Frostfeuer - Kai Meyer - E-Book

Frostfeuer E-Book

Kai Meyer

0,0

Beschreibung

Wo Nacht und Norden enden …  Seit Anbeginn der Zeit herrscht die Schneekönigin über die weiße Öde am Rande der Welt. Kalt ist ihr Reich und aus Eis ihr Herz. Doch dann wagt die junge Magierin Tamsin Spellwell, was keiner zuvor je gewagt hat – sie raubt einen Zapfen vom Eisherzen der Schneekönigin, um die Macht der Tyrannin zu brechen. In Sankt Petersburg, im eisigsten Winter seit Menschengedenken, treffen die beiden erneut aufeinander. Ein fantastisches Zauberduell entbrennt. Doch nicht Magie bestimmt die Siegerin, sondern der Mut des Mädchens Maus. 

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Frostfeuer

Kai Meyer

Copyright © dieser Ausgabe 2025 by

Text © by Kai Meyer

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Layout Ebook: Stephan Bellem

Satz: Corinna Götte & Astrid Behrendt

Umschlag- und Farbschnittdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-665-3

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Einführung

Prolog

Das Kapitel,

Das Kapitel,

Das Kapitel

Das Kapitel,

Das Kapitel,

Das Kapitel

Das Kapitel,

Das Kapitel

Das Kapitel

Das Kapitel

Das Kapitel,

Das Kapitel

Das Kapitel,

Das Kapitel

Das Kapitel,

Das Kapitel

Das Kapitel

Das Kapitel,

Das Kapitel

Das letzte Kapitel

Drachenpost

»Die meisten Menschen glauben, dass die besonders großen Schneeflocken die schönsten sind; sie sind groß genug, dass wir mit bloßem Auge etwas von ihrer Schönheit erkennen können. In Wahrheit aber sind sie meist unvollkommen. Die eindrucksvollsten Eiskristalle sind die kleinsten.«

Wilson A. Bentley, Eisfotograf, 1925

Prolog

W o Nacht und Norden enden, liegt über Nebeln die Feste der Schneekönigin. Niemand hat ihr eisiges Reich je vermessen. Keiner geht ohne guten Grund dorthin. Und kaum jemand ahnt, dass ihr Palast auch heute noch dort steht, auf der letzten und höchsten aller Klippen, wo Stein und Eis zu Ewigkeit verschmelzen.

Die Schneekönigin ist alt, aber keiner weiß, wann sie zum ersten Mal die eiskalten Öden durchstreifte. Aus Wind und Frost und Zauber erbaute sie ihren Palast, und noch heute winseln die Stürme um Gnade, wenn sie sich in den endlosen Gängen und Hallen verirren. Schnee treibt durch die verwinkelten Kammern, ohne jemals den Himmel zu sehen. Und selbst das Sternenlicht des Anbeginns ist hier eingeschlossen, in Türmen aus Eiskristall und in den tödlichen Augen der Königin.

* * *

Vor Jahren, die heute wie viele erscheinen, in Wahrheit aber nur ein Blinzeln in der Lebensspanne des Palastes bedeuten jagte ein Schneeadler durch das Labyrinth der Säle und Klüfte. Er war kein gewöhnlicher Adler, aber das wussten nur er selbst und jene eine, deren hasserfüllter Blick ihm folgte. Er hatte gestohlen, was ihr das Teuerste war.

In seinen Krallen, überzogen von glitzerndem Raureif, trug er einen Zapfen aus Eis – einen Zapfen vom Herzen der Schneekönigin.

Wer so alt und kalt und schlau ist wie die Herrin des Nordlandes, der trägt sein Herz nicht in der Brust. Ein Herz kann selbst die schwärzeste Seele wärmen – manchmal, wenn sogar die Schlechtesten nicht damit rechnen –, und auch jenes der Königin hätte wohl dann und wann Freude empfunden oder in einem seltenen Glücksmoment schneller geschlagen.

All dem aber hatte die Königin vorgebeugt. In ihr war stets nur Kälte gewesen. Schon vor vielen Zeitaltern hatte sie sich das Herz aus der Brust gepflückt und bewahrte es seither in einer Kammer ihres Palastes auf, unbehelligt von menschlicher oder magischer Regung.

Niemandem war es je gelungen, einen Blick darauf zu werfen – bis zu jenem Tag, an dem der Schneeadler durch einen Spalt im Eis der Feste flog, sich auf dem Herzen der Königin niederließ und einen Zapfen davon abbrach. Der Schmerz, den dieser Diebstahl ihr verursachte, war rasch verflogen. Doch im selben Moment, da der Zapfen von ihrem Herzen splitterte, verlor sie einen Großteil ihrer Macht. Selbst ein Wesen wie sie hat eine schwache Stelle, und diese war, wie sie nun erkannte, ihr eigenes eisiges Herz.

Sogleich rief sie ihre grausamen Diener herbei, um den Adler einzufangen und den Zapfen zurück an seinen Platz zu bringen. Aber auch sie bekamen den Vogel nicht zu fassen.

Mit ausgebreiteten Schwingen fegte er durch die Hallen und verschlungenen Gänge. Manches Mal erschrak er, wenn sein Spiegelbild auf blankem Eis an ihm vorüberhuschte oder wenn Lawinen aus Schnee durch die Korridore tobten und mit Kristallkrallen nach ihm schlugen.

Endlich aber fand der Adler zurück zu dem Spalt, durch den er in das Allerheiligste der Königin eingedrungen war, und mit ihm entkamen die gefangenen Stürme hinaus in die Freiheit der Nordlandödnis.

Nebel wogte um die Steilwand aus Eis, die unter ihm mit dem Rand der Klippe verschmolz. Tiefer hinab konnten selbst seine Adleraugen nicht spähen: Was immer von jenseits der Nacht gegen die Felsen brandete, ein Meer war es nicht. Vielleicht das Ende der Welt; oder ein Rest von dem, was vor ihr war; oder gar das, was noch kommen mochte, nach dem Abschied aller Tage.

Der Schneeadler schlug einen Haken und glitt landeinwärts, getragen von den entfesselten Winden, die ihn aus Freude über ihre Freiheit schneller über die weiße Wüste trugen als je einen anderen Vogel zuvor.

Am Boden blieben die verschneiten Dächer einer Stadt zurück, die sich an die Felsen der Festung krallte, gekrümmt, gebuckelt, in Demut und Furcht vor der Herrin. Der Adler wusste, dass ihn Augen von dort unten beobachteten, verborgen im Schatten dicker Fellkapuzen, Menschen, die wussten, was er getan hatte, und dankbar dafür waren.

Pfeilschnell schoss er über die gefrorene Einöde. Einmal glaubte er, einen furchtbaren Aufschrei hinter sich zu hören, halb wahnsinnig vor Zorn und Rachsucht. Aber er blickte nicht zurück zum Schloss, denn er fürchtete, das Gesicht der Königin zu sehen, hoch droben über den Zinnen und Türmen, geformt aus Schneetreiben und dem Nachtschwarz am Rande der Welt.

Den Zapfen ihres Herzens hielt er fest in seinen Krallen, flog, so schnell er konnte, weit, weit, weit ins Land hinaus, gen Süden dem Zarenreich entgegen, dorthin, wo er verschnaufen und sich selbst und den Zapfen verbergen konnte.

Unterwegs verwandelte sich der Adler zurück in eine Frau mit blauem Haar, die ihre Reise auf einem Schlitten fortsetzte. Neben ihr standen ein Koffer und ein Regenschirm. Sie schaute noch immer nicht über ihre Schulter. Sie ahnte, dass sie verfolgt wurde.

Ein weiter Weg.

Eine seltsame Frau.

Und der Beginn einer wundersamen Geschichte.

Das Kapitel,

in dem die wahre Heldin dieser Erzählung noch gar nicht auftritt

Sankt Petersburg, Hauptstadt des Zarenreiches

1893

Der alte Mann saß auf einer Bank vor dem Winterpalais und fütterte die Schneeflocken.

Neben ihm lag ein kleiner Lederbeutel, aus dem er dann und wann eine Hand voll silbrigen Staubes hervorzog und mit einem leisen, glücklichen Lachen vor sich in die Luft streute. Die wattigen Flocken, die seit Tagen ununterbrochen aus dem grauen Himmel fielen, schwärmten sogleich aus allen Richtungen herbei und ballten sich um die glitzernde Wolke. Wenn sie am Boden ankamen, war der Staub verschwunden. Die Schneeflocken hatten ihn aufgezehrt.

Der Mann war groß und von bulliger Gestalt, trotz seines hohen Alters. Niemand hätte gewagt, den freien Platz neben ihm auf der Bank zu beanspruchen. Man sah nicht viel von seinen wettergegerbten Zügen, denn er verbarg sie hinter einem buschigen Vollbart, so hell wie der Schnee in der nördlichen Taiga. Seine Augen inmitten verwitterter Faltensterne strahlten in einem kristallenen Blau.

Der Mann trug einen Mantel aus Bärenfell und eine mit Schnee gepuderte Mütze, doch schien er auf beides kaum Wert zu legen: Der Mantel stand offen, die Kopfbedeckung war nachlässig verrutscht. Die Kälte konnte ihm nichts anhaben.

»Guten Tag, Väterchen Frost.«

Der Mann blickte auf. Für einen Augenblick schwand sein Lächeln, weil jemand es wagte, ihn bei der Fütterung der Flocken zu stören. Dann aber erkannte er die Frau, die ihn angesprochen hatte. Sein Lächeln kehrte zurück.

»Lady Spellwell?«, fragte er. »Tamsin Spellwell?«

Eine Frau war aus dem Schneetreiben getreten wie ein kunterbuntes Gespenst. Ihr zinnoberfarbener Mantel reichte bis zum Boden. Die Schuhe, die darunter hervorschauten, waren spitz wie Stoßzähne – und violett lackiert. Auf dem Kopf trug sie einen viel zu großen Zylinder aus Filz, zusammengeschoben wie eine Ziehharmonika, als hätte jemand darauf gesessen. Ein farbenfroher Schal war mehrfach um ihren Hals geschlungen und dennoch so lang, dass die Enden fast bis zum Boden baumelten.

Regenbogenbunt war auch der geschlossene Regenschirm, den sie in einer Hand hielt. In der anderen trug sie einen abgegriffenen Lederkoffer.

Vor der Bank blieb sie stehen und deutete mit einem Nicken auf den freien Platz, »Darf ich?«

Väterchen Frost verschloss den Beutel und ließ ihn unter seinem Mantel verschwinden. »Es ist lange her, seit es jemand gewagt hat, sich neben mich zu setzen.«

Tamsin nahm Platz, schob den Regenschirm durch den Griff des Koffers und stellte beides neben sich auf eine Schneewehe. Dann legte sie ihre Hände mit den klobigen Fausthandschuhen in den Schoß. Unter ihrer verbeulten Hutkrempe lugten ein paar veilchenblaue Locken hervor wie die Spitzen exotischer Vogelfedern.

»Wissen diese Menschen, wer du bist?« Sie deutete auf die wenigen Fußgänger, die bei diesem Wetter mit tief gesenkten Gesichtern den Platz vor dem Palais überquerten. Hinter Vorhängen aus Schnee glitten Pferdeschlitten vorüber. Niemand nahm Notiz von den beiden sonderbaren Gestalten auf der Bank.

Der bärenhafte Alte schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Sie spüren etwas, das sie von mir fernhält. Aber sie erkennen die Wahrheit nicht. Einst war das anders.«

Tamsin glaubte, den Geruch von Wodka in seinem Atem zu riechen. Dunkle Zeiten, dachte sie, wenn selbst der Herr des russischen Winters der Vergangenheit nachtrauert.

»Danke, dass du meinen Ruf erhört hast«, sagte sie.

»Dein Vater war ein Freund.« Väterchen Frost zögerte kurz. »Es tut mir leid, was geschehen ist.«

Sie wollte nicht über das Ende ihres Vaters sprechen. Seit dem Tode Master Spellwells war noch nicht genug Zeit verstrichen. »Wie lange schneit es schon so stark?«

Väterchen Frost blickte zum Himmel. »Seit ein paar Tagen. Und bevor du fragst: Nein, ich habe nichts damit zu tun. Und ich kann es nicht ändern.«

Sie fluchte leise. Ihr fiel nur ein einziger Grund ein, warum Sankt Petersburg von solchen Schneefällen heimgesucht wurde.

»Hast du ihn dabei?«, fragte er unvermittelt. »Den Herzzapfen der Schneekönigin?«

Sie nickte, machte aber keine Anstalten, ihn unter ihrem Mantel hervorzuziehen. Sie spürte seine Kälte an ihrer Brust. Je länger sie ihn bei sich trug, desto schmerzlicher war die Vorstellung, sich wieder davon trennen zu müssen.

»Ich will ihn nicht«, sagte der alte Mann. »Ich weiß, dass du deshalb hergekommen bist.«

Sie schloss für einen Moment die Augen, enttäuscht, verzweifelt. »Wem sonst könnte ich ihn geben?«

»Für wen hast du ihn denn gestohlen?«

»Mein Vater und ich sind vor ein paar Monaten von einer Gruppe Revolutionäre angeheuert worden, oben im Reich der Königin. Sie planen seit Jahren einen Umsturz. Sie wussten, dass nur jemand wie mein Vater das … Talent besitzt, die Macht der Königin zu brechen.«

»Oder jemand wie du. Menschen mit ganz besonderen Fähigkeiten.«

Sie lächelte zum ersten Mal, seit sie neben ihm Platz genommen hatte. »Im Vergleich zu ihm bin ich nur ein Kind.«

»Ja.SeinKind.«

Ihr Lächeln wurde für einen Augenblick breiter. Dann verfinsterten sich ihre Züge wieder. »Ich hatte so gehofft, dass du mir den Zapfen abnimmst. Mir fällt niemand sonst ein, dem ich ihn anvertrauen könnte.«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Er würde mich verderben. So, wie er die Seele eines jeden vereist, der ihn zu lange bei sich trägt.« Ein Funkeln war plötzlich in seinen Augen, vielleicht war es Argwohn, vielleicht etwas ganz anderes. »Du magst recht damit haben, dass du ihn loswerden musst. Aber es gibt nur eine einzige Möglichkeit.«

Sie runzelte die Stirn. »So?«

»Bring ihn ihr zurück.«

Tamsin presste die Lippen aufeinander. Sie waren trocken und rissig von der bitteren Kälte. »Niemals«, sagte sie nach einem Augenblick.

»Aber du hast selbst schon daran gedacht, nicht wahr?«

»Nein«, log sie. »Mein Vater ist bei dem Versuch gestorben, ihn zu stehlen. Die Schneekönigin hat … sie hat ihn getötet.« Master Spellwells Körper war im Palast der Tyrannin zurückgeblieben; dort stand er als vereiste Statue in einem der zahllosen Eisdome, wo nur die Stille ihm Gesellschaft leistete.

Tamsins Unterlippe zuckte. »Lieber soll es mir ergehen wie ihm, als dass ich ihr den Zapfen freiwillig zurückgebe.«

Väterchen Frost lächelte milde und schob seine zitternde Rechte über ihre Hände. »Das sind tapfere Worte, Tamsin Spellwell. Wir sind uns nur einmal begegnet, und da warst du noch ein kleines Mädchen. Aber dein Vater hat schon damals gesagt, dass du großen Mut hast.«

»Bitte«, sagte sie eindringlich, »verwahr du den Zapfen.«

»Niemals.« Er zog seine Hand zurück und strich sich über den weißen Bart. »Dies ist jetzt allein dein Kampf. Und deine Entscheidung. Sag mir, wie alt bist du jetzt?«

»Fünfundzwanzig.«

»Du siehst jünger aus.«

»Kann das jemand beurteilen, der älter ist als die Berge und Wälder?«

Sein Lachen klang wie geraspeltes Eis. »Vielleicht nicht. Aber nimm trotzdem einen Rat von einem alten Narren an. Gib ihr den Zapfen zurück, bevor sie dich vernichtet. Was geht dich ihr Reich an – oder die Menschen, die dort in Knechtschaft leben?«

Tamsin schüttelte abermals den Kopf. Ihr Entschluss stand fest. Plötzlich war neue Kraft in ihr, flackerte empor wie Flammen aus kalter Kaminasche. »Du weißt, dass es nicht um ihr Reich geht. Nicht mehr.« Sie schwieg einen Moment. »Ist sie schon hier? In Sankt Petersburg?«

Er nickte. »Diesen Schnee hat sie mitgebracht. Die Flocken werden redselig, wenn man sie füttert.«

»Wo hält sie sich auf?«

Er sagte es ihr.

Tamsin rückte den zerknitterten Zylinder zurecht und erhob sich von der Bank.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte er.

»Ich sorge dafür, dass sie mich findet.«

»Und dann?«

»Nun – ich werde meinen Auftrag zu Ende bringen. Das ist das, was meine Familie schon seit vielen Generationen tut.«

»Und Rache nehmen für den Tod deines Vaters?« Er klang enttäuscht.

Tamsin nahm Regenschirm und Koffer, blieb aber vor ihm stehen. »Sie will den Herzzapfen zurück. Und sie weiß, dass nur ich ihn ihr geben kann. Also wird sie zu mir kommen.«

»Du willst ihr eine Falle stellen?«

Tamsin gab keine Antwort.

»Was für eine dumme, dumme Idee«, sagte er.

»Gehab dich wohl«, wünschte sie ihm zum Abschied.

»Warte!«

Sie wandte das Gesicht zu Boden, dann sah sie ihn an.

»Du solltest noch etwas wissen.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus, wie ein Erwachsener, der zu einem uneinsichtigen Kind spricht. »Dieser plötzliche Wintereinbruch, all der Schnee, diese Kälte … es hat mit ihr zu tun.«

»Und?«

»Du glaubst, sie bringt das alles mit sich, wie eine Schleppe aus Winterwetter, nicht wahr? Aber so einfach ist es nicht. Das hier ist eineandereArt von Kälte. Und nur ein Vorgeschmack.«

Tamsin blickte ihn fragend an.

»Seit du ihr den Herzzapfen gestohlen hast, schwindet ihre Macht«, fuhr er fort. »Die Kälte des Anbeginns, die vor der Welt da war, fließt aus der Königin heraus und beansprucht den Platz zurück, der einst ihr gehört hat.«

»Dann wird es schlimmer werden?«

»Viel schlimmer«, sagte er düster. »Nur wenn die Königin den Zapfen zurückbekommt und ihre alte Macht wieder herstellt, kann sie die Kälte in ihre Schranken weisen. Anderenfalls droht uns ein Winter, wie es noch keinen gegeben hat. Nicht einmal ich würde das lange überstehen.«

»Wie viel Zeit bleibt mir?«

»Um den Zapfen zurückzugeben und die Kälte aufzuhalten? Oder um die Königin zu vernichten?«

»Wie viel Zeit?«

»Ein paar Tage. Allerhöchstens.«

Tamsins Hand schloss sich fester um den regenbogenbunten Regenschirm. In ihrem zerbeulten Koffer bewegte sich etwas, rumorte ganz sachte.

»Ich danke dir«, sagte sie und ging.

Väterchen Frost zog traurig den Beutel hervor und fuhr fort, die Flocken mit vergessenem Zauber zu füttern.

Das Kapitel,

in dem wir dem Mädchenjungen Maus begegnen. Und dem gefährlichen Rundenmann

Wahr ist, dass Maus ein Mädchen war. Aber das wussten nur wenige. Die meisten hielten sie für einen Jungen. Und wenn Maus in einen Spiegel blickte, glaubte sie das manchmal sogar selbst.

Wahr ist auch, dass sie eine Diebin war. Wie von tausend Teufeln gehetzt, rannte sie durch die Korridore des ehrwürdigen Grandhotels Aurora. Der Mann, der sie verfolgte, war ihr dicht auf den Fersen. Kein guter Tag für Hotelzimmerdiebe. Nicht einmal dann, wenn sie ihre Diebereien mit so großem Geschick begingen wie Maus.

Die obere Etage des Hotels Aurora war für besondere Gäste reserviert. Nach vorn zum Boulevard hin, dem berühmten Newski Prospekt, lag die prunkvolle Zarensuite; eine Übernachtung darin kostete mehr, als Petersburgs einfache Bürger in einem Jahr verdienten. Maus eilte flink unter silbernen Leuchtern dahin, die elektrisches Licht verströmten. Die Spucknäpfe in den Ecken waren aus feinstem Porzellan. An den Wänden der Korridore standen schwere Kommoden aus Mahagoni. Spitzendeckchen flatterten im Zugwind, als Maus an ihnen vorüberjagte.

Manchmal blickte sie über ihre Schulter, um zu sehen, ob ihr Verfolger schon aufgeholt hatte. Aber noch hielt sie ihren Vorsprung. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ihm entkäme.

Maus trug eine Pagenuniform, die an mehreren Stellen geflickt war, wenn auch nicht so sehr, dass es einer der hoch geschätzten Gäste auf den ersten Blick bemerkt hätte. Hose und Jacke waren aus violettem Samt, besetzt mit schimmernden Schnallen und selbst genähten Schulterstücken aus goldenen Teppichfransen. Ihre Lackschuhe waren makellos geputzt – denn das war eine von Maus’ Aufgaben hier im Hotel Aurora: nachts die Schuhe aller Gäste vor den Türen einsammeln, sie in den Keller bringen, dort allesamt auf Hochglanz polieren und vor dem Morgengrauen wieder vor den Zimmern verteilen. Ohne ein einziges Paar zu vertauschen, versteht sich.

Dazu gehöre Talent, behauptete Kukuschka, der Eintänzer im Ballsaal. Dazu gehöre gar nichts, sagte Maus. Nur die Bereitschaft, nachts auf den Beinen zu sein und am Tag zu schlafen. Und nicht einmal das war eine Leistung, wenn einem keine andere Wahl blieb.

Die Schritte in Maus’ Rücken wurden lauter.

Gab es einen besonderen Grund, weshalb sie nach all den Jahren gerade heute erwischt werden sollte? Sie hatte am Abend ihren Teller mit dem, was die Gäste übrig ließen, leer gegessen und die Hänseleien der übrigen Pagen und Zimmermädchen stumm über sich ergehen lassen; sie hatte so getan, als würde sie nicht hören, dass sie alle über sie sprachen, und das nicht einmal heimlich. »Mädchenjunge«, lästerten sie. »Da geht der Mädchenjunge und stinkt nach alten Schuhen.«

All das hatte sie wie jeden Tag ertragen. Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen, wirklich nicht.

Außer vielleicht diesen winzigen Diebstahl. Nicht ihr erster, keineswegs, aber sie war ja auch bislang immer davongekommen.

Wieder schaute sie nach hinten. Der schwere Teppichboden verschluckte die Schritte ihres Verfolgers fast vollständig. Maus zog die goldene Brosche aus der Uniformtasche und umschloss sie fest mit der Faust. Die Tür des Zimmers war unverschlossen gewesen – nichtihrFehler, oder? –, und die Brosche hatte offen auf einem Haufen Kleider gelegen. Dabei wurde doch allerorts vor Dieben gewarnt, gerade in solch schlechten Zeiten. Hätte die Besitzerin nicht besser Acht geben können?

Nein, Maus traf nun wahrlich keine Schuld. Sie hatte nur die Einladung angenommen, das Ding in ihre Tasche zu stecken. Und passiert ist nun mal passiert. Verzeihung, gnädige Frau.

Es war eine Frage der Ehre, ihr Beutestück zu all den anderen im Keller zu bringen. Später jedenfalls. Vorerst musste sie das Ding loswerden. Und zwar an einem Ort, an den niemand sonst seine Nase steckte. Erst einmal weg damit, sodass es keiner bei ihr finden konnte. Schon gar nicht der Rundenmann, der seit einer Ewigkeit darauf aus war, sie auf frischer Tat zu ertappen. Keine Beweise, kein Diebstahl. Keine Strafe für Maus.

Der Gang lag schier endlos vor ihr und war nur mit zwei einsamen Kommoden möbliert. Alle Schubladen waren zugeleimt. Die einzige Tür im ganzen Korridor führte zur Zarensuite. Es gab einen Spucknapf, sogar mit Goldrand, aber das war ein miserables Versteck.

Maus schwitzte, und das nicht nur vom Rennen. Allmählich wurde die Lage ernst. Der Rundenmann versuchte schon lange, sie zu überführen. Er würde sie am Schlafittchen durch die Korridore zerren und triumphierend dem Concierge in der Eingangshalle präsentieren: »Hier, eine Diebin! Der Mädchenjunge!« Und dann, ja dann würde man sie aus dem Hotel werfen, hinaus in die Kälte der russischen Winternacht. Ohne einen Ort, an dem sie unterkriechen konnte. Ohne eine einzige Kopeke, um davon ein Stück Brot oder heißen Tee zu kaufen.

Ganz zu schweigen von demanderen,das sie dort draußen umbringen würde.

Maus musste handeln. Schleunigst. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, die Brosche zu verschlucken. Aber das Ding war größer als ihr Daumen und wurde mit einer Anstecknadel befestigt. Keine gute Idee.

Sie hatte ein Drittel des Korridors hinter sich gebracht, als der Schatten des Rundenmanns an der letzten Biegung auftauchte. Der Eingang der Zarensuite, genau in der Mitte des Flurs, war ein prachtvolles Portal, mit kunstvollen Säulen zu beiden Seiten und dem Relief eines brüllenden Bären oberhalb der Tür.

Davor standen zwei Paar Schuhe.

Bis hierher war Maus auf ihrer heutigen Sammeltour noch nicht gekommen. Ihr Wägen, auf dem sie die Schuhe der Gäste – oft hundert Paar und mehr pro Nacht – durch die Gänge schob, stand eine Etage tiefer.

Maus war seit mehreren Jahren für die Schuhe der Hotelgäste zuständig. Sie kannte sich aus mit Formen, Größen, Ledersorten. Doch solch merkwürdige Exemplare hatte sie in ihrem Leben noch nicht gesehen.

Das eine Paar waren zwei kostbare Damenschuhe, sehr filigran gearbeitet, mit hohen Hacken und aus einem Material, das wie Kristall aussah.

In schroffem Gegensatz dazu stand das andere Paar. Zwei alte Lederschuhe, flach und schmucklos, wie die Straßenjungen sie trugen, die am Kücheneingang um Essensreste bettelten. Das Seltsame daran war ihr Zustand – sie sahen aus, als hätte ein Tier darauf herumgekaut, nachdem sie ungefähr ein Jahr lang bei Wind und Wetter im Wald gelegen hatten.

Maus blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Einer Eingebung folgend stopfte sie die Brosche in einen der beiden zerlumpten Lederschuhe – etwas warnte sie davor, das Kristallpaar zu berühren , bevor sie sich nach ihrem Verfolger umblickte. Der Rundenmann war noch immer nicht in Sichtweite. Einen Augenblick lang bekam sie eine Gänsehaut, und erst in dem Moment wurde ihr bewusst, wie ungewöhnlich kalt es hier war. So als läge hinter der Tür keine beheizte Suite, sondern der zugeschneite Boulevard mit seinen tanzenden Windhosen aus Eiskristallen.

Sie sprang auf und rannte weiter, ließ Zarensuite, Schuhe und Brosche hinter sich. Sie erreichte die nächste Ecke, wollte schon aufatmen – und lief dem Rundenmann geradewegs in die Arme.

Er packte sie unter den Achseln, hob sie mühelos vom Boden und wartete, bis sie aufgehört hatte zu strampeln. Ihr Gesicht war nun auf einer Höhe mit seinem.

»Maus«, sagte er nur. Die Art und Weise, wie er ihren Namen betonte, legte nahe, dass nun ihr letztes Stündlein geschlagen hatte.

Er war der Wachmann des Hotels. Jede Nacht zog er allein seine Runden durch das Aurora, genau wie Maus, und niemand wusste, wie sein wirklicher Name lautete.

Er war groß – fast doppelt so hoch wie Maus –, und seine Schultern schienen ihr so breit wie der Korridor zu sein. Seine Hände waren wie Schaufeln und offenkundig nur dazu gemacht, Dieben wie ihr den Kopf abzureißen. Er hatte ein flaches Riesengesicht, dessen Wangenknochen so weit auseinander lagen, dass Maus sie von nahem nur aus beiden Augenwinkeln sah: Seine groben, wie aus Fels gehauenen Züge nahmen ihr gesamtes Blickfeld ein.

»Maus«, sagte er abermals, und jetzt klang es noch bedrohlicher.

»Lassen Sie mich los!« Sie versuchte, mit den Füßen nach ihm zu treten, und kam sich trotz ihrer Angst ein wenig albern vor. Eine Mücke hätte ihm kaum weniger gefährlich werden können.

Tatsächlich setzte er sie nach einem weiteren unergründlichen Blick am Boden ab, hielt sie aber mit der linken Hand am Arm fest, während seine Rechte begann, ihre Uniform abzutasten.

»Die Taschen«, sagte er.

Im Grunde war sie ganz froh, dass er sie festhielt. Wer weiß, ob ihre zitternden Knie sie aus eigener Kraft getragen hätten.

»Taschen«, brummte er abermals.

Erst nach einem Augenblick verstand sie, was er von ihr wollte. Es war ein bisschen so, als versuchte sie, die Grunzlaute eines Tieres zu entschlüsseln.

Mit bebenden Fingern stülpte sie das Innenleben ihrer Hosentaschen nach außen. Aus einer fiel eine Haselnuss. Das war alles.

Der Rundenmann hob eine Augenbraue.

»Da ist sonst nichts«, sagte sie spitz, weil sie sich erinnerte, dass Angriff angeblich die beste Verteidigung war. Aber wer immer sich diesen Spruch ausgedacht hatte, er hatte es vermutlich in der behaglichen Sicherheit eines Ohrensessels getan, nicht in einem Augenblick höchster Not.

»Hmm?«, grummelte er und beugte sich bedrohlich vor. Ihr wurde ganz schwindelig beim Anblick dieses Menschenturms.

»Ich hab nichts geklaut«, sagte sie beharrlich.

Das war dumm, durchfuhr es sie. Er hat dir ja nicht mal vorgeworfen, etwas gestohlen zu haben. Nun weiß er, dass du ein schlechtes Gewissen hast.

Das Gefährliche am Rundenmann war nicht so sehr seine Größe und Kraft. Vielmehr war es die Tatsache, dass man ihn unterschätzte. Sicher, er war riesig und konnte einen jederzeit mit einem Schlag ins Jenseits befördern. Aber zugleich wirkte er in seiner Einsilbigkeit unbeholfen wie ein zu groß geratenes Kind – und Maus wurde den Verdacht nicht los, dass er diesen Eindruck mit voller Absicht erzeugte. Insgeheim, und davon war sie überzeugt, besaß der Rundenmann eine messerscharfe Schläue. Wenn er wollte, konnte er sich trotz seiner kolossalen Gestalt lautlos wie eine Katze bewegen. Oft stand er gerade dann unverhofft hinter einem, wenn man am wenigsten mit ihm rechnete. Nicht zu vergessen jene Augenblicke, wenn er an mehreren Orten zugleich zu sein schien. Und auch wenn er selbst gar nicht anwesend war – seine Augen und Ohren waren allgegenwärtig.

In seinen Blicken las sie die Gewissheit, dass sie die Brosche gestohlen hatte. Er wusste es, woher auch immer.

Kukuschka hatte Maus erzählt, dass manch einer im Hotel den Verdacht hegte, der Rundenmann arbeite als Spitzel für die Geheimpolizei. Das war ein Gerücht, dem Maus nur allzu gern Glauben schenkte. Die Männer und Frauen der Geheimpolizei waren im ganzen Zarenreich wegen ihrer Heimtücke und Grausamkeit verhasst. Dass ausgerechnet Maus’ Erzfeind einer von ihnen sein sollte, schien ihr so nahe liegend, dass sie sich damals gewundert hatte, nicht von selbst darauf gekommen zu sein. Ein Spitzel! Natürlich!

Und dieses Ungetüm von einem Mann, dieser hinterlistige Verräter, hatte sie zu seinem persönlichen Lieblingsopfer erkoren. Maus, die keinen anderen Namen als diesen besaß; die hier im Hotel geboren war und es seither nicht verlassen hatte; die alle nur den Mädchenjungen nannten, weil ihr Körper so mager und ihr Haar raspelkurz war; ausgerechnet sie hatte seinen Zorn und sein allwissendes Auge auf sich gezogen.

Sie war erledigt. Hatte sie wirklich geglaubt, ihn hereinlegen zu können, indem sie ihr Diebesgut in einem Schuh versteckte?

Sie schloss die Augen und wartete auf das, was als Nächstes geschähe.

Der Druck seiner Hand auf ihren Oberarm ließ nach. Ganz kurz beschlich sie die Hoffnung, dass er fort sein könnte, wenn sie die Augen aufschlug, so wie irgendein Hirngespinst.

Aber natürlich war er nicht fort. Er stand da und starrte sie an. Vollkommen reglos, die Züge so starr wie aus Lehm geknetet.

»Ich beobachte dich«, flüsterte er.

Sie nickte unbeholfen.

»Und ich weiß immer, was du tust.«

Da wurde sie von solch einem Schauder geschüttelt, dass sie sich instinktiv herumwarf und floh. Sie rannte zurück um die Ecke, den langen, eiskalten Flur hinunter und an der Zarensuite vorbei, ohne einen zweiten Blick auf die Schuhe zu werfen. Sie konnte später wiederkommen und sie zum Putzen abholen.

Der Rundenmann blieb hinter der Biegung zurück, aber sie erkannte an seinem Schatten, dass er noch immer dort stand, abwartend, bewegungslos. Vielleicht war es auch nur sein Schatten, und er selbst war längst anderswo.

Ich beobachte dich.

Sie glaubte ihm aufs Wort.

Um noch eine Ecke fegte sie, an holzgetäfelten Wänden vorüber, unter Kronleuchtern hinweg, an denen Diademe aus Glassteinen klirrten im Luftzug ihrer Flucht.

Ich weiß immer, was du tust.

Ihr war sterbenselend, als sie endlich den vergitterten Lift erreichte.

»Hallo, Maus!«

Das Kapitel

über einen Verrat und die Schrecken der Außenwelt

Maxim, der Liftjunge, stand in seiner Kabine, eine Hand am offenen Schiebegitter, die andere an dem langen Hebel, der den Aufzug auf seine Reise durch die Stockwerke schickte. Er lächelte Maus entgegen.

Sie blieb einige Schritte vor ihm stehen. Das Innere der Kabine war mit poliertem Messing, Gold und Spiegeln ausgekleidet. Elektrisches Licht erfüllte den engen Kasten mit dem Schein eines ewigen Sonnenuntergangs. Sein Glanz floss aus dem Inneren des Lifts auf den Gang und berührte Maus’ Fußspitzen.

Maxim blickte an ihr vorbei durch den Korridor. »Wo ist dein Schuhwagen?«

Seltsam, dass er danach fragte. Die Liftjungen hassten es, wenn Maus mit dem klobigen Karren ihre Kabine belegte. Maus selbst nahm den Geruch der Schuhe längst nicht mehr wahr, aber die Jungen behaupteten, im Lift würde es noch eine Stunde später nach Schweiß und Leder stinken. Ärgerlicherweise gab es nur diesen einen Aufzug im Hotel, und mit dem Wagen die Treppen zu benutzen, war unmöglich. Tatsächlich war dies der erste Fahrstuhl seiner Art in ganz Russland, importiert aus Amerika, wo die neue Technik von einem Mann namens Otis entwickelt worden war. Die Direktion des Aurora war ungeheuer stolz darauf.

Maxim war nicht irgendein Liftjunge. Mit seinen sechzehn Jahren war er der älteste und erfahrenste unter ihnen. Der geborene Anführer. Und hübsch außerdem. Maus war einmal heimlich in ihn verliebt gewesen – bis zu dem Tag, als sie beobachtet hatte, wie er sich für ein paar Kopeken vom reichen Töchterchen eines Hotelgastes küssen ließ.

»Also?«, fragte er.

Sie suchte vergeblich nach Spott oder Hinterlist in seinem Tonfall. Womöglich wollte er wirklich nur freundlich sein.

»Also was?«, fragte sie spröde.

»Dein Wagen.«

»Oh, der … Ich hab ihn eine Etage tiefer stehen lassen.«

»Soll ich dich runterfahren?« Alle Liftjungen waren ungemein stolz auf ihre Aufgabe, beinahe als würden sie die Gitterkabine auf eigenen Schultern durch die Stockwerke tragen. Außerdem hatten sie die schönsten Uniformen. Ganz samtig rot und mit demselben Goldimitat besetzt, das ihre Kabine schmückte. Im Lift verschmolzen sie vollends mit der blitzenden, spiegelnden Umgebung.Meine Goldjungen,nannte sie der Concierge, dessen Lieblinge sie waren. Aber Maxim war jedermanns Liebling.

»Ich nehm lieber die Treppe«, sagte Maus und wollte sich abwenden.

»Nun komm schon rein. Mitten in der Nacht fährt eh keiner mit dem Lift. Mir ist langweilig.«

Und daran sollte ausgerechnet sie etwas ändern? Maxim hatte ihr niemals mehr Beachtung geschenkt als einem schmutzigen Fußabdruck, den ein Gast in seinem Aufzug hinterlassen hatte.

Vorsichtig ging sie auf die Kabine zu und trat damit vollends in den goldenen Lichtschein. Aus irgendeinem albernen Grund kam sie sich plötzlich wie ein richtiges Mädchen vor, so als machte das überirdische Licht diesmal nicht nur den Liftjungen, sondern auch sie selbst viel schöner.

»Vierter Stock?«, fragte Maxim und nahm mit der Hand am Hebel Haltung an, so als hätte der Zar persönlich seinen Aufzug betreten.

Maus zögerte kurz, schaute sich ein letztes Mal auf dem verlassenen Korridor um, dann trat sie über den schmalen Spalt ins Innere der Kabine. Ihr wurde ein wenig schwindelig, als ihre Füße trotz des Teppichs einen leisen, hohlen Laut erzeugten. Die Gewissheit des tiefen schwarzen Schachts unter ihr erfüllte sie stets mit Unbehagen.

Nachdem Maxim die Gittertür geschlossen hatte, stellte sie sich neben ihn, damit sie ihm nicht in die Augen sehen musste. Aber vor lauter Aufregung – und sie war noch immer ein wenig atemlos von ihrer Flucht – hatte sie die Spiegel an den Wänden der Kabine vergessen. Wohin sie auch blickte, aus allen Richtungen schien der blonde Liftjunge sie anzusehen.

Maus hasste Spiegel. Sie war zu klein und dünn für ihr Alter, und wenn sie sich so anschaute, war wirklich nicht viel Mädchenhaftes an ihr. Sie war blass, sogar bei diesem Licht, das jeden anderen Menschen gesund aussehen ließ; selbst ihre Lippen kamen ihr farblos und schmal vor. Ihre dunkelblauen Augen wirkten stets ein wenig müde, vielleicht, weil sie immer müdewar.Der Concierge, der allen niederen Hotelbediensteten vorstand, hatte festgelegt, dass sie wie ein Junge auszusehen hatte, sonst würden die feinen Gäste es vielleicht übel nehmen, dass man sie die ganze Nacht hindurch schuften ließ. Das war schon so gewesen, als sie noch sehr klein war, daher kannte sie es nicht anders. Maus, der Mädchenjunge.

Der Lift setzte sich mit einem Ruckeln in Bewegung. Über ihnen im Schacht fauchte das Dampfgetriebe. Mächtige Zahnräder knirschten.

»Das ist eine schöne Uniform«, sagte sie, weil das verlegene Schweigen sie ganz zappelig machte.

»Danke«, sagte Maxim, und nun tastete sein Blick ihre eigene Kleidung ab.

Das hast du nun davon, dachte sie bitter. Er wird sofort sehen, dass ich die Schulterstücke mit Teppichfransen ausgebessert habe.

»Möchtest du auch so eine?«, fragte er.

Sie konnte ihm noch immer nicht in die Augen sehen.

»So eine?«, wiederholte sie unsicher.

»Eine Uniform wie meine.«

»Ich bin kein Liftjunge.« Und werde auch nie einer sein, setzte sie im Stillen hinzu, weil nämlich der Concierge keine Mädchen mag, nicht mal, wenn sie wie Jungen aussehen.

»Das macht doch nichts. Ich bin im letzten Jahr fast einen Kopf gewachsen. Du kannst eine von meinen alten haben.«

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Warum nicht? In meiner Kiste fressen sie doch nur die Motten.«

Schwer vorzustellen, dass es in den Schlafräumen der Pagen und Liftjungen Motten gab. In dem Kellerloch, in dem Maus schlief, gab es sogar Ratten. Aber das störte sie nicht. Sie mochte so ziemlich alles, was klein war und am Boden kroch.

»Nun?«, fragte Maxim.

Der Lift kam zum Stehen. Vor dem Gitter der Kabine lag jetzt ein Korridor, der nur unmerklich weniger prachtvoll wirkte als jener in der Suitenetage. Alles im Hotel Aurora war edel, kostbar und elegant. Abgesehen vom Benehmen mancher Angestellter, wenn kein Gast zugegen war.

In einiger Entfernung wartete Maus’ Schuhwagen, ein stählernes Regal auf vier Rädern.

»Du würdest sie mir einfach so geben?«, fragte sie zweifelnd.

Er strahlte wie das Goldimitat an den Wänden. »Ich kann doch eh nichts damit anfangen.«

»Ich hab kein Geld.«

»Ich will sie dir ja auch schenken.«

Er mag dich nicht, gemahnte sie ihre innere Stimme. Niemand hier mag dich.

»Einverstanden!«, platzte sie heraus. Ihr Herz raste schon wieder genauso schnell wie vorhin, als der Rundenmann sie gepackt hatte. Nur dass der Grund jetzt ein besserer war.

»Also dann«, sagte Maxim, trat mit ihr auf den Gang, verschloss das Gitter von außen mit einem Schlüssel und befestigte daran ein Metallschild mit der Aufschrift Außer Betrieb.Maus fand das ziemlich mutig. Aber vermutlich konnte sich jemand wie Maxim solche Eskapaden erlauben.

Maus folgte ihm den Flur hinunter, zu einer Tür, deren Aufschrift darauf verwies, dass hier nur Hotelpersonal Zugang hatte. Dahinter lag ein ungleich engerer, dunklerer Gang, der zu den Schlafräumen der Bediensteten führte. Keine Teppiche, keine Bilder an den Wänden. Rohre lagen hier offen über dem Putz, nicht hinter Holztäfelungen.

Maxim ging mit Maus bis ans Ende eines Korridors. Dort befand sich ein Notausgang, eine schwere Tür mit Eisenriegel; Maus hatte keine Vorstellung von dem, was dahinter lag. Sie kannte das Äußere des Hotels lediglich von dem Gemälde im Tanzsalon, und dort war nur die glanzvolle Fassade am Newski Prospekt zu sehen, nicht aber die Rückseite oder andere Trakte des Gebäudes.

»Warte hier«, sagte Maxim. Rechts und links des Flurs befanden sich die Türen der Schlafsäle. Je sechs Männer mussten sich ein Zimmer teilen. Die Räume der weiblichen Bediensteten lagen ein Stockwerk tiefer.

Maus nickte ihm zu, als er mit einem aufmunternden Lächeln hinter der letzten Tür auf der linken Seite verschwand. Eine muffige Wolke Schlafzimmergeruch wehte Maus entgegen.

Sie fühlte sich hier alles andere als wohl, und schon bereute sie, dass sie das Angebot angenommen hatte. Falls zufällig irgendjemand aus einem der Zimmer kam, konnte sie aus dieser Sackgasse nicht fliehen. Die Tür des Notausgangs in ihrem Rücken erschien ihr auf einen Schlag noch höher und schwerer.

Angst vor Prügeln hatte sie nicht – so weit waren die anderen Jungen und Mädchen noch nie gegangen –, aber es reichte schon aus, dass sie sich laufend über sie lustig machten. Maus hatte längst aufgehört, sich darüber zu wundern, obgleich sie selbst nie jemandem etwas zu Leide getan hatte. Ihre einzige Sünde war ihre niedere Arbeit. Und ihr Aussehen.

Vielleicht würde Maxims Uniform daran etwas ändern. Womöglich konnte sie damit ein wenig Achtung gewinnen. Allein diese Vorstellung war das Risiko wert, mitten in der Nacht auf dem Korridor der Männerquartiere herumzustehen.

Die Tür des Zimmers schwang wieder auf. Maxim trat auf den Flur.

»Das ging ja schnell«, sagte sie mit scheuem Lächeln.

In seinen Händen hielt er einen alten Mantel wie ein Lumpenbündel. Ganz zerschlissen und zerknittert.

»Die Motten waren schneller«, sagte er und klang dabei noch genauso freundlich wie vorhin im Lift. Zum allerersten Mal erkannte Maus, dass Bösartigkeit nicht immer mit Häme und Hohn einhergehen muss; manchmal verbirgt sie sich hinter einer Fassade von Höflichkeit und Anmut.

Die gegenüberliegende Tür wurde ebenfalls geöffnet. Dann zwei andere, weiter vorne im Gang. Innerhalb eines Augenblicks füllte sich der dunkle Korridor mit halbwüchsigen Jungen in Schlafanzügen. Raunen und Kichern drang Maus entgegen.

»Was wollt ihr?« Ihre Stimme klang rau und belegt. Ihr Hals war plötzlich genauso verstopft wie der Korridor.

»Mädchenjunge«, sagte einer. Andere fielen mit ein, und in Windeseile wurde ein geflüsterter Sprechgesang daraus: »Mädchenjunge! Mädchenjunge! Mädchenjunge!«

Maus stieß mit dem Rücken gegen den Eisenriegel des Notausgangs. Seine Kälte drang durch ihre Uniformjacke wie eine Klinge.

»Mädchenjunge! Mädchenjunge!«

»Die Erwachsenen behaupten, du hast das Hotel noch nie verlassen«, sagte Maxim und trat einen Schritt auf sie zu. »Ist das wahr?«

Ja!, wollte sie ihn anbrüllen. Ja, es ist wahr! Weil ich da draußen nämlich sterben muss, so ist das nun mal!

Vor nichts, vor wirklich überhaupt nichts, empfand sie solche Furcht wie vor der Welt dort draußen. Sie konnte sich nicht vorstellen, unter freiem Himmel auf einer Straße zu stehen. Der Gedanke an diese Weite, diese Leere, schnürte ihr den Atem ab.

Sie brachte keinen Laut mehr heraus. Nicht einmal ein Wimmern. Ihr Herzschlag galoppierte.

Maxims Tonfall blieb liebenswürdig. »Wir haben beschlossen, dass dir eine Menge entgeht, wenn du nie rausgehst. Es wird höchste Zeit, findest du nicht?«

»Mädchenjunge! Mädchenjunge!«, raunte der heisere Chor. Mehr als ein Dutzend Jungen, die meisten im Stimmbruch.

»Bitte«, flüsterte Maus. »Ich hab doch keinem was getan.«

Maxim schüttelte lächelnd den Kopf. »Wir wollen dir auch nichts tun. Versteh doch – wir wollen dir helfen.«

Er gab einem der anderen Jungen einen Wink – er arbeitete in der Küche, im Fleischraum –, und sogleich packte der feiste Kerl Maus an den Schultern und hob sie hoch wie einen Strauß Trockenblumen. Maxim trat an ihr vorbei, entriegelte die Tür und stieß sie auf.

Schnee wehte herein. Und eine Kälte, die den Pulk der Jungen aufstöhnen und einen Schritt zurückweichen ließ.

»Es ist nicht weit bis zum Haupteingang«, versicherte Maxim der schreckensstarren Maus. »Wirklich nicht. Du musst nicht mal um das ganze Hotel herum. Höchstens um die Hälfte.«

Tränen schossen ihr in die Augen. Und dann trat sie zu, dem Fleischerjungen mit aller Kraft vors Knie. Der heulte auf, ließ sie los, rutschte an der Wand hinunter und hielt sich wimmernd das Bein. Ein paar andere lachten gehässig, aber Maxim brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Zwei weitere Jungen sprangen vor – Pagen aus der Eingangshalle –, ergriffen Maus und drehten sie mit dem Gesicht zur offenen Tür. Sie konnte in der Dunkelheit den Absatz einer eisernen Feuertreppe erkennen. Sonst nichts. Nur Nacht und Schneetreiben.

Sie begann zu schreien. Sie strampelte, schlug um sich, kratzte, trat und biss.

»… wollen dir nur helfen«, hörte sie Maxim noch einmal sagen, dann bekam sie einen Stoß und stolperte hinaus auf die Eisentreppe. Sie strauchelte und bekam erst im letzten Moment das Geländer zu fassen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas so Kaltes berührt. Mit einem Aufheulen riss sie die Hände zurück, wirbelte herum – und starrte in Maxims lächelndes Gesicht. Ein Stoffknäuel flog auf sie zu – der alte Mantel, den er in der Hand gehabt hatte. Im selben Moment fiel die Tür ins Schloss, und mit einem Knirschen rastete der Riegel an der Innenseite ein.

»Lasst mich rein!«, schrie sie panisch und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür. »Bitte! Lasst mich wieder rein!«

Sie hatte noch immer die leise Hoffnung, dass der Streich nun lange genug gedauert hatte. Dass die Tür jeden Moment wieder aufschwingen würde. Dass man sie zurück ins Warme, ins Haus ziehen und unter viel Gelächter den Korridor entlangjagen würde. Aber die Tür blieb geschlossen.

Und Maus war allein im Freien.

Sie stand da und schlotterte, doch daran trug die Kälte nur einen Teil der Schuld. Um ihre Brust schien jemand einen Riemen zusammenzuziehen, sie bekam kaum noch Luft. Ihr Magen wollte sich nach außen stülpen. Alles an ihr zitterte und bebte, ihre Stimme versagte. Auf ihren Wangen gefroren die Tränen, wurden von den nachfließenden getaut und erstarrten erneut.

Es war so dunkel, dass sie nur mit Mühe die oberen Stufen der Gittertreppe erkennen konnte. Aber es war ohnehin undenkbar, dass sie einen Fuß darauf setzen würde. Sie konnte es nicht. Die Leere der Außenwelt verhärtete sich um sie wie Harz, hielt sie fest, ließ sie in Reglosigkeit erstarren. Ihre Muskeln krampften und weigerten sich, ihr zu gehorchen.