimer Lehrer Fritz Reinhardt, sein Begleiter, dessen ländlich-kurze Jacke seinen schlanken und doch kräftigen Bau vorteilhaft hervorhob, der junge Bauer Karl Florschütz, gewöhnlich nur der Beckenkarl genannt.
Die Saatfelder und Grasraine lagen schwer voll Tau, und als aus der Hecke von Weißdorn, Hagebutten und Hiften ein Steinschmätzer erschreckt aufflog, sprühte von den Ästen, Knospen und jungen Blättern eine Wolke glänzenden Staubregens empor. Hie und da erhob sich eine Lerche schwirrend in die Luft: am Waldrand äste ein Reh, langsam, mit kaum bemerkbarem Flügelschlag zog ein Geier über den Steinschrot dahin.
Da schossen die ersten Strahlenblitze der Sonne durch die Kronen der Tannen auf dem Kulm, und wie durch einen Zauberschlag war auch das Leben der Natur erwacht. Hoch in den Lüften jubilierten die Lerchen, aus den Hecken tönte der sanfte Gesang der Rotkehlchen und Grasmücken, vom Apfelbaum schmetterte kräftiger Finkenschlag, vom Steinschrot tönte der Pfiff einer Amsel, vom Kulm melancholischer Kuckucksruf herab. Dazwischen flatterten und zwitscherten durch die Hecke rastlose Vögelscharen, ein Hase sauste in weiten Sprüngen über Stock und Dorn dem Waldesdunkel zu, Hummeln und Bienen umsummten den blühenden Klee, Maikäfer surrten von einem Blütenbaum zum andern. Kräftige Wohlgerüche durchströmten die Luft; mit dem süßen Duft der Veilchen mischte sich der eigne herbe Geruch der Birken und Tannen.
Der junge Lehrer blieb stehen, breitete die Arme aus und rief: "O, wie schön!"
Plötzlich wendete sein Begleiter das sonnengebräunte Gesicht nach ihm und fragte kurz: "Glaubst du auch, daß die Sonne stillstand zu Gideon?"
Erschreckt fuhr der Lehrer herum. "Wie kommst du darauf? – heute, jetzt?"
"Nichts! – Es fiel mir eben so ein!" entgegnete Karl kurz und wendete sich zum Gehen.
Reinhardt folgte kopfschüttelnd dem Freunde. Zwischen duftenden Hecken von Schlehdorn, der seine starren Glieder ganz und gar verhüllte in zarten weißen Blütenflaum, leitete der schmale Fußpfad mählich empor zum Wald, in dessen Halbdunkel die Wanderer bald eintraten. Gemischte Bestände von Tannen, Fichten, Birken und Buchen umschlossen in reizender Unordnung den Weg. Wo sich Tannen und Fichten fest zusammenschlossen, deckte rosiges Dämmerlicht den Moosboden. Hatte aber eine Birke oder Buche die dichtverschränkten Äste der ernsten Gesellen durchbrochen, dann leuchteten im Sonnenstrahl die Leberblümchen, Himmelsschlüssel, die weich behaarten Glocken der roten Hasenblume und die lustigen Wicken. Aus moosigem Felsen, von breitästigen, jetzt noch zartbelaubten Buchen beschattet, sprang ein frischer Quell. Fritz kniete nieder zwischen die Vergißmeinnichte, Dotterblumen und Efeuranken, die im reichen Kranz den Quellrand säumten, badete Gesicht und Hals in dem klaren Quell und rief: "Vorwärts, Karl! Das erfrischt!"
Karl lehnte an einer Buche und fragte finster: "Glaubst du, daß Moses in der Wüste mit seinem Stab Wasser aus dem Felsen schlug? Ist's möglich, daß sich das fließende Wasser des Jordans gleichermaßen selber abdämmte und stand wie eine Mauer?"
"Karl! Was bringt dich auf solche Gedanken?"
"Was kümmert's dich, wie ich darauf komme? Antworte kurz und klar: glaubst du das?"
"Es ist nicht immer gut, gleich mit der Antwort bei der Hand zu sein. Erst sage mir: was treibt dich zu solchen Fragen?"
"Ausflüchte!" lachte Karl zornig. "Ich dachte mir ja, so wird's kommen!"
Reinhardt schüttelte abermals den Kopf. "Was ist das doch?" fragte er nachdenklich. "Schon seit einiger Zeit fiel mir auf, daß du nicht mehr der alte bist; es gärt und arbeitet in dir. – Aufrichtig, Karl, hängt das mit deinen Fragen zusammen?"
"Wozu all die Präambeln? Meine Fragen, dächt' ich, wären einfach und klar – warum sagst du nicht ja oder nein?"
Fritz sah mit traurigem Lächeln dem Freunde ins Gesicht und sagte: "Ja, ja – immer gleich ja oder nein, Leben oder Tod! – Was soll ich antworten, solange ich nicht weiß, was dich zu solchen Fragen treibt?"
"Du hast recht!" begann Karl nach einer Pause und gab Fritz die Hand. "Leg' mir die Unart nicht zu sehr zur Last, ich bin oft bös' auf die ganze Welt und auf mich am meisten. Dazu hab' ich gestern Verdruß gehabt mit der Margaret, das macht mir vollends den Kopf toll!"
"Und hängt der Verdruß auch mit diesen Fragen zusammen?"
Karl antwortete nicht, langsam stieg er auf schmalem Pfad an den jäh aufstrebenden Felsen hinan. Birken-, Hasel- und Lindenbüsche wucherten üppig aus dem Geröll und den Felsspalten empor, eine feuchte Frische erquickte die Wanderer in den Dickichten, bis wohin die Sonne noch nicht zu dringen vermochte. Ein wundervoller Duft wehte den Jünglingen entgegen – überall winkte und nickte unter den Büschen das holde Maiglöckchen. Heute jedoch achtete Fritz nicht auf seine Lieblinge, die Fragen des Freundes hatten ernste Gedanken in ihm angeregt und ihn in die Zeit zurückgeführt, da die ersten religiösen Zweifel den Frieden seines Herzens störten.
Trotz seiner Unruhe und Sorgen brach er doch in ein Ach! der Überraschung und Freude aus, als er, um eine scharfe Felsenecke biegend, das Ziel des Morgenspaziergangs, die Kanzel, betrat. Wie ein Altan sprang eine Felsplatte hinein zwischen die tiefer stehenden Büsche und Bäume, deren Wipfel den Felsen wie ein Geländer umgaben, ohne die Aussicht zu hemmen.
Tief atmend blickte Fritz lange hinaus in die maigrüne Welt. Als er sich dem Freunde zuwendete, fand er ihn auf moosigem Felsen sitzen, das Gesicht in den Händen verborgen. Fritz setzte sich neben Karl und sagte: "Erzähle, gründlich, wahrhaftig, was dich drückt, dann wollen wir darüber reden. Vor allem, was hattest du mit der Herrnbauersmargaret?"
"Das wirst du bald merken!" entgegnete Karl und hob das Gesicht. "Ja, ich will aufrichtig gegen dich sein. Du mußt mir dagegen auch versprechen, daß du mir die volle Wahrheit sagst!"
"Habe ich dich jemals hintergangen?"
"So meine ich nicht! Ich hätte dir schon lang' gern meine Not geklagt, aber – ja, sieh, du mußt mir das nicht übelnehmen: Du bist nun Schulmeister, mußt das in der Schule lehren – wenn du auch wirklich anderer Meinung wärst, darfst du's ja nicht einmal sagen."
Reinhardts Stirn legte sich in Falten. "Und was bewegt dich, mir nun doch dein Vertrauen zu schenken?"
"Ja – was soll ich sagen? Ich meinte so: – wir sind doch Freunde und können uns vertrauen, bei mir brauchst du dich nicht zu genieren, da könntest du wohl mit deiner wahren Meinung herausgehen!"
Fritz ging mit großen Schritten auf und ab. Plötzlich fragte er barsch: "Also traust du mir zu, ich könne lügen? – lügen vor meinen Kindern?"
"Fritz!" fiel ihm Karl in die Rede. "Gewiß und wahrhaftig, mit keinem Odem dachte ich daran, dich zu kränken!"
Fritz gab Karl die Hand und sagte mit tiefem Seufzer: "Das weiß ich. – Aber ich habe jetzt ernstliche Bedenken, ob wir das begonnene Gespräch auch wirklich fortsetzen sollen. Wird dein Verdacht nicht immer wieder gegen mich erwachen, besonders wenn meine Worte nicht deinen Erwartungen entsprechen sollten?"
"Sei still, ich seh' meine Dummheit ein!" rief Karl. "Nun, erst mußt du mich anhören, ich weiß, von dir erfahre ich Wahrheit! Du fragst, wann und wie ich auf solche Zweifel gekommen sei? – Das kann ich nicht sagen, nur das weiß ich, von heut und gestern sind sie nicht. Schon als Schuljunge war ich ein Grübler. Schon damals kamen mir mancherlei Geschichten der Bibel wunderlich vor, doch hab' ich meine Bedenken immer wieder bald vergessen. – Ja, und dann, es mag ein paar Jahre nach meiner Konfirmation gewesen sein, säe ich auf der Rotleite Weizen und sag' dabei den Säespruch laut her, wie mich's die Mutter gelehrt hat. Kommt der Jockenvetter vorbei, hört meinen Spruch, ruft mich zu sich und sagt: ›Bist du auch noch solch ein Brummochs und glaubst an die Fixfaxerei? Dummer Zipfel! Der Herrgott wär' zu bejammern, wenn er sich um jede Kleinigkeit kümmern sollt'. Wie wollt' er fertig werden? Sei nicht dumm, die Natur sorgt für sich selber, das andere ist Schnickschnack für alte Weiber und Brummochsen!‹ – Da stand ich, das Heulen war mir näher als das Lachen. Mich ärgerten des Vetters Worte, aber ich konnte sie nicht vergessen, und als hätte er in einen Schwarm Hornissen gestört, so summten mir die alten, lange vergessenen Gedanken durch den Kopf. Während ich nun Schritt vor Schritt über den Acker wandelte und die Saat ausstreute, mußte ich daran denken, wie in der Natur alles seinen geregelten Gang geht und eines aufs andere folgt: der Tag auf die Nacht, der Sommer auf den Winter, nach Regen Sonnenschein. Und die Saat, die ich ausstreue, die keimt, geht auf, wächst und trägt Frucht. So ist's jahraus, jahrein; kein Mensch kann sich erinnern, daß 's jemals anders gewesen wäre. Freilich verfault auch oft die Saat, oder sie wintert aus, es gibt Mißjahre und Unfruchtbarkeit – aber das hat seinen natürlichen Grund, wir Menschen ändern es mit allem Bitten und Beten nicht! – Das stimmte doch alles zu dem Jockenhannes seiner Red', und – ja, ja – von damals ging meine Not an!
Ich weiß noch, wie ich mich schon in der Schule darüber ärgern konnte, daß der Juden wegen, die doch um kein Haar besser waren als andere Völker, die Sonne stillstand zu Gideon. So grübelte ich auch über die andern Wunder, und je länger ich grübelte, desto weniger wußte ich mit ihnen anzufangen. Einmal hat meine Mutter eine Predigt vorgelesen über die Geschichte vom Jonas im Walfischbauch. Das wollte mir nun durchaus nicht in den Kopf, und da ich mich nicht mit der Farbe 'rauszugehen getraute, frag' ich: ›Mutter, warum geschehen heutzutage keine solchen Wunder mehr?‹ – Ist die alte Frau erschrocken! Ihre Hand hat gezittert, als sie die Brille auf die Stirn schob, eine ganze Weile wußte sie nichts zu sagen. ›Dummer Bub!‹ fuhr sie mich endlich an. ›Was sind das für Fragen? – Warum? weiß ich's? bin ich der Herrgott? – Vielleicht geschieht's, weil die Menschheit so verdorben ist und keinen Glauben mehr hat!‹ – – Ich fragte nicht weiter, obgleich ich übler daran war als vorher. Also Glaube gehört dazu, wenn Wunder geschehen sollen? Aber der Glaube ist doch was in dem Menschen und die Wunder tut Gott – wie das zusammenhängen sollte, konnte ich nicht finden und verfiel zuletzt darauf: wer weiß denn, ob überhaupt jemals Wunder geschehen sind? – Als ich erst einmal nimmer an die Wunder glauben konnt', war die Frage nicht mehr weit: was ist überhaupt noch zu glauben in der Bibel?"
Fritz zerschnitt einen Lindenzweig, Karl hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und blickte zu Boden. Eine Amsel pfiff dicht neben ihnen, Finken und Meisen lärmten in den Büschen, und die Maiglöckchen dufteten, aber keiner der Freunde achtete darauf. Leise erzählte Karl weiter: "Mein Elend damals ist nicht auszusagen; ich fürchtete mich der Sünde und schämte mich vor mir und den Menschen – aber die Gedanken wurde ich nicht los. Obgleich noch gar jung, mied ich Gesellschaft, ganze Sonntage lang rannte ich allein im Wald umher. Meine Mutter war in schweren Sorgen, sie meinte, es sei nicht richtig mit mir im Kopf – helfen konnte sie mir nicht, denn nicht um alles in der Welt hätt' ich ihr meine Gedanken gestanden. Zuletzt, wie ich's gar nicht mehr ertragen konnte, suchte ich den Johannes auf!"
"Immer und immer der Jockenhannes!" rief Fritz. "Nun, der Jockenhannes stand damals in großem Ansehen, war der Spezial vom Pfarrer und mit viel vornehmen Herren, Amtleuten und Förstern gut' Freund. Seine Frömmigkeit wollte freilich niemand loben, grade deswegen aber machte ich mich an ihn. Kam freilich vom Regen in die Traufe! Gerechter Gott, was mußte ich hören! Das dauerte gar nicht lang', so war mir's so dumm und wüst im Kopf, als sei mir das Hirn 'rausgenommen, und das greuliche Lachen des Hannes jagte mir eine Gäns'haut nach der andern über den Buckel. – Wie im Traum ging ich von ihm, aber daheim bei der Mutter konnt' ich es nicht aushalten, mir war, als müßten die Wände über mich fallen. Es war ein wilder Abend, der Wind pfiff und heulte, der Regen goß in Strömen – ich mußte doch hinaus und rannte die halbe Nacht in der Irre herum. Wie ich heimkam, weiß ich nicht – am Morgen war ich schwer krank. Die Krankheit half mir von den Gedanken. Wie ich meine Mutter so inbrünstig an meinem Bette beten hörte, da ist mir's warm im Herzen geworden, zum erstenmal seit langem konnte ich selber beten, und nun hatte ich Ruhe – ach, wär's dabei geblieben! Ich war glücklich und zufrieden, bis – bis der neue Pfarrer kam! Es lautet wunderlich, aber's ist doch so, unser frommer, strenger, eifriger Herr Pfarrer, der hat mich aufs neue zum Zweifel gebracht. Du wirst vielleicht gehört haben, was es für einen Rumor im Dorf gab, als es hieß, wir bekommen den Pfarrer Walter. Besonders der Jockenhannes hat Himmel und Erde rebellisch gemacht, um das zu hintertreiben. An den Sturm im Dorf hab' ich mich nichts gekehrt, so recht mit Freuden hab' ich meine Gäule zum Pfarreinzug aufs beste 'rausgeputzt, es war mir 'ne Ehr', daß ich die Pfarrkutsche führen durfte; ich meinte ja, der fromme Herr würde mich für immer vor solchen schlimmen Gedanken bewahren. Aber es kam eben wieder anders, als ich gedacht. Wie der neue Pfarrer gleich nach seinem Einzug, da er die wenigsten von uns dem Gesicht und Namen nach kannte, gleich so arg über unsere Verdorbenheit und Sündhaftigkeit schimpft, wie das alle Sonntage fortgeht und immer ärger wird, da bin ich verdrießlich 'worden. So hat mich's auch geärgert, daß Gott nur die ganz zerschmissenen Herzen annähme; daß nur die Menschen auf Gnade und Erbarmen rechnen dürften, die sich selber für ganz schlecht ansähen und sich auf der Welt nichts zutrauten. Das stieg mir zu Kopf. Das ist doch nicht anders, als verlangte Gott, daß jeder erst ein rechter Lump werden soll, ehe er ihn zu Gnaden annehme. Einzubilden braucht sich niemand was auf seine Rechtschaffenheit; wer sich aber selber gar nichts achtet und nichts Zutraut, der wird auch nichts, das ist meine Meinung! Habe ich nicht recht?" Fritz nickte nachdenklich, und Karl fuhr fort: "Ja, die Hauptsache ist noch zurück. Wie ein Schlag auf den Kopf hat mich's 'troffen, wie der Pfarrer predigt: in der Bibel sei jeder Buchstabe Gottes Wort und zu glauben. Wer nur an einem Buchstaben zweifle, der sei verdammt auf ewig."
Fritz war aufgestanden und ging heftig auf und ab.
"Das ist mir wie ein Messer ins Herz gefahren – aus war's mit meiner Ruh'! Aus der Angst wurde bald ein rechter Trotz gegen den Herrgott. Was konnt' ich dazu, daß es eine Zeit gab, wo ich nicht alles glauben konnte? verdiente ich deswegen ewige Verdammnis? – –
Seit jener Predigt sind die alten Gedanken wieder in mir lebendig geworden, und diesmal blieben sie Herr! – Seitdem es hieß, du mußt glauben, was in der Bibel steht – seitdem war es vorbei mit meinem Glauben!
In meiner Not ging ich zum Jockenhannes. – ›Was tausend?‹ – lachte er – ›du Heiliger kommst zu mir? Was würde dein Herrgottle, der Pfarrer, sagen, wenn er das erführ'?‹ Wie er aber meinen Ernst sah, ward er auch bedächtig und redete vernünftig. Was und wie, kannst du dir denken. Und meiner Not konnt' er auch kein End' machen. Ach, Fritz, ist das ein Zustand! Ich kann nicht alles glauben, was in der Bibel steht. Auf der andern Seite kann ich dem Hannes auch nicht beistimmen. Was soll denn aus der Welt und den Menschen werden, wenn die ganze Bibel nichts gelten soll? O, Gott im Himmel! wo ist das Rechte! – Wenn ich eins nicht mehr glauben kann, wird nicht doch das Ganze hinfällig? – Fritz, rate, hilf! – So kann es nicht länger bleiben; die Gedanken lassen mir Tag und Nacht nicht Ruhe, ich tauge zu keiner Arbeit; was ich anfasse, mache ich verkehrt. Und nun hat – der Himmel mag wissen, wie sie's 'rausgekriegt – meine Mutter gemerkt, wie es um mich steht. Die alte Frau ist ganz außer sich, vermeint mich für ewig der Hölle verfallen, Tag und Nacht liegt sie mir an mit Heulen, ich soll die frevlen Gedanken lassen. Ach, und von der Herrnbauersmargaret will ich schon gar nichts sagen. Noch weiß sie nichts, nur mein Umgang mit dem Hannes macht sie stutzig. Ach, Fritz, und jetzt schon, da sie nur fürchtet, ich könne in des Hannes Fußtapfen treten, weiß sie sich vor Jammer nicht zu lassen – das herzhafte, frische Mädle ist nicht wieder zu erkennen! Was wird's, wenn sie endlich hinter die Wahrheit kommt? Sie ist resolut! So groß ihre Liebe ist, sie wird mich verlassen, wenn ich nicht im Glauben stehe, der ihr das Höchste und Größte ist! – Mein ganzes Lebensglück steht auf dem Spiel, und das bloß wegen der dummen, verrückten Gedanken!"
Fritz ging heftig auf und ab. "Habe Geduld! Du wirst wieder ruhiger werden und Frieden finden."
"Auch den Glauben?"
"Vielleicht auch den. Sicher wenigstens Ruhe im Gemüt!"
"Vielleicht!" schrie Karl bitter und sprang auf. "Ist das dein Trost? Und wenn nicht, was nachher?"
"Dann mußt du eben ohne ihn auskommen!"
Karl sah Fritz bleich, verstört ins Auge; mit zitternder Hand hielt er ihn am Rock fest und fragte tonlos: "Ist das dein Ernst? Ist's denn möglich, daß man bestehen kann ohne Glauben?"
"Der Glaube ist verschieden!"
"Nichts, nichts! Ich lasse dich nicht entschlüpfen. Du weißt wohl, was ich meine – jetzt klar und deutlich: ja oder nein?"
"Ich bin kein Jockenhannes, der auf jede Frage eine bestimmte Antwort im Vorrat hat. Aber gesetzt auch, ich wollte und könnte so kurz und rund antworten, was ist dir damit geholfen? Karl, lerne begreifen, daß dir keines Menschen Meinung zurechthelfen kann; und wenn du die gesamte Menschheit aufrufst – du bist um keinen Schritt gefördert. Nicht von außen suche Hilfe, du kannst sie nur in dir selbst finden!"
Karl verbarg das Gesicht in beiden Händen. "Ich kann dir nicht widersprechen, ich versteh' dich freilich nur halb, allein es liegt was in deinen Worten, das mir einleuchtet – und doch, was soll aus mir werden, wenn du recht hättest? Hilf mir, du kannst, wenn du nur willst. Gib das Versteckenspielen auf – red' klar – ach, Fritz, laß mich nicht vergebens bitten."
"Ich kann dir nicht helfen, ich nicht und kein anderer Mensch. Diese Arznei ist wohl bitter, aber heilsam, ich weiß das aus Erfahrung. Ich war auch einst in deiner Lage; ich konnte nicht mehr glauben und wollte doch meinen Glauben nicht fahren lassen. Ich stellte mich nicht minder ungebärdig als du, alle Bekannte und Freunde plagte und quälte ich, sie sollten mir helfen, und doch traute ich keinem, glaubte keinem. Zuletzt wichen mir alle scheu aus, sie mochten mich für verrückt halten und überließen mich meinem Schicksal. Ich wollte oft verzweifeln, dann wurde ich müde und traurig; danach ergab ich mich geduldig in das Unvermeidliche – und siehe, als ich mich aufgab, da war mir geholfen!"
"Wie denn?" rief Karl. "Wie stand es danach um deinen Glauben?"
"Immer ja oder nein!" sagte Fritz mit wehmütigem Lächeln. "Was kann dir an dem Wie liegen? Genug, mir war geholfen! – Höre mich ruhig an, Karl: für deine Krankheit gibt es kein Radikalheilmittel: aber sie ist nicht so gefährlich, als du meinst, nur etwas langwierig; die Heilung sicher, wenn du sie nicht selbst unmöglich machst. Vertraue mir, Karl, und befolge meinen Rat: ertrage die Zweifel wie eine Krankheit, die man austoben lassen muß. Frage nicht da und dort an in Glaubenssachen! Sei geduldig! Worauf dich jetzt kein Suchen bringt, das findest du später von selbst! Und warum willst du, bevor es zur Entscheidung kommt, deine Angehörigen, deinen Schatz ängsten? Verbirg ihnen deinen Gemütszustand, solange du mit dir selber im unklaren bist. Hast du feste Stellung genommen, dann ist es Zeit, mit der Erklärung hervorzutreten." –
"Du verlangst viel!" sagte Karl und gab Fritz die Hand. "Das klingt wohl anders als die Reden des Jockenhannes, und damit werde ich auch nicht so bald fertig. Ist mir ein Trost, daß du die Gedanken in mir Krankheit, nicht Sünde heißt; und weil du es gar so zuversichtlich aussprichst, will ich auch hoffen, daß es wieder besser werden wird, wenn ich gleich nicht einsehe, wie das möglich sein soll. Einleuchtend ist mir, daß ich nicht aller Welt auf die Nase binden soll, was in mir vorgeht. Dafür dank' ich dir, das ist ein Freundesrat. Ich will mir Mühe geben, deinen Worten nachzukommen! Da drinnen", dabei faßte er mit beiden Händen seinen Kopf, "ist's freilich, als hätte ein Wirbelwind alles durcheinander geworfen. Ich merke, es ist anders in der Welt, als ich bis heut gedacht; es ist da nicht alles so fest gefügt, wie ich mir vorstellte. O Herrgott, am Ende besteht alles nur in unsrer Meinung? – Laß mich nur, ich komm' nicht mehr mit Fragen. Ich will den Verlauf meiner Krankheit in Geduld abwarten."
"Tu das!" sagte Fritz und horchte auf ein helles Lachen, das rasch näher kam. "Du wirst gleich Gelegenheit haben, deinen Ernst zu zeigen – wenn ich nicht irre, sind die Herrnbauernmädchen bald hier!"
Eben stieg die Sonne über den Kulm empor, als zwei Mädchen aus den Hecken des Sülzdorfer Kirchsteigs traten und langsam an den taufeuchten Heckenzäunen entlang bergauf wanderten. Mehr an der Gleichheit der Kleidung als an sonstiger Ähnlichkeit erkannte man das Schwesternpaar. Die leichten Jacken waren halb offen und ließen das buntseidne, kreuzweis über die Brust gesteckte und am Hals durch eine goldne Nadel zusammengehaltene Halstuch sichtbar werden. Die faltigen Röcke aus dunkelkariertem, feinem Wollenzeug reichten knapp bis zum Knöchel, darunter leuchteten die schneeweißen Strümpfe, und die kleinen Kommodschuhe waren blank gewichst.
Beide Schwestern waren schlanke, schöne Gestalten; Margaret, die ältere, etwas kleiner, dafür kräftiger, voller als die jüngere Anna. Ihr rundes, etwas gebräuntes Gesicht glühte in Gesundheit und Lebenslust, die frischen Lippen waren fast etwas trotzig aufgeworfen, dafür lachten ihre guten, ehrlichen Augen desto fröhlicher in die Welt. Anna war zarter, feiner gebaut, und dem entsprach auch das reizende Oval ihres Gesichtes, die reine Gesichtsfarbe, der fein geschnittene Mund. Frei stieg die Stirn empor; unter den sanft geschwungenen Brauen glänzten große, dunkle, tiefe Augen; fast waren die sinnenden Blicke dieser Augen ein wenig zu ernst, hätte sie nicht das fröhliche, herzliche Lächeln, das oft den kleinen Mund umspielte, gemildert. Das reiche, dunkelblonde, an der Stirn und den Schläfen leicht gewellte Haar war, in dicken Zöpfen verflochten, wie ein Kranz um den Kopf gesteckt. Fast schien diese Last für den schlanken Hals zu groß, denn Anna trug das Köpfchen unmerklich nach vorn übergebeugt.
Die beiden Mädchen waren die einzigen Kinder der Herrnbauernleute, der größten und wohlhabendsten Bauernfamilie in Bergheim. Da sie obendrein noch die Aussicht hatten, ihren sehr reichen Schulbauernvetter in Sülzdorf zu beerben, so gehörten sie wohl zu den reichsten Erbinnen der Gegend und wurden viel umworben. Margaret hatte aber ihr Herz schon dem Beckenkarl geschenkt; Anna aber lachte, wenn sich die Bursche um sie bemühten, und erklärte, sie habe noch gar lange Zeit zum Heiraten.
Trotz ihrer Freundlichkeit und Herzensgüte standen die Herrnbauersmädchen nicht in dem Ansehen, das man hätte erwarten sollen. Mochte nun sein, daß man ihnen ihren Reichtum und die vielen Liebhaber nicht gönnte, das Übelwollen hatte auch noch andere Gründe. Der Herrnhof war das größte Bauerngut im Dorf, ein sogenanntes Hofgut, oder, wie die amtliche Bezeichnung lautete: ein Fronhof. Solcher Fronhöfe gab es in dem Ländchen, welchem Bergheim angehörte, nur wenige; um so bevorzugter war die Stellung, welche die Besitzer unter der Bauernschaft einnahmen. Nicht von den adeligen Grundbesitzern, wie die übrigen Landleute, hatten sie ihre Höfe zu Lehen empfangen, sondern von der Landesherrschaft selbst. Da die Fronhofbauern nur unter der Gerichtsbarkeit der höchsten Landesbehörde standen, von den adeligen Gerichtsherren und Grundbesitzern keine Bedrückungen und Plackereien erduldeten, waren sie die Edelleute unter den Bauern. Kein Wunder darum, wenn sie sich mit Stolz als "Hofbauern" den gewöhnlichen Bauern entgegensetzten. Da kam die neue Zeit und verwandelte die Lehen in freies Eigentum. Der Name "Hofbauer" war bedeutungslos geworden, jeder Söldenbesitzer stand dem stolzen Hofbauern vollkommen gleich gegenüber. Nur schwer und widerwillig fügte sich der Bauernadel in die neue Ordnung, im Herzen erkannte er die neue Gleichheit nicht an. Jetzt, da ihm sein natürlicher Grund entzogen war, wucherte der Stolz um so üppiger in den Herzen empor. Solchen Stolz warfen auch die Bergheimer dem Herrnbauer vor, und vielleicht nicht ganz mit Unrecht. Seine Familie saß schon über dreihundert Jahre auf dem Hofe, und die Bergheimer mußten oft hören, daß sein Name der älteste im Dorfe und der Gegend sei. Das nahmen sie ihm natürlich gewaltig übel und begannen die Herrnbauersfamilie auf das gehässigste zu beurteilen. Ihr stilles, zurückgezogenes Leben, ihre strenge Frömmigkeit, ja selbst ihre Mildtätigkeit gegen die Armen wurde ihnen zum Vorwurf gemacht; man behauptete, das sei eitel Hoffart und Stolz. Am bittersten mußten Margaret und Anna den Unwillen der Bergheimer empfinden. Ihre Altersgenossen gingen nicht gern mit ihnen um; zeigten sie sich in Gesellschaft, konnten sie sicher auf Hohn und Spott rechnen. Margaret weinte, klagte und geriet zuletzt regelmäßig in heftigen Zorn, durch den sie das Übel nur vermehrte; Anna dagegen blieb ruhig und gleichgültig; sie lachte über die Spöttereien und mied die Gesellschaft, soviel sie konnte.
"Hast dich gestern wieder mit deiner Gesellschaft gezankt, weil du gar so trübselig dreinguckst?" fragte Anna die Schwester. "Bist ein wunderliches Mädle! Hast nichts wie Ärger von dem Umgang, und doch kannst du die Gesellschaft nicht lassen!"
"Bin eben zum Einsiedel verdorben!" war die Antwort. "Möcht' wissen, womit wir's verdient hätten, daß grad' auf uns alles loshacken muß!"
"Ja, wer das wüßte?" sagte Anna sinnend, und ein Schatten zog über ihr Gesicht. "Weißt, Margaret, ich tröste mich damit, daß wir die Garstigkeit der Dorfgesellschaft nicht verdient haben, und darum kann ich mich auch nimmer darüber ärgern. Zuletzt ist's ja lauter Neid und Mißgunst, weswegen sie uns plagen, drum denk' ich: 's ist besser Neider als Mitleider!"
"Was hilft mir das? Ich bin gern lustig, und zum Lustigsein gehört Gesellschaft – aber wie's jetzt steht, darf man sich kaum blicken lassen!"
"Was du doch klagst – hast du nicht den Beckenkarl? Aber jetzt ist's am End' mit dem Lamento, 's ist 'ne Sünde, den Gottesmorgen so zu verderben! Sieh nur, wie die Tautröpfle im Gras und auf den Stauden funkeln – ach, und wie die Beigele riechen, und wie die Vögel singen, 's ist nicht anders, als wollt' heut alles Pfingsten mitfeiern!"
"Ja, die Vögele, die haben freilich leicht lustig sein!" sagte Margaret und verfolgte mit ihren Blicken ein Finkenpärchen, das sich fröhlich von Zweig zu Zweig neckte. "Die haben keine Not und keine Sorgen! Und wenn sich zwei gern haben, gibt's keinen Verdruß, und niemand drängt sich dazwischen und säet Unfrieden! – –"
"Margaret, ja, was ist denn das? ich kenn' dich nicht wieder!" lachte Anna. Als sie aber die Schwester wirklich in Tränen sah, schlang sie die Arme um ihren Hals und rief: "Ach Gott, was bin ich garstig! Margaret, was ist dir passiert?"
Margaret legte den Kopf auf die Schulter der Schwester und ließ ihren Tränen freien Lauf. "Was wird's sein?" schluchzte sie. "Kannst dir's denken!"
"Und was hat's wieder gegeben?" sagte Anna und zog die Brauen zusammen.
"Ja, wenn ich's erst selber wüßt'! Denk' an: Der Karl hat mich auf gestern abend zum Lichtenannedorle bestellt, weil wir da sicher zusammen sein können. Ich geh' auch hin: aber wer nicht kommt, das ist der Beckenkarl. Endlich nach langer Zeit kommt er doch noch angerannt, aber so verstört; ich bin vor ihm erschrocken. Kaum, daß er mich grüßt, setzt er sich hin, guckt grad' 'naus, red't nicht und deut't nicht; was ich ihn auch frag', er tut, als hört' er's nicht. Zuletzt ist mir das doch außer Spaß, ich steck' mein Strickzeug zusammen und sag': ich merk', ich bin heut übrig: drum will ich nicht länger im Weg sein! Da ist er nun freilich aufgefahren, guckt mich an, als war' er aus einem Traum erwacht und bittelt und bettelt so lang', bis ich mich wieder zu ihm setz'! Ich wollt' nun natürlich wissen, was ihm den Kopf verdreht, aber keine verständige Antwort war aus ihm 'rauszubringen. Auf alle Weise sucht er den Kopf durch die Schlinge zu ziehen, und als er mir doch nimmer ausweichen kann, wird er verdrießlich und sagt, ich soll ihn in Ruhe lassen, er sei geschlagen genug: was ihn drücke, könne er mir nicht sagen, ich verstände nichts davon."
In Annas Augen glühte es auf, und Margaret fuhr fort: "Ja, das hat mich gekränkt. Drum sag' ich: ich weiß wohl, an den Jockenhannes kann ich mich nicht rechnen, ich bin nur ein einfältiges Mädle! Tu dir meinetwegen auch keinen Zwang an, geh wieder hin zu deinem Jockenhannes, der liegt dir doch nur im Sinn! Ach du lieber Gott, hat dir da der Karl aufbegehrt, ich hab' gezittert an allen Gliedern vor Schrecken! Was ich gegen den Jockenhannes hätte? schrie er mich an. Die Schwätzerei und Hetzerei ging ihm nun grad' bis an den Hals. Wenn sich der Hannes auch nicht so fromm stellte, deswegen wäre er doch soviel wert als andere auch! So ging's lange fort, und wie ich mit keinem Wort dazwischen reden konnte, nahm ich mein Tuch über den Kopf und sprang auf und davon. Es war mir wohl, als komme Karl hinter mir drein und als hörte ich meinen Namen rufen, aber ich sah mich nicht um und verriegelte die Haustüre hinter mir. In der Nacht klopfte Karl drei-, viermal an mein Kammerfenster, ich hab' ihm nicht geantwortet!"
"So war's recht!" rief Anna, und ihre kleinen Hände ballten sich im Zorn. "Pfui auch, wie garstig! Dir und uns so was anzutun! Aber ich sag's ja, die Mannsleut' taugen allmit'nander nichts, die meinen, die Mädle wären nur dazu da, daß sie ihren Spott mit ihnen treiben. – Mir soll einmal einer kommen und schön tun wollen, ich will ihm weisen, wo Barthel den Most holt!"
"Du hast gut reden", weinte Margaret. "Ach, Anna, wenn's Karl verdrossen hätte, daß ich ihm so den Stuhl vor die Tür setzte? Den ganzen Morgen hab' ich mich schon darüber zergrämt! Anna, was sollt' ich anfangen?"
"Ihr seid mir Leut'!" meinte Anna kopfschüttelnd. "Erst quält ihr euch bis aufs Blut und dann reut's euch gleich wieder. Geh, Margaret, von dem Karl möcht' ich nichts mehr wissen, und wenn ich ihn noch so lieb gehabt hätte; solltest froh sein, auf solch gute Art von ihm loszukommen."
"Wie du auch schwätzest!" rief Margaret und trocknete ihre Tränen. "Was weißt denn du? Nein! vom Karl lass' ich nicht! Du weißt gar nicht, was er für ein braver Mensch ist, und erst sein weiches, gutes Gemüt – –"
"Nun, das ist lustig!" lachte Anna. "Erst klagt sie über den unartigen Buben, und nun ist sie selber die erste, die ihn in Schutz nimmt!"
"Ach, nun ja, ich hätte auch nicht gleich so obenaus sein müssen!" klagte Margaret und zerpflückte ein Veilchen. "Wenn ich ihm nur wenigstens ein gutes Wort gesagt hätte gestern nacht! Anna, ach, du lieber Gott im Himmel, meinst du wirklich, daß er mir im Ernst bös' sein könnte?"
"Närrle! Wenn er dich nur halb so lieb hat als du ihn, muß es ihm elend genug zumut' sein!"
"Ist's wirklich dein Ernst?" rief Margaret freudig.
"Geh, du bist nicht klug!" sagte Anna und bückte sich zum Bettelbrunnen nieder, um aus der hohlen Hand zu trinken. "Und da heißt's in allen Liedern, die Liebe wäre das größte Glück auf der Welt. – Weiß nicht, wie ich das verstehen soll. Seit du und der Beckenkarl zusammengeht, was war da? – nichts als Plag' und Not und Elend! – Nein, da lob' ich mir's ledig sein, das ist doch lustiger!"
"Lustiger vielleicht," entgegnete Margarete sinnend, und ihre Wangen röteten sich, "aber so schön doch nicht!"
Anna spielte mit einem Veilchen: plötzlich schmiegte sie sich eng an die Schwester, blickte ihr halb verschämt, halb neugierig in das Auge und fragte, während ihre Wangen erglühten: "Und nun sag', warum ist's so schön, wenn sich zwei gern haben?"
"Ja, wenn sich das sagen ließ'! – Das ist eben so – ja, das ist gar nicht zu beschreiben! Das ist ein Glück und eine Herrlichkeit in der Welt und in einem, den lieben langen Tag möcht' man lachen und singen. Und dabei tut's im Herzen so weh, aber 's ist doch kein rechter Schmerz, das Wehleid ist eben auch wieder so schön! Ach, geh doch, was fragst auch so dumm? Wirst schon noch selber erfahren, was die Lieb' ist, du Flattergeist, du! – Aber jetzt sei still, denk', wenn uns eins zugehört hätt'! – Komm, wir wollen Maiblümchen suchen gehn, daß wir zu rechter Zeit heimkommen."
Stille kletterten beide zwischen die Büsche und Felsen hinan. Anna mußte viel an die Worte der Schwester denken, die ihr so unverständlich waren und dennoch ihr Herz so eigen bewegten. Was war das doch für eine Herrlichkeit allüberall! So süß wie heute hatten die Maiblümchen noch nie geduftet, so hell die Sonne noch nie gestrahlt, so tief und rein der Himmel noch nie geblaut. Es war ihr, als müsse ihr plötzlich ein unendliches, unbegreifliches Glück zufallen; eine unsäglich süße, gestaltlose Erwartung machte sie zu gleicher Zeit glühen und erzittern.
Margaret hatte das Geplauder mit der Schwester beruhigt. Heitere Bilder umgaukelten sie, ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie emsig Maiglöckchen und Herrgottsschühlein sammelte. Fast auf der Höhe des Berges meinte Anna: "Wir haben noch Zeit bis zum Heimgehen – komm, wir wollen auf der Kanzel ausruhen und uns einmal ordentlich umsehen!" Margaret war es zufrieden und seufzte: "Ach, du lieber Gott, wenn der Bekenkarl dort wär'!" Anna mußte lachen, brach aber kurz ab, denn als sie um die letzte Felsenecke bog, stand sie wirklich vor ihm.
Karl war aufgesprungen und zog die erschrockne Margaret neben sich auf den moosigen Felsen; Reinhardt, der ebensogut wie Anna empfand, daß die beiden allein sein wollten, gab Anna freundlich die Hand und wußte das schüchterne Mädchen bald zum Reden zu bringen.
Karl legte seinen Arm um Margaret, blickte ihr treuherzig in die Augen und fragte: "Bist noch bös', Margaret?"
Mit Entzücken hörte das Mädchen in diesen Worten die herzlichste Reue hindurchklingen: aber bei allem Glück darüber konnte sie doch nicht umhin, ihren Schatz zu quälen, halb wendete sie das Gesicht von ihm und sagte schmollend: "Geh, was willst von mir?"
"Ach, Margaret, sei nicht so garstig!" bat Karl und hielt ihre Hand mit Gewalt fest. "Was hast nur?"
"Und so fragst du auch noch?" unterbrach ihn Margaret.
"Nu ja, ich war gestern verdrießlich. Ist das solch großes Verbrechen, daß du so arg trotzen mußt? Komm, sei gut!"
"Verdrießlich? Weiter nichts? Nein. Karl, mit solchen Ausflüchten kommst du bei mir nicht durch! Hast du mich nicht eine gute halbe Stunde über die Zeit auf dich warten lassen? Hast du nachher nicht neben mir gesessen, als wär' ich ein Stück Holz oder gar nicht auf der Welt? Und wie du mich angeschrien hast," – Margaret kamen die Tränen in die Augen und sie mußte den Schürzenzipfel zu Hilfe nehmen – "das war gar drüber 'naus. Und das Anschreien bin ich nicht gewohnt, dafür halt' ich mich doch noch zu gut. Und –"
"Ich hätte dich angeschrien?" unterbrach sie Karl. "Das übertreibst du! Ich war eben ärgerlich, und da mag ich lauter geredet haben, als sonst meine Art ist, von Anschreien weiß ich nichts."
"So? Und warum darf ich nicht wissen, was dich verdrießlich macht? Paßt sich solche Heimlichtuerei?" Sie verbarg jetzt das ganze Gesicht in der Schürze und schluchzte, als wolle ihr das Herz brechen.
Karl wurde es unheimlich, ängstlich fragte er: "Herrgott, Mädle, was wird noch kommen? Ich – ich weiß gar nicht – sollt's denn möglich sein, daß ich –"
"Ja, leugne nur noch! Ach, du lieber Gott im Himmel! Karl, mit dir ist's weit 'kommen? Ich hätt' nicht gedacht, daß du solch ein Schlimmer wärst! Sei nur still! Läufst du nicht tagtäglich ins Jockenhaus? Führst du nicht Reden, daß einem die Haut schaudert? Hast du mir nicht gestern ins Gesicht gesagt: Der Jockenhannes wär' ein richtiger Mann, wenn er sich auch nicht so scheinheilig stellte als andere?"
Karl lockerte sein Halstuch und meinte kleinlaut: "Das soll ich gesagt haben? Kein Dingle weiß ich davon! – Nu, nu, fahr' nur nicht gleich auf, ich sag' ja nur, ich weiß nichts davon; du sagst's, und so wird's schon auch so gewesen sein. – Höre, Margaret, die Sache ist mir herzlich leid, ich versprech' dir, es soll nicht wieder vorkommen. Nun sei auch vernünftig und guck' mich an!"
Als aber Margaret ihr Gesicht nur fester in die Schürze vergrub, fuhr er fort: "Höre, Margaret, übertreibe nichts! Du hast nun lang' genug getrotzt, hast mich die lange Nacht vergeblich klopfen lassen und mir nun die Ohren grad' genug vollgeheult. Willst jetzt gut sein?"
Margaret empfand, daß sie nun einlenken müsse. Vorwurfsvoll sah sie ihn über die Schürze weg an und fragte: "Wie kann ich denn? Tust du nicht so recht mit Absicht alles, was mich kränken muß?"
"Margaret, jetzt gehst du wieder zu weit! Meinst du denn, mir war's gut zumut' in letzter Zeit? Laß das jetzt ruhn, denk' nicht mehr dran. Hab' ich dich gekränkt, so geschah's nicht mit Absicht und ist mir recht herzlich leid drum. Vergiß das, du sollst nicht mehr über mich zu klagen haben."
"Ja, wenn's dein Ernst wär'? Karl, sieh mich an! Willst du nimmer solch lästerliche Reden führen? nimmer so arg dem Jockenhannes nachlaufen? Willst du auch wieder beten und in die Kirch' gehen, wie sich's für einen ordentlichen Burschen schickt?"
"Nu, nu – mach' mir nur den Kopf nicht wirbeln!" lächelte Karl und drückte Margaret an sich. "Ich will tun, was ich kann; verlang' nur nicht alles auf einmal, solche Dinge lassen sich nicht erzwingen. – Nichts da, keinen neuen Streit! Ich will tun, was ich kann, was willst mehr?" Damit zog er Margarets Gesicht zu sich nieder und verschloß ihren Mund mit einem Kuß.
Der Lehrer hatte Anna an den Rand des Felsens gezogen, machte sie aufmerksam auf die Herrlichkeit ringsum, und bemerkte mit Freude, daß nicht sein Herz allein höher schlug. Es war aber auch einzig schön, aus dem Schattendunkel des Waldes hinauszublicken in die lichtprangende, maifrische Welt! Tief unten wallte und rauschte der Wald, weiterhin dehnten sich am sanfteren Hang saftgrüne, buntgeblümte Wiesenflächen und wallende Saatfelder. Im Tal, durch welches sich das Silberband der Wertha schlängelte, lagen zerstreut im Grünen gar zierlich und sauber die Höfe und Häuser Sülzdorfs, in der Mitte das stattliche, weißgetünchte Schloß im blitzenden Weiher. Zwischen waldigen Höhen zogen sich tiefe Gründe nach dem Gebirge hin, aus deren Gebüsch Häuser und Mühlen hervorlauschten. Höher hinan, von den Rücken der Vorberge herab, leuchteten die Fenster und Schieferdächer stattlicher Ortschaften; dort wo die Talgründe sich in wilde Schluchten verloren, hütete wohl auch eine alte Ruine den Eingang in das Gebirge. Von blauem Duft umhüllt ragte das Gebirge in ernster Majestät empor, ein Bild der Ruhe, festgegründeten Daseins; weithin zog sich die Kette sanftgeschwungener Bergformen. Und kehrte das Auge in die Nähe zurück, so ruhte es mit Wohlgefallen auf dem schlanken Kirchturm Bergheims, der mit den roten Dächern aus dem Blütenschnee der Obstbäume tief unten nach Süden hin auftauchte. Weit in der Ferne begrenzten Höhenzüge von seltsamen, kühnen Formen die Aussicht; Klöster, Kapellen und Wallfahrtskirchen krönten die Spitzen und leuchteten, von der Morgensonne bestrahlt, hell herauf.
Anna hatte die Hände gefaltet und blickte tief atmend um sich; eine Weile war es still zwischen den beiden. Erst als sie tief seufzte, nahm Fritz das Wort:
"Komm, wir wollen uns auch setzen, es spricht sich besser zusammen; sieh, hier ist gerade Platz für zwei."
"Ja, warum nicht gar, wo denken Sie hin?" lachte Anna und setzte sich weit von ihm auf einen Felsvorsprung.
"Nun? was soll das heißen? Bin ich dir nicht gut genug oder fürchtest du dich vor mir?"
"Ach, geht doch! Das würde sich schön schicken, so bei Ihnen zu sitzen!" entgegnete Anna verlegen und begann von den Blumen in ihrem Schoß auszuwählen; Maiglöckchen, Veilchen und ein Herrgottsschühlein vereinte sie zu einem Sträußchen, das sie ins Mieder steckte.
Mit Wohlgefallen ruhten des Lehrers Blicke auf dem jungen Mädchen; jetzt bemerkte er erst, wie schön sie war. Endlich begann er: "Deine Maiglöckchen erinnern mich daran, daß auch ich ausging, mir einen Blumenstrauß zu holen. Du könntest mir wohl die Hälfte deiner Blumen ablassen. Bitte, Anna!"
"Die große oder kleine Hälfte?" fragte Anna, ohne aufzublicken.
"Welche Frage!" lachte Fritz. "Und wenn ich nun unbescheiden die größere verlangte?"
"Da!" rief das Mädchen mit neckischem Augenaufschlag und hielt ihm eine Handvoll Blätter entgegen, von denen sie die zierlichen Blütenrispen gesondert hatte.
Fritz zog die schon ausgestreckte Hand hastig zurück, eine leichte Röte überflog seine Wangen, seinen Bart streichend, meinte er lachend: "Du bist mit der Strafe rasch zur Hand: mir geschieht recht; wer alles will, bekommt nichts! – Aber ich will bescheiden sein, Anna, gib mir das kleine Sträußchen und behalte das übrige."
Anna schüttelte den Kopf. "Sie sind ein wandelbarer Mensch! Warum nun grade das? Das ist ja mein Kirchensträußchen!"
"Eben drum – gib mir's nur, ich habe nun einmal meine Freude daran!"
"Ja, ja doch, Sie sollen's haben!" lächelte Anna, nahm das Sträußchen vom Mieder, ordnete die Blumen besser und fügte noch einige zierliche Grasrispen und zart gegliederte Blätter, die neben ihr in der Felsspalte grünten, hinzu.
Fritz war eigentümlich bewegt; die Schönheit des Mädchens, die sanfte Stimme, die sich so weich in die Seele legte, brachte ihn in Erregung, deren Lebhaftigkeit ihn fast beunruhigte. – Das verlegene Schweigen unterbrach eine lustige Tanzweise, die vom Kulm, auf dem es schon geraume Zeit recht lebendig geworden war, frisch und fröhlich herüberklang. Ein fröhliches Lächeln löste die Spannung in Annas Augen, unwillkürlich markierte sie mit der Fußspitze das Tempo des Tanzes und sagte: "Horcht nur, wie sie drüben lachen! Wenn das unser Herr Pfarrer hört, was wird das wieder geben!"
Fritz wollte entgegnen, aber Karl unterbrach ihn. "Anna, ich habe eine rechte Bitte. Guck', die Margaret will heut abend nur auf den Tanz, wenn du mitgehst. Gelt, Anna, du tust uns den Gefallen?"
Anna runzelte die Stirn und warf die Lippen auf. "Was tu' ich auf der Musik? Mit mir tanzt niemand, und wenn ich den ganzen Abend bloß zusehen soll, wie sich andere vergnügt machen, dafür danke ich!"
"Ich will ja mit dir tanzen, Anna!" bat Karl. "Versprich, daß du mitkommst!"
"Du bist mir der Rechte!" lachte Anna verdrießlich. "Wenn du einen Reihen mit mir tanzest, denkst du wunder, was du getan hast!"
"So tu ihm und deiner Schwester den Gefallen, Anna!" mischte sich auch Fritz ein. "Ich werde auch mit dir tanzen!"
"Sie?" rief Anna und machte große Augen. "Nein, Herr Lehrer, das ist nicht schön von Ihnen, daß Sie Spott mit mir treiben!"
"Spott – ich? Was fällt dir ein?"
"Ach, sei'n Sie still!" sagte das Mädchen gekränkt. "Haben Sie jemals einen Tanzboden betreten oder mit einem Bauernmädchen getanzt?"
"Was schadet das?" entgegnete Fritz leicht errötend. "Dann hole ich eben das Versäumte nach!"
"Ja, wer's glaubt!"
"Warum dieses Mißtrauen?"
"Weil – ach, ich kann's ja sagen! – weil Sie stolz sind und uns Bauernmädchen verachten!" rief Anna aufspringend und die leeren Blattscheiden in die Tiefe verstreuend. Fast wie im Trotz gegen sich selber fuhr sie fort: "Ja, ist's nicht so? Wir Bauernmädchen sind Ihnen zu gering; Sie mögen bloß mit Vornehmen umgehen!"
"Anna!" rief Margaret verweisend. "Schämst du dich nicht, dem Herrn Lehrer so unartig zu kommen?"
"Und ist's nicht die Wahrheit?" entgegnete Anna trotzig.
"So laß es gut sein!" sagte Fritz. "Ich will mich bessern; übe Gnade gegen mich; versprich, daß du heut abend mit mir tanzen willst!"
Eben klang volles, melodisches Geläute von Bergheim herauf. Anna, die sich abgewendet hatte, rief hastig: "Margaret, wahrhaftig es läutet schon das erste – und sieh', von Sülzdorf, Buchbach und Windsberg kommen auch schon Kirchenleute! Komm, wir müssen eilen, daß wir heimkommen!"
"Nun, nun, bis zum Beginn des Gottesdienstes habt ihr noch lange Zeit; warum auf einmal so hastig?" sagte Fritz und trat neben das Mädchen an den Felsenhang.
Anna schlug hastig ein Tuch über den Kopf und huschte zwischen die Büsche.
"Anna – Anna! – was ist das einmal wieder? So warte doch, ich komme ja auch gleich!" rief ihr Margaret nach und machte sich von Karl los. "Ja, und was ich sagen wollte: geht uns nicht gleich nach, die Leute sind so arg schlimm, das gäbe wieder ein Gerede!"
Margaret konnte Anna lange nicht einholen. Wäre nicht ihr eignes Herz so voll gewesen, die Veränderung der Schwester wäre ihr gewiß aufgefallen. Das Köpfchen gesenkt, die sonst so fröhlich in die Welt lachenden Augen auf den Boden geheftet, die frischen Lippen fest geschlossen, schritt Anna nachdenklich dahin. Sie war sich selbst zum Rätsel geworden; warum klopfte doch das Herz so heftig, warum stieg es ihr so heiß in die Wangen, gedachte sie des abendlichen Tanzes? – Plötzlich zuckte sie zusammen. Hier auf dieser Stelle hatte sie vor wenig Minuten Margaret gefragt: was ist das mit der Liebe? Sie gedachte an Margarets Antwort; war das, was sie so mächtig bewegte, am Ende auch Liebe? – In jungfräulicher Scheu verhüllte sie ihr Gesicht tief in ihr Tuch; ihr war, als müsse sie sich vor sich selbst verbergen; ohne ein Wort zu sagen, eilte sie plötzlich leichtfüßig wie ein Reh den Berg hinab.
Margaret rief ihr vergeblich nach und schüttelte den Kopf über das wunderliche Wesen der Schwester.
Droben auf dem Kulm, in halber Höhe des Berges, gerade über dem Dorfe, hatte sich auf der kleinen Ebene vor dem Tannenwald eine bunte, fröhliche Gesellschaft zusammengefunden. In malerischer Unordnung standen, saßen und lagen Männer, Burschen und Knaben umher, machten es sich im weichen Moos bequem und freuten sich des schönen, arbeitsfreien Festmorgens, dem noch ein langer, freudenreicher Tag und Abend folgen sollte, blickten hinein in die grüne Welt und lauschten den lustigen Tanzweisen. Harmlose Heiterkeit belebte die Versammelten, muntere Scherze und Neckereien wurden lebhaft belacht.
Mit aufrichtiger Freude begrüßten besonders die Musikanten den Lehrer Reinhardt, als er mit dem Beckenkarl, vom Steinschrot kommend, den Platz betrat. Der Blümlesschuster, so genannt wegen seiner leidenschaftlichen Blumenliebhaberei, ein noch junger Mann, drückte ihm treuherzig die Hand und sagte: "Das lass' ich mir gefallen, Herr Lehrer, daß Sie Ihre Musikanten auch einmal außer Dienst aufsuchen! Sind schon so lang' in Bergheim und noch fast fremd unter den Nachbarn!"
"Und den Tanzboden kennen Sie noch gar nicht!" fiel der lustige Drechslersludwig ein. "Das ist nichts, Herr Lehrer! Eh' Sie nicht ein Paar Stiefelsohlen bei uns durchgetanzt haben, eh' sind Sie kein rechter Bergheimer!"
"Ja, He' Schulmeiste'," meinte der alte Bergkasper, der das R nicht aussprechen konnte, "und unte' unse'n Mädlen müssen Sie sich auch einmal umgucken! Sind Staatsmädle drunte! Da ist die Dockenline und die He'nbaue'sanne und – –"
"Schon gut, Kasper!" lachte Fritz und schüttelte dem Alten die Hand. "Ich will gleich heute abend den Anfang machen. – Ja, ja, es ist mein Ernst!" rief er, als sich Männer und Bursche um ihn drängten; "laßt mich nur wieder zu Atem kommen!"
"Heda, ist das auch eine Art, daß ihr den Musikanten die Kehlen so austrocknen laßt?" unterbrach ihn Karl und zog ein Geldstück aus der Tasche. "Wer gibt noch was, daß wir einen Gießer Bier holen lassen?"
"Karl, was machst du?" sagte Fritz. "Wenn das der Pfarrer erfährt?"
"Was da Pfarrer!" fiel der Beckenbauer ein. "Der hat uns nichts zu befehlen. Ist ein alter Brauch, daß am zweiten Feiertag die Musik auf dem Berg bläst, daran soll er nicht rütteln."
Fritz schwieg achselzuckend und blickte bedenklich hinab in das Dorf und nach dem Pfarrhaus, ihm ahnte nichts Gutes. Richtig kam auch soeben die Pfarrmagd aus den Hecken der Gärten hervor und keuchte eilfertig den Berg hinan. Die Musik brach ab, die Männer traten zusammen und erwarteten finster das Mädchen.
"Der Herr Pfarrer verbieten die Musik und den sündlichen Lärm am heiligen Feiertag!" rief sie schon von weitem. "Der Herr Pfarrer befehlen den Musikanten, daß sie sogleich nach Hause gehen; wer nicht im Augenblick den Platz räumt, der wird sehen, was ihm geschieht!"
"Das ist starker Tabak!" meinte der Drechslersludwig. "Sollen wir uns das gefallen lassen?"
"Der Pfarrer hat uns nichts zu befehlen!" schrie der Blümlesschuster, und die Gesellschaft kam in Bewegung. Da drängte sich der Beckenbauer, Karls Bruder, vor, gebot Ruhe und rief der Magd zu: "Sag' deinem Herrn: er wär' der Pfarrer und ich der Beckenjörg von Bergheim! Sag' ihm: Der Beckenjörg ist in seinem Haus immer zu finden, wenn er was mit ihm auszumachen hat, aber heimschicken wie einen dummen Jungen läßt er sich nicht! Ich weiß auch, was sich schickt am Feiertag, ich kann Unfug so wenig leiden als der Pfarrer, drum sag' ich, wir bleiben zusammen! Den will ich sehen, der uns vertreibt! Was auch geschieht, ich verantwort's, ich, der Beckenbauer! Geh, sag' das deinem Herrn! Und nun aufgespielt, ihr Musikanten, auf meine Verantwortung!"
Die schnippische Entgegnung der Magd schnitt die losschmetternde Musik ab; von Hohn- und Scheltreden verfolgt, trat sie den Heimweg an. Vorbei war es mit der harmlosen Festfreude. Die ernsten Männer, der Beckenbauer, Ungerskasper, der Bergjörg schauten finster drein, der Paulesnikel wackelte mit dem Kopf und knurrte unverständliche Worte in sich hinein. Der Veitenbauer schalt schon laut auf den Pfarrer, und der Wagnerspaule, ein schmächtiges Männchen, dessen tiefliegende Augen unter den buschigen Brauen lauernd hervorblitzten und rastlos umherirrten, ließ sein kurzes, spitzes, höhnisches Lachen vernehmen und versicherte: so sei es ganz recht, so müsse es kommen, solle es besser in der Welt werden! Zuletzt würden ja doch auch den Dummen die Augen aufgehen, sie würden die Plackerei satt bekommen und einsehen, daß sich's ohne Pfarrer und Religion viel schöner leben lasse. Das empörte nun wieder den frommen Uhrmacherle. Er schrie Zeter über solche Lästerungen und rief Gottes Fluch und Strafgericht auf die Spötter, Sünder und Ungläubigen herab. Parteien traten zusammen und schalten heftig gegeneinander, das übermütige Jungvolk lärmte und grölte aus Leibeskräften, und die Musik brach fast nicht mehr ab. Fritz war tief verstimmt über diese häßliche Störung; als nun auch noch der Biergießer erschien, wendete er sich still zum Gehen.
"Holla – was soll das heißen?" rief ihm Karl nach. "Niemand darf jetzt den Platz verlassen, du gar nicht!"
"Herr Lehrer, Sie werden mir doch das nicht tun?" fiel der Beckenjörg ein, und der Wagnerspaule lachte: "'s Herz ist ihm in die Hosen g'fallen! Laßt ihn doch, das ist doch auch so ein Pfarrknecht und Heiligenfresser!"
Fritz kehrte um und sagte: "Ich will nicht verhehlen, daß mir die Art und Weise, wie hier dem Pfarrer Trotz geboten wird, durchaus nicht gefallen kann. Das Verlangen des Pfarrers war ungerecht, unser fröhliches Zusammensein entheiligte den Festtag nicht. Darum war es in der Ordnung, sein Begehren abzuweisen. Fahrt ihr aber so fort zu lärmen und zu toben, wie ihr angefangen, dann muß allerdings für die stillen Leute im Dorf, für die fremden Kirchgänger unser Zusammensein ein Ärgernis werden, und der Pfarrer kann sich mit Recht über Störung beklagen. Ich aber will meinem Gegner nicht selbst die Waffen in die Hände drücken – darum entferne ich mich!"
"Das ist 'ne vernünftige Red'!" rief der Beckenbauer. "Ruhe jetzt und Ordnung! wir dürfen dem Pfarrer nicht den Beweis liefern, daß er uns mit Recht für dumme Jungen achte! Ruhe und Ordnung, sag' ich! wer noch einmal juchzt, dem schlage ich alle fünf Finger hinter die Ohren! Und nun bleiben Sie bei uns, Herr Lehrer, nicht wahr?"
"Gerne!" war die freundliche Antwort. "Aber, wie ich sehe, haben die Musikanten ihre Notenhefte mitgebracht – ei, das ist schön! Eure Tänze kennen wir alle auswendig – kommt, spielt uns etwas Ordentliches, ich werde dirigieren! Wer läuft in die Schule und holt unsere Liederbücher? Denkt doch, wie schön ein vierstimmiger Gesang in das Dorf hinabklingen muß!"
Der Vorschlag fand Beifall, die Ruhe und Ordnung kam von selbst, als nun wirklich ein sanftes, getragnes Musikstück begann. Fritz sang mit seinen Musikanten ernste und heitere Lieder, zuletzt: Dies ist der Tag des Herrn.
"So, damit mag es heute genug sein!" sagte er, als nach Schluß des Gesanges vom Turm das zweite Zeichenläuten ertönte. Davon wollte die Versammlung durchaus nichts wissen, aber Fritz blieb fest auf seinem Willen: "Wir dürfen dem Pfarrer nicht Veranlassung zu Beschwerden geben, darum muß wenigstens die Musik den Platz verlassen." Als die Choradstanten zögerten, fuhr er fort: "Ich habe nie den Vorgesetzten gegen euch herausgekehrt, war euch gefällig, wo ich konnte; darum dürft ihr meine erste Bitte nicht abschlagen. Ihr Musikanten, geht jetzt mit mir still ins Dorf zurück und rüstet euch, in der Kirche einen Choral zu blasen. Ihr geht jetzt mit – soll ich euretwegen Ungelegenheiten haben?" Das wirkte. Der Wagnerspaule schien mit seinem Anhang allerdings den Platz behaupten zu wollen; ohne Musik mochte es aber den Männern doch auch langweilig auf der Höhe werden, in kurzer Zeit war der Berghang leer.
Fritz schritt nachdenklich die Dorfstraße hinab; die Vorgänge dieses Morgens erregten die widersprechendsten Empfindungen in ihm. So hätte er fast den Pfarrer übersehen, der in dem zum Pfarrhaus führenden Baumgang neben der Gartentüre stand und ihn heftig zu sich winkte. Ihm mochte Fritz zu langsam gehen; er stieß hastig die Gittertüre auf, eilte ihm einige Schritte entgegen und rief, ohne seinen Gruß zu beachten: "Was muß ich von Ihnen erleben? Auch Sie, ein christlicher Schullehrer, nehmen teil an dieser gottlosen Sabbatschändung? Statt mit einem guten Beispiel in allen Dingen der Gemeinde voranzugehen, machen Sie diesen sündlichen Unfug durch Ihre Gegenwart erst recht zu einem Ärgernis für alle Gutgesinnten? Herr, ich warne –"
"Herr Pfarrer," unterbrach Fritz den Eifernden, "wenn Sie mir eine Mitteilung zu machen haben, dürfte die Straße wohl kaum der geeignete Ort sein. Im übrigen feiern wir auch heute den zweiten Pfingsttag! Guten Morgen!" Ohne sich nach dem Überraschten umzusehen, eilte er seiner Wohnstube zu.
In seiner Wohnstube riß Fritz die Fenster auf, bog sich weit hinaus und sog in tiefen Zügen die frische Morgenluft ein.
Leise rauschte und flüsterte das Laub der Kastanie vor dem Haus, im Schloßgarten drüben schlugen Grasmücken und Finken, von den Fliederbüschen und Narzissen im Garten, wehten würzige Düfte herein, fröhlicher Sonnenschein lachte ins Zimmer – Fritz war wieder auf dem Steinschrot, die Vöglein sangen, die Büsche rauschten, ein Paar wunderbar tiefe Augen leuchteten auf ihn nieder, die Maiglöckchen dufteten und läuteten sanft verhallend den Frieden ein. Er betrachtete sinnend das Sträußchen, das ihm Anna gegeben. Als er es in seinem Wasserglas auf seine Kommode stellen wollte, fiel sein Blick auf eine Photographie, von der ihm ein hübsches Mädchengesicht fröhlich entgegenlachte. Fritz strich sich über die Stirn, stellte das Sträußchen auf den Ecktisch und trat an das offene Fenster.
Eben sah er durch die offenen Schallfenster, wie sich droben im Turm die Glocken in Bewegung setzten; einzelne Schläge der Klöppel machten die Glocken erzittern, bald brauste das volle Geläute herab; und die Luft über dem Dorf, der Sonnenschein selbst, der so golden auf Baum und Busch, Haus und Garten glänzte, auf den goldenen Buchstaben der Kreuze droben im Friedhof brannte, schien mitzuschwingen und mitzuklingen.
Droben auf dem Friedhof wandelten Kirchgänger zwischen den Kreuzen und hölzernen Gedenktafeln umher, im Schloßgarten, auf der Dorfgasse, unter der Planlinde standen Gruppen geputzter Menschen. Die seidenen Tücher und Schürzen der Mädchen rauschten und knitterten im Morgenwind, die frischen Farben leuchteten im Sonnenlicht. Wie ward es Fritz so wohl, als er, von feierlichen Glockentönen umwallt, hineinblickte in diese frischen Gesichter, den markigen Gestalten nachsah, die nun langsam den einladend geöffneten Türen des Gotteshauses zuschritten. Er stand ja freilich nicht mehr auf dem Boden ihres Glaubens, aber was wollte dieser Unterschied besagen? Strebten sie nicht im letzten Grund doch dem einen und gleichen Ziele zu? Ja, er war nicht einsam, ihn trennte nichts von den Gläubigen da unten; wenn auch sein Glaubensbekenntnis anders lautete, er war auch ein Glied der großen Gemeinde, die heute auf dem Erdball das Pfingstfest feierte! Ein Schauer überrieselte ihn, er empfand die Herrlichkeit der Gemeinschaft.
Der Schauer überkam ihn stärker, als er das dichtgefüllte Gotteshaus betrat; lebendige Liebe quoll auf in seinem Herzen. Mit freudigem Stolz griff er in die Tasten der Orgel, aus voller Seele konnte er einstimmen in den brausenden Gemeindegesang: Komm, heil'ger Geist, erfüll' die Herzen deiner Gläubigen!
Der letzte Hauch der Orgel verhallte – der Geistliche stand auf der Kanzel. Nach langem Gebet verlas er das Evangelium auf den zweiten Pfingsttag: Ev. Joh. 3, 16–21.
Wie linder Frühlingshauch legten sich diese Worte der ewigen, erbarmenden Liebe in das Herz des Jünglings. Das war keine Verurteilung und Verdammung, keine Trennung und Scheidung. Nicht gerichtet, selig soll die Welt werden! " Wer die Wahrheit tut; der kommt an das Licht, denn seine Werke sind in Gott getan!"
Wie wurde aber dem Lehrer, als der Geistliche an diesen Text eine donnernde Strafrede gegen den einreißenden Unglauben knüpfte!
Fritz wollte sich zwingen, nicht mehr auf den Pfarrer zu hören, allein es gelang ihm nicht, die scharfe Stimme des Predigers übertönte jeden eignen Gedanken. Und während der Prediger immer heftiger eiferte, zürnte und schalt, lag der Sonnenschein golden auf Feld und Flur, Schmetterlinge umgaukelten bunte Blüten, Vögel tummelten sich in den Zweigen, vom Kulm grüßten dunkelgrüne Tannen heran und lockten in ihre stille Schattendämmerung, vom Steinschrot kamen Bursche und Mädchen fröhlichen Herzens herab –
Endlich war der Gottesdienst zu Ende; die Zuhörer verließen aufatmend, wohl auch leise Bemerkungen wechselnd, die Kirche, nur Fritz saß noch auf der Orgelbank. Die erhabenen Akkorde des alten Meisters, die unter seinen Fingern lebendig hervorquollen, hoben seinen Geist in wunderbare Welten voll Licht und Seligkeit.
– – "Sie sollen gleich zum Herrn Pfarrer in die Sakristei!" überschrie der Uhrmacherle, der das Amt eines Klingelmeisters bekleidete, die Orgel. Fritz fuhr zusammen, mit grellen Mißtönen brach das Orgelstück ab. Langsam schob der Lehrer die Registerzüge zurück, verschloß die Orgel und schritt durch die hallende Kirche nach der Sakristei.
Der Pfarrer mußte seinen Eintritt überhört haben, er blieb über den Tisch gebeugt und zählte eifrig die Einlage in den Klingelbeutel. Fritz begann endlich stockend: "Herr Pfarrer, ich habe Ihnen heute morgen vielleicht heftiger als schicklich geantwortet, ich –"
"Schon gut!" unterbrach ihn der Pfarrer. "Schweigen Sie, bis wir allein sind!"