Meeresglühen (Bd. 2) - Anna Fleck - E-Book

Meeresglühen (Bd. 2) E-Book

Anna Fleck

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Beschreibung

Magisch, funkelnd, atemlos: Die Erfolgs-Trilogie geht weiter! Aris fuhr langsam mit seinen Fingern die nasse Haut meines Arms hinauf und hinterließ eine glitzernde Spur. "Unfair!", flüsterte ich erschauernd und sah zu ihm hoch. "Ich kann dich nicht zum Leuchten bringen." Er murmelte: "Du hast ja keine Ahnung ..." Ein Jahr ist vergangen, seit Ella an die "Oberfläche" zurückgekehrt ist – ein Jahr voller Liebeskummer, ohne ein einziges Zeichen von Aris. Und nun taucht er plötzlich wieder auf! Doch Atlantis steht kurz vor einem Krieg. Mitten im Taumel der Gefühle geraten die beiden zwischen alle Fronten. Werden sie dennoch füreinander einstehen können? Und was bedeutet ihre Liebe, wenn ein mythisches Unterwasserreich daran zu zerbrechen droht? Ella kämpft gegen übermächtige Feinde – und gegen ihr eigenes Herz … Ein wahrer Pageturner für Romantasy-Fans! Alle Bände der "Meeresglühen"-Trilogie: Band 1: "Geheimnis in der Tiefe" Band 2: "Wiedersehen in Atlantis" Band 3: erscheint im Sommer 2022

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Seitenzahl: 650

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Für meine Mutter. Ich wünschte, du wärst noch hier.Für meinen Vater. Ich bin so froh, dass du noch hier bist.

Bereits erschienen:

eISBN 978-3-649-64009-7

eISBN 978-3-649-64091-2

© 2021 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Anna Fleck

Covergestaltung: Carolin Liepins

Lektorat: Frauke Reitze

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN

978-3-649-63907-7.

Anna Fleck

MEERES

glühen

Wiedersehen in Atlantis

Inhalt

Dunkel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Danksagung

Dunkel

»Wenigstens werdet ihr zusammen ertrinken!«

Die höhnische Stimme hallt in meinen Ohren wider. Ich stehe in einem Raum, hoch wie eine Kathedrale, um mich herum blausilbriges Licht. Die schwarze Gestalt eines Mannes kommt auf mich zu. Ich kann sein Gesicht nicht erkennen, aber ich weiß, dass die Stimme ihm gehört … und dass er mich töten will.

Ich weiche zurück, will fliehen, komme jedoch nicht vom Fleck. Mein Blick fällt auf meine Füße. Wieso sind sie blutbespritzt? Ich kann mich nicht erinnern …

»Gib auf, Mädchen, es hat keinen Sinn!« Ein Lachen, dröhnend, halb wahnsinnig.

Die Gestalt beginnt zu wachsen, wird zu einem haushohen Schatten, der sich in eine Welle verwandelt. Eine schwarze, riesige Flutwelle, die sich aufbäumt, höher und höher.

Endlich kann ich rennen – doch ich bin zu langsam, es ist zu spät. Die Welle bricht. Schäumendes schwarzes Wasser tost rings um mich her, reißt mich mit sich. Ich kann nichts sehen, bekomme keine Luft. Panik schießt in mir hoch, eisig und lähmend.

Da fühle ich fremde Lippen auf meinen und neuer Atem durchströmt mich. Vor mir ist das Gesicht von Aris. Ich blicke in seine seegrünen Augen und habe keine Angst mehr. Seine Hände fassen meine. Wo unsere Finger sich berühren, schimmert das Wasser plötzlich golden.

Das warme Leuchten breitet sich aus, hüllt uns ein. Aris lächelt. Ich fühle mich stark und sicher.

Noch immer gibt er mir Luft. Als könnte er senden wie ein Statthalter, höre ich seine Stimme in meinem Kopf: »Damit schaffst du es bis zur Oberfläche, Ella.«

Er schickt mich weg? Nein!

Ich wehre mich, will ihn nicht loslassen, aber er stößt mich von sich. Da sehe ich: Seine Füße sind mit dem Meeresboden verwachsen. Er kann mir nicht folgen.

Auftrieb erfasst mich und zerrt mich davon, immer höher, weg von ihm. Das goldene Leuchten wird schwächer, bleibt unter mir zurück. Ich schwimme. Kämpfe mich voran, hinauf. Aber es ist weit, viel zu weit. Die Luft geht mir aus. Meine Kräfte lassen nach. Und ich bin allein.

Allein im dunklen Ozean.

Kapitel 1

Nach Luft schnappend, wachte ich auf. Der Mann auf dem Nachbarsitz warf mir einen ausgesprochen genervten Blick zu und verschanzte sich hinter seinem Bordmagazin.

Über uns knackte ein Lautsprecher.

»Meine Damen und Herren, in Kürze landen wir in Heraklion auf Kreta. Wir möchten Sie bitten, alle elektronischen Geräte wieder auszuschalten, Ihre Sitze senkrecht zu stellen und die Tische vor sich hochzuklappen. Das Wetter vor Ort …«

Ich setzte mich auf und rieb mir erleichtert die Augen. Nur ein schlechter Traum. Wieder mal. Dabei hatte ich das doch mittlerweile ganz gut in den Griff bekommen! Fast ein Jahr war vergangen seit dem stürmischen Tag, an dem ich einen Unbekannten aus der Brandung meiner Lieblingsbucht in Cornwall gezogen hatte. Wenn ich damals gewusst hätte, was ich damit alles auslösen würde, hätte ich dann genauso gehandelt?

Mach dich nicht lächerlich, meldete sich meine innere Stimme. Natürlich hättest du! Schließlich bist du dadurch in das Abenteuer deines Lebens geraten. Und nicht zu vergessen: auch an die Liebe deines Lebens.

Das stimmt doch gar nicht!, erwiderte ich stumm.

Die andere Ella kicherte. Ach, nein? Eine Reise an den Meeresgrund, in das legendäre Atlantis, mitten hinein in königliche Intrigen, das ist kein Abenteuer? Dabei mindestens dreimal fast gestorben und stattdessen am Ende eine Rückfahrkarte erster Klasse, das läuft unter »ganz normaler Ausflug«, oder was?

Du weißt genau, was ich meine, entgegnete ich. Konnte man innerlich rot werden? Das mit der Liebe. Aris und ich können nie ein Paar sein. Schließlich wird er seinem Vater irgendwann auf den Thron folgen. Und … wir waren ja auch nur ein paar Tage zusammen. Also, nicht »zusammen« zusammen … nur … miteinander unterwegs. Ich bin jedenfalls darüber weg.

Klar, kam die trockene Antwort. Deshalb fliegst du ja auch nach Kreta. Wo die atlantische Kultur ihren Ursprung hat. Weil du darüber weg bist.

Klappe jetzt!, knurrte ich.

Wir landeten. Auf Kreta, der größten Insel Griechenlands. Scharen von Touris fielen hier jedes Jahr ein – auf der Suche nach dem perfekten Strandurlaub, zum Partymachen, zum Wandern oder für die klassische Bildungsreise. So weit, so bekannt. Was ich aber vorher nicht gewusst hatte: Kreta war die legendäre Insel Candia, der Stammsitz von Aris’ Vorfahren an der Oberfläche. Hier hatten sie vor Tausenden von Jahren ein Reich aufgebaut, ausufernde Palastanlagen voller herrlicher Kunstwerke geschaffen und ihren Einfluss auf das gesamte Mittelmeer ausgedehnt – die älteste Hochkultur Europas. Doch dann war dieses geheimnisvolle Volk der »Minoer«, wie die Historiker es nannten, vor etwa 3000 Jahren spurlos verschwunden. Warum? Wohin? Unsere Archäologen forschten immer noch an diesem Rätsel.

Die Wahrheit kannte nur ein einziger Mensch von der Oberfläche: Ella Keane aus Berlin, die zufällig eines Tages zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war. Die eine Welt unter dem Atlantik gesehen hatte, deren Geheimnis ihre Bewohner mit ihrem Leben schützten. Und diese Ella Keane ließ man nur zu ihrer Familie zurückkehren, weil sie dem Sohn des Königs das Leben gerettet hatte – zweimal, um genau zu sein –, doch sie durfte bei Todesstrafe kein Wort über das Geschehene verlieren. Und vor allem durfte sie nie mehr in diese fantastische Welt zurückkehren …

Seufzend zog ich mein Handgepäck aus dem Fach über meinem Sitz und drängelte mich mit den anderen Reisenden hinaus. Strahlender Sonnenschein und ein tiefblauer Himmel begrüßten uns. The Island formerly known as Candia gab sich alle Mühe, einen guten ersten Eindruck bei mir zu hinterlassen. Eine halbe Stunde später hatte ich dem Gepäckband meinen großen grünen Wanderrucksack entrissen und stapfte hinaus in die Empfangshalle des Flughafens. Mein Blick blieb an einem dieser Werbeplakate hängen, das die Touristen zu den Sehenswürdigkeiten der Insel locken sollte. Ich musste kurz nach Luft schnappen. Das Plakat warb für den Besuch des Archäologischen Museums und zeigte eins der kostbarsten Stücke seiner Sammlung, einen wunderschönen, fein gearbeiteten Goldanhänger. Jahrtausendealt und bekannt als die »Bienen von Malia«. Genauso einen Anhänger hatte ich vor nicht ganz zwölf Monaten um den Hals getragen – eine Leihgabe der Königin von Atlantis, Aris’ Mutter. Es war ihre Art gewesen, um Entschuldigung dafür zu bitten, dass ich ihren Sohn niemals wiedersehen durfte. So hatte ich das jedenfalls verstanden.

Reiß dich zusammen, Mädchen, rügte meine innere Stimme. Wenn hier alles so ein Drama bei dir auslöst, werden das lange zwei Wochen. Und du wolltest doch auch Spaß haben, oder?

Wie zum Beweis meines festen Vorsatzes, in diesen Ferien nicht nur Trübsal zu blasen, entdeckte ich in der Traube der wartenden Menschen vor dem Ausgang eine weiße Chauffeursmütze und ein Empfangsschild. Darauf stand, in einer wilden Parodie griechischer Buchstaben: »ΣLLΛ MΩRTΛDΣLLΛ«.

Einen Wimpernschlag später hing mir die Chauffeursmütze um den Hals. »Ellaaa!«

Meine beste Freundin Lisa – ein Jahr jünger als ich, extrem hübsch, blondgelockt, zum ersten Mal allein in der Welt unterwegs und offenbar in Bombenstimmung. Ich erwiderte ihre Umarmung enthusiastisch, warf anschließend jedoch einen gespielt beleidigten Blick auf ihr Schild. »Das ist ja irre lustig! Echt Kindergartenstyle!«

»Du musst grad reden!« Sie grinste und zeigte auf mein T-Shirt. Darauf prangte in ziemlich schlechter Druckqualität das Abbild der Mona Lisa – der Spitzname, den ich meiner Freundin in Kindertagen verpasst hatte.

Ich grinste unschuldig zurück. »Was willst du? Das ist mein Lieblings-Top! Zieh ich immer an auf Flugreisen!«

»Klar!« Lisa lachte glockenhell. Schon guckten noch ein paar mehr Typen zu ihr herüber und bewunderten ihre Modelfigur. Doch wie immer bemerkte sie nicht einmal, welche Aufregung sie verursachte.

Neugierig deutete ich auf Schild und Mütze. »Wo hast du denn das Zeug schon wieder her? Du bist doch nur eine Stunde vor mir gelandet.«

»Das ist von Yannis, dem Typ von der Autovermietung. Der ist echt voll süß. Hab schon alles klargemacht mit der Karre, du musst nur noch unterschreiben …«

»Voll süß?«, hakte ich streng nach. »Und was ist mit Nic?«

Ja, was war mit Nic? Denn man höre und staune: Lisa hatte tatsächlich ihren Traumprinzen gefunden. Voller Name: Nicolas Perrault, Franzose, seit einer schicksalhaften Backpacker-Tour durch Cornwall vor zwei Jahren heimlich in Lisa verliebt und letzten Juli endlich mutig genug, sie anzusprechen. Mit durchschlagendem Erfolg, wie sie mir seitdem mindestens jeden zweiten Tag per Sprachnachricht versicherte. Jedenfalls hoffte ich sehr, dass das Ganze weiterhin aktuell war – schließlich hatte ich da noch ein kleines Geheimnis …

Zum Glück sah meine Freundin mich ebenso verständnislos wie empört an. »Hey, ich hab den nicht angebaggert oder so! Der ist einfach nur nett! Und an Nic kommt eh keiner ran.« Ein verträumter Ausdruck trat in ihre braunen Augen. »Wenn er nur nicht so weit weg wohnen würde … Weißt du, dass er versucht, auf eine englische Uni zu wechseln? Für mich! Kannst du dir das vorstellen? Und wir machen jeden Tag FaceTime!«

Erleichtert atmete ich auf. Yannis von der Autovermietung war dann wirklich ziemlich süß, hatte aber zum Glück überhaupt kein Problem damit, dass die zwei Touri-Mädels keinen Kaffee mit ihm trinken, sondern stattdessen gleich mit dem Mietwagen losdüsen wollten. Wir warfen unser Gepäck in den schwarzen Fiat Panda und ich installierte das Navi meiner Mutter, welches ihrer Überzeugung nach natürlich auch das kretische Straßennetz kannte. Tja, vielleicht, wenn man vorher das entsprechende Update geladen hätte! Ich verdrehte die Augen. Wo ich doch gerade erst meinen Führerschein gemacht hatte und ziemlich nervös war, mit einem fremden Auto auf unbekannten Straßen unterwegs zu sein …

Mal wieder gut gemeint, Mama, aber nicht so gut gemacht, dachte ich. Chaos, dein Name ist Sophie Keane.

Aber sauer konnte ich deswegen trotzdem nicht sein: Erstens kannte ich ihre Art ja schon mein Leben lang. Und zweitens hatte ich ihr im letzten Jahr mehr zugemutet, als sie je verdient hätte. Ich seufzte noch einmal tief und manövrierte unser kleines Auto auf die Schnellstraße nach Osten, während Lisa mir mit einer Straßenkarte auf dem Schoß die Richtung diktierte. Echt gut, dass der hilfsbereite Yannis die Karte hervorgezaubert hatte, denn keine von uns war scharf auf die Gebühren, die uns eine Handy-Navigation gekostet hätte. Zum Glück herrschte auf kretischen Straßen nicht ansatzweise so viel Verkehr wie in Berlin. Ich entspannte mich etwas.

Nach einer Weile blickte ich kurz zu Lisa hinüber und fragte kleinlaut: »Sag mal, meinst du, Kenneth hat mir inzwischen verziehen?«

Beruhigend tätschelte sie mir den Arm. »Süße. Er hat dich im Wasser verschwinden und nicht wieder auftauchen sehen. Und er versteht bis heute nicht, wie du das überleben konntest. Das ist schwer für ihn zu schlucken, okay? Aber böse war er dir nie – er ist vor allem irre froh, dass es dich noch gibt. Wann glaubst du das endlich?«

»Keine Ahnung«, murmelte ich. »Vielleicht, wenn ich mich noch ein paar tausend Mal bei ihm entschuldigt habe …«

»Also, wenn’s dir hilft, ich soll dich jedenfalls ganz herzlich von ihm grüßen. Und von den Bernhardts auch! Hey, wusstest du, dass Snowflake sie quasi adoptiert hat?«

Diese Nachricht heiterte mich sofort auf. Die zwei abenteuerlustigen alten Damen, die Aris und mich letztes Jahr kurzerhand aufgenommen hatten, hatten sich in ihrem Leben noch nie von etwas unterkriegen lassen – nicht einmal von den unterseeischen Attentätern, die hinter ihrem geheimnisvollen Pensionsgast her gewesen waren. Und jetzt hatte mein lieber dummer Snowflake also ein neues Zuhause bei ihnen gefunden! Die Vorstellung, wie die kleinen Bernhardt-Schwestern mit dem gigantischen irischen Wolfshund über die Klippen rund um das Fischerdörfchen stapften, brachte mich zum Lächeln.

Ich kitzelte noch mehr Tempo aus unserem Kleinwagen heraus. Da die Klimaanlage nicht funktionierte, kurbelten wir die Fenster herunter und genossen den Duft nach Meer, warmer Erde und wilden Kräutern, den uns der Fahrtwind hereinblies. Lisa hatte ihren Sitz ganz nach hinten gerückt und bestaunte die Landschaft: Die Straße war von rosarot blühenden Oleanderbüschen gesäumt, hinter denen zur rechten Seite karge, von silbergrauen Olivenbäumen bewachsene Berge emporstiegen; links leuchtete das tiefblaue Meer, in dem hier und da weiße Segel aufblitzten.

Je weiter wir nach Osten kamen, desto spärlicher wurde der Verkehr – was sicher auch daran lag, dass wir jetzt, im Mai, noch in der Vorsaison unterwegs waren. Im Radio dudelte griechische Popmusik, der perfekte Soundtrack für unsere Fahrt.

»Das war eine super Idee von dir!« Lisa seufzte glücklich. »Zwei Wochen Mädelsurlaub! Ich denk zwar immer noch, Ibiza wär vielleicht cooler gewesen, aber hier ist es auch sooo schön. Irre toll von deiner Mama, uns das Ferienhaus zu bezahlen!«

Am irrsten ist, dass sie mich überhaupt hat fahren lassen, dachte ich mit schlechtem Gewissen. Meine Mutter machte sich immer noch riesige Vorwürfe, dass sie letztes Jahr nicht pünktlich zu unserem geplanten Mutter-Tochter-Urlaub nach Cornwall gekommen war, weil sich ihr Einsatz für Ärzte ohne Grenzen mal wieder ungeplant verzögert hatte. Sie war fest davon überzeugt: Hätte sie unsere Verabredung damals eingehalten, wäre nichts von alldem passiert, was ihrer Meinung nach passiert war. Die Tage, in denen sie geglaubt hatte, dass ihr einziges Kind ertrunken im Atlantik trieb, hatten sie schwer mitgenommen. Ihre Schuldgefühle und die Angst um mich hatten fast verhindert, dass sie nach unserer Rückkehr ihre geliebte Chirurgenstelle im Berliner Westend-Krankenhaus wieder antrat. Und auch Lars, der neue Mann in ihrem Leben – denn meine Mutter hatte ebenfalls ihren Traumprinzen gefunden, was mehr als fünfzehn Jahre nach dem Tod meines Vaters längst überfällig war –, auch Lars war erst einmal ganz nach unten auf der Prioritätenliste gerückt. Inzwischen hatte ich ihn aber kennengelernt und fand ihn sehr nett. So eine Art schwedische Ausgabe von Kenneth: etwas knurrig, aber grundsympathisch, ein echter Fels in der Brandung. Leider wohnte er in Stockholm, doch wenn ich die Zeichen richtig deutete, konnte sich das bald ändern.

Es war harte Arbeit gewesen, meine Mutter davon zu überzeugen, dass ich nicht gleich wieder im Meer verschwinden würde, wenn ich die Wohnung verließ. Mittlerweile ging es einigermaßen. Mama war sogar schon ein paarmal übers Wochenende mit Lars weg gewesen. Nur meine eigenen Schuldgefühle bekam ich nicht in den Griff …

»Alexis Sorbas!!!«

Lisas plötzlicher Triumphschrei erschreckte mich so sehr, dass ich uns fast gegen ein zerbeultes Straßenschild gesteuert hätte. »Was ist los? Spinnst du?«, keuchte ich, als ich das Auto wieder unter Kontrolle hatte.

»Hast du nicht zugehört? Die Musik da!« Mein halsbrecherisches Manöver hatte sie offenbar kein bisschen irritiert. »Ich überleg doch schon die ganze Zeit, woher ich die kenne!«

Okay, langsam kam ich zurück ins Jetzt und verstand, was los war: Der Radiosender spielte ein Instrumentalstück, das auch mir irgendwie bekannt vorkam. Lisa hatte wohl schon länger laut darüber nachgedacht und nicht bemerkt, dass ich mit den Gedanken ganz woanders war.

»Der spielt auf Kreta, der Film!«, plapperte sie fröhlich weiter. »Kenny hat mich neulich gezwungen, den zu schauen, aber Mann ey, der ist uralt, in Schwarz-Weiß, und am Anfang regnet’s da voll, das hätte mir fast – oh, guck mal! Ist das nicht die Ferienhaussiedlung?«

Sie hatte recht. Erleichtert parkte ich das Auto vor den mannshohen Oleanderbüschen, die die Anlage aus vier kleinen weißen Häuschen mit roten Ziegeldächern bewachten. Das linke war unser Ziel, und wir brauchten nicht lange, um die beiden Stockwerke in Beschlag zu nehmen. Lisa war begeistert, vor allem, weil sie von ihrem Bett aus das Meer sehen konnte. Die Anlage verfügte sogar über einen eigenen Zugang zum Wasser, also rannten wir als Erstes den Hang hinunter, balancierten über die rauen Felsen, setzten uns auf den Steg und planschten mit den Beinen in den kristallklaren Fluten.

Mitten in der Bucht lag ein karges Inselchen mit einer weißen Kapelle und – wie ich bereits zu Hause herausgefunden hatte – einer minoischen Ausgrabungsstätte. Die waren hier wirklich überall verstreut, und dabei hatte man vermutlich noch immer nicht alle Relikte der Atlanter, äh, Minoer entdeckt. Ganz zu schweigen von der Welt unter dem Meeresgrund, wo sich ihre faszinierende Kultur seit Jahrtausenden vor dem Rest der Menschheit verborgen hielt …

Doch bevor ich erneut in meinen Gedanken versinken konnte, krähte Lisa »Erfrischung!«, schubste mich vom Steg und sprang hinter mir her ins Wasser. Rachsüchtig stürzte ich mich auf sie. Glücklicherweise schien keines der anderen Ferienhäuser vermietet – unser Gekreische hätte sonst garantiert für Polizeieinsätze gesorgt.

Schließlich schafften wir es wieder an Land und liefen zurück in unsere Unterkunft. Duschen, auspacken, umziehen und stylen stand jetzt an, schließlich wollten wir das Dorf unsicher machen.

Ich trat Lisa großzügig das Bad samt altersschwachem Föhn ab und ließ meine blonde Mähne an der Luft trocknen. Meine Haare waren länger geworden seit letztem Jahr. Ich hatte sie wachsen lassen, warum, wusste ich selbst nicht so genau. Der Wunsch nach sichtbarer Veränderung vielleicht. Ich schlüpfte in meine Jeans-Shorts und griff nach einem mintgrünen Top mit flachem U-Boot-Ausschnitt. Bevor ich es mir überstreifte, blieb mein Blick an der verspiegelten Schranktür hängen.

Bist dünner geworden, Schätzchen, und nicht grad auf vorteilhafte Weise. Der BH saß schon mal besser!

Ich musterte die blasse, knapp drei Zentimeter lange Narbe in meiner linken Brust, wo mich der vergiftete Dolch von Aris’ Onkel getroffen hatte.

Guter Wurf, Evros!

Es war eine Heidenmühe gewesen, die Wunde vor meiner Mutter geheim zu halten. Mir war partout keine harmlose Erklärung dafür eingefallen. Erst recht keine, die eine erfahrene Ärztin überzeugt hätte.

Tja, kein tiefes Dekolleté mehr für dich, Fräulein!

Praktischerweise konnte ich durch meinen neuen hochgeschlossenen Look gleich noch etwas verbergen: eine goldgestreifte Schneckenmuschel, die ich an einem Lederband befestigt um den Hals trug und so gut wie nie mehr abnahm – das Abschiedsgeschenk von Aris. Mit einer fast automatisch gewordenen Bewegung nahm ich sie in die Hand, schloss die Augen und hielt sie mir ans Ohr. Schon erklang seine Stimme, flüsternd wie Meeresrauschen: »Ella … Wir werden uns wiedersehen.«

Für einen Moment war ich zurück in seinen Armen, fühlte seinen Herzschlag an meiner Brust, sah in sein schönes, ernstes Gesicht, als er mir dieses Versprechen gab. Die Kehle wurde mir eng. Hastig stopfte ich die Muschel zurück unter das T-Shirt und strich den Stoff glatt.

Darüber hinweg. Ha!

»Hey, schick!«, begrüßte mich Lisa, als wir uns wenig später abmarschbereit auf der Terrasse trafen.

Das Kompliment konnte ich nur zurückgeben. Sie trug ein leichtes rot-weißes Sommerkleid, das ihre Figur toll zur Geltung brachte. Ihre goldblonden Locken fielen ihr ausnahmsweise offen über den Rücken und waren nicht zu dem gewohnten Pferdeschwanz zusammengebunden.

»… aber ich glaube, da fehlt noch was!«, fuhr sie verheißungsvoll fort – und schon hing mir eine weitere Kette um den Hals. Eine Kette aus riesigen grellgelben ovalen Perlen, die durch neongrüne gezackte Scheiben voneinander getrennt waren. Zwanzig Sekunden später hatte ich die Erklärung: Lisa wollte Designerin für Modeschmuck werden! Mit Statement-Ketten sollte es losgehen, natürlich erst mal so auf Probe, »bisschen Instagram und Etsy, du weißt schon. An die Perlen komme ich günstig ran … und sag mal, sieht die nicht echt cool aus?«

Freundschaft bedeutet, auch bei weniger tollen Geschenken in Jubel auszubrechen. Ich jubelte also und bedankte mich überschwänglich für die Atom-Zitronen-Kette, wie ich sie insgeheim taufte. Wahrscheinlich leuchtete sie im Dunkeln. Ehrlich gesagt, fand ich sie furchtbar, aber ich war schließlich nicht gerade der Trendscout in Sachen Modeschmuck.

Im Dorf suchten wir uns in der erstbesten Taverne einen Tisch direkt am Meer, was kein Problem war, da auch hier noch Besucher-Dürre herrschte. Der Herzlichkeit der Kellner tat das überhaupt keinen Abbruch. Wir bestellten in einer fröhlichen Mischung aus Englisch und griechischen Sprachführer-Vokabeln und freuten uns über die schöne Abendstimmung über der Bucht.

Nach dem ersten Schluck Weißwein stellte Lisa ihr Glas ab und sah mir fest in die Augen. »Nun sag doch mal … Gibt’s was Neues von dem, dessen Namen wir nicht nennen?«

»Du kannst seinen Namen nennen«, antwortete ich und verdrehte die Augen. »Du weißt doch, er heißt Aris.«

Lisa beugte sich über den kleinen Tisch und raunte verschwörerisch: »Wenn das mal stimmt! Ich hab gegoogelt.« Oje, was kam denn jetzt wieder? »Das ist kein arabischer Name«, verkündete sie. »Eher was Griechisches.«

Es war nämlich so: Die offizielle Version meiner Geschichte lautete, dass mein Verschwinden mit einem jungen Mann zusammenhing, dessen Identität geheim bleiben musste. Dass uns ein Boot – vielmehr eine Luxusjacht – aus seinem Heimatland aufgefischt hatte und mich erst hatte zurückbringen können, nachdem er heil und sicher zu Hause abgeliefert worden war. Dass ich die Zeit an Bord vor allem in meiner Kabine verbracht hatte, kein Mensch meine Sprache sprach und ich wirklich nichts über unser Reiseziel erfahren konnte, geschweige denn eine Nachricht nach Hause senden durfte. Nein, ich hatte keine Angst gehabt. Es war ja auch gar nichts passiert auf der Fahrt. Es war nur langweilig gewesen.

Die meisten in meiner Umgebung hatten das widerwillig akzeptiert. Oder sie fragten nicht mehr – Kenneth zum Beispiel.

Bei seiner Schwester allerdings funktionierte das nicht. Sie löcherte mich ununterbrochen, kam praktisch jede Woche mit neuen, immer wilderen Theorien an, spielte Länder durch, die ihrer Meinung nach zu den Umständen passen könnten … und als ich irgendwann aus lauter Erschöpfung bei Saudi-Arabien nicht mehr protestiert hatte, war das für sie das Zeichen gewesen, dass sie richtiglag. Seitdem war Aris für Lisa ein saudischer Prinz, dessen traditionsbewusste Familie keine Beziehung mit einer Europäerin guthieß.

Wie immer hörte ich mir hilflos ihre Spekulationen an, bis sie merkte, dass sie mich traurig machte. Eilig drückte sie meine Hand. »Oh Süße, das hilft dir alles nicht, tut mir leid. Du hast also nichts gehört?«

»Nichts«, murmelte ich schwach. »Und ich werde auch nichts hören.«

»Er hat es dir doch versprochen!«

Verstohlen berührte ich die Muschel unter meinem Top und sagte: »Ja, bloß glaub ich nicht, dass er sein Versprechen halten kann. Er hat gar keine Chance dazu. Also muss ich ihn mir aus dem Kopf schlagen … aber ich schaff’s einfach nicht!« Ich nahm mein Weinglas und trank es mit einem Zug halb aus.

Lisa guckte beeindruckt und mitfühlend zugleich. »So schlimm?«

Bedrückt nickte ich. »Jeden Tag sag ich mir, sei vernünftig, du hast jetzt dein Abi, mach endlich weiter mit deinem Leben. Aber ich bin irgendwie in der Warteschleife. Ich will ihn wenigstens noch einmal wiedersehen. Mit ihm sprechen. Fragen, wie’s ihm geht …« Ich ließ meine Stirn auf die Tischplatte sinken und nuschelte: »Ndchwllmthmnsbtt.«

Lisa zog die Augenbraue hoch à la Spock. »Wie war das bitte?«

Etwas lauter zischte ich: »UndichwillmitihminsBett! Mann!«

Sie quietschte vor Entzücken über mein peinliches Geständnis.

Ich hob den Kopf, leerte die andere Hälfte meines Glases und jammerte: »Es war so wahnsinnig schön, ihn zu küssen! Wenn ich das hochrechne …«

»Aber hast du nicht gesagt, er hatte quasi noch gar keine Erfahrung?«, raunte Lisa verschwörerisch und schenkte mir Wein nach.

»Also, ich erwarte ja gar nicht, dass er gleich die perfekte Show abzieht«, meinte ich verlegen. »Und ich wette, er lernt schnell! Dann ist er beim nächsten Mal –«

»Beim nächsten Mal, soso …« Lisa kicherte beifällig.

Ich griff wieder nach meinem Glas, besann mich jedoch eines Besseren, nahm mir stattdessen ein Stück Weißbrot und seufzte: »Ist ja sowieso alles Quatsch.«

Lisa stimmte in mein Seufzen ein. »Na ja, wenigstens hast du überhaupt schon mal …«

»Ach, doch nur mit Luca, dem Blödmann.«

»Aber im Bett hat’s Spaß gemacht, hast du gesagt!«

»Ja, schon«, gab ich gedehnt zu. »Wär nur schön gewesen, wenn ihn auch außerhalb davon noch was an mir interessiert hätte. Und dann dieses super Timing mit der Trennung damals! War echt ein tolles Weihnachtsgeschenk.« Endlich schaltete ich und skipte ein paar Sekunden zurück. »Warte mal. Heißt das, du und Nic, ihr habt noch gar nicht …?«

Lisa wurde rot. »Das ist echt sooo doof! Man hört jeden Mucks bei uns zu Hause, und die paar Mal, die Nic bisher bei mir übernachten konnte, war immer Kenny da. So kann man sich ja wohl nicht richtig entspannen. Und … und es soll doch romantisch sein!« Sie senkte die Stimme. »Außerdem glaub ich, Nic hat Angst vor meinem Bruder.«

Ich nickte weise. Sprach für Nics Intelligenz. Mit Kenneth, der Bären-Glucke, legte sich nur an, wer das dringende Bedürfnis nach Kielholen oder Kieferbruch hatte. Schließlich war er seit dem frühen Tod ihrer Eltern der »alleinerziehende« große Bruder für die quirlige Lisa – und er nahm seinen Job verdammt ernst. Dass er überhaupt jemanden in die Nähe seiner kleinen Schwester ließ – vor allem nach dem, was letztes Jahr auf der Party von Tristan Prideaux passiert war –, wunderte mich sowieso.

Lisa hatte jetzt jedenfalls einen vielleicht noch wehmütigeren Ausdruck im Gesicht als ich. »Ich hoffe so sehr, dass das mit Nics Uni-Plänen in Falmouth klappt. Er hat sich einen zweiten Job gesucht, damit er sich die Trips zu mir leisten kann, hab ich das schon erzählt? Oh Mann, ich brauch auch unbedingt mehr Kohle, das Kellnern bringt’s voll nicht.« Sie verstummte.

Eine ganze Zeit lang blickten wir still auf das dunkle Meer hinaus und hingen unseren Gedanken nach.

Da trat jemand an unseren Tisch. Eine junge, männliche Stimme mit unverkennbarem Akzent fragte: »Darf ich mich zu den Damen setzen?«

Kapitel 2

Vor uns stand ein schlaksiger Typ in unserem Alter mit wilden dunkelbraunen Locken und Nickelbrille. Er trug ein weißes Poloshirt, eine Khakihose und Trecking-Sandalen. Und im nächsten Moment hatte er eine vor Begeisterung explodierende Lisa im Arm.

»Nic! Wo kommst du denn her?«

Der junge Franzose wurde in ihrer ungehemmten Umarmung zunächst knallrot, was ziemlich süß wirkte, aber dann ließ er sich doch mitreißen und gab ihr einen filmreifen Kuss. Der Kellner und die wenigen Gäste an den anderen Tischen lachten und klatschten. Das war dann doch zu viel für den armen Nicolas Perrault. Er ließ Lisa los und schob hastig seine langen Beine unter unseren Tisch. Lisa rückte ihren Stuhl dicht an ihn heran und ergriff seine Hand.

Zufrieden lehnte ich mich zurück und begegnete Nics Blick mit einem kumpelhaften Zwinkern. Die Überraschung hatte geklappt! In den nächsten Minuten gestanden wir Lisa im Tandem unsere Verschwörung: Wie ich mich mit Nic getroffen hatte, als er im Winter auf Studien-Exkursion in Berlin gewesen war, weil ich mal abchecken wollte, wen sich meine beste Freundin da geangelt hatte. Wie er mir sein Herz ausgeschüttet hatte, dass er genauso unter der großen Entfernung litt wie Lisa und dass er auf der Suche nach einem besonderen Geburtstagsgeschenk war. Und so war dann der Plan entstanden, den Nic ihr jetzt darlegte: Er hatte für sie beide eine mehrtägige Tour bis hin zu den entlegenen Traumstränden der Westküste organisiert, natürlich mit vielen romantischen Zwischenstopps. Ich wusste, dass er dafür ganz schön geackert hatte, und hoffte inbrünstig, dass Lisa jetzt auch wirklich nichts gegen diese überfallartige Planänderung hatte.

»Voilà …« Nic beendete seine Erklärung und wurde wieder rot. »Alles Liebe zum Geburtstag nachträglich, ma princesse. Verzeihst du mir?«

Statt einer Antwort fiel sie ihm erneut um den Hals und küsste ihn überschwänglich. Lisa liebte Überraschungen, und diese war eindeutig die beste, die ihr seit Langem passiert war. Dann drehte sie sich besorgt zu mir um: »Aber, Süße – wir wollten doch eigentlich …«

Lässig winkte ich ab. »Nach eurem Trip sehen wir uns doch wieder! Dann kommt ihr entweder hierher zurück oder wir treffen uns auf halber Strecke in Heraklion.« Ich drückte ermutigend ihre Hand. »Bis dahin hab ich mir eh ein so fettes Besichtigungsprogramm vorgenommen, da wärst du gestorben vor Langeweile.«

»So ein Quatsch!« Sie wehrte ab, aber ich konnte deutlich sehen, dass sie verzaubert von der Aussicht war, ihren Allerliebsten für sich ganz allein zu haben.

Am nächsten Tag umarmte Lisa mich zum Abschied überschwänglich und ich flüsterte ihr ins Ohr: »Tu nichts, was ich nicht auch tun würde!«

Kichernd wisperte sie zurück: »Na, das schließt ja nicht viel aus …«

Und so stand ich schließlich allein am Rand der staubigen Straße, winkte dem glücklichen Pärchen nach und sah zu, wie ihr kleiner weißer Jeep hinter der nächsten Kurve verschwand. Ich kam mir großzügig, abgeklärt und weise vor. Damit das Gefühl nicht ausartete, kramte ich aus meinem Rucksack einen riesigen pinken Badering in Flamingoform heraus, pustete ihn auf und warf mich auf ihm in die kleine Bucht unterhalb unserer Bungalowsiedlung. Später am Nachmittag spazierte ich in den Ort und machte ein paar Einkäufe in dem dortigen Minimarkt. Gegen Abend saß ich dann mit einem selbst gemachten griechischen Salat und einem ebenso griechischen Bier der Marke Mythos – echt wahr, das hieß so! – auf unserer … okay, auf meiner Terrasse und beobachtete den Sonnenuntergang.

Aber nachdem die letzten Strahlen verblasst waren, krochen mit dem Nachtdunkel auch wieder die schwarzen Gedanken an mich heran. Die Monate nach meinem Abenteuer waren nicht lustig gewesen. Um ehrlich zu sein, war es die schlimmste Zeit, die ich je hatte durchmachen müssen. Ich bekam schreckliche Albträume, aus denen ich jede Nacht mit wild klopfendem Herzen erwachte, manchmal weinend und schreiend – Albträume, in denen ich verblutete oder ins Leere fiel … und immer wieder ertrank, in einer schwarzen, eiskalten Flut. Meine Mutter machte das genau eine Woche lang mit, dann setzte sie mir die Pistole auf die Brust: Entweder ich erzählte ihr endlich die Wahrheit über meine »langweilige Kreuzfahrt« – oder ich startete eine Gesprächstherapie.

Ich entschied mich für Letzteres. Und entgegen all meiner Vorurteile schaffte die Therapeutin es tatsächlich, mich seelisch wieder aufzurichten und auf einigermaßen feste Beine zu stellen.

Natürlich erzählte ich auch ihr nicht die ganze Wahrheit. Nein. Ich hatte die Warnungen nicht vergessen, die ich bei meinem Abschied von Atlantis mit auf den Weg bekommen hatte. Und ich nahm sie verdammt ernst – so ernst wie die Atlanter selbst. Schließlich wusste ich, dass es einen Geheimdienst namens »Rat der Steine« gab, der die »Oberfläche« ständig beobachtete. Gnadenlos merzten seine Agenten alles aus, was auch nur die leiseste Gefahr einer Entdeckung des legendären Unterwasserreichs barg. Genau solch eine Gefahr stellte ich dar – nur der Einfluss der Königsfamilie hatte verhindert, dass ich als Wasserleiche in meine Heimat zurückgekehrt war. Also würde ich bestimmt nichts tun oder sagen, was mich oder jemanden aus meiner Umgebung in den Fokus des Rats rücken könnte. Keine Chance.

Aber ich konnte der Therapeutin erzählen, wie schwer es war, etwas so Großes für mich behalten zu müssen. Wie ich es hasste, die liebsten und vertrautesten Menschen in meinem Umfeld belügen zu müssen. Sie hörte zu und gab mir ein paar ziemlich gute Ratschläge, um mit meinen Erinnerungen fertigzuwerden. Und so kam es, dass die Albträume am Ende des langen grauen und kalten Berliner Winters tatsächlich weniger wurden und ich das Gefühl bekam, endlich ganz an die Oberfläche zurückzukehren.

Das Problem war nur, dass nun etwas anderes freigespült wurde: Liebeskummer, so heftig, so tief, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, mir nicht einmal hätte vorstellen können. Hier half mir auch keine Gesprächstherapie – da musste ich ganz allein durch. Musste mich abfinden mit der völligen Hoffnungslosigkeit meiner Lage. Aris war für mich verloren. Aber ich konnte es einfach nicht begreifen.

Wieder und wieder sagte ich mir, dass man sich in wenigen Tagen nicht derartig rettungslos in jemanden verlieben konnte. Newsflash: doch, konnte man. Vielleicht, weil Aris und ich in diesen paar Tagen mehr zusammen durchgestanden hatten als die meisten Paare in ihrem ganzen Leben. Vielleicht auch nur, weil ich von Anfang an so gut mit ihm hatte reden können. Obwohl wir aus völlig verschiedenen Welten stammten, lagen wir irgendwie auf der gleichen Wellenlänge. Und natürlich waren da immer wieder die Erinnerungen: sein Blick, seine Hände auf meiner Haut, das wunderbare Gefühl, ihn zu umarmen und zu küssen … Dagegen konnte ich mich kaum wehren, am wenigsten, wenn ich nachts allein in meinem Bett lag und mich fragte, ob er ebenso verzweifelt an mich dachte wie ich an ihn.

Und doch blieb mir nichts, als mich an sein Versprechen zu klammern – im übertragenen wie im wortwörtlichen Sinne. Auch jetzt, auf der dunklen Terrasse in der milden griechischen Nachtluft, hielt ich die goldgestreifte Muschel wieder fest in der Hand, wie einen Talisman. Schließlich war sie alles, was ich von Aris und meiner Zeit in seinem Reich noch hatte – abgesehen von einer hässlichen Narbe und sinnloser, hartnäckiger Hoffnung.

Wirklich? Hast du da nicht etwas vergessen?, erinnerte mich die andere Ella.

Ach ja. Richtig.

Da gab es noch ein Dutzend verwackelter YouTube-Videos mit so tollen Titeln wie »EPIC SWORDFIGHT REAL BLOOD« oder »Tristan Prideaux gets pwned!!!«. Zum Glück war wenigstens ich auf keinem der Handyfilmchen zu erkennen. Dafür konnte die Netzwelt gebannt dabei zuschauen, wie eben jener Tristan Prideaux, Erbe des größten Finanzmoguls Englands und Hoffnung der britischen Olympia-Fechter, von einem Unbekannten in einem Säbelduell geradezu zerlegt wurde. Einem Duell, das besagter Erbe im Übrigen selbst provoziert hatte, weil er einen vermeintlich hilflosen Austauschstudenten vor versammelter Mannschaft demütigen wollte. Junge, war das eine schlechte Idee gewesen! Ein Schauder durchlief mich. Tristan hatte keinen Schimmer, was für ein Glück er trotz allem gehabt hatte. Alle anderen, gegen die Aris seitdem hatte kämpfen müssen, waren tot.

Tristan aber lebte. Und ich wünschte mir nicht mal das Gegenteil, obwohl er Lisa und mich mit seinen Kumpeln vergewaltigt hätte, wenn Aris nicht eingeschritten wäre. Doch so einfach davonkommen durfte er auch nicht. Deshalb war ich Ende des letzten Herbstes noch einmal in Cornwall gewesen. Kenneth und Lisa hatten sich an einen Anwalt gewandt und beraten lassen. Leider war die Beweislage gegen Tristan definitiv zu dünn. Niemand sonst hatte von der miesen Hinterzimmer-Falle etwas mitbekommen, und so panisch und unter Druck, wie wir nach der Party gewesen waren, hatten wir nicht daran gedacht, eine Blutprobe von Lisa sichern zu lassen, um das Betäubungsmittel nachzuweisen. Wir hatten sie ja nicht einmal ins Krankenhaus gebracht. Aris fiel als Zeuge natürlich komplett aus. Eine Anzeige mussten wir also zähneknirschend vergessen. Kenneth war jedoch nicht gewillt gewesen, das Ganze auf sich beruhen zu lassen, und hatte es geschafft, einen Termin bei Oliver Prideaux, Tristans Vater, für uns zu bekommen. Ich war – nicht zum ersten Mal! – schwerst beeindruckt gewesen von meinem Teilzeit-Bruder. Ruhig hatte er Prideaux senior vom Treiben seines Stammhalters in Kenntnis gesetzt – und sich keinen Deut darum geschert, dass er damit den Zorn des einflussreichsten Mannes von Cornwall auf sich ziehen könnte.

Ich erinnerte mich bedrückt an die bleierne Atmosphäre während dieser Unterredung. Noch vor Kurzem hätte mich so eine Konfrontation wahrscheinlich bis ins Mark eingeschüchtert. Aber schließlich hatte ich mittlerweile ein paar Erfahrungen gemacht, die den Alphamännchen-Auftritt des Finanzmoguls locker in den Schatten stellten.

Mr. Prideaux hörte sich unseren Bericht mit steinerner Miene an und ließ uns dann ohne Kommentar von seinem Butler hinauskomplimentieren. Folgenlos blieb unser Vorstoß offensichtlich trotzdem nicht: Wie man hörte, studierte Tristan nicht mehr in Oxford und war auch sonst komplett von der Bildfläche verschwunden. Vermutlich hatte sein Vater ihn in irgendeinen fernen Winkel der Erde verbannt, wo der Mistkerl hoffentlich Gelegenheit bekam, sich ein paar Gedanken über sein Verhalten zu machen. Ob es half? Die britischen Olympia-Fechter mussten sich jedenfalls nach einem neuen Champion umsehen.

Mein Handy vibrierte. Lächelnd betrachtete ich das Foto, das Lisa mir zusammen mit einem Haufen Herzchen-Emojis geschickt hatte: ein Selfie von ihr und Nic im Sonnenuntergang am Strand. Hey, wenigstens eine von uns war so glücklich, wie sie nur sein konnte! Und ich … tja, irgendwann würde auch ich wieder glücklich werden. Wenn ich nur diese unsinnige Hoffnung in den Griff bekam … Mit einem tiefen Seufzer trank ich meine Flasche aus.

Schluss jetzt, Heulsuse! Morgen geht’s dir besser. Ab ins Bett mit dir.

Ich gehorchte.

Was das »ausführliche Besichtigungsprogramm« anging, hatte ich Lisa nicht beschwindelt: Ich wollte all das in echt sehen, was ich den Winter über in der Bibliothek und im Internet zu den Minoern – die ja in Wahrheit Atlanter hießen – recherchiert hatte. Zwei Tage lang stapfte ich daher von morgens bis abends durch die schöne, wenn auch bereits ziemlich ausgedörrte Landschaft Kretas, über mir die strahlende Sonne, um mich herum der Gesang der Zikaden und der Geruch nach wildem Thymian. Ich entdeckte Ruinen von mehr als 3000 Jahre alten Städten, Tempeln und Villen, meist ziemlich dürftig beschildert und ebenso dürftig gesichert. Am dritten Tag stand mein ehrgeizigstes Ziel auf dem Plan: Kato Zakros, eine Bucht an Kretas karger Ostküste, wo eine in den Sechzigern freigelegte minoische Stadt lag. Sie war vor Jahrtausenden durch einen Tsunami zerstört worden, was bei den Archäologen als Ursache für den Untergang des minoischen Reichs galt.

Während ich zwischen den Trümmern einstiger Wohnhäuser und Werkstätten herumspazierte, dachte ich daran, wie die Atlanter selbst die Naturkatastrophe deuteten: nicht als Untergang, sondern mehr als … Umzugstermin. Eine Art Weckruf der Götter, dass es Zeit war, in ihr angestammtes Reich auf dem Meeresgrund zurückzukehren.

Grübelnd schlenderte ich aus der Anlage hinaus zum Strand. All meine Unternehmungen halfen nicht, mich von der Erkenntnis abzulenken, dass meine eigentliche Mission gescheitert war: Zu Aris führte mich auch hier kein Weg zurück.

Gibst du es also endlich zu?, meldete sich meine innere Stimme.

Schön, du hast gewonnen. Unglücklich ließ ich mich in den Sand fallen. Zufrieden? Ja, ich HAB ihn gesucht. Oder wenigstens … nach einer Spur von ihm. Einer Verbindung. Irgendwas halt.

Und was hast du stattdessen gefunden? Kaputte Steine in toller Lage.

Ich nickte schweren Herzens. Stimmt. Nichts als kaputte Steine.

Sei ehrlich, Baby, raunte die andere Ella, geahnt hast du das von Anfang an. Du wolltest es bloß nicht wahrhaben!

Und so war es immer noch, wie mir klar wurde. Wieso schaffte ich es nicht, loszulassen? Ich kämpfte den Schluchzer hinunter, der sprungbereit in meiner Kehle saß.

Wir würden uns nicht wiedersehen.

Verdammt, und selbst wenn – die Sache war aussichtlos! Wie ein Mantra hatte ich es mir in den letzten Monaten vorgebetet: Aris war der Kronprinz von Atlantis und würde seinem Vater auf den Thron folgen. Wen er dabei an seiner Seite haben würde, entschieden ganz andere, politische Faktoren. Mal abgesehen davon, dass die Gattin des Minos automatisch auch noch zur Inkarnation der obersten Göttin der Atlanter wurde! Eine kleine Schwäche für irgendein Mädchen aus dem Volk, noch dazu eins von der verabscheuten Oberfläche, konnte dabei jedenfalls keine Rolle spielen.

Ich machte mir bloß etwas vor. Und vielleicht war jetzt die Zeit gekommen, damit aufzuhören. Noch einmal zog ich die Muschel unter meinem T-Shirt hervor. Schloss die Augen, ließ seine Stimme durch meinen Kopf fluten – und ein Schmerz durchzuckte meine Brust, so brutal, als ob noch immer der vergiftete Dolch darin steckte.

Du könntest sie hierlassen, wisperte meine innere Stimme. Einfach zwischen den Mauerresten vergraben. Oder gleich ins Meer werfen. Wäre doch passend.

Einen Moment lang dachte ich ernsthaft darüber nach. Aber dann schüttelte ich entschieden den Kopf. Nein. Wenn ich die Hoffnung begraben musste, würde das erst klappen, wenn ich wirklich bereit dazu war.

Ich stand auf. Blickte mich noch einmal um in dieser schönen, einsamen Bucht. Und fasste einen Entschluss: Ich würde die Muschel behalten. Aber ich würde aufhören, einer fixen Idee hinterherzuhetzen. Stattdessen wollte ich versuchen, den Rest der Zeit hier einen möglichst relaxten Badeurlaub zu verbringen. Nur Sonne, abhängen, vielleicht ein paar Nächte in einem der Partyorte hier …

Na klar, spottete mein treuer innerer Sidekick. Kreta, wappne dich: Dancing Queen Ella fällt über dich her!

Ach, hör schon auf, seufzte ich. Ich tu doch, was ich kann …

Und so ließ ich die Bucht, die Ruinenstadt und den Blick auf das leere Meer hinter mir, setzte mich in den Mietwagen und fuhr zurück.

In der Nacht wachte ich auf. Irgendetwas versetzte mich in Unruhe. Ich spürte es am ganzen Körper – wie ein heraufziehendes Gewitter. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, stand noch einmal auf und stellte mich unter die Dusche. Als ich mit trocken gerubbelten Haaren zurück in mein Zimmer kam, blieb ich wie erstarrt stehen.

Ich hatte das Lederband vor dem Duschen abgenommen und auf meinem Nachttisch abgelegt. Dort wartete es natürlich noch auf mich – doch die daran befestigte Muschel leuchtete auf einmal. Ein sanftes goldenes Pulsieren erhellte das kleine Schlafzimmer.

Ich bekam kaum noch Luft.

Was – was hat das zu bedeuten?

Kapitel 3

Mit zitternden Händen griff ich nach der Muschel und hielt sie mir ans Ohr, in der atemlosen Hoffnung, vielleicht eine neue Nachricht zu hören. Wie schon unzählige Male zuvor erklangen jedoch nur die wenigen vertrauten Worte: »Ella … Wir werden uns wiedersehen.«

Und jetzt?

Hilflos schaute ich mich um. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber tun musste ich etwas.

Raus. Ich muss sofort raus hier!

In Windeseile griff ich mir die erstbesten herumliegenden Klamotten – meinen Bikini und ein T-Shirt-Kleid –, schlüpfte in die Sandalen und zog die Muschelkette über den Kopf.

Ein Schritt, schon schlug die Tür hinter mir zu und ich stand auf der dem Meer zugewandten Terrasse. Irgendetwas zog mich den kleinen Trampelpfad entlang. Hastig stolperte ich hinunter zum Ufer.

Und da, auf dem Felsen neben dem kleinen Steg … da stand Aris. Er war genauso klatschnass wie bei unserer allerersten Begegnung, wirkte diesmal zum Glück jedoch nicht halb ertrunken. Aus seinen kurzen schwarzen Haaren liefen ihm Wassertropfen die Stirn und Wangen hinab. Neben dunklen Hosen trug er eine helle Tunika, die durchtränkt vom Meerwasser eng an seiner hochgewachsenen, athletischen Gestalt anlag.

Du hast Besuch von Mr. Wet-T-Shirt Atlantis, hauchte meine innere Stimme. Dafür gibt’s aber weniger zu Weihnachten, Fräulein!

Ich konnte gar nichts sagen, nicht mal in Gedanken. In mir tobte plötzlich eine Sturmflut an Gefühlen, die jede Vernunft fortschwemmte. Ich konnte nur schauen, hatte nur Augen für Aris, der vor mir aufgetaucht war wie der Sohn des Poseidon. Durch den Tunikastoff schimmerte ein goldenes Glühen auf seiner Brust: das filigrane Bild zweier Bienen, seinem Familienwappen, zum Leuchten gebracht durch das geheimnisvolle Aurikalchos. Und alles Wunderbare und Schreckliche, das ich in den letzten Monaten mühsam verpackt und wegsortiert hatte, war mit einem Mal wieder da.

Aris machte einen zögerlichen Schritt in meine Richtung. Dann blieb er stehen und blickte mich an, als ob er ähnlich hypnotisiert wäre wie ich.

Langsam, wie ferngesteuert ging ich über das felsige Ufer auf ihn zu. Ein klarer Himmel voller Sterne sorgte für ein silbriges und erstaunlich helles Licht. Die Wellen rauschten sanft, vom Ort klangen leise Musik und Gelächter herüber. Die Situation kam mir unwirklich vor – wie ein Traum. Vielleicht träumte ich tatsächlich? Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Selbst im wachen Zustand hatte ich mir unser Wiedersehen bestimmt tausendmal zurechtfantasiert.

Ja, und die meisten deiner Tagträume beginnen damit, dass ihr wild knutschend zu Boden geht, kicherte es in mir.

Ruhe da, fauchte ich in Gedanken zurück.

Oder die Nummer, wo er seinen Liebesschwur erneuert und dir sein Reich zu Füßen legt. Die ist auch ganz schick.

Oh Mann, Klappe! Ich … ich muss mich konzentrieren.

Denn nur weil wir uns zum Abschied geküsst hatten – und wie wir uns geküsst hatten! –, hieß das ja in der Wirklichkeit nicht automatisch, dass wir gleich so weitermachen würden, oder? Wir durften ja nicht mal! Niemand wusste das besser als Aris – und genau wie ich hatte er fast ein ganzes Jahr lang Zeit gehabt, darüber nachzudenken.

Er ist aber trotzdem hier!, jubelte es triumphierend in mir. Bei dir! Jetzt mach bloß nicht wieder was Dämliches. Versau es nicht!

Am Ende brachte ich gar nichts zustande außer einem schwachen »Hi …«.

Er stand da wie angewurzelt, ein leicht benommenes Lächeln auf seinen sanft geschwungenen Lippen. »Hallo, Ella.«

Da war er wieder, dieser melodische Akzent, der jedes seiner Worte an mich begleitete. Ich dagegen konzentrierte mich voll aufs Zurückgucken und Nichts-Dämliches-Machen. Sah in sein ausdrucksvolles, schön geschnittenes Gesicht, seine Augen, deren ungewöhnliche seegrüne Farbe die Nacht verbarg, und mein Blick fiel auf die schmale helle Narbe auf seinem Wangenknochen, knapp unter dem rechten Auge. Eine ewige Erinnerung an den Kampf gegen seinen Onkel.

Oder, wie wir gern sagen, den Killer-Psycho, knurrte meine innere Stimme.

Ich beachtete sie nicht.

Aris war hier. So nah, dass ich nur meine Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren.

Aber ich schaffte es nicht. Mein Herz klopfte zu stark. Es hallte mir in den Ohren wider, pochte in meiner Narbe und ließ in meinem Magen einen ganzen Schwarm atlantischer Federschmetterlinge auffliegen. Liebst du mich noch? Hast du mich vermisst? Die Gedanken und Fragen in mir taumelten wild durcheinander. Geht es dir gut? Warum bist du hier? LIEBST DU MICH NOCH?

Laut fragte ich schließlich: »Äh … warum bist du denn so nass?«

Oh Mann! Die innere Ella knallte ihre Stirn auf die Tischplatte. Sieh an, offenbar gab es in meinem Kopf also einen Tisch. Warum auch nicht, war ja momentan sonst nicht viel drin …

Aris’ Antwort kam mit deutlicher Verzögerung.

Hey, vielleicht werden bei ihm auch gerade innerlich die Möbel gerückt?, gluckste die andere Ella.

»Es ist zu flach hier am Ufer«, sagte er. »Das Boot liegt weiter draußen … hinter der Insel.«

»Ah. Klar.« Vergeblich kämpfte ich um eine neue, intelligentere Frage, doch Aris schien völlig damit zufrieden zu sein, mich anzusehen wie das achte Weltwunder.

»Dein Haar«, begann er dann erneut, die Augen staunend geweitet. »Es ist so … Es ist …« Er suchte sichtlich nach dem richtigen Wort – und fand: »… länger.«

Gefiel es ihm? Oder wirkte es nur ungewohnt? Oh Mist, ich hatte mich nicht einmal gekämmt. Überhaupt, wie ich aussehen musste! Und er, er war einfach so –

Plötzlich klatschte Wasser hoch und spritzte gegen unsere Beine. Ich sprang quietschend zur Seite, und Aris stieß etwas aus, das wie ein atlantischer Fluch klang. Neben uns auf den Felsen stand Som, ebenfalls tropfnass. Der junge Statthalter war wie aus dem Nichts aufgetaucht … oder – die Möglichkeit musste ich mir zu meiner Schande eingestehen – hatte ich ihn vorher einfach nicht bemerkt?

Som grinste und zeigte dabei seine Haifischzähne. »Vergebt mir, mein Prinz«, sagte er mit geheuchelter Demut. »Anders konnte ich mich nicht bemerkbar machen.«

Seine Stimme erklang direkt in meinem Kopf. Ich hatte fast vergessen, wie eigenartig sich das Senden der Statthalter anfühlte – lautlos für alle, die ihre Erlaubnis nicht erteilt hatten, und nur möglich, wenn der Angesprochene in Sichtweite war.

Aris runzelte ungehalten die Stirn. »Wir hatten doch etwas vereinbart!«

»Richtig«, bestätigte Som beflissen. Der Ton passte allerdings so gar nicht zu seinen nächsten Worten: »Wir hatten vereinbart, dass ich dich diskret stoppe, wenn du dich wie ein Volltrottel benimmst.« Er zwinkerte mir kurz mit seinen tiefschwarzen Augen zu und ignorierte seinen Freund, der hastig versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen. »Ich habe sogar schon fünfmal das Codewort gesendet. Aber du hast überhaupt nicht reagiert.«

Aris wurde jetzt richtig rot, das sah ich selbst im Sternenlicht. Moment, sie haben ein Codewort vereinbart? Für diese Situation?!

»Du hättest doch auch an mich senden können!«, versuchte ich, Aris aus der Patsche zu helfen.

»Habe ich ja. War genauso erfolglos.« Som grinste noch breiter.

Verdammt! Ertappt suchte ich ein neues Thema, um ihn geschickt abzulenken, irgendetwas Unverfängliches … Ich öffnete den Mund und sagte: »Du … äh, hast ja gar nichts an!«

Glückwunsch, ’ne glatte 10 auf der Peinlich-Skala!, kommentierte meine innere Stimme.

Nun glühten auch meine Wangen. Doch in der Tat, Som war nahezu nackt. Okay, so was wie einen Lendenschutz trug er schon noch. Und er hatte einen Beutel aus grünlichem, festem Stoff umgehängt. Ansonsten suchten sich die Wassertropfen allerdings ungehindert ihren Weg über seinen stämmigen, kreideweißen Körper mit der verschlungenen blauen Tätowierung, die sich von seiner Stirn über Nacken und Schulter den rechten Arm hinunterwand. Auf seinem Handrücken leuchtete das gleiche Bild, das Aris groß auf der Brust trug. Von seinem linken Fuß bis hinauf zu seiner Brust schlängelten sich weitere dunkle Hieroglyphen – ein unauslöschlicher Stammbaum, wie ich gelernt hatte, der Soms Abstammung aus einer der würdevollsten Statthalterfamilien von Atlantis bewies.

Netterweise ignorierte er mein dummes Geglotze und antwortete amüsiert: »Ist einfacher so im Wasser.«

Ich warf einen fragenden Blick hinüber zu Aris, der schließlich vollständig bekleidet war. Sogar Sandalen trug er.

Som zuckte mit den Schultern. »Oh, er schwimmt eh wie ein Anker. Da macht das keinen Unterschied.«

»Manche von uns haben Manieren!«, korrigierte sein Freund entrüstet.

Ich musste kichern und damit war der Bann gebrochen. »Was macht ihr denn eigentlich hier?« Endlich stellte ich die einzig wichtige Frage!

Diesmal war es Aris, der mir antwortete. »Wir brauchen deine Hilfe, Ella.«

Kurze Zeit später saßen wir auf den verlassenen Liegestühlen, die sich ein paar Meter entfernt vom Ufer befanden. Die Vermieter hatten trotz der Felsen Strandfeeling schaffen wollen und hier extra Sand aufgeschüttet. Er leuchtete silbern im Licht der Sterne. Noch immer kam mir die Situation vor wie ein Traum – aber da es sich um den besten handelte, den ich seit einem Jahr gehabt hatte, war ich nicht scharf auf das Erwachen.

Aris und Som saßen auf einer Liege mir gegenüber. Ich hatte sie nicht überreden können, mit hinauf zum Ferienhaus zu kommen. Som wollte nicht das geringste Risiko eingehen, von Bewohnern der Oberfläche entdeckt zu werden. Hier, nah am Wasser, fühlte er sich vor Überraschungen offenbar sicherer und konnte, falls nötig, sofort im Meer verschwinden. Ich hatte es außerdem nicht geschafft, neben Aris zu sitzen. Die Enttäuschung darüber half mir immerhin, meine Freude und Aufregung ein wenig im Zaum zu halten. Nichts Dämliches machen!

Aris begann, mit leiser Stimme zu berichten, was ihn und Som hergeführt hatte. Wie ich schnell einsehen musste, war es leider nicht das unstillbare Bedürfnis gewesen, mich wiederzusehen.

»Atlantis steht kurz vor einem neuen Krieg, Ella«, sagte er. »Du weißt ja, dass wir genügend innere Spannungen haben, vor allem im Kampf um die Rechte der Statthalter. Und dann sind da die vielen Häuser, die es auf die Königsmacht abgesehen haben. Aber das ist alles nichts gegen die Bedrohung von außen.«

»Was meinst du?«, fragte ich angespannt. »Hat euch etwa jemand entdeckt? Von uns?«

»Nein, das nicht«, schaltete Som sich ein. »Aber Atlantis ist nicht das einzige Königreich unter dem Meer. Es hat einen starken Rivalen.«

Vor Überraschung schnappte ich nach Luft. Ein zweites Atlantis?! Mein Verstand versuchte ja immer noch damit klarzukommen, dass das eine existierte!

»Nenn es nicht Königreich«, sagte Aris säuerlich. »Pacifika ist eine Kolonie. Eine abtrünnige Kolonie, nichts weiter.«

Pacifika?, hakte meine innere Stimme amüsiert nach. Lass mich raten, in welchem Meer das liegt …

»Mein Vater hat diesen Krieg geerbt«, fuhr Aris fort. »Der Konflikt schwelt schon seit Jahrhunderten. Es gab Schlachten, unzählige Tote, dann wieder lange Jahre, in denen Ruhe herrschte. Aber keinen Frieden.« Er seufzte. »Und jetzt standen wir so kurz davor. Pacifika hatte eine Delegation mit hochrangigen Vertretern der Königsfamilie ausgesandt, die mit meinem Vater die letzten Details des Friedensvertrags verhandeln sollten. Aber die Delegation wurde angegriffen. In unserem Einflussgebiet. Fast alle kamen um.«

Betroffen sah ich Aris an.

»Natürlich macht Pacifika uns für den Überfall verantwortlich«, stellte Som nüchtern fest. »Sie schreien Verrat und fordern Rache. Noch konnten wir nicht herausfinden, wer die wahren Attentäter sind, aber das müssen wir dringend, sonst droht uns statt Friedensverhandlungen ein pacifischer Vergeltungsschlag.«

»Leider ist die Aufklärungsarbeit gerade ein bisschen schwierig, weil Atlantis selbst angegriffen wurde«, berichtete Aris düster. »Oder vielmehr, meine Familie.«

»Ist jemandem – geht es deinen Eltern gut?«, fragte ich erschreckt. Die Anspannung hatte mich mittlerweile so fest im Griff, dass mir all meine Sinne übermäßig gereizt vorkamen. Das Meeresrauschen war zu laut, das blasse Sternenlicht zu hell, der Sand an meinen Füßen fühlte sich an wie Schleifpapier.

Aris nickte, wenn auch nicht sehr beruhigend. »Soweit ich weiß, ja. Der Angriff geschah im Palast. Auf unserem eigenen Gebiet! Deshalb sind wir dort nicht mehr sicher. Meine Mutter hat sich im Tempel der Winde verbarrikadiert und mein Vater sammelt die loyalen Truppen um sich. Er … er wurde von den Attentätern verletzt. Aber es ist glimpflich abgegangen.«

Som gestattete sich ein kleines Lächeln. »Sie hatten eindeutig nicht damit gerechnet, dass der Thronfolger den König mit einem abgebrochenen Stuhlbein verteidigen würde.«

»Oder dass der Leibdiener des Thronfolgers so gut darin ist, eine Blutung zu stillen«, ergänzte Aris und erwiderte komplizenhaft das Lächeln seines Freundes. Dann sah er zu mir, als bäte er um Verständnis. »Ich wollte meinen Eltern natürlich helfen. Aber sie haben mich weggeschickt. Mit einem Auftrag.«

Er ließ sich von Som den unscheinbaren grünen Beutel geben und holte seinen Inhalt hervor: zunächst einen kleinen, aufwendig geschmückten Kelch, der selbst im Sternenlicht sanft golden schimmerte. Aurikalchos, kein Zweifel.

»Das Auge der Göttin!«, flüsterte Soms Stimme andächtig in meinem Ohr. »Das größte Heiligtum im ganzen Königreich.«

Ich sah genauer hin. Wenn mich nicht alles täuschte, war das genau der Kelch, der Aris’ Mutter während der Zeremonie am Tag des Großen Stieres aus den Händen gefallen und die Altarstufen heruntergerollt war, als ihr totgeglaubter Sohn die Arena betreten hatte. Wenn das Ding dabei irgendwelche Dellen davongetragen hatte, waren sie jedenfalls perfekt ausgebessert worden.

Den zweiten Gegenstand in Aris’ Händen musste mir niemand erklären: ein simpler Goldreif. Die Königskrone.

»Wer auch immer nach der Macht von Atlantis greift«, meinte Aris grimmig, »solange er diese Insignien nicht in seinen Händen hält, wird er weder vom Volk noch von den Göttern akzeptiert werden.«

Bei seinen Worten lief mir unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Ich hatte die Entschlossenheit der Atlanter kennengelernt und konnte mir lebhaft vorstellen, wie verbissen um diese Dinge gerungen wurde.

»Es war die Idee meiner Mutter«, sagte Aris. »Also … dass wir Verbündete außerhalb von Atlantis suchen. An der Oberfläche.« Er schluckte. »Dich.«

»Mich?« Ich brachte nicht mehr heraus als ein Krächzen. »Aber wieso? Was kann ich denn tun?«

»Niemand wird damit rechnen, dass wir so weit gehen«, erklärte Som. »Und es ist unmöglich, dass Pacifika von dir oder deiner Verbindung zum Königshaus weiß.«

»Aber … aber ihr könnt mir doch nicht einfach diese Dinger da geben!«, protestierte ich. Der Gedanke war einfach zu irre. »Ich kann darauf nicht aufpassen! Ich krieg die nicht mal durch den Zoll!«

»Das sollst du auch gar nicht«, beruhigte mich Som. »Wir brauchten vor allem jemanden, der die Oberfläche kennt und sich hier unauffällig bewegen kann. Und wir finden dich ausgerechnet im Land unserer Vorfahren. Das löst alle unsere Probleme, denn hier gibt es einen heiligen Ort, an dem sich Kelch und Krone vor jedem Zugriff verbergen lassen.«

»Habt ihr ein Glück, dass ich nicht doch nach Ibiza geflogen bin«, murmelte ich.

»Es ist ein Zeichen der Götter«, sagte Aris nachdrücklich.

Na ja, eher purer Zufall, wisperte meine innere Stimme und ausnahmsweise war ich mit ihr einer Meinung.

Aber ich würde den Teufel tun, das laut infrage zu stellen. Nicht, wenn Aris mich so voller Vertrauen und Zuversicht ansah. Oder lag noch mehr in seinem Blick?

»Das Heiligtum befindet sich weit im Landesinneren.« Soms Stimme klang geradezu ehrfürchtig. »Es ist die Höhle des Kronos. Sie liegt am Fuß eines Berges auf der größten Hochebene dieser Insel. Die Hellenen haben die Höhle später ihrem Gott Zeus gewidmet.«

»Ich glaube, ich weiß, was ihr meint«, hörte ich mich sagen. Hatte es sich doch gelohnt, dass ich die letzten Monate mit dem Studium der minoischen Geschichte und zahlreicher Kreta-Reiseführer verbracht hatte! Rasch zeichnete ich eine grobe Karte der Insel in den Sand und deutete auf einen Punkt nordwestlich von uns. »Etwa hier, richtig?«

Som lächelte anerkennend. »Würdest du Aris dorthin bringen, damit er seine Aufgabe ausführen kann?«

Ich nickte, ohne nachzudenken. Er hätte mich auch bitten können, aus dem Stand einen Marathon zu laufen. Ich hätte alles getan, so überwältigt war ich von den Geschehnissen und Enthüllungen der letzten Stunde. Atlantis war zurück in meiner Welt.

Aris war zurück in meiner Welt.

Diese Chance würde ich nutzen, koste es, was es wolle! Dann aber fiel mir etwas auf. »Warte mal … Und du? Kommst du etwa nicht mit?«

Som schüttelte den Kopf. »Nein. Schon, weil ich auf gar keinen Fall an Land gesehen werden darf. Aber vor allem muss ich zurück nach Atlantis, um den Schein aufrecht zu erhalten, dass der Thronfolger noch im Land ist. Unsere Abreise war zu überstürzt für gründliche Pläne, aber wenn ich zurückkomme, wissen wir hoffentlich auch mehr über den Angriff auf den Minos und die Delegation.«

Aris nickte, warf mir dabei aber einen kurzen Blick zu – ich hatte den Eindruck, dass er seinen Part in dieser Mission auffällig brav spielte. Hatte das mit mir zu tun?

Ha, träum weiter!, schnaubte meine innere Stimme.

Trotzdem ließ ein winziger, freudiger Stromstoß mein Herz schneller schlagen.

Dann erhoben sich die ungleichen Freunde. Überrascht sah ich auf. »Wie, soll es jetzt gleich losgehen?«

Nein, in zwei Wochen, wenn du zurück in Berlin bist! Oh Mann … Meine innere Stimme war kurz vor dem Verzweifeln.

Aris lächelte. »Auf einen Moment kommt es nicht an. Aber je eher Krone und Kelch in Sicherheit sind, desto besser.« Er fuhr sich leicht schaudernd über die Oberarme. »Hättest du nur vorher vielleicht etwas zum Abtrocknen für mich, Ella?«

»Oh klar, natürlich!«

Klasse – hättest du ja auch mal selbst drauf kommen können, du Superhirn!

»Äh … ich hol schnell ein Handtuch.«

Aris winkte ab. »Lass nur, es reicht, wenn mir zu Hause alles nachgeräumt wird. Außerdem kenne ich mich an der Oberfläche ja schon aus«, fügte er stolz hinzu.

»Auf der Terrasse vor dem Haus da oben ist ein Wäscheständer mit Handtüchern«, erklärte ich dem Auskenner augenzwinkernd und fügte hinzu: »Du kannst zum Aufwärmen auch im Bad duschen. Du weißt doch noch, wie eine Oberflächen-Dusche funktioniert, oder?«

Er erwiderte: »Das ist diese unpraktische Einrichtung, wo man ewig an zwei Reglern drehen muss, bis das Wasser die richtige Temperatur hat, stimmt’s?«

Ich zog eine beleidigte Grimasse, er lachte und lief leichtfüßig den Hang hinauf.

Als ich ihm nachsah, fühlte ich ein eigenartiges Ziehen in meinem Körper – als ob er mit einem Gummiband mit mir verbunden wäre, das sich mit jedem Schritt von ihm mehr spannte.

»Ella«, ertönte da Soms Stimme in meinem Ohr. Sie hatte einen ganz anderen Ton als vorher. »Bitte hör mir kurz zu, solange Aris weg ist. Ich muss dir etwas im Vertrauen sagen.«

Kapitel 4

Neugierig und verunsichert zugleich sah ich Som an. Was er mir wohl zu sagen hatte, das Aris nicht hören durfte? Ich musste kurz schlucken, als mein Blick auf seine Halskette fiel: Neben ein paar kleineren Schmucksteinen und Muscheln war dort auch eine Silberperle eingeknotet. Ich hatte sie ihm auf seine Bitte hin zum Abschied gegeben. Dass er sie noch trug, zeigte mir, dass er immer noch mein Freund war. Mehr noch: dass er mich als Teil seiner Familie betrachtete. Ein warmes Gefühl stieg in mir auf.

»Erzähl«, bat ich.

»Es geht um zwei wichtige Dinge. Zum einen …« Som griff in den schmalen Stoffgürtel mit den vielen kleinen eingenähten Taschen, den er über seinem Lendenschurz trug – sein atlantischer Erste-Hilfe-Koffer, wie ich das Teil insgeheim getauft hatte. Dann hielt er mir seine Rechte hin. Auf der Handfläche lag ein flaches Etui, kaum größer als ein Streichholzbrief.

Ich nahm es. »Was ist das?«

Auf sein Nicken hin öffnete ich es. Darin befanden sich fünf Bläschen aus durchsichtigem, weichem Material, die nach vorn zu einer dornartige Spitze zuliefen. Sie waren mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt, die wenig vertrauenerweckend wirkte.

»Wenn du Aris fragst, wie es ihm geht, wird er sagen, es wäre alles gut.« In meinen Ohren erklang Soms Seufzer. »Es geht ihm aber nicht gut. Was ihm sein Onkel angetan hat … Das Gift der Schwarzen Perlen schädigt die Nerven – und es wirkt noch lange nach. Vor allem bei der Dosis, die er abbekommen hat.«