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Erlebe das Finale der beliebten Romantasy-Trilogie Nordische Mythen, verborgene Kräfte und eine Liebe, die das Eis brechen kann Exklusive Erstausgabe mit kunstvollem Farbschnitt Starke Heldinnen kämpfen um Liebe und Freiheit Fesselnd, humorvoll und tiefgründig erzählt von Spiegel-Bestseller-Autorin Anna Fleck Das epische Finale voller Magie und Abenteuer Nachdem Elvy die Flucht aus der Schneefeste gelungen ist, begibt sie sich gemeinsam mit ihrer Aelfar-Freundin Simàja auf eine gefährliche Reise zu den geheimnisvollen Meerfrauen – ihre letzte Hoffnung im Kampf gegen die Schneekönigin. Doch der Frostprinz Ys ist ihnen dicht auf den Fersen – und das ausgerechnet im Körper von Elvys großer Liebe Erik. Weder in der wachen Welt noch im Traum kann Elvy Ys' immer stärkerem Drängen entkommen, der mit Gewalt versucht, sie auf seine Seite zu ziehen. Ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit beginnt: In der bevorstehenden Mittwinternacht entscheidet sich das Schicksal von Ymatàja und der Menschenwelt. Während Simàja alles riskiert – ihr Leben und ihr Herz –, steht Elvy vor ihrer größten Herausforderung: Kann sie den Frostprinzen mit Hilfe der Kraft ihres Froststerns besiegen, ohne Erik zu verlieren? Anna Fleck entführt uns erneut in eine verzauberte Fantasy-Welt voller Magie, Liebe und Freundschaft – ein episches Abenteuer für alle Fantasy-Fans!
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Seitenzahl: 660
Veröffentlichungsjahr: 2025
Anna Fleck
Das Ende aller Geschichten
Für Gerlinde – weil du dafür kämpfst, dass Träume zu Wirklichkeit werden.
Von Anna Fleck bereits erschienen:
Froststerne (1) – Erinnere dich!
Froststerne (2) – Durch Traum und Eis
Meeresglühen (1) – Geheimnis in der Tiefe
Meeresglühen (2) – Wiedersehen in Atlantis
Meeresglühen (3) – Für immer versunken
5 4 3 2 1
eISBN 978-3-649-67237-1
© 2025 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise. Die Nutzung
des Werkes für das Text- und Data-Mining nach § 44b UrhG ist durch den Verlag ausdrücklich vorbehalten und daher verboten.
Text: Anna Fleck
Covergestaltung: Carolin Liepins
Lektorat: Frauke Reitze
Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim
www.coppenrath.de
Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-67203-6.
Anna Fleck
Das Ende aller Geschichten
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
ERIK
Weiß. Ich sehe nichts als Weiß, wohin ich auch blicke. Mir wird kalt, und ich merke, dass ich mitten in dichtem Schneetreiben stehe. Die Flocken wirbeln um mich herum, dann stieben sie auseinander und geben den Blick auf Erik frei.
Der Atem stockt mir in der Kehle, denn er sieht blass aus, oh Gott, so blass, dass seine Haut fast bläulich schimmert. Erfroren. Nur in seinen herbstbraunen Augen stehen Leben und Wärme, brennende Liebe für mich … aber auch Verzweiflung.
»Elvy …« Seine Stimme treibt mit dem Wind zu mir.
Jetzt sehe ich, dass er die Hand nach mir ausstreckt. Und noch bevor ich im Flockenwirbel mehr erkennen kann, weiß ich, was er mir entgegenhält: ein Herz aus Eis.
Sein Herz.
Ich will zu ihm, will seinen Namen rufen, doch die Kälte raubt mir die Stimme und bannt mich an meinen Platz. Der Schnee fällt nun dichter, scheint Erik von mir fortzuziehen und ich kann mich nicht rühren, kann nichts tun …
Nein! Nein, verdammt! Ich gebe nicht auf!
Ich balle die Fäuste und konzentriere mich auf meine innere Kraftquelle, sende meine Magie zu dem kalten Punkt auf meiner Stirn, zu meinem Froststern. Ein Funkeln, ein Lichtblitz. Plötzlich bin ich frei und renne, renne auf Erik zu.
Ich komme zu dir. Ich bin schon fast da.
»Elvy, nein …!«
Wieder höre ich seine Stimme. Wieso will er mich aufhalten? Ich kann ihm doch helfen!
Schon sind es nur noch ein paar Meter. Ich taumele auf ihn zu, stolpere durch den Schnee, der eisige Wind peitscht mir die Haare ins Gesicht, aber ich habe Erik gleich erreicht …
Noch immer steht er regungslos da und blickt mir entgegen, in der Hand sein Herz aus Eis. Ich sehe den Glanz in seinem silberweißen Haar, den Raureif auf seinen schönen, mir so vertrauten Zügen und ich will nichts mehr als ihn an mich ziehen und wegreißen aus dieser eisigen Einöde. Nur noch wenige Schritte … Da schließt Erik die Augen. Als er sie wieder öffnet … sind sie blau.
Eisblau.
Nein! Das ist nicht mehr Erik, sondern Ys – der Frostprinz!
Einladend öffnet er seine Arme. »Komm zu mir, Elvy! Ich warte auf dich!«
Ich fahre zurück, reiße abwehrend die Hände hoch.
Ys, dieser entsetzliche Geist in Eriks Körper, lächelt mich triumphierend an. »Vergiss diesen Menschen, Elvy!«, sagt er. »Sieh her! Es gibt nur noch mich!«
Seine Hand schließt sich um Eriks gefrorenes Herz. Ein grausamer Schmerz durchfährt mich und zwingt mich in die Knie. Ich kämpfe dagegen an, rufe nach meinem Froststern, taste nach meinem Messer, will Ys angreifen … Zu spät. Seine Finger schließen sich zur Faust. Eriks Herz zerspringt, vergeht zu nichts als eisigem Staub.
Ich schreie.
Und Ys lacht, lacht, lacht …
»Elvy! Elvy Froststern!«
Ich kam zu mir, weil mich jemand am Arm rüttelte. Mühsam blinzelte ich in das Zwielicht, das mich umgab. Mein Herz raste, meine Kehle fühlte sich wund und rau an. Hatte ich etwa laut geschrien? Nur langsam ließen mich die Traumbilder aus ihren eisigen Klauen. Da war Erik gewesen, Erik und sein vereistes Herz, und dann nur noch der Frostprinz. Ys.
Seine böse Macht hatte Erik überwältigt, seinen Geist gefangen, seinen Körper zum Sklaven der Ysirka gemacht … Erik hatte sich so dagegen gewehrt, wir beide hatten mit aller Kraft um seine Freiheit gekämpft – und verloren.
Für immer?
Bei dem Gedanken spürte ich erneut einen entsetzlichen Schmerz. Tief in mir saß er, zu tief und scharf für reine Angst oder Trauer. Ein Splitter saß in meiner Seele – in meiner Sjal, dieser geheimen Quelle meiner Kraft und Magie … der Splitter einer Frostlinie. Ich hatte so viel geopfert, hatte sogar Erik in der Schneefeste zurückgelassen, doch die Kalte Herrscherin ließ mich dennoch nicht aus ihren Klauen.
Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich, ruhig zu atmen. Entschlossen griff ich nach Bling, meinem Froststern, meinem einzigen Schutz. So sehr hatte er mir beistehen müssen, so viel hatte ich von ihm verlangt, dass er nur noch schwach auf meiner Stirn pulsierte. Erschöpft war er, so wie ich, aber wenigstens verschaffte mir sein Einsatz keine magischen Kopfschmerzen mehr.
Trotzdem, verdammt! Wie hatte ich nur einschlafen können? Schließlich war ich erst vor wenigen Stunden aus der Schneefeste geflohen. Eine kopflose Flucht durch verschneite Wälder, bis ein Sturm jeden weiteren Schritt verhindert hatte.
Langsam verging der Schmerz in meiner Sjal und das Gefühl für das Hier und Jetzt kehrte in meine kältesteifen Glieder zurück. An meiner Wange spürte ich raues Holz – den Stamm einer mächtigen hohlen Tränenfichte, die uns vor der Wut des Sturms gerettet hatte.
Oder, überlegte ich schaudernd, war es vielleicht die Wut der Ysirka? Weil ich ihrem eisigen Griff entkommen bin?
»Du bist eingeschlafen«, ertönte abermals die vorwurfsvolle Kinderstimme, die mich geweckt hatte. »Dabei wolltest du Wache halten. Du musst mich doch beschützen!«
Ha, richtig, da war ja noch etwas: Ich bin nicht allein geflohen.
Ich verbannte die letzten Traumfetzen aus meinem Kopf und sah der Realität ins Auge, die neben mir in der Enge des hohlen Stamms hockte: ein weißhaariges Elfenmädchen mit schimmernden Tattoolinien auf den dunklen Wangen, die feinen Gesichtszüge eine Mischung aus Besorgnis und Anklage. Sviila! Sie hatte mich geweckt und vielleicht vor Schlimmerem bewahrt. Aber jetzt musste ich mich wieder um sie kümmern. Die Kleine hatte weiß Gott genug durchgemacht. Unruhig nestelte sie an dem übergroßen Ringpaar herum, das auf ihrem Daumen saß. Der Zwiering hatte geholfen, sie durch den Bannkreis der Schneefeste zu bringen. Dabei hatte er all seine Magie eingebüßt und war nun praktisch wertlos, doch Sviila weigerte sich, ihn abzusetzen. Sie schien ihn als Glücksbringer zu betrachten … oder vielleicht als kleinen Trost.
»Es tut mir leid, Sviila«, krächzte ich. »Wie geht es dir denn? Nicht zu müde?«
Sie hob die schmalen Schultern – ein Aelfar-Kopfschütteln, gefolgt von einem kaum merklichen Schaudern. »Das Laufen durch den Schnee war schwer. Und es ist so, so kalt! Ich will zurück in mein Bett, nach Hause in Papas Palasthöhle. Aber schlafen mag ich nie wieder.«
Das konnte ich ihr kaum verdenken. Schließlich war sie erst letzte Nacht aus dem bösen Zauberbann der Ysirka erwacht, der ihr Kinderleben fünfzig Menschenjahre lang in einen künstlichen Winterschlaf versetzt hatte. Mit Grausen erinnerte ich mich daran, wie weiß und leer ihre Augen gewirkt hatten, wie sie und all die anderen gebannten Aelfar dort stets mit einem erfrorenen Lächeln durch die Gänge gewandelt waren, ihr Geist und ihr Wille wie verschüttet unter der Macht der Ysirka. Für Sviila war die Erinnerung an diese dunkle Zeit vermutlich wie ein Albtraum, in den sie nie zurückkehren wollte.
Bevor ich jedoch tröstende Worte für sie fand, wieselte etwas Pelziges mein Bein hoch, und im nächsten Moment blickte ich in die goldenen Knopfaugen eines Eishörnchens. Ich streckte die Hand aus, um es zu streicheln, aber das kleine Biest wich aus und keckerte strafend, als ob es sagen wollte: »Spar dir die Streicheleinheiten, Rundohr, ich will Nüsse! Du schuldest mir was, schon vergessen?«
»Wie könnte ich, Nelli!«, sagte ich mit schwachem Lächeln. »Ohne dich hätten wir diesen Unterschlupf nie gefunden, als der Sturm losbrach.« Wobei der Sturm Glück im Unglück war, setzte ich in Gedanken hinzu. Hat unsere Spuren verdeckt. Ansonsten säßen wir längst wieder in einem Verlies der Schneefeste. »Nüsse gibt es später, ja?«
Nelli akzeptierte mein Versprechen mit hochnäsig erhobenem Schnäuzchen und hüpfte Sviila in den Schoß. Das Elfenmädchen quietschte entzückt und streichelte Nellis weiß-schwarzen Pelz, was diese sich überraschend gnädig gefallen ließ.
Ich nutzte die Gunst des Augenblicks und wandte mich aufmunternd an Sviila. »Hey. Ich verstehe, wie hart das alles für dich sein muss. Wie unheimlich. Aber du bist so tapfer. Du schaffst das!«
Die Kleine antwortete zunächst nicht, strich nur weiter über Nellis Fell. »Ich will zu Papa«, flüsterte sie schließlich mit gesenktem Kopf. »Aber das kann ich nicht … oder?«
Shit. Genau das Thema, das ich gefürchtet hatte.
Erst letzte Nacht hatte Sviila ihren Vater Kjellan wiedererkannt – und ihn im gleichen Moment verlassen müssen, um ihrem sicheren Tod auf dem Ball der Kalten Herrscherin zu entgehen. Kjellan war schweren Herzens zurückgeblieben, um unsere Flucht zu decken, wofür ihm seine Stellung als Haushofmeister der Ysirka eine einzigartige Chance bot. Doch falls seine Herrin seinen Verrat entdeckte, würde er dafür sicher bitter büßen müssen. Wie konnte ich Sviila das erklären?
»Hör zu«, begann ich vorsichtig und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Dein Vater will, dass du in Sicherheit bist. Du bist seine ganze Hoffnung – und nicht nur seine, verstehst du? Es gibt viele Somaelfar, die nicht in der Schneefeste gefangen sitzen. Sie sind dein Volk und sie brauchen dich.« Ich deutete auf den saphirgleichen Edelstein, den Sviila an einer Kette um den Hals trug. Wie der Mantel, den Kjellan ihr umgelegt hatte, wirkte auch das Schmuckstück mehr als eine Nummer zu groß für sie. »Dieser Stein ist das Himmelsjuwel, so hat es dein Vater genannt. Es macht dich zu seiner Erbin. Zur rechtmäßigen Herrscherin aller Somaelfar.«
»Ich weiß, was das ist.« Ihr Kinn ruckte stolz hoch und ihre Linke schloss sich beschützend um den kostbaren Anhänger. »Weil Papa nicht frei ist, bin ich die Fürstin unseres Volks.« Nelli fiepte protestierend, weil sie nicht weiter gestreichelt wurde. Sviila beachtete sie jedoch nicht, sondern sah nur zu mir, ihre großen Augen glänzend vor Hoffnung. »Dann gehen wir dorthin? Zu den freien Somaelfar?«
»Äh, na ja …« Ich suchte nach einer guten Antwort. Definitiv war jetzt nicht die Zeit, der kleinen Fürstin zu erzählen, dass der klägliche Rest ihres Volks von einer Thronräuberin unterjocht wurde. »Die Somaelfar sind … sehr weit weg von hier. Erst mal müssen wir verhindern, dass uns die Ysirka erneut in ihre Fänge bekommt.«
»Dann darfst du auch nicht schlafen«, erwiderte Sviila streng.
Ich verbiss mir ein Grinsen, hob entschuldigend die Schultern und sagte: »Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. War ich denn lange weg?«
Die Kleine zog fröstelnd ihren übergroßen Pelzmantel enger um sich und antwortete: »Nur ganz kurz. Aber du sagtest, wir müssen jederzeit wachsam sein.«
»Kommt nicht wieder vor, Hoheit.« Ich warf einen Blick hinaus. »Es hat aufgehört zu schneien. Also los.« Obwohl ich innerlich bei dem Gedanken schauderte, mich wieder hinaus in die erbarmungslose Kälte zu begeben, setzte ich eine entschlossene Miene auf. »Die Schneefeste kann höchstens ein paar Kilometer hinter uns liegen und noch scheint uns niemand zu verfolgen. Nutzen wir den Vorsprung.«
Gleich darauf stapften wir schon wieder durch die weiße Landschaft. Es waren nur wenige Zentimeter frischer Schnee gefallen, und die Schicht darunter war zum Glück so fest, dass man darauf laufen konnte.
Nelli hüpfte munter voraus. Immer wieder krabbelte sie an den Stämmen der Nachtbirken empor, von denen es in diesem Wald so viele gab. Ihr schwarzes Holz wirkte wie Kohlestriche auf weißem Skizzenpapier. Der Himmel hing tief, noch immer schwer von Schneewolken, doch der Sturm hatte sich beruhigt. Hin und wieder taumelten letzte Flocken zu Boden. Voller Bedauern warf ich noch einen Blick zurück zu der Tränenfichte, die uns Unterschlupf gewährt hatte, wenn auch kaum mehr als eine Stunde lang. Der Sturm hatte heftig, aber kurz gewütet.
Und jetzt ist er vorbei, Menschlein. Also schau nach vorn und heb die Füße. Als ich mir Tomte Tedas Stimme vorstellte, musste ich grimmig lächeln und schob das Bündel auf meinem Rücken zurecht. Darin befand sich ein dicker Eisklumpen und, in seiner Mitte eingeschlossen wie die Mücke im Bernstein … der Körper meiner unerschrockenen Wichtel-Trainerin. Auch sie hatte ich aus der Schneefeste mitgehen lassen. Ob sie wirklich noch am Leben war, wie der Frostprinz behauptet hatte?
Das ist sie. Es muss einfach so sein, machte ich mir Mut. Und dass sie verschwunden ist, wird den eisigen Herrschaften ganz bestimmt die Laune vermiesen. Oder – jetzt gönnte ich mir sogar ein Grinsen – fehlt ihnen vor allem mein neuer Wanderstab?
Ich schlang meine behandschuhten Finger fester um den mannshohen kohleschwarzen Stecken in meiner Rechten und stützte mich darauf, als ich einen quer liegenden Baumstamm überwand.
»Warum trägst du einen so hässlichen Speer?«, fragte Sviila, die neben mir Schritt hielt. »Such dir lieber eine Somaelfar-Waffe, die sind viel schöner.«
»Aber sie nützen nichts gegen die Ysirka«, erwiderte ich. »Diese Waffe hier schon. Das ist der Glutspeer. Die Winterelfen haben ihn hundert Jahre lang mit Magie aufgeladen, damit er der Kalten Herrscherin ein Ende bereitet.«
»Und warum laufen wir dann vor den Frostkriegern davon?«, piepste sie aufmüpfig. »Du könntest sie doch damit besiegen. Oder weißt du nicht, wie man kämpft?«
»Pff, du kennst wohl meinen Aelfar-Namen nicht«, erwiderte ich großspurig. »Elvy Langspeer werde ich genannt!«
Sie kicherte. »Weil du so gut bist mit dem Speer oder weil du so lang bist wie einer?«
Freche Göre. Ich würdigte sie keiner Antwort, doch das hielt Sviila nicht auf.
»Wenn du nicht gegen Frostkrieger kämpfen willst, solltest du uns wenigstens etwas zu essen jagen«, nörgelte sie. »Kannst du das? Was ist deine liebste Beute?«
»Ein doppelter Cheeseburger«, knurrte ich. »Und jetzt Ruhe.«
»Aber ich hab Hunger!«
»Dann iss einen Keks.«
»Sind alle.«
Das brachte mich zum Halten. »Schon? Mann, Sviila! Das war unser einziger Proviant!«
Sie starrte mich herausfordernd an, ihre ganze Pose eine Miniversion ihres hochmütigen Vaters. »Du trägst die Kleidung der Vintaelfar! Du hast geschworen, mich zu beschützen! Also wirst du ja wohl einen Plan gemacht haben, wie du uns etwas zu essen besorgen kannst, bevor wir aufgebrochen sind. Wohin gehen wir überhaupt? Wo werden wir übernachten?«
»Das weiß ich nicht«, gab ich zu. »Aber eins weiß ich ganz sicher: Letzte Nacht war unsere einzige Chance zur Flucht. Wenn wir die nicht ergriffen hätten, wären wir jetzt beide tot – oder Schlimmeres.« Vor meinem inneren Auge stieg die Erinnerung an Ys auf, wie er mich rasend vor Zorn in seine Gemächer gezerrt hatte. Was er mir antun wollte. Und später dann, noch schrecklicher, Eriks Gesicht. Der Ausdruck in seinen Augen, als ich ihn seinem Schicksal überlassen musste. Als er mich gehen ließ – weil er kurz davorstand, wieder zum Frostprinzen zu werden. Seine letzten Worte an mich …
»Ich liebe dich, Igelmädchen. Gib nicht auf.«
Neuer Schmerz durchfuhr mich und diesmal traf er mich mitten ins Herz. Nein. Schluss damit! Mit aller Kraft riss ich mich zusammen, auch wenn mir vor Kummer fast die Beine wegsackten. Ich darf nicht daran denken, noch nicht. Ich muss stark sein.
Ich atmete tief durch und zwang mich, Sviila munter zuzunicken. »Sorry, dass ich keinen Masterplan parat hatte, als es losging gestern. Aber alles wird gut, wir müssen nur weg von der Schneefeste. Jeder Schritt hilft, okay?«
Die kleine Fürstin stimmte widerwillig zu, doch überzeugt wirkte sie erst, als Nelli heranhüpfte und es sich auf ihrer Schulter bequem machte. Offenbar hatte das Eishörnchen entschieden, dass Sviila eine zweite Beschützerin brauchte.
Wir zogen weiter durch den lichten Wald, so schnell es ging, die Ohren gespitzt und die Angst im Nacken. Trotz meiner entschlossenen Worte zu Sviila kreisten in meinem Kopf verzweifelte Gedanken. Ja, die letzte Nacht war unsere einzige Chance zur Flucht gewesen, und wir hatten sie genutzt – doch unvorbereitet, wie wir waren, drohte uns nicht nur durch die Frostkrieger der Tod. Um uns herum gab es nichts als Schnee und Eis, so weit das Auge reichte. Bald würde es dunkel werden, was sollten wir dann tun? Zwar besaßen wir warme Aelfar-Winterkleidung und auch ein Bündel Pelzdecken, aber ich hatte nichts zum Feuermachen stehlen können. Die Kälte war ein noch unerbittlicherer Feind als die Frostkrieger.
Und selbst wenn wir nicht erfroren: Wohin sollten wir fliehen? Ich kannte mich kein bisschen in Ymatàja aus und Sviila konnte ebenso wenig helfen. Sie stammte zwar aus dieser Gegend, doch sie war ein Kind, das gerade erst aus einem jahrzehntelangen Zauberbann erwacht war – noch dazu ein Kind des Sommers. Im Winter hatten sich ihre Leute früher stets in unterirdischen Palästen verkrochen. Auch wenn sie mir tapfer folgte, merkte ich deutlich, dass ihr die verschneite Landschaft fremd war, ja sogar Angst machte.
Es gab nur eine Hoffnung für uns: Bling, meinen Froststern. Schon oft hatte er mich in ähnlich ausweglosen Lagen geführt. Doch es hatte ihn und mich viel Kraft gekostet, den Bannkreis der Ysirka zu überwinden, noch immer spürte ich Bling kaum. Es würde Zeit brauchen, bis er wieder seine volle Stärke erreicht hatte – Zeit, die wir vielleicht nicht hatten.
In diesem Moment stieß Nelli ein Quietschen aus und Sviila drehte den Kopf.
»Was ist?«, fragte ich beunruhigt. »Habt ihr etwas gehört?«
Das Mädchen antwortete mit einem stummen Aelfar-Nicken, ihre dunklen Augen angstvoll aufgerissen. Ich brauchte nicht zu fragen, was sie gehört hatte: eine Frostkrieger-Patrouille.
Nelli sprang zu Boden und fiepte schrill – fast klang es wie eine Aufforderung.
»Genau!«, flüsterte ich. »Vielleicht haben sie unsere Spuren noch nicht entdeckt. Wir müssen rennen, Sviila, los!«
Die Kleine brauchte keine zweite Aufforderung.
Fast so flink wie Nelli stürmte sie auf der harschen Schneedecke voraus, nur behindert durch ihren schweren Pelzmantel. Ich folgte, keuchend und innerlich fluchend auf meine Lasten. Der Glutspeer half mir wenigstens, das Gleichgewicht zu wahren, aber das Fellbündel auf meiner Schulter verrutschte ständig, und der Beutel mit der vereisten Tomte Teda schlug bei jedem Schritt gegen meinen Rücken.
Zum Glück war der Boden hier leicht abschüssig, sodass wir gut vorankamen. Doch nach kurzer Zeit hörten auch meine Menschenohren etwas im Wald hinter uns – das schrecklichste Geräusch der Welt: dumpfes Trommeln von Hufen auf Schnee, vermischt mit hartem Klirren. Waffen und Rüstungen aus schwarzem Eis. Frostkrieger auf ihren gebannten Silberrenen.
Näher und näher kamen sie, und so zielstrebig, dass kein Zweifel bestand: Sie hatten unsere Spuren gefunden und wussten ganz genau, welches Wild sie jagten.
Ist es eine einfache Patrouille? Oder führt Ys sie an? Wenn er mich zu fassen kriegt, dann … dann …
In mir wimmerte und heulte die Panik, drohte mich zu übermannen; doch ich gab ihr nicht nach, ließ jeden Gedanken los. Mit aller Kraft zwang ich meine müden Beine voran, hetzte Sviila und Nelli nach, die kopflos vor Angst vor mir den Abhang hinunterrannten.
Der Wald lichtete sich, und ich verstand, warum es so günstig bergab gegangen war: Vor uns lag ein breiter, gefrorener Fluss, seine Oberfläche halb blank gefegt durch den Sturm, halb bedeckt von Schneehaufen. Felsen ragten hier und da heraus, jeder behängt mit einem Mantel aus Eiszapfen. Früher, als es noch Sommer in Ymatàja gegeben hatte, war das Wasser hier wahrscheinlich in unüberwindlichen Stromschnellen entlanggejagt, jetzt aber lagen die Wogen des Flusses erstarrt vor uns.
Sviila stockte, eingeschüchtert durch dieses Hindernis, ich dagegen ließ das Deckenbündel fallen und packte das Elfenmädchen mit meiner nun freien Hand. »Na, komm, rüber! Pass nur auf, wo du hintrittst!«
Schon kämpften wir uns weiter voran, hinaus auf die Eisfläche. Der Untergrund war tückisch: Zwischen festem Boden gab es immer wieder glatte Stellen und unter losem Schnee verborgene Spalten. Sviila entging den meisten mit leichtem Schritt, Nelli hüpfte natürlich über alles hinweg, ich jedoch stolperte immer öfter, mein Angstpegel am Limit.
Wenn ich mir den Fuß breche, sind wir geliefert.
Doch Vorsicht konnten wir uns nicht leisten. Immer lauter wurden die Geräusche unserer Verfolger, und auch ohne mich umzudrehen, wusste ich, dass sie bereits den Hang hinabpreschten. Keine Minute mehr, und sie würden uns sehen. Der Schnee offenbarte unsere Spuren gnadenlos und zerstörte jede Chance auf ein Versteck.
Dann hatten wir das andere Ufer erreicht. Ich stolperte über die letzte gefrorene Welle, na klar, das MUSSTE sein!, und fiel schwer in den Schnee.
»Komm, Elvy, bitte!« Sviila riss an meinem Arm. Als ich mich hochstemmte, warf ich einen Blick zurück … und sah ihn.
Ys.
Er ritt an der Spitze der bestimmt ein Dutzend Mann starken Patrouille und ließ gerade die letzte Baumreihe hinter sich. Ein einsamer Sonnenstrahl fiel durch die Wolken und brach sich in den Eissplittern seiner Helmkrone, den Schuppen seiner prächtigen Rüstung aus schwarzem Eis. Sein Mantel umwehte ihn wie eine Nebelwolke. Als er den Fluss erreichte, zügelte er kurz sein schneeweißes Ren – und entdeckte mich.
Obwohl uns bestimmt fünfzig Meter trennten, meinte ich, das Blitzen seiner eisblauen Augen zu sehen. Sein Blick traf mich wie ein Bannstrahl und ließ den Splitter in meiner Seele erglühen. Neuer Schmerz durchfuhr mich, wollte mich in die Knie zwingen.
»Elvy!«
Nur ein Wort. Er schrie es zu mir herüber mit Eriks Stimme, doch der gnadenlose Triumph, die entfesselte Wut darin waren nichts als Ys.
Ich hatte mich gegen ihn aufgelehnt, wieder und wieder, hatte ihn niedergerungen, damit Erik zurück zu mir kam. All die Macht des Frostprinzen hatte meine Flucht nicht verhindert … aber jetzt konnte ich nicht weiter.
Der Wald, der sich hinter dem Flussufer erstreckte, bot uns kein Versteck, und der Speer, an den ich mich keuchend und zitternd vor Schmerz klammerte, würde auch nicht helfen. Schon einmal hatte ich versucht, seine Flamme zu wecken – vergeblich.
»Sviila«, flüsterte ich mit letzter Kraft. »Renn mit Nelli weiter, vielleicht reicht es ihnen, wenn sie mich haben. Ich kann sie nicht aufhalten.«
»Du nicht, Elvy Langspeer«, erwiderte sie, ihre Kinderstimme plötzlich wie abwesend und erfüllt von einem dunklen, fernen Hall. »Du nicht – aber ich.«
Verstört starrte ich Sviila an, die jetzt fast wie eine Fremde wirkte. Was war nur in sie gefahren?
»Lass den Quatsch«, keuchte ich. »Lauf los, dann –«
Doch das Aelfar-Mädchen schien mich nicht zu hören. Als würde sie von unsichtbaren Händen geleitet, trat sie neben mich und fixierte das gegenüberliegende Ufer. Dort trieben gerade die ersten Frostkrieger ihre Reittiere aufs Eis, Ys an ihrer Spitze.
Ich kämpfte gegen den lähmenden Schmerz in mir an, packte Sviila am Arm, um sie fortzuziehen, doch sie schüttelte mich mühelos ab. Woher nahm sie auf einmal diese Kraft? Und dann sah ich ihre Augen. Sie leuchteten, wie erfüllt von einem fremden, heißen Feuer.
Ihre Stimme noch immer wie die eines anderen, rief sie nun über den Fluss: »Schergen der Ysirka! Ich befehle euch Einhalt! Hört meine Worte und zieht euch zurück, sonst vernichte ich euch!«
Kein Frostkrieger gehorchte, natürlich nicht, aber das hielt Sviila nicht auf. Ihre Hände zogen den Anhänger an der Kette hervor, den ihr Vater als Zeichen seiner Herrschaft bezeichnet hatte. Hoch über ihren Kopf hielt sie den Edelstein und rief: »Ich gebiete über das Himmelsjuwel! Macht des Sommers, ich rufe dich! Steh mir bei!«
Zwischen ihren Fingern, die den Anhänger hielten, quoll Licht hervor, überirdisch blau. Hoch über ihren Kopf hielt sie den Stein, kaum erkannte ich sie noch in dem Gleißen. Wind kam auf und ließ ihre silberweißen Haare fliegen. Nelli floh mit schrillem Kreischen zu mir und verkroch sich in meinem Gewand.
Kjellan!, schoss es mir durch den Kopf. Das ist seine Magie, die durch den Stein zu ihr fließt! Obwohl er nicht bei uns ist, beschützt er seine Tochter …
Ys hatte natürlich bemerkt, was geschah, und trieb seine Krieger an; doch die Silberrene bockten und scheuten. Selbst der Schneebann konnte sie nicht zwingen, der Macht des Sommers zu trotzen, die Sviila jetzt entfesselte. Das Juwel verbindet sie mit ihrem Vater, verstand ich. Als Gefangener der Ysirka konnte Kjellan seine Magie nicht nutzen – aber Sviila ist frei!
Mittlerweile war ihre schmale Gestalt vollkommen umhüllt von unirdischem Licht, das das Elfenmädchen mit blauem und goldenem Feuer umtoste. Und dann griff Sviila danach, fasste eine der Flammen und schleuderte sie nach vorn, in die Mitte des Flusses.
Das magische Licht schlug ein wie ein Blitzstrahl, eine Explosion reiner Sommerglut. Eis brach mit entsetzlichem Knirschen, Dampffontänen schossen hoch. Immer weiter breitete sich der Sonnensturm aus, brachte den gefrorenen Fluss zum Glühen, zum Schmelzen. Wasser bahnte sich seinen Weg, riss Eisschollen mit sich, brüllte und tobte wie ein viel zu lang gefangen gehaltenes Tier …
Ich kniete am Ufer, vor mir Sviilas Kindergestalt, und schaute mit aufgerissenen Augen auf das Inferno, das sie verursacht hatte.
Irgendwo in dem Toben erahnte ich die Frostkrieger und ihren General, hörte das angstvolle Brüllen ihrer Reittiere. Nicht jedem von ihnen gelang die Flucht zurück ans Ufer, ich sah schwarze Helme und Silbergeweihe in den Fluten verschwinden, fortgerissen von der Wut des Wassers.
Mit einem Mal erlosch das Licht. Es hinterließ einen Fluss, der befreit war, so weit meine Augen blickten … und dessen schäumende Fluten zum unüberwindlichen Hindernis geworden waren. Auf der anderen Seite stand Ys, umringt von dem, was von seinen Kriegern übrig geblieben war. Sein Ren hatte es wohl auch erwischt, ich konnte es nirgendwo entdecken. Ys' Stimme donnerte über das Wasser, in dem Tosen der frisch entfesselten Stromschnellen verstand ich kein Wort … doch das brauchte ich auch nicht. Der Frostprinz tobte vor Wut und er würde nicht aufgeben. Sicher war der vereiste Fluss nicht auf ganzer Länge geschmolzen – aber selbst wenn: Er würde wieder gefrieren. Schon bald. Und Ys würde mir weiter nachjagen.
Keine Rettung also. Aber eine neue Chance auf einen kleinen Vorsprung. Verschwenden wir keine Sekunde!
Nur mühsam gelang es mir, Atem zu holen, meinen Blick vom anderen Ufer zu lösen … und dann bemerkte ich Sviila. Sie war zusammengebrochen und lag reglos im Schnee, ihr zarter Körper halb vergraben im Pelzmantel ihres Vaters. Das himmelblaue Juwel steckte noch immer zwischen den verkrampften Fingern ihrer linken Hand, sein Glanz fast vergangen. Ihr Gesicht, eben noch von so warmem, lebendigem Braun, war schattengrau.
»Sviila!« Ich stürzte an ihre Seite und hob sie in meinen Schoß. Lebte sie noch, war sie …
Nelli wieselte zwischen uns herum und fiepte jämmerlich, ihre Pinselohren ganz flach ans Köpfchen gedrückt. Mit den Zähnen zerrte ich mir einen Handschuh herunter und tastete verzweifelt nach dem Puls des Elfenmädchens. Erst spürte ich gar nichts, nur eiskalte Haut, aber dann – ein Flattern, die Ahnung eines Herzschlags …
Bling auf meiner Stirn schien zu antworten. Und endlich war ich mir sicher: Sviila lebte. Vor Erleichterung schossen mir die Tränen in die Augen. Ich blinzelte sie wütend weg – Geheule würde der Kleinen nichts nützen. Die Magie ihres Vaters hatte uns davor bewahrt, zur Beute des Frostprinzen zu werden, doch das hatte Sviila all ihre Kraft gekostet. Ich tätschelte ihr sanft die Wangen, rief ihren Namen – keine Reaktion.
Ein warnendes Quietschen von Nelli ließ mich erschreckt aufschauen. Wider Erwarten war Ys noch nicht aufgebrochen, um flussabwärts einen Übergang zu suchen. Stattdessen stand er hochaufgerichtet da, in den Händen einen Speer aus schwarzem Eis – wahrscheinlich ein neues Geschenk seiner Herrin als Ersatz für die Waffe, die ich ihm gestohlen hatte. Er reckte die Spitze gen Himmel, wo die Wolken immer dichter und dunkler wurden …
Er versucht irgendeinen Eiszauber!, begriff ich. Will er den Fluss erneut gefrieren lassen? KANN er das? Denn genau das würde passieren, da war ich mir plötzlich sicher. Verdammt! Sviila hat so viel gegeben und wir bekommen nicht mal ein paar Stunden dafür!
Wieder brannten Tränen in meinen Augen, aber diesmal vor Wut. Ihre lodernde Flamme brachte mich zurück auf die Beine. Eilig hob ich Sviila hoch. Ihr zarter Körper war leichter als gedacht, doch unter den zusätzlichen Bürden von Tomte Teda und dem Glutspeer gab ich ein echt überfordertes Lasttier ab.
Nelli wieselte an mir hoch, ihr Quietschen fast panisch. Ich warf einen letzten Blick über die Schulter – genau in dem Moment, als die Wolke über Ys zu grollen begann. Plötzlich zuckte es kaltweiß zu seinen Füßen auf, wie ein Blitz, der aus der Erde hervorschoss …
Frostlinien! Er hat sie gerufen, damit sie ihm eine neue Eisbrücke über den Fluss bauen! Nein, nein, nein …
Nellis Warngeschrei im Ohr, wandte ich mich um und hastete davon, so schnell es ging. Mit Sviilas bewusstlosem Körper in den Armen taumelte ich hangaufwärts voran. Noch hinderlicher als ihr Gewicht und der Beutel mit der Wichtelfrau war der Glutspeer. Ich trug ihn schräg vor mir, eingeklemmt zwischen dem Elfenkind und meiner Brust, und das Mistding tat sein Bestes, um zu verrutschen und sich an Hindernissen zu verfangen.
Lass ihn zurück, jammerte eine Stimme in meinem Kopf, für dich ist er eh nur ein Stück totes Holz!
Ich hörte nicht auf sie und kämpfte mich weiter voran, Schritt für Schritt für Schritt. Keuchte und fluchte, bis mir die Luft dazu ausging. Hinter mir ertönte das eisige Knistern der Frostlinien lauter und lauter, aber ich wagte nicht, mich umzusehen. Wie schnell gefror der Fluss? Wann würde Ys unser Ufer erreichen? Wie, wie, wie sollte ich ihm entkommen?
Der Gedanke wollte mich weitertreiben, doch die Kraft ging mir rapide aus. Immer öfter stolperte ich, Sviila und meine übrigen Lasten entglitten mir. Jedes Mal fiel es mir schwerer, sie und mich wieder aufzuraffen. Die eisige Luft brannte mir in der Lunge, meine Arme und Beine zitterten vor Anstrengung.
Endlich hatte ich den Kamm der Anhöhe erreicht. Aber auch das brachte keine Rettung, der Weg wurde nur etwas weniger steil. Vor mir nichts als schwarze Stämme und verschneite Felsen, hinter mir fernes Krachen und Fauchen. Trieb Ys mithilfe der Frostlinien die Eisschollen im Fluss zusammen, um noch schneller einen Überweg zu bekommen?
Du brauchst dich nicht zu beeilen!, schrie ich stumm. Ich kann eh gleich nicht weiter, ich …
Ein unter dem Schnee verborgener Busch brachte mich zu Fall, diesmal endgültig. Sviila und der Speer rutschten mir aus den Händen und ich landete neben ihnen auf dem Boden. Ich wollte mich hochstemmen, schaffte es nur noch auf die Knie, mein letzter Fetzen Kraft verbraucht. Nelli sprang fiepend an mir hinauf, zerrte mit ihren winzigen Pfoten an meinem vereisten Pelzkragen, doch ich konnte nicht einmal mehr den Arm heben, um sie zu beruhigen.
Mein Herz hämmerte so hart in der Brust wie noch nie, auf meinen Wangen spürte ich das Brennen gefrierender Tränen. Auch die nutzten meine Schwäche gnadenlos aus.
Verdammt. Verdammt.
Vom Fluss trieb unheimliche Stille zu uns her. Ich wusste, dass dies keinen Aufschub verhieß, im Gegenteil: Genau jetzt führten Ys und die Frostkrieger ihre Silberrene über die neu geschaffene Eisbrücke. Gleich hatten sie unser Ufer erreicht, dann trennten sie nur noch wenige Meter von mir. Wir waren verloren. Ich konnte nicht weiterlaufen, nicht kämpfen, ich konnte einfach nicht mehr …
»Machn du da?«
Wie aus dem Nichts ertönte eine helle, freche Stimme. Im ersten Moment glaubte ich an einen Streich meiner überforderten Sinne. Reine Einbildung, hier ist doch nichts außer Bäumen und Kälte!
Doch da bewegte sich eine Schneewehe am Fuß des großen Felsens vor mir. Zwei grauschwarze Bündel erschienen, kullerten auf mich zu und entrollten sich zu …
»Nuk! Nîm!«, krächzte ich. »Was – wie kommt ihr denn hierher?«
»Durch unsere Tunnel natürlich!«, krähte Nuk und seine Schwester ergänzte: »Doofe Frage!«
Ich traute meinen Augen kaum. Doch es gab keinen Zweifel: Vor mir standen wirklich die beiden Trollkinder, die Tomte Teda, Simàja und ich kurz nach unserer Ankunft in Ymatàja getroffen hatten. Es ging ihnen offenbar bestens. Die goldenen Augen in ihren graufaltigen Gesichtern funkelten neugierig, ihr schwarzes Wuschelhaar glänzte und sie trugen brandneue grüne Latzhosen mit passender warmer Weste. Auch an ihrem Wesen hatte sich nichts verändert: Schon stürzten sie sich mit gierigen Grabsch-Händen auf mein Bündel – da sprang ihnen fauchend Nelli entgegen. Das schreckte die beiden jedoch gar nicht, im Gegenteil.
»Ein Eishörnchen?«
»Ooooh, wie süß!«
»Wir haben noch nie ein lebendiges gesehn!«
»Schenkst du's uns?«
»Nennen wir es Plim, ja?«
»Neiiin, lieber Rumpi, das –«
»Sie heißt Nelli und sie wird nicht verschenkt!«, unterbrach ich die Kleintier-Adoption. »Weil sie mir nicht gehört!«
»Du bist doof! Richtig doof bist du!« Mich traf ein finsterer Blick aus zwei Paar Trollkinderaugen, aber schon hatten die beiden ihr nächstes Ziel entdeckt: die noch immer bewusstlose Sviila.
»Isn die da?«
»Ne dumme Somaelfa!«
»Sooo schöner Schmuck! Meins!«
»Nein, meins!«
Sie hatten die Halskette mit dem blauen Juwel entdeckt und eine handfeste Klopperei entbrannte um die vermeintliche Beute.
»Schluss mit dem Blödsinn!« Ich erwischte die beiden an ihren Puschelschwänzen und zog sie auseinander. »Dafür haben wir keine Zeit! Hört doch!«
Sofort spitzten die Trollkinder ihre großen Ohren. Ja, da war das Geräusch, das ich so gefürchtet hatte: das Trommeln von Rentierhufen auf Harsch, das Klirren eisiger Waffen, näher und näher …
»Iiiih! Die Eisfressen!«, schrie Nîm. »Weg hier!« Schon riss sie ihren Bruder mit sich, zurück zu der Schneewehe, in der sich bestimmt der Eingang zu ihrem Tunnel verbarg.
»Hey!«, rief ich und versuchte, auf die Füße zu kommen. »Wartet, ich –«
»Warten? Bist du bröselig?!«
»Na los, komm her! Die doofe Aelfa darf auch mit!«
»Aber wie?«, rief ich verzweifelt. Mit Sviila auf den Armen schleppte ich mich zu dem Felsen und erblickte ein Loch im Schnee, kaum größer als ein Medizinball. Genau richtig für Grautrolle – unmöglich passierbar für mein Format.
»Du weißt doch das Zauberwort!«, krähte Nîm. »Und die da hat einen Erdstern! Magie!«
Sviilas Juwel …!
Aber würde seine Magie noch ausreichen, um uns auf Trollgröße zu schrumpfen? Und konnte ich die Zauberformel für uns beide sprechen?
Keine Zeit für Zweifel. Die Geräusche unserer Verfolger dröhnten die Anhöhe hinauf, gleich, gleich würde Ys mich erblicken …
Nelli war bereits in das Loch geflitzt und rief mich mit schriller Eishörchenstimme, sekundiert vom Anfeuern der Trollkinder. Ich zog den Glutspeer und den Tomte-Teda-Beutel ganz dicht an mich heran, legte Sviilas schlaffe Fingerchen um den blauen Edelstein, umfasste sie mit meinen Händen und flüsterte: »Kjällevis!«
Ein Aufblitzen, ein Gefühl wie ein winziger elektrischer Schlag – und die Welt wurde groß, der Felsen vor mir plötzlich haushoch.
Es hat geklappt!!!
Wie schon zweimal zuvor hatte mich das Zauberwort zum Zwerg gemacht – und nicht nur mich, wie ich erleichtert sah, auch Sviila und mein Gepäck. Keine Sekunde zu früh: Ein heiserer Schrei schallte durch den Wald und zwischen den Bäumen preschte Ys heran. Meine Spuren im Schnee führten ihn unfehlbar zu mir, vielleicht spürte er sogar, wie nah er mir war …
»Elvy!«, brüllte er, seine Stimme irgendwo zwischen Zorn und entsetzlicher Freude. »Elvy! Du gehörst mir!«
Ich verschwendete keine Sekunde mit einer Antwort. Nuk und Nîm hatten Sviila bereits in das Loch gezogen, ich packte den Glutspeer und Tomte Teda und sprang hinterher. Direkt hinter dem Eingang ging es steil bergab. Ich verlor das Gleichgewicht und stieß mit den anderen zusammen, wir purzelten wild durcheinander, Nîm gelang es trotzdem, den Befehl zu brüllen, der das Erdloch schloss.
Urplötzlich herrschte Dunkelheit … aber leider keine Ruhe. Gewaltige Stöße erschütterten die Erde ringsum.
»Kommt er uns nach?«, schrie ich entsetzt. »Kann er das?«
Er spürt mich, mich und meinen Splitter, schoss mir durch den Kopf. Beim letzten Mal waren wir noch nicht so eng verbunden, aber jetzt gibt er nicht auf!
Schon barst der Tunnel hinter uns und gefrorene Erde prasselte auf uns herab.
»Lauft vor mit Sviila und dem Speer«, brachte ich heraus. »Er will mich! Wenn ich hierbleibe –«
»Kieselkram! Wenn wir dich zurücklassen, verknotet Mama uns die Schwänze!«, rief Nîm und griff meine Hand. »Die geben eh gleich auf. Wir müssen nur ein Stück tiefer!«
»Aber –«
»Los, los, los, los, los!«, quakte Nuk, der plötzlich hinter mir war und schob. »Weg vom Eis, rein in die tiefen Tunnel! Zum Trollweg!«
»Zum was?«
Neue Erdstöße, ein Blitzstrahl kalten Tageslichts, blendender Schmerz in meiner Brust … Raue Hände zerrten mich voran, halb blind und besinnungslos ließ ich es geschehen, taumelte weiter. Nur weg, weg von Ys, egal wie, egal wohin. Doch der Schmerz wurde stärker, erdrückte mich schier, riss mich fort ins Dunkle.
Und dann, endlich, war alles still.
Als ich zu mir kam, wusste ich sofort, dass ich wieder träumte. Ein magischer Traum war es, einer von denen, die mich bisher immer an Eriks Seite gebracht hatten, das spürte ich mit jeder Faser meiner Sjal … und doch anders als alles, was ich bisher erlebt hatte. Diesmal umgaben mich nicht die düsteren Eiswände des Traumlabyrinths. Nein, diesmal wölbte sich über mir ein grenzenloses, dunkles Firmament, seine Nachtschwärze ohne den kleinsten Funken Helligkeit – kein Mond, keine Sterne und auch nicht die zauberhaften blau-grünen Schleier des Nordlichts.
Mir schwindelte. Noch vor einem Augenblick hatte ich in einem Trolltunnel gesteckt, auf der atemlosen Flucht vor der Wut des Frostprinzen, um mich herum Blitze, Dunkelheit und Getöse, dazu der furchtbare Schmerz in meiner Brust … und jetzt plötzlich diese Traumstille.
Langsam, ungläubig drehte ich mich um und versuchte zu verstehen, was mit mir geschah. Wo ich mich wirklich befand. Unter meinen Füßen, die wie im wachen Zustand in den vertrauten Rentierfellstiefeln steckten, sah ich schwarzes, glattes Eis. Als ich aufstampfte, spürte ich es unter mir beben – und dann war es, als ob mein harter Tritt die Umgebung zurechtrückte. Mit einem Mal erschienen Formen, Flächen, türmten sich auf, schoben sich ineinander … und vor meinen staunenden Augen entstand ein Ort.
Von einem Moment zum andern, traumschnell war ich nicht mehr verloren unter einem grenzenlosen Himmel, sondern befand mich auf dem Balkon eines fantastischen Gebäudes mit zahllosen Türmen, Höfen und Mauern aus schwarzem Eis – ein dunkler Zwilling der Schneefeste, doch ungleich prächtiger. Statt mit Zinnen und Wehrgängen war hier jede denkbare Ecke mit den wunderbarsten Ornamenten verziert und der Frost glänzte darauf wie im Licht unsichtbarer, kalter Sterne.
Ich schüttelte den Kopf, versuchte, klar zu denken und mich nicht von der Umgebung überwältigen zu lassen. Bling summte sanft auf meiner Stirn, noch immer geschwächt, aber ein beruhigendes Zeichen.
Trotz der eisigen Atmosphäre stand mir keine Atemwolke vor dem Mund, der letzte Beweis dafür, dass ich mich wahrhaftig in einem Traum befand – nur wer träumte ihn? Bisher war es der Traum von Erik und mir gewesen, der uns eine nicht ungefährliche, letztlich jedoch verlässliche Zuflucht geboten hatte. Aber der Frostprinz hatte erneut Eriks Geist in seine Gewalt gebracht, hielt ihn vermutlich unbarmherziger denn je gefangen. Ich hatte keine Ahnung, was das nun genau für uns bedeutete – doch es konnte nichts Gutes sein.
Ich holte tief Luft und strich mir probeweise über das Pelzgewand, das ich trug. Genau wie die Stiefel war es bis aufs Haar ein Abbild meiner Vintaelfar-Kleidung in der wachen Welt und es fühlte sich unter meinen Händen beruhigend echt an. Ein Zeichen dafür, dass ich zumindest über ein kleines Maß an Kontrolle verfügte?
Ermutigt durch den Gedanken, wandte ich mich zu den mit wunderschönen Schnitzereien verzierten Flügeltüren, die vom Balkon ins Innere des Palastturms führten. Sie standen einen Spalt offen – eine Einladung? Oder eine Falle? Fenster besaßen die hohen Flügel nicht, sodass ich von hier aus nicht ins Innere blicken konnte.
Na gut. Zeit, meine Macht zu testen. Kann ich auch diesen Traum manipulieren?
»Die Balkontüren haben Glasscheiben«, murmelte ich. Ich hielt meine Gedanken ganz ruhig, fast beiläufig – nutzte die gleiche Methode, die Erik und mir bisher geholfen hatte, Veränderungen zu schaffen. Doch kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, durchzuckte mich ein unmenschlich scharfer Schmerz, tief in meiner Sjal. So überraschend kam der Anfall, dass ich fast in die Knie ging und nach Luft rang. Einen Augenblick stand ich nur da, schwankend und keuchend, die Hände verkrampft vor meiner Brust, wo ich den brutalen Nachhall spürte.
Der Splitter. Der verfluchte Splitter, hämmerte es in meinem Kopf. Selbst im Traum lässt er mich nicht los. War das … schlimmer als sonst? Wird er stärker? Angst und Wut schossen in mir hoch, mein innerer Igel stellte die Stacheln auf. Das darf nicht sein. ICH werde stärker, nicht dieser eisige Mist! Mit aller Kraft verbannte ich den erschreckenden Gedanken. Später, später wollte ich darüber nachdenken, jetzt würde er mich zu sehr schwächen.
Der Schmerz verebbte und ich richtete mich mühsam wieder auf. Dann sah ich es: Die Balkontüren hatten Fenster. Ich stieß ein raues Lachen aus.
Botschaft angekommen, Traum. Ich KANN hier also etwas verändern – aber nur zu einem fiesen Preis. Shit.
In meiner Brust noch immer ein leises, schmerzhaftes Pochen, raffte ich mich auf und näherte mich den Flügeltüren mit ihrer neuen Durchsicht. Ein vorsichtiger Blick zeigte keine Bewegung im Innern, keine Gefahr – nur einen ebenfalls aus schwarzem Eis geformten Raum mit einer weiteren Tür am anderen Ende.
Also gut, ich beiße an, sagte ich mir grimmig im Stillen. Allein auf dem Balkon herumzustehen, bringt mich auch kein Stück weiter. Ich muss wissen, was das hier ist … und ob ich Erik finden kann.
Der Gedanke an ihn schmerzte ungleich schlimmer als der Splitter, aber ich ließ nicht zu, dass mich das lähmte – ebenso wenig wie die Furcht vor Ys. Entschlossen verließ ich den Balkon und durchquerte das daran angrenzende Zimmer. Dessen aufwendig mit Silberintarsien verzierte Tür bot ebenfalls keinen Durchblick, aber ich verzichtete auf eine weitere Traummanipulation, um mir erneuten Schmerz zu ersparen – und um meine Kräfte zu schonen. Stattdessen verließ ich mich auf Bling. Sein schwaches Pulsieren auf meiner Stirn ging zwar ähnlich schnell wie mein Herzschlag, ließ aber keine größere Gefahr erwarten. Ich trat durch die Tür. Und tatsächlich bot auch das nächste Zimmer – nein, es war mehr ein Saal – keinen lauernden Schrecken, nur weiteren üppigen Luxus, erhellt durch einen immensen Kronleuchter. Eine eigenartige Konstruktion war das, wie mir auf den ersten Blick auffiel – strahlend hell und doch missgestaltet. Goldene Lüsterarme verschmolzen mit Eiszapfen, das Licht halb warm wie von Kerzenflammen, halb eisig kalt durch die gefangenen Magiefunken.
Ich runzelte die Stirn, zwinkerte und bekam doch kein klares Bild. Der Kronleuchter schien vor meinen Augen zu verschwimmen, als ob er zwischen zwei Versionen hin und her glitt.
Im nächsten Saal entdeckte ich etwas noch Seltsameres, geradezu Unheimliches: Inmitten einer Sitzgruppe aus hellem Holz und bunt bestickten Polstern stand ein dunkelgrauer Schreibtischstuhl mit Rollen. Mein Schreibtischstuhl, wurde mir klar, genau das Teil, das ich vor zwei Jahren günstig bei einem Büroausverkauf entdeckt und mit Eriks Hilfe die drei Treppen hinauf in mein Schlafzimmer bugsiert hatte. Und nun stand er hier, wie angespültes Treibgut an den Ufern dieses Traums.
Ein Schauder kroch mir den Nacken hinauf, als ich nach Erklärungen für dieses Rätsel suchte. Keine einzige gefiel mir. Ich schüttelte den Kopf und ging rasch weiter, doch auch in den nächsten Räumen sprang mir immer wieder Ähnliches ins Auge, das hier fehl am Platz war – Gegenstände aus meiner Welt, meiner Wohnung, verdammt, sogar altes Spielzeug, das ich längst weggegeben und vergessen hatte.
Der Schauder breitete sich aus, tastete mit spinnwebfeinen, klammen Fingern über meinen Rücken, suchte nach Wegen in mein Inneres. Mein Herzschlag beschleunigte sich erneut, genau wie Blings Pulsieren, mein Atem kam ins Stocken, denn mir wurde immer klarer, was ich hier sah: Es waren Bruchstücke aus Eriks Geist, handfeste Erinnerungsstücke, die er mit mir verband. Und all das besaß jetzt Ys.
Sein Traum, hämmerte es in meinem Kopf. Es ist nicht mehr der von Erik und mir. Es ist seiner. Ich bin im Geist des Frostprinzen! Aber wo ist er? Was hat er vor? Was kann ich –
Der nächste Saal, prunkvoller als alle anderen, öffnete sich vor mir und nun vergaß ich tatsächlich zu atmen. In der Mitte des kreisrunden Raums stand ein Gebilde, ein wahres Kunstwerk – unendlich vertraut und doch entsetzlich fremd. Es war eine Statue aus purem Eis, die Statue eines Mannes, hochgewachsen, jung und stark. Er stand dort wie mitten in der Bewegung erstarrt, seine Beine gefangen in einem Eisblock. Er hatte eine Hand ausgestreckt, mir entgegen.
Komm mit mir!, schien sie zu sagen, oder: Hilf mir!
Nichts davon konnte ich tun. Ich stand nur da, schockstarr an meinen Platz gebannt, und sah in das vereiste Gesicht, die blicklosen Augen.
»Erik«, brachte ich heraus, meine Stimme wie die einer Fremden. Der dünne Laut zitterte in der kalten Luft – und der Traum zerbrach in tausend Scherben.
Ich erwachte in Dämmerlicht und Wärme, ringsum der Geruch von Staub, Erde und Pilzen. Unter mir ertastete ich grob gewebtes Tuch und aufgeschichtete Flechtmatten, eine Bettstatt. Langsam nahm ich auch den Rest meiner Umgebung wahr: raue Felswände, ein paar Hocker und einen Tisch, all das erleuchtet von den mir bekannten Blasenlampen, in denen goldglühende, dicke Würmer herumkrochen. Eine Grautrollhöhle war das, eindeutig.
Auf der Flucht durch die Tunnel war ich wohl in Ohnmacht gefallen und hatte erneut geträumt. Nur war es diesmal keine wirre Vision gewesen wie in der Baumhöhle, als Erik mir sein gefrorenes Herz gereicht hatte. Zu klar standen mir die Bilder vor Augen und sie verblassten nicht.
Ich war im Traum des Frostprinzen. Er hat jetzt dort die Macht. Und Erik … Erik ist sein Gefangener, diesmal vielleicht für immer. Vielleicht ist er schon jetzt unrettbar verloren. Der Gedanke legte sich wie ein Zentnergewicht auf meine Brust. Er ist nichts mehr als ein Eisblock und ich konnte ihm nicht helfen! Nicht einmal zu ihm konnte ich!
Meine Hände waren noch immer schmerzhaft zu Fäusten geballt und ließen sich nicht lösen. Doch dann bemerkte ich etwas Wunderbares: ein Prickeln auf meiner Stirn, ein silbriges Leuchten, das immer heller wurde. Es breitete sich aus, tanzte durch meinen Körper, bis in meine Fingerspitzen.
»Bling«, hauchte ich. »Bist du wieder voll da?«
Die Antwort meines Froststerns war wie ein winziger Blitzschlag. Ja!, schien er zu sagen. Aber es war verdammt harte Arbeit. Lass uns das nicht so bald noch mal machen, okay?
»Das kann ich dir nicht versprechen«, erwiderte ich leise und kniff kurz die Augen zusammen, weil ich abermals Tränen der Erleichterung spürte. Was war ich nur für eine Heulsuse geworden!
Endlich gelang es mir, meine verkrampften Hände zu entspannen. Ich wischte mir über das Gesicht und setzte mich entschlossen auf. Das hätte ich besser gelassen – denn plötzlich explodierte die Höhle vor Stimmengewirr.
»Da isse wieder!«
»Sieh an, das Tageslicht ist wach.«
»Wird aber auch Zeit.«
Im nächsten Moment war ich umringt von dunklen Schatten.
»Jetzt lasst ihr doch Luft, ihr Kieselköppe!«
»Ein Schluck Wurzelbrühe, das hilft!«
Schon hielt mir jemand einen Holznapf entgegen, aus dem ein würziger Duft aufstieg.
»So ist's recht, Tageslicht. Schön trinken.«
»Und ihr zwei, haltet endlich Ruhe!«
Du meine Güte. Endlich erkannte ich, wer mich da umsorgte: Es waren die beiden Tunnelwächter, die uns bei unserer Ankunft im Trollreich bedroht hatten. Damals, als ich mit Tomte Teda und Simàja ebenfalls auf der Flucht vor den Frostkriegern gewesen war.
»Grim? Ogi?«, fragte ich ungläubig. »Was tut ihr denn hier?«
»Was wir neuerdings ständig tun«, brummte Grim und strich sich die schwarze Trollmähne zurecht. »Hinter den Kindern Ihrer Hoheit herlaufen und wenigstens den größten Blödsinn verhindern!«
Gekicher ertönte, als Nuk und Nîm sich an ihm vorbeidrängelten und neben mich auf die niedrige Bettstatt krabbelten.
Ogi, der zweite Wächter, zerrte sie wieder herunter und schimpfte: »Königskinder hüten! Das ist keine Arbeit für einen anständigen Tunnelwächter! Wieso müsst ihr nur immer weglaufen?!«
»Weil wir Abenteuer erleben wollen, Bröselhirn!«, kam die freche Antwort. »Ihr könnt ja zu Hause bleiben, statt uns nachzurennen!«
»Damit uns eure Mutter die Ohren abreißt?«, knurrte Grim. »Nichts da! Aber jetzt habt ihr ja was erlebt und dieses Tageslicht da gefunden, wie ihr's wolltet. Also geht es endlich zurück nach Hause.«
»Nein!«
»Wir wollen nicht, wir –«
»Oh, dieses Trollgeschrei ist nicht auszuhalten! Elvy, mach, dass sie schweigen!« Sviila, ihre feinen Aelfar-Züge verzogen, tauchte aus einer dunklen Höhlenecke hinter den Trollen auf. Voller Erleichterung öffnete ich meine Arme und sie schmiegte sich an mich.
»Dir geht es gut«, sagte ich erleichtert. »Ich bin ja so froh. Du hast uns gerettet, erinnerst du dich?«
»Papa war das«, murmelte sie. »Aber es gefällt ihm bestimmt nicht, dass ich bei Trollen bin. Sie … sie sind so laut! Und borstig!«
»Dafür denken Aelfar, Schlamm macht sie nicht dreckig!«, spottete Nîm und streckte Sviila die Zunge heraus.
»Ja!«, stimmte Nuk eifrig ein. »Mama sagt immer, wer sich für so fein hält, ist in Wahrheit –«
Nellis scharfes Zischen unterbrach ihn. Sie sprang auf Sviilas Schulter und funkelte die Trolle mit gesträubtem Puschelschwanz von dort an – offenbar sagte ihr die Gesellschaft genauso wenig zu wie der kleinen Fürstin.
»Sei lieb«, ermahnte ich Nelli. »Schließlich verdanken wir den vier diesen Unterschlupf. Aber trotzdem«, ich blickte streng zu Nuk und Nîm, »ein bisschen Ruhe brauche ich auch, um das alles hier zu verstehen. Also erzählt, aber nicht durcheinander: Wie kommt es bloß, dass ihr so plötzlich bei uns aufgetaucht seid?«
»Von wegen ›plötzlich‹«, grummelte Grim, bevor eins der Trollkinder loslegen konnte. »Seit Tagen rennen wir hinter den Kieseln da her, weil sie nicht genug von dir kriegen können, Tageslicht!«
»Von mir oder von meinen Geschenken?«, fragte ich grinsend.
»Von Abenteuern!«, krähte Nuk, nicht im Geringsten beleidigt. »Und Mama hat's erlaubt!«
»Jedenfalls ein bisschen«, ergänzte seine Schwester mit unschuldigem Blick, was ihre beiden Babysitter mit leidgeprüftem Schnaufen kommentierten.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber wie konntet ihr mich bloß finden?«
Die beiden warfen sich in die Brust. »Trolle finden jeden! Wir haben die feinsten Nasen der Welt!«
»Aller Welten! So hat uns Solvaer gemacht!«
»Im Ernst?«, fragte ich. »Selbst von hier unten aus konntet ihr mich aufspüren? Durch Erde und Gestein?«
Die Trollkinder bejahten lautstark, Grim allerdings zwinkerte mir zu und berichtigte: »Ganz so isses nicht. Man muss ab und an den Kopf hinaustrecken. Aber dann führt einen der Instinkt auch unter Tage zur Beute – äh«, verbesserte er sich hastig, »ans Ziel, meine ich!«
»Mhm, schon klar«, erwiderte ich und musste allen Widrigkeiten zum Trotz lachen. Selbst ich wusste bereits, als was die Grautrolle Wesen von der Oberfläche traditionell betrachteten. Nicht umsonst waren die drei erdgeborenen Völker Ymatàjas seit Generationen entzweit, ja, verfeindet. Ein Gedanke blitzte in mir auf. »Wenn ihr mich erschnüffelt habt …«, begann ich langsam. »Könnt ihr auch Simàja aufspüren?«
»Ja, klar!«, krähten Nuk und Nîm. »Überhaupt, warum seid ihr nicht mehr zusammen unterwegs? Habt ihr euch gestritten?«
»So etwas in der Art«, murmelte ich mit enger Brust. »Lange Geschichte. Aber ich muss sie wiederfinden. Bringt mich zu ihr, bitte!«
»Ooooh nein, nein, nein, nein, nein!«, rief Ogi empört. »Heim zu Aga geht es, für alle hier! Sind schon viel zu lange weg. Wenn wir die Kieselchen da heil zurückbringen und euch obendrauf, schneidet Aga uns vielleicht doch nicht die Schwänze ab.«
»Zur Trollkönigin sollen wir? Etwa als Gefangene? Niemals!«, schaltete sich Sviila ein und setzte sich mit hoheitsvoller Miene auf. »Ich bin die Tochter von Kjellan Sommerfürst, Erbin des –«
»Bablabla, das hast du uns schon tausendmal erzählt!«, unterbrach Nuk sie. »Doofe Aelfa!«
Seine Schwester ergänzte: »Wir sind auch Königskinder, du bist kein bisschen besser als wir! Mama weiß alles und kann alles, sie –«
»Hey! Pause!«, fuhr ich dazwischen. Ich zog Sviila schützend an meine Seite und zwang mich, ganz ruhig mit den Trollen zu sprechen. »Wir müssen unbedingt Simàja finden und wir dürfen keine Zeit verlieren. Jeder Tag zählt, wenn wir Ymatàja vor der Kalten Herrscherin retten wollen.«
»Geht's um das, was euch die Sommerfee prophezeit hat?«, piepste Nîm, ihre goldenen Augen weit aufgerissen. »Dass sich alle verbünden müssen? Aber da will doch keiner mitmachen!«
»Mit der da«, Nuk deutete abschätzig auf Sviila, »verbünde ich mich jedenfalls nie. Die lässt uns nicht mal mit dem Eishörnchen spielen!«
»Nelli ist eben lieber bei mir«, gab Sviila hochmütig zurück und streichelte das Tierchen. »Weil ich nicht nach alten Pilzen stinke!«
»Dafür stinkst du gleich nach Wurzelbrühe!«, fauchte Nîm und grapschte nach meinem Napf.
Ich schob ihn rasch außer Reichweite und rief: »Pause, hatte ich gesagt! Ihr seid Königskinder? Dann benehmt euch auch so und hört zu! Genau diese Streitereien führen dazu, dass die Ysirka gewinnt. Wollt ihr das etwa?« Die drei Königskinder schauten mürrisch, blieben aber still. Ich nutzte meine Chance und fuhr rasch fort: »Es gibt einen Weg zur Einigkeit: die Krone des Bernsteinköngis. Ich weiß, alle halten das für eine Legende, aber sie existiert wirklich. Und wir wissen, wo sie versteckt ist – bei den Meerfrauen.«
»Noch so eine Legende!«, brummelte Ogi. »An der Weißen See sollen sie leben, aber das ist weit weg. Kein Troll hat die Meerfrauen je gesehen.«
»Aber es gibt sie«, beharrte ich, obwohl ich dafür nicht den kleinsten Beweis hatte, nur mein Vertrauen in Simàja … und selbst das war mittlerweile zutiefst erschüttert worden. Sie hatte mir versprochen, mich nie wieder mit ihrem Schimmer zu bannen, und es dennoch erneut versucht, um mich von der Rückkehr in den Traum abzuhalten. Und dann war da noch eine Sache, die ich in der Schneefeste erfahren hatte: die Erkenntnis, wie wenig Simàja und Tomte Teda mir vertrauten … Doch darüber durfte ich jetzt nicht nachdenken – und es erst recht nicht offen zugeben. »Simàjas Clan hat das Geheimnis der Bernsteinkrone jahrhundertelang gehütet«, fuhr ich also mit fester Stimme fort. »Ich war mit ihnen auf dem Weg zu den Meerfrauen, als mich der Frostprinz in die Schneefeste gelockt hat. Aber nun bin ich entkommen und muss Simàja wiederfinden!«
Nuk und Nîm hingen begeistert an meinen Lippen – ihre »Babysitter« allerdings wirkten wenig überzeugt.
»Ein Kükenplan, ausgeheckt von Tageslichtern«, sagte Grim abschätzig. »Und die Tomte, die bei euch war, wo ist sie? Glaubt die das etwa auch?«
»Frag sie doch selbst!«, erwiderte ich scharf und öffnete den Beutel mit dem Eisklumpen, der neben mir auf der Bettstatt lag.
Entsetztes Schnaufen folgte der Enthüllung. Obwohl wir nur kurz im Reich der Grautrolle zu Gast gewesen waren, hatte Tomte Teda mit ihrer Art offenbar gehörig Eindruck gemacht. Sie so zu sehen, hilflos gefangen im Eis der Ysirka, traf die Trolle sichtlich tief.
In knappen Worten schilderte ich, wie meine unerschrockene Wichtel-Trainerin sich geopfert hatte, um uns vor den Frostkriegern zu retten – ja, dass ich sie sogar für tot gehalten hatte, bis ich selbst zur Gefangenen der Schneefeste geworden war und sie dort entdeckt hatte.
»Ich weiß nicht, ob sie wirklich noch am Leben ist«, schloss ich meinen Bericht beklommen. »Ich hoffe es. Irgendwie muss ich sie aus dem Eis herausholen.«
»Mama könnte das!«, behauptete Nuk im Brustton der Überzeugung, aber seine Schwester und die Tunnelwächter blickten skeptisch.
»Selbst wenn.« Ich schüttelte den Kopf. So hart es auch war, diese Option durfte mich nicht von meinem Ziel abbringen. »Die Zeit läuft uns davon. Tomte Teda würde nicht wollen, dass ich ihr Schicksal über alles andere stelle. Ich muss zu Simàja. Keine Ahnung, ob ich ihr bei der Suche nach der Bernsteinkrone helfen kann – aber ich muss ihr den Glutspeer bringen. Wenn sie es schafft, eine Armee gegen die Ysirka zu führen, braucht sie diese Waffe.«
Grim und Ogi glotzten beeindruckt, als ich ihnen erklärte, welche Macht der kohleschwarze Speer besaß, den sie zum Glück ebenso hierhergeschleppt hatten wie mich. Aber sie blieben dabei, dass über all das am besten ihre Königin entscheiden sollte, sosehr ich auch auf sie einredete.
»Aga entscheidet. Wir bringen euch zu ihr«, war Grims abschließendes Urteil.
Frustriert sackte ich auf meinem Lager zusammen. Sviila hatte die ganze Zeit geschwiegen, doch der strafende Blick aus ihren Kinderaugen sprach Bände. Genau wie Nelli war sie enttäuscht von meiner schwachen Durchsetzungskraft.
Na schön, ich hab's vernünftig versucht, aber ohne Erfolg, sagte ich mir. Dann also unfair.
Ich wandte mich an die Trollkinder und wählte meine süßeste Stimme. »Nuk. Nîm. Was wollt ihr lieber: nach Hause zu eurer Mama – oder ein weiteres Abenteuer? Und diesmal ein richtig tolles?«
Keine Stunde später marschierten wir tief unter Tage in Richtung der Weißen See – dort, wo die Meerfrauen lebten und wo die Trolle Witterung aufnehmen würden, um mich zu Simàja zu bringen. Grim und Ogi hatten keine Chance gegen das Geschrei der Trollgeschwister gehabt. Mürrisch schlurften die beiden Tunnelwächter hinter uns her und leuchteten uns mit Wurzelfackeln, während Nuk und Nîm begeistert vorankugelten und uns den Weg zeigten. Sviila lief an meiner Seite, Nelli auf der Schulter, und versuchte gar nicht, ihren Widerwillen gegen die trollige Umgebung und die dazugehörigen Reiseführer zu verbergen.
Ganz super, seufzte ich innerlich. Wenn sich nicht einmal die Kinder verschiedener Völker vertragen, sollte diese Bernsteinkrone besser verdammt große Zaubermacht besitzen. Sonst ist das alles hier umsonst.
Dann umrundeten wir eine Biegung und selbst Sviila stieß ein entzücktes Keuchen aus. Auch ich blinzelte, rieb mir die Augen. Träumte ich etwa schon wieder? Wir hatten einen neuen Gang erreicht, so breit und hoch wie ein Stockholmer U-Bahn-Tunnel. Seine steinernen Wände waren über und über mit mystisch verschlungenen Runen verziert. Das Unglaublichste aber: Der Boden war bedeckt mit einem Teppich aus silberschimmerndem Gras und Blumen. Ihre Blüten, gold und blau, wiegten sich auf hohen Stängeln in einer kaum spürbaren Brise. Als ich versehentlich eine mit dem Fuß anstieß, ertönte ein feines Klingeln.
»Was ist das?«, flüsterte ich überwältigt.
»Der Trollweg!«, riefen Nuk und Nîm. »Hurra! Hurra! Jetzt sind wir schnell wie der Wind!«
»Das ist wunderbar«, wisperte Sviila. »Die Arbeit wahrhaftiger Tunnelmeister.«
Sie kannte den Trollweg natürlich aus Geschichten ihres Vaters, wie sie mir zuflüsterte – doch wie die meisten Aelfar hatte sie ihn nie selbst gesehen und auch nicht geglaubt, dass Grautrolle so etwas schaffen konnten. Jetzt aber betrat sie mit glänzenden Augen den Grasteppich, gleich hinter Nuk und Nîm, die sich stolz angrinsten.
Sie hatten auch allen Grund dazu, wie mir ein noch immer verstimmter Ogi widerwillig erklärte: Dieser Trollweg war Teil eines ganz besonderen uralten Wegenetzes, das sich unter fast ganz Ymatàja erstreckte. Nur Gegenden mit Braunerz und Vulkanen oder in Meeresnähe waren ausgespart. Weil er so tief lag, fern von der gefrorenen Erdschicht, hatte die Ysirka ihm noch nicht seine Magie rauben können. Und die war bemerkenswert: Wer auf dem Trollweg ging, bewegte sich tatsächlich so schnell wie der Wind. Jeder Schritt hier zählte wie hundert. In der Ära des Großen Krieges hatte dies den Trollarmeen zu gefürchteter Schlagkraft verholfen, berichtete Ogi, da sie schneller als alle anderen den Ort wechseln und Überraschungsangriffe starten konnten. Doch diese Zeiten waren längst vorbei und die Grautrolle in ihren Familienhöhlen sesshaft geworden. Kaum jemand nutzte noch den Trollweg – an diesem Tag aber gingen wir darauf.
Jeder Schritt wie hundert. Ich merkte nichts davon, während wir über den von Silbergras bedeckten Boden schritten. Es war nicht, wie auf einem Laufband zu gehen – das Gewölbe und seine runenverzierten Wände zogen in normalem Tempo an uns vorbei. Das einzig Seltsame war die leichte Brise, die uns entgegenwehte wie ein geheimes Zeichen dafür, wie schnell wir uns wirklich fortbewegten. Bling auf meiner Stirn vibrierte sacht, summte geradezu, als ob er dem feinen Klingeln der Glockenblumen antwortete.
Mein Zeitgefühl löste sich auf, aber ich ging einfach weiter, den Beutel mit Tomte Teda auf dem Rücken, den Glutspeer fest in der Rechten, Sviila an meiner Seite. Unsere Trolleskorte prahlte begeistert mit Räubergeschichten rund um diesen wunderbaren Weg – mit der Zeit tauten selbst Grim und Ogi auf und steuerten etwas dazu bei.
Schließlich, nach wer weiß wie vielen Stunden, erreichten wir eine Abzweigung, verließen den Trollweg und stiegen über reguläre Tunnel nach oben.
»Sollte nah genug sein«, brummte Grim. »Wir strecken mal die Nasen raus und schnüffeln.«
Ein gemurmelter Befehl – und die Sackgasse vor uns öffnete sich. Tageslicht, so scharf und hell wie ein Laserstrahl, fiel herein, gefolgt von einem Hauch frischer Winterluft. Grim streckte vorsichtig seinen Kopf hinaus und witterte. Nuk und Nîm versuchten, sich an ihm vorbei hinauszudrängen, doch er erwischte sie gerade noch an ihren Puschelschwänzen.
»Hiergeblieben!«, befahl er. »Wir sind auf der richtigen Spur, aber es ist noch ein Stück Weg zu laufen.« Schon schloss der Ausgang sich wieder.
Weiter also, zurück auf den wunderbaren Silbergraspfad mit seinem Wispern und Klingeln – und dem Gemaule der Trollkinder, denen es trotz unserer Siebenmeilenstiefel nicht schnell genug ging.