Fuchsgeist – Tanz mit den Schatten - Manuela Elser - E-Book

Fuchsgeist – Tanz mit den Schatten E-Book

Manuela Elser

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Beschreibung

Monsterjäger, dämonische Yōkai & eine Liebe zwischen den Welten. Rasante japanische Urban Fantasy für Fans von Julie Kagawa, Elizabeth Lim und Yasmin Shakarami  »Ich war ein Monster. Eines, das vielleicht etwas zu viel Spaß daran hatte, anderen Streiche zu spielen. Und manchmal, manchmal vergaß ich, dass unsere Kämpfe für Rin bitterer Ernst waren. Dass sie mich töten wollte.«  Japans Nächte gehören den Yōkai, den Geistern und Dämonen. Doch die Menschen jagen sie unerbittlich. Als gestaltwandelnder Fuchsgeist macht Kou sich einen Spaß daraus, die Fallen der Jäger zu zerstören, und hat es dabei besonders auf die furchtlose Rin abgesehen. Bis sich die Yōkai für einen Gegenangriff zusammenrotten. Nur Kou nicht. Denn Kou erinnert sich an die Vergangenheit und will die Menschen schützen, die einst ein Teil davon waren. Dafür braucht Kou ausgerechnet Rin und das Geheimnis ihrer Familie. Doch Rin will nichts mehr, als Kou tot zu sehen …  »Manuela Elser verwebt japanische Mythologie mit starken handelnden Personen und sie kreiert dabei eine fulminante Geschichte, die sich wie ein Film vor dem inneren Auge abspielt. Absolute Leseempfehlung!« – Laura Labas »Sehr geschickt verwebt Manuela Elser hier die japanischen Mythen mit ihrer spannenden Geschichte. Die Protagonist:innen waren toll geschrieben und sehr sympathisch. Eine große Leseempfehlung, für alle, die tiefer in Japans Mythenwelt eintauchen wollen.« ((Leserstimme auf NetGalley) Der Roman ist unabhängig von »Fuchsfeuer« lesbar.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Sprachredaktion: Uwe Raum-Deinzer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Charakterzeichnung Umschlag und Kapitelzierden: Milena Spiegel

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel 1

Was machst du nach dem Ende der Welt?

Die Stimme der Sterne

Kapitel 2

Bevor der Kaffee kalt wird

Das spurlose Verschwinden des Lichts

Kapitel 3

Das magische Verschwinden der tausend Tiefen

Kapitel 4

Die dunklen Schatten in der hellen Sonne

Der nachtdurchflutete Garten, in dem alles begann

Kapitel 5

Das Mädchen, das verlorene Stimmen jagt

Die sanfte Lüge und mein nicht ganz richtiges Selbst

Kapitel 6

Bibliothekskrieg

Die Farbe der Blumen

Kapitel 7

Der Einsiedler, der die andere Welt eroberte

Das alltägliche Leben eines (nicht so) unsterblichen Königs

Der Winter, in dem ich (fast) starb

Kapitel 8

Unruhe – oder wieso Zugfahrten verwirrend sind

Der ewige Garten in Violett

Großer Heuchler

Kapitel 9

Das einsame Schloss hinter den Spiegeln

Die Grenze des Himmels

Kapitel 10

Das Picknick auf der anderen Seite

Das seltsame Abenteuer eines geldlosen Retters

Das Geheimnis der (nicht so) stillen Magierin

Kapitel 11

Der Regen der (unsichtbaren) Wölfe

Das Mädchen, das den Todesgott verschlungen hat

Nach dem Regen

Kapitel 12

Das Buch vom Tee

Die Tochter mit den zwanzig Gesichtern

Die Stadt, wo sie sind

Kapitel 13

Königreich des Untergangs

Die, über die man Heldenlieder singt

Kapitel 14

Jene, die Füchse jagen

Die duftende Blume blüht mit Würde

Kapitel 15

Getragen vom Wind

Zwischen Himmel und Fluss

Hier und dort – Jetzt und damals

Kapitel 16

Mein Herz setzt einen Schlag aus

Kapitel 17

Der schreiende Drache und die nicht ganz so sommersprossige Prinzessin

Tränen der Erinnerung

Kapitel 18

Der Ruf der Nacht

Die Geschichte des Teetopf-Helden

Warte auf mich im gestrigen Frühling

Kapitel 19

Unter dem Banner der Sterne

Stimmen eines fernen Sterns

Kapitel 20

Die weit entfernte Kriegerin

Die Melodie, die ich vor langer Zeit gehört habe

Kapitel 21

Die Wolfskinder zwischen Regen und Schnee

Der Ort, der uns in unseren frühen Tagen versprochen wurde

Eine schweigende Stimme

Die Asche der Illusion

Kapitel 22

Das versprochene Niemandsland

Du darfst nicht sterben!

Kapitel 23

Die Toten schlafen (nicht) für immer in der Wildnis

Die (ehemalige) Wächterin der Seelen

Kapitel 24

Nach dem Ende der Reise

Nachwort

Begriffsregister

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für alle, die sich eingesperrt fühlen.

Alles kann sich verändern.

Und wenn du das möchtest, auch du selbst.

Kapitel 1

Was machst du nach dem Ende der Welt?

Menschen sind keine Monster. Sie wirken nur manchmal so. Vor allem, wenn man ihnen im Wald auflauert. Ich grub meine Finger in die Rinde des Baumes, auf dem ich mich positioniert hatte. Musterte durch die Blätter die menschlichen Gestalten unten am Boden. Eine große und eine etwas kleinere, beide in dunkle Kleidung gehüllt. Wind kam auf und brachte den Ast unter meinen Füßen zum Knarzen, aber keine der beiden sah hoch. Trotzdem war ich mir sicher, dass sie eine von ihnen war.

Nur wenige verließen in der Nacht ihre Häuser. Und noch weniger begaben sich auf die Jagd.

Vorsichtig ging ich in die Hocke, beugte mich vor, um das seltsame Leuchten neben ihnen näher zu betrachten.

Feuer.

Allerdings nicht meines. Nicht tödlich, aber schmerzhaft.

Ein Ast brach in den Flammen, und ungewöhnlich bunte Funken stiegen auf. Blaue, grüne, rote. Die Menschen mussten etwas hineingetan haben.

Mein Blick wanderte zu dem hüfthohen Käfig neben der Feuerstelle, in dem eine schmächtige vogelartige Gestalt kauerte. Dabei spürte ich das gewohnte sanfte Prickeln, das mir sagte, dass wir aus derselben Welt stammten. Dass es sich bei dem Wesen um keine Illusion, sondern wirklich um einen Yōkai, einen der japanischen Geister und Dämonen, handelte.

Selbst im flackernden Licht blieb das Metall der Gitterstäbe dunkel. Außer ein paar Einkerbungen, die dumpf glänzten. Bannzauber. Starke Magie, die uns nicht nur festhielt, sondern auch ein eisiges Brennen auf der Haut verursachte.

»Wie wird man euch los, Yōkai?«, dröhnte eine tiefe Stimme, und der größere der beiden Schemen, der neben dem Käfig beinahe riesenhaft wirkte, trat an das Gitter heran. Er hatte keine Angst. Musste er aber auch nicht.

Kamikiri waren ungefährlich. Ihre Scheren waren scharf, doch damit konnten sie den Jagenden bloß eine schiefe Frisur verpassen. Sie fraßen einfach nur Haare.

Keine Antwort kam aus dem Käfig, und der Arm des Jägers bewegte sich kaum merklich. Die Flammen, die nicht zu mir gehörten, loderten auf. Was auch immer der Mann hineinwarf, brachte das Feuer bedrohlich zum Zischen.

»Wie wird man euch los?«, wiederholte er, seine Stimme schärfer diesmal.

»Wir sind einfach da«, antwortete die vogelartige Gestalt und klackerte dabei mit ihren Scheren. »Wir sind ein Teil von Yūkai, und Yūkai ist ein Teil von uns.«

Unwillkürlich musste ich lächeln. Es war beinahe unmöglich, unsere Verbindung zu Yūkai, der nicht sichtbaren Welt zu erklären. Sie war einfach da. Genauso wie Genkai, die sichtbare Welt in der die Menschen lebten. Manche wollten das nur nicht akzeptieren.

»Das ergibt nicht mal Sinn. Lass uns den abliefern und einen anderen fangen«, entfuhr es dem Schemen, der sich bisher nicht gerührt hatte. Diese Stimme. Ein Kribbeln wanderte meinen Rücken hinab. Sie war es. Rin.

»Geduld. Wenn die Legende stimmt, hat Muramoto Sayuri von ihnen Antworten bekommen«, sagte der Mann, und bei der Erwähnung des Namens zuckte für einen Moment ein Stich durch meine Brust. »Zeit für eine neue Taktik.«

Metall klirrte, als er ein Katana zog. Rot wie Blut. Rot, wie … das Prickeln sagte mir alles, was ich wissen musste. Diese Klinge hatte Yōkai-Kräfte. Von der richtigen Person geführt, konnte man damit Yōkai töten.

Ich krallte meine Hände um den Ast unter mir. Mein Fuchsfeuer war nur eine warme Brise, ein Leuchten in mir, das unsichtbar nach außen überschwappte. Es ließ das Lagerfeuer unter mir anschwellen und dunklen Rauch aufsteigen, füllte die Lungen der Menschen damit. Die beiden Schemen wandten sich von den Flammen ab, schützten ihre Gesichter. Doch das würde ihnen wenig nützen. Der Qualm war nur eine Illusion und gleichzeitig so real wie die Erde unter ihren Füßen.

»Das ist aber nicht, wie die Geschichte geht«, rief ich mit einem breiten Grinsen. Ich ließ mein Feuer ein Katana formen, scharf wie die Klinge unten, allerdings nicht ganz so launisch.

Hustend blickten die beiden hoch. Rins Gestalt war verhüllt, bis auf ihre Augen, aber für einen Moment erstarrte ich, fühlte mich wie in eine andere Zeit versetzt.

»Was willst du, Junge?«, grummelte der zweite Schemen. Das Licht der Flammen fiel auf seine dunkle, weite Kleidung mit den darauf verteilten, schützenden Schriftzeichen. Er ließ den Stoff vor seinem Mund sinken, starrte mir grimmig entgegen. Ein Mann mittleren Alters, eine Narbe an der Wange. Keine Yōkai-Wunde. Dafür war sie zu glatt, zu schön verheilt. Doch der Mensch nutzte sie sicher, um sich als harten Jäger zu verkaufen und ängstlichen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.

»Ich frage mich, ob ihr lesen könnt«, sagte ich, immer noch hockend, die Illusion des Schwertes an meine Schulter gelehnt.

»Was?«, knurrte der Mann, und seine Hand schloss sich fester um sein Katana.

»Nun, es stimmt, dass Muramoto Sayuri die ersten Hinweise von einem Kamikiri bekommen hat. Aber habt ihr den Absatz übersprungen, in dem steht, wie sie das gemacht hat? Sie hat ihm ein Geschenk gebracht.«

»Wir handeln nicht mit Yōkai«, antwortete die Jägerin. Sie hatte keine Waffe gezogen, sich generell kaum bewegt. Aber das kannte ich bereits von ihr. Rin brauchte keine physischen Gegenstände, um sich zu verteidigen. Genauso wenig wie ich. Mir machte es mit allerdings mehr Spaß.

»Schade«, murmelte ich. »Ich hätte euch einen Handel angeboten.« Mit diesen Worten sprang ich von meinem Ast. Der Rauch schwoll weiter an, füllte die Lichtung des verwilderten Parks. Ich war nur noch ein Schemen im wirbelnden Grau.

Der Schatten des Jägers hob sein Schwert, drehte sich von links nach rechts, hielt das Katana dabei aber wie einen Baseballschläger. Ich stieß einen verächtlichen Laut aus. Selbst wenn er mich mit der rot leuchtenden Klinge traf, würde es kaum wehtun. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, wie er damit umgehen musste.

Trotzdem machte ich ihm die Freude, schlug mit meinem eigenen Schwert gegen seines. Er zuckte zusammen.

»Zeig dich«, stieß er aus, aber in seiner Stimme lag Panik. Im Gegensatz zu mir konnte er im Nebel nicht einmal meinen Schatten sehen. Keinen Schemen. Für ihn war ich unsichtbar.

»Nächstes Mal vielleicht«, wisperte ich und kickte gegen seine Beine. Er geriet ins Straucheln, doch bevor ich ihn noch ein zweites Mal treffen konnte, spürte ich kalte Finger an meinem Handgelenk.

»Das kann ich nicht zulassen«, sagte sie, ihre Stimme kratzig vom Rauch.

»Ich weiß«, antwortete ich. »Du solltest wirklich mal etwas für deine Durchblutung tun, deine Finger sind wie Eiszapfen.«

Mit einer drehenden Bewegung riss ich mich los und erhob erneut meine Klinge. Wärme durchfuhr meine Brust, als ich dem Rauch befahl, sich ein Stück zurückzuziehen. Uns eine Arena zu geben.

Ihr Blick ließ mich innehalten. Ihre Augen, die auf mich wie eine ferne Erinnerung wirkten. Sie hatte die Kapuze zurückgeschoben, und der Schal verbarg ihr Gesicht nicht mehr. Ihre dunklen Haare waren zu einem langen Zopf geflochten, doch ein paar Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Umrahmten die feinen Züge, die mich an eine Zeit erinnerten, die noch nicht lange zurücklag, aber sich anfühlte wie eine Ewigkeit. Eine unregelmäßige Narbe zog sich über ihr Kinn, ein Überbleibsel ihrer ersten Jagd.

Beinahe noch auffälliger als ihr Blick waren jedoch die leuchtenden Zeichen auf ihren Armen. Ihre ganze Haut bis hinauf zu ihrem Hals war damit bedeckt.

Sie führte ihre Hände zusammen, zwei Finger erhoben, verknotete sie und streckte sie nach vorne, so schnell, dass ihre Bewegung vor meinen Augen verschwamm. Ich duckte mich, spürte, wie ihr Energiestrahl nur Millimeter von meinem Gesicht entfernt vorbeizischte. Kuji-Kiri. Heilige und vor allem magische Handzeichen.

»Vorsicht, sonst verletzt du noch jemanden«, rief ich, obwohl mein Herz pochte. Für sie und alle anderen waren unsere Kämpfe kein Spiel. Auch wenn es sich für mich so anfühlte. Sie wollte mich einfangen. Mehr noch, sie wollte mich töten.

»Oh, wirklich?«, gab sie zurück, und ihre Hände bewegten sich erneut.

Eilig ließ ich aus dem Nichts Seile auftauchen, die ihre Finger aufhielten und sich um ihre Knöchel wickelten.

»Nein, diesmal nicht«, stieß sie aus und ein Zischen ertönte, als ihre Schriftzeichen noch einmal aufglühten. Die Schnüre lösten sich auf, und mit großen Augen sah ich zu, wie meine Illusion in goldene Einzelteile zerbröselte.

»Cooler Trick.« Ich nickte ihr anerkennend zu. Das Feuer in mir loderte auf, aber ich hielt es zurück, ließ nur eine einzelne Flamme entkommen, die neben ihrem Kopf explodierte.

»Gleichfalls«, rief sie, als sie sich zu Boden fallen ließ. Das Feuer verpuffte über ihr in heißem Rauch. »Aber das wird dir nichts helfen.«

Plötzlich war sie direkt vor mir. Ihre dunklen Augen nur wenige Zentimeter von meinen entfernt. Das Lächeln erstarb auf meinen Lippen. Sie war so schnell.

»Du willst mich nicht töten«, stellte sie fest, und da war er. Der Grund, wieso ich unseren Kampf so hinauszögerte. Wieso ich den Rauch gelichtet hatte. Ihr Grinsen brachte meine Welt zum Strahlen. »Aber ich hab kein Problem damit, dich umzubringen, Yōkai.«

An ihren Fingern glühte es golden. Mir war, als würde ich in der Ferne Mönchsgesang hören. Tiefe Klänge, die durch meinen ganzen Körper vibrierten. Doch was die Jägerin nie verstehen würde, war, dass ich nur kämpfte, weil ich es wollte. Ich duckte mich unter ihrem Hieb durch, ließ den Rauch um uns hochsteigen. Wind kam auf, zumindest würde es für sie so wirken, und die Flammen des Menschenfeuers knackten, loderten hoch zu einem Feuersturm.

Sie keuchte auf, hustete. Währenddessen schob ich mich an dem bewusstlosen Körper des zweiten Jägers vorbei. Mein Tritt musste ihn zum Stolpern gebracht und der unsanfte Aufprall am Boden ihn schließlich ausgeknockt haben. Ich wich den ungehaltenen Bewegungen der Jägerin aus, trat auf den Käfig zu. Immer wieder versuchte sie, mit ihren Zaubern die Rauschschwaden zu durchdringen. Doch der graue Schleier schützte uns wie eine Wand. Ich griff einmal mehr nach dem Fuchsfeuer in mir, ließ es um mich lodern. Die Hitze brachte mich ins Schwitzen, ließ mich genauso erglühen wie das Eisen, aus dem ich die Bannzauber schmolz. Das Metall tropfte zischend auf den Waldboden.

»Komm«, sagte ich zu dem Kamikiri. »Du bist frei.«

Das vogelartige Wesen darin blinzelte mir zu. »Du bist ein Kitsune.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

Ich strich mir meine kurzen, zerzausten Haare glatt. »Ich bin Kou.«

Dabei ließ ich sie wachsen, machte sie zu langen Strähnen und hob mein Schwert. Meine dunklen Augen spiegelten sich auf dem dumpfen Metall der Klinge, und für eine Sekunde konnte ich nicht widerstehen. Für einen Moment blickte mir das Gesicht des Mädchens entgegen, das ich einmal gewesen war. Das die Jägerin gekannt hatte. Aber das war nicht mehr ich. Zumindest nicht immer. Nicht heute. Mit einem unterdrückten Seufzen durchtrennte ich meine Haarsträhnen mit dem Schwert und wurde wieder zu dem Jungen, der ich in dieser Nacht war. »Zur Beruhigung«, sagte ich und überreichte ihm meine Haare.

»Dunkel, mit einer rauchigen Note«, wisperte der Kamikiri, bevor er sie sich gierig in den Schnabel schob.

Lächelnd tätschelte ich ihm den Kopf, während sich der graue Schleier um uns wieder enger zog. Nach und nach unsere Gestalten verhüllte. Und als wir mit einem letzten Auflodern der Menschenflammen im Rauch verschwanden, wurde mein Lächeln zu einem breiten Grinsen.

Menschen sind keine Monster. Nein.

Aber ich bin eines.

Die Stimme der Sterne

Die steinernen Fackeln am Straßenrand loderten hoch und ließen meinen Schatten über den Asphalt tanzen. Hüllten die Nacht in bläuliches Licht. Nachdem ich den Kamikiri zu seinem Unterschlupf gebracht hatte, schlenderte ich alleine durch die Straßen.

Ein Geräusch ließ mich zusammenzucken. Kyōto lag immer noch ruhig vor mir. Die Gasse war nur spärlich beleuchtet, und die veralteten Gebäude schlummerten im Schatten. Nichts rührte sich. Trotzdem war da ein Hecheln, das immer lauter wurde, und mit ihm näherte sich ein warmes Prickeln.

Ich wandte mich nicht um, zählte die Sekunden. Dann wich ich mit einer eleganten Drehung einer kleinen grauen Gestalt aus, die an mir vorbeihastete. Ein Isogashi, sagte der Teil von mir, der mit Yūkai verbunden war. Ein Yōkai, der es immer eilig hatte.

Mit einem Lächeln sah ich ihm hinterher, bevor ich meinen Blick hoch zu den Sternen wandte. Das Leuchten über mir war hell und erinnerte mich an die Schriftzeichen, die sich über die Haut der Jägerin erstreckten. Ihr Strahlen war gefährlich, doch es war auch wunderschön.

Etwas grunzte, und mein Kopf zuckte herum. An einer der steinernen Fackeln am Straßenrand hing eine dicke, runde Gestalt. Sie war klein, und ihre Haut war rot, sodass sie im bläulichen Licht beinahe violett wirkte. Eine lange Zunge stierte dabei in dem Feuer der Fackel herum und leckte das Öl heraus. Ein Abura-Akago.

Ich seufzte leise, wie ich ihn so sah. Diese Yōkai waren selten geworden.

Sie waren wie Kamikiri ungefährlich, nur deutlich langsamer und ähnlich geschickt wie ein menschlicher Säugling. Leichte Beute für Jagende. Doch sie ließen sich auch nicht belehren. Solange es noch Öl in den Lampen gab, würden sie immer wieder auftauchen.

Ich ging die Straße weiter hinunter. Das blaue Licht der Steinlaternen schaffte es nicht, den Weg vor mir vollkommen zu erhellen. Mein Fuchsfeuer in mir glühte auf. Funken sprühten sanft von mir zu den Fackeln, und meine weite Kleidung wirbelte dabei um mich, als würde ein Luftzug durch sie fahren.

Ich ließ das Licht der Steinfackeln auflodern, erhellte ihr Strahlen, wann immer ich an einer vorbeikam.

Zwei Straßen weiter stieg der Geruch von deftigen Ramen in meine Nase. Der Duft war kaum wahrnehmbar, den meisten Menschen fiel er vermutlich gar nicht auf. Aber für mich und vielleicht auch für Muramoto Sayuri, das Mädchen, das die Nacht bezwungen hatte, war er voller Erinnerungen.

Stimmen wurden hörbar. Leise, wie Flüstern im Wind. Aber ängstlich, fast ein bisschen erschrocken. Ich wusste es, bevor ich sie sah. Menschen.

Nur eine Gasse weiter sah ich sie. Die Bannzauber leuchteten hell, bildeten eine silbrige Kuppel um sie. Und vorne an der Spitze marschierte eine Person in weitem dunkelblauen Gewand mit einem goldenen Stab, an dessen Ende sich ein großer Kreis mit funkelnden Anhängern formte. Ein Mönch. Oder zumindest jemand, der wie einer angezogen war.

Und die Leute in eleganter Alltagskleidung hinter ihm waren Touristinnen und Touristen.

Wenige Menschen verließen nach Sonnenuntergang ihre Häuser. Zwölf Jahre waren vergangen, seitdem das letzte Mal Erstgeborene von Yōkai entführt worden waren, die Geschehnisse nun nicht mehr als Erinnerungen, aber die Nacht gehörte noch immer uns, den Dämonen und Geistern Japans. Trotzdem hatten sich nach und nach kleine Gruppen gebildet, die nachts Führungen veranstalteten. Sehr zum Ärger der Yōban, den Wächterinnen und Wächtern der Menschen. Für die Ryōshi, die Yōkai-Jagenden, zu denen auch Rin und ihr Begleiter gehörten, war es jedoch eine willkommene Gelegenheit. Solche Touren zahlten häufig dafür, dass gefährliche Yōkai eingefangen wurden, bevor sie aufbrachen.

Nur wenige Schritte von ihnen entfernt befand sich am Straßenrand ein hell beleuchteter, aber komplett verlassener Stand. Das Leuchten hatte etwas Gruseliges, schlug sich mit dem blauen Licht der Steinfackeln. Es sah aus, wie jeder Ramenstand, bei dem der Verkäufer kurz Pause machte.

»Dieser Stand«, verkündete der Mönch, »befindet sich seit zwölf Jahren hier. Jede Nacht erscheint er, aber er bleibt leer, kein Yōkai kommt in seine Nähe. Man munkelt, dass er das erste Anzeichen für das Ende des Akatsuki war.«

Das stimmte nicht ganz. Den Akatsuki, den roten Mond, der unsere Kräfte verstärkte, gab es noch. Allerdings hatte er nicht mehr dieselbe schreckliche Bedeutung. Er leuchtete einfach nur rot.

Ungesehen glitt ich an ihnen vorbei. Die Gasse führte zu einer Brücke, die genauso wie der Stand regungslos vor mir lag. Als wäre dieser Teil von Kyōto eine Geisterstadt ohne Geister. Ein kleiner Stich durchzuckte meine Brust, als Erinnerungen hochkamen.

Bilder von Melonen, einem gesichtslosen Ramenverkäufer und einem Mädchen, das mir mit erhobener Naginata folgte.

Mein Blick fiel noch einmal zurück auf die Touristinnen und Touristen, die den Stand fasziniert betrachteten und miteinander tuschelten.

Einem plötzlichen Impuls folgend, entfachte ich das Feuer in mir erneut. Ließ es aus meinen Fingern sprießen wie magische Fäden, die sich nach und nach um die Brücke webten. Funken sprühten, flogen in den Nachthimmel hinauf und erhellten die düstere Straße. Spiegelten sich im glitzernden Wasser und ließen es in hellstem Blau erstrahlen.

Die Touristen stießen einen begeisterten Laut aus. Nur das Gesicht des Mönchs wirkte besorgt. Er war der Einzige, der wusste, dass mein Zauber nicht hier sein sollte.

Ich hielt mich hinter dem Spektakel, im Schatten meines eigenen Strahlens. Das Wichtigste einer Illusion war, dass man nicht merkte, wo sie herkam. Ich atmete aus, und das Leuchten auf der Brücke löste sich mit einem Knacken wie von Holz im Feuer auf.

Statt der Flammen standen nun zwei melonenköpfige Samurai auf der Flussbrücke, ihre Hände an den Griffen ihrer Schwerter. Einer mit dem Rücken zu mir, der andere mir zugewandt. Die Schale der Melonen glänzte im Fackellicht. Eine grün und eine gelb.

»Shoyu-Ramen?«, fragte ein gesichtsloser Verkäufer, der im Ramenstand aufgetaucht war. Die Tourgruppe kreischte auf.

»Keine Sorge, in der Kuppel kann euch nichts passieren. Ihr seid sicher«, rief der Mönch, aber sein Gesicht war bleich geworden. Den Touristinnen und Touristen schien das auch aufgefallen zu sein, denn mehr als eine Person verlangte schlagartig ihr Geld zurück.

Ich grinste. Der Ramenverkäufer, die Melonensamurai, sie waren nicht real. Nicht wirklich. Ihre Gestalten waren durchscheinend, nicht ganz hier. Ich konnte kein Leben erschaffen, nur die Illusion davon.

Die Melonen zogen ihre Schwerter, und ich schwang mich auf das Geländer der Brücke. Ihre Klingen klirrten, während ich kichernd an ihnen vorbeihuschte.

Auf der anderen Seite des Flusses blieb ich jedoch abrupt stehen.

Dort, wo die Straße sich zu einem Platz weitete, stand eine mir bekannte Gestalt in weiten Gewändern. Auf die Entfernung wirkte er beinahe menschlich. Doch über seinen marderhundartigen Kopf zog sich braunes Fell, und seine spitze schwarze Nase blähte sich auf, als würde er schnuppern. Ein Tanuki mit einem Topf in der Hand. Shukaku.

»Du hast wieder einen gerettet«, stellte er fest. Seine Miene war dabei weder fröhlich noch traurig. Er klang beinahe gleichgültig.

Ich nickte, ohne etwas zu sagen. Starrte einfach nur Shukakus Topf an und wartete, ob aus dem dunklen Metall Beine wachsen würden, so wie letztes Mal. Das Ding rührte sich jedoch nicht.

»Du weißt, dass das nichts löst? Die Menschen werden das nur als Angriff werten.«

»Und das von dem Yōkai, der den Yōban hilft«, gab ich zurück. Hinter mir hörte ich weiterhin die Touristinnen und Touristen aufgeregt rufen, während die Melonensamurai ihre Schwerter in einem ewigen Kampf kreuzten. Sie würden nicht für immer bleiben. In ein paar Nächten, vielleicht sogar schon in der nächsten, würden sie sich auflösen. Der Tag schwächte meine Zauber zu sehr.

Der Tanuki seufzte. »Die Wächterinnen und Wächter beschützen nur. Sie jagen nicht.«

Ich zog meine Augenbrauen hoch. »Aber sie schützen nicht uns.«

»Das stimmt.« Shukaku senkte seinen Kopf. »Aber das ist auch nicht, warum du den Yōkai befreit hast, oder?«

Ich straffte meine Schultern und zog meine Mundwinkel hoch, obwohl mir nicht zum Lächeln zumute war. »Wieso sollte ich ihn sonst retten?«

Shukaku lächelte nicht. Er musterte mich nur einen Moment mit seinen dunklen Knopfaugen, dann wandte er sich ab. Ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen, schritt er die Straße hinunter und verschwand in der Dunkelheit. Er wurde dabei nicht langsam durchsichtig oder durchscheinend, sondern war von der einen Sekunde auf die andere einfach weg. Ganz so, als wäre er nie hier gewesen.

Einen Moment stand ich noch da, still. Ließ den Wind durch meine Haare fahren. Die Worte des Tanuki schwebten vor mir, als hätte er sie für mich zurückgelassen. Dann schüttelte ich mich und ging in die Richtung, aus der zuvor Shukaku gekommen war.

Dahin, wo sich die Straße weitete.

Es war weniger ein Platz, als ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit. Irgendwann war hier einmal ein Bahnhof gewesen. Jetzt gab es nur noch einen rostigen Spielplatz, der mit einem Bannzauber in Genkai, der sehenden Welt, gehalten wurde. Ich spürte das kalte Kribbeln, wie ein Zischen, das mein Feuer löschte, bis nur noch die Glut davon übrig war. Trotzdem war das genau der Ort, zu dem ich wollte.

Der kleine Schrein am Rand strahlte mit den Steinfackeln um die Wette, als würde der Zauber dahinter Yūkai trotzen wollen. Ich ging daran vorbei, während der Himmel sich langsam aufhellte. Näherte mich dem Bereich des Parks, wo hinter den Büschen und hochgewachsenen Bäumen die flachen Hausdächer der nächsten Straße hochragten.

Dort ließ ich mich auf die Schaukel sinken. Ich schlang meine Hand um das Metall der Kette, an der das Spielgerät hing, klammerte mich an das zischende Prickeln, das darin lag.

Mit dem Aufgehen der Sonne wanderte ein kalter Schauer durch meinen Körper. Der Himmel leuchtete scharlachrot, während die Sonne Zentimeter für Zentimeter emporwanderte.

Mit ihren Strahlen veränderte sich die Welt. Kabel schlängelten sich über die Straßen und verbanden Häuser, bildeten schnurartige Brücken. Seitlich von mir erzitterte die Erde, Dreck wurde aufgewirbelt, und die steinernen Fackeln erloschen von einer Sekunde auf die andere. Graues Metall brach aus dem Boden hervor, schoss hoch und formte Straßenlaternen. Die Fackeln verschwanden. Stille breitete sich über die Straße aus. Ruhe, bei der man fühlte, dass sie nicht lange anhalten würde.

Ich wappnete mich, spannte meinen Körper an.

Dann spürte ich es. Im selben Augenblick, in dem alle Straßenlaternen flackernd zu leuchten begannen. Ein leicht schmerzhaftes Kribbeln, das sich langsam in mir ausbreitete.

Es war wie heftiger Eisregen, der auf mich einprasselte. Ein Sturm, der mich wegreißen wollte. Als fühlte ich am ganzen Leib, wie der Kiretsu, der Riss, der unsere Welten verschmolzen hatte, sich zusammenzog.

Kälte kroch mir unter die Kleidung, brachte mich zum Frieren. Ich schwang leicht in meiner Schaukel, ohne den Griff zu lockern, um das Gefühl abzuschütteln. Um dem Drang loszulassen nicht nachzugeben. Ich ließ mich nicht nach Yūkai ziehen. Ich wollte nicht in die Welt der Yōkai. Nicht jetzt.

Denn heute hatte ich Frühschicht.

Als das Kribbeln vorüberzog, war die Stadt nicht mehr dieselbe. Wortwörtlich. Statt der altertümlichen Gebäude reihten sich nun moderne Häuser die Straße entlang, und aus den steinernen Fackeln waren elektrische Laternen und Strommasten geworden. Mit dem Aufgehen der Sonne hatte sich die Welt der Yōkai in die der Menschen, in Genkai, verwandelt. Die Sonnenstrahlen kitzelten auf meiner Haut. Es war ein seltsames Gefühl, weil die Wärme, die sie mir früher einmal gespendet hatte, meinen Körper nicht mehr ganz erreichte. Es war, als wäre die Sonne auf einer anderen Ebene, auch wenn wir uns in derselben Welt befanden.

Schlagartig fühlte ich mich unwohl. Irgendwie … unpassend. So als wäre die Haut, die ich trug, nicht mehr meine, obwohl es nie die eines anderen gewesen war. Und auch wenn niemand außer mir hier war, weil sowohl Mensch als auch Yōkai diesen Park nachts mieden, fühlte ich mich beobachtet. Falsch. Fehl am Platz.

Ich schloss meine Augen, während ich das Feuer in mir einmal mehr hochwandern ließ. Ich wuchs um ein paar Zentimeter. Meine Haare fielen mir strähnenweise ab, bevor sie kürzer wieder aus meinem Kopf wuchsen, schwarz, wie die Nacht im Wald gewesen war. Meine Züge wurden kantiger, mein Kehlkopf nahm etwas zu, und ich räusperte mich, um meine eigene Stimme zu hören. Meine weite Kleidung wurde enger, wurde von traditionellen Gewändern zu dunklen Jeans mit weißem Shirt und grauen Sneakers.

Sowohl das Mädchen als auch der kleine Junge von letzter Nacht waren verschwunden. Sie waren immer noch ich, aber nicht jetzt. Jetzt war ich ein Mensch, der jedes Wochenende im Café Kojika in Kyōto kellnerte. Einige Studierende taten das, und so war ich nur eine Person unter vielen. Dabei war nie aufgefallen, dass niemand wusste, was ich eigentlich studierte.

Ich sammelte die Haarsträhnen auf, band sie zu einem Bündel und steckte sie in die Tasche meiner Jeans. Falls ich den Kamikiri noch einmal traf, würde er sich freuen. Ein Lächeln zuckte über meine Lippen, als ich an seinen gierigen Blick dachte. Dann setzte ich mich in Bewegung.

Es war wieder an der Zeit, ein paar Menschen zu ärgern.

Kapitel 2

Bevor der Kaffee kalt wird

Das Café lag noch im Dunkeln, als ich es erreichte. Niemand kam so knapp nach Sonnenaufgang, deswegen öffnete ich den Laden meistens allein. Dafür nutzte ich die Illusion eines Schlüssels. Die Schutzzauber waren nur schwach, kühles Wasser, das meinen Rücken hinabtropfte und dort zu einer Eisschicht gefror. Etwas, das ich dem Ladenbesitzer jedoch niemals sagen würde, sonst würde ich meinen Job verlieren.

Wie gewohnt nahm ich das Schild direkt hinter dem Eingang und stellte es nach draußen. Darauf standen neben einem Rehkitzkopf die Worte Muramoto Sayuris Lieblingscafé in Kyōto. Ich verkniff mir dabei ein Schmunzeln. Wahrscheinlich war sie nie hier gewesen, genauso wenig wie in den anderen zwanzig Cafés der Stadt, die so ein Schild hatten. Aber die lokale Legende gab den Menschen Hoffnung. Auch wenn sie im Gegensatz zu mir nicht wussten, wie viel davon stimmte. Und wer wollte keine Hoffnung in seinem Heißgetränk?

Um diese eigenwillige Mischung zu servieren, bereitete ich gleichzeitig die Kaffeemaschine vor, setzte Wasser auf und stapelte kunstvoll Tassen. Denn durch die Nähe zum Bahnhof füllte sich das Café innerhalb der nächsten Stunde schnell.

»Einen Cappuccino bitte«, sagte der gefühlt hundertste junge Kunde vor mir. Er trug die Schuluniform einer nahen Oberschule und lächelte schüchtern. Ich erwiderte es mit einem breiten Grinsen.

»Natürlich. Zum hier Trinken oder zum Mitnehmen?«

»Hier«, murmelte er, so leise, dass es kaum hörbar war. Ich wandte mich der Kaffeemaschine hinter mir zu.

»Wieder einer von ihnen«, wisperte der Kollege mit weißem Hemd und beigem Cardigan, der neben mir stand. Aoki.

Ich tat, als hätte ich ihn nicht gehört. Aoki fand es unterhaltsam, dass mich häufig Schülerinnen und Schüler aus dem hinteren Eck des Cafés kichernd beobachteten. Eine Nebenwirkung, weil ich ein zu gutes Aussehen für diesen Beruf gewählt hatte. Und weil ich mir erlaubte, kleine Tricks einzubauen, wenn ich Kaffee zubereitete.

»Schwarzen Kaffee zum Mitnehmen«, sagte eine Frau Mitte vierzig in einem schwarzen Kleid mit rosa Chiffonjacke an Aoki gewandt, während ich mich dem Cappuccino widmete. Mit einem Schwenk aus dem Handgelenk goss ich den Milchschaum ein und zeichnete dabei ein Herz in die Tasse. So wie es für das Café üblich war.

»Kommt sofort«, antwortete Aoki der Frau.

Ich überreichte dem Schüler den Cappuccino, und er wandte sich hastig um, lief zu seinen Freundinnen und Freunden nur wenige Meter entfernt. Die drei Mädchen und zwei Jungen sahen immer wieder neugierig in meine Richtung. Ich grinste und zwinkerte ihnen zu.

»Machst du das öfter?«, fragte eine dunkle Frauenstimme, und mein Grinsen wurde noch breiter.

»Was? Kaffee verkaufen in einem Café? Schwer zu glauben, ich weiß«, gab ich zurück, ohne den Kopf zu heben. Da war sie. Der Grund, wieso ich diesen Tagesjob in einem kleinen Café in Kyōto hatte. Und wieso ich an manchen Tagen nicht nach Yūkai zurückkehren wollte. Die Jägerin mit den Schriftzeichen auf der Haut. Die mich nachts jagte, ohne zu wissen, dass ich ihr tagsüber den Kaffee einschenkte. Rin.

»Mit Kunden flirten.« Sie zog ihre Augenbrauen hoch und lehnte sich etwas über den Tresen. Statt ihrer weiten, dunklen Jägerinnenkleidung trug sie einen grauen Maxirock und einen pinken Pullover mit überlangen Ärmeln. Diesmal war sie alleine gekommen, ohne ihre kurzhaarige Freundin, die sie sonst begleitete. Vielleicht waren wir in dieser Gestalt auch so etwas wie befreundet. Ich hoffte es zumindest.

Ich warf ihr einen gespielt beleidigten Blick zu und griff mir an die Brust. »Nur mit dir«, sagte ich und drückte mit Schwung auf den Knopf, der ihr einen schwarzen Kaffee herunterlassen würde. Sie trank immer einen.

In ihren Augen blitzte es belustigt auf. »Gut, sonst werde ich vielleicht noch eifersüchtig.«

»Das würde ich niemals riskieren. Schließlich verliert dann das Café Kojika seine beste Kundin.« Ich überreichte ihr den Becher mit einer tiefen Verbeugung. Für den Bruchteil einer Sekunde berührten sich unsere Finger, als sie mir den Kaffee abnahm. Sie waren immer noch eiskalt, und ich redete mir ein, dass das der einzige Grund war, wieso die Stelle zu kribbeln begann. Das Gefühl breitete sich aus, wanderte durch meinen Körper, obwohl die Kälte von Genkai an meinen Gliedern nagte.

Diese Momente waren es wert. Als Fuchsgeist würde sie mich jagen, vielleicht sogar töten. Doch als vermeintlicher Mensch konnte ich ihr nah sein.

Mit ihr zu kämpfen entfachte das Feuer in mir. Aber hier innerhalb dieses kleinen Cafés waren wir Teil derselben sorglosen Welt. Weit entfernt von Ryōshi und Yōkai und all den Schwierigkeiten, die das mit sich brachte. Sie war einfach nur eine Person auf der Suche nach Kaffee. Und ich war nur jemand mit wenig Bedeutung in einer rosa Rehkitz-Schürze.

Nur deswegen hielt ich mich hier zurück. Machte keine Tricks, die sie misstrauisch werden ließen.

»Einen Cappuccino«, rief Aoki, bevor er in Richtung der Küche davonging. Ich drehte mich um. In der Kaffeemaschine stand bereits eine halb volle Tasse. Mit Schwung nahm ich sie heraus, warf sie hoch über meine Schulter und fing sie, ohne hinzusehen – und ohne etwas zu verschütten.

»Immer musst du angeben«, zischte Rin belustigt von der Seite, während ich der anderen Kundin schwungvoll einschenkte und ihre Tasse überreichte. Na ja, zumindest keine magischen Tricks.

»Nur wenn es berechtigt ist«, erwiderte ich verschmitzt. Und das war es auch. Schließlich hatte ich das Kunststück oft geübt. Auch weil ich Angst hatte, dass Rin es aus dieser Nähe bemerken würde, wenn ich meine Kräfte nutzte.

»Mhm«, machte Rin. »Natürlich.«

Ich zwinkerte ihr zu.

Ein Schrei ließ uns beide zusammenzucken. Aoki war gerade mit einem Tablett voller Tortenstücke aus der Küche gekommen, als eines der Mädchen an der Theke in hellem Blumenkleid und Jeansjacke sich weiter vorgelehnt hatte. Vermutlich um meinen Trick besser zu sehen. Nur leider hatte sie dabei eines ihrer Beine nach hinten gestreckt – und so Aoki zu Fall gebracht. Vollbeladen, wie er war, geriet er ins Wanken, drohte zu kippen, direkt auf einen Stuhl hinter ihm.

Ich reagierte, ohne nachzudenken. Hitze schoss durch meinen Körper, heiß wie Glut, verdrängte die Kälte, die tagsüber in mir wohnte. Nicht so stark wie letzte Nacht, tagsüber war meine Magie schwächer, doch es würde reichen. Innerhalb von Sekunden erschien eine dichte Wolke neben ihm. So als wäre sie lebendig, stoppte sie seinen Fall und richtete ihn auf. Fing die Speisen und brachte sie in seine Hände zurück.

Aoki stand wieder gerade da, als wäre nichts geschehen, mit einem überraschten Ausdruck im Gesicht.

Alle Blicke im Raum waren auf ihn gerichtet. Bis auf zwei pechschwarze Augen, in denen eine Mischung aus Zorn und blankem Horror lag.

Rin starrte mich an. Ihr Lächeln war verschwunden. Stattdessen war sie bleich geworden, und eine steile Falte war auf ihrer Stirn erschienen. »Du bist ein …«, stieß sie aus.

Ich rührte mich nicht.

Für ein paar Sekunden stand ich einfach nur da. Regungslos. Wie eine Salzsäule. Wie eine Statue.

Meine Magie war immer noch ein warmes Gefühl auf meiner Haut. Ich hätte nicht danach greifen sollen. Zu Aoki laufen, ihn auffangen und mir dabei ein paar Knochen brechen – alles wäre besser gewesen als diese unmenschliche Reaktion.

»Ich …«, setzte ich an, aber jegliche Worte verschwanden aus meinem Kopf, als sich unsere Blicke trafen. Kein Satz würde ihr das erklären können. Mein Kopf war leer.

Die Schriftzeichen auf ihrer Haut begannen zu leuchten. Sie flüsterte Worte, ohne dass ich auch nur einen Laut hören konnte. Ihre Finger bewegten sich aufeinander zu und trennten sich wieder. Und dann wurde es kalt. Eiskalt.

Als wäre ich in einer Kühlkammer.

Das Feuer in mir reagierte sofort. Vielleicht war es auch ich selbst. Heiße Flammen leckten über meine Haut hinweg, schmolzen das Eis, das wie eine dünne Schicht darauf lag, und verformten mich, verwandelten mich.

Und von der einen Sekunde auf die andere war ich niemand mehr, der neben dem Studium in einem Café arbeitete. Nicht mehr die junge Person, die mit Teetassen um sich warf und mit einer bestimmten Stammkundin flirtete. Ich konnte nicht hierbleiben. Ich musste verschwinden.

Ich war eine Flamme, die über den Boden hinwegzüngelte. Rauch, der sich fortbewegte. Und als ich mich durch die Tür gedrückt hatte, war ich zu nebligen Füßen geworden, die über steinerne Straßen rannten.

Mit einer Jägerin auf meinen formlosen Fersen.

Das spurlose Verschwinden des Lichts

Ich wusste nicht wie, aber ich schaffte es, Rin abzuhängen. Vielleicht hatte sie auch nicht lange versucht, mir zu folgen. Sie wusste genug über Kitsune wie mich, um zu ahnen, dass man uns nicht fing, ohne uns in eine Falle zu locken. Und dafür war sie zu unvorbereitet gewesen.

Stundenlang streifte ich durch die Straßen Kyōtos. Die Sonne hatte bereits zu sinken begonnen, als das Feuer in mir endlich versiegte und ich durch meine eigene Hitze wieder den kühlen Luftzug von Genkai auf meiner Haut spürte. Erst dann blieb ich stehen. Ließ die Kälte mich durchwandern und den letzten Rest der Flammen in mir löschen.

Ich stand in einer modernen Straße nahe am Bahnhof Kyōto. Hohe Häuser ragten vor mir hoch. So hoch, dass sich in den Fenstern der Himmel spiegelte. Der weiße Beton, aus dem sie gebaut waren, strahlte grell im goldenen Licht der Sonne.

Ich keuchte und stützte mich auf meine Knie, um nach Luft zu schnappen. Mein Atem schien dabei Wolken vor meinem Mund zu formen, obwohl das Wetter nicht kalt war.

Erschöpft lehnte ich mich an die Steinmauer hinter mir. Die Straße vor mir war leer, und die Häuser verschwammen vor meinen Augen, wurden zu hellen Flecken.

Rins Blick hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Wie sie mich angesehen hatte. Wie aus Unglauben Wut geworden war. Ich wusste, was sie gedacht hatte, sie musste es nicht aussprechen. Monster.

Ich grub die Finger in meine Handflächen, und für einen Moment flackerten Bilder vor meinem geistigen Auge auf. Tausende Kinder, alle in einen Raum gepfercht. Unsere Stimmen hoch und angstverzerrt. Es roch modrig und metallisch nach Blut.

Ich schüttelte mich, und die Straße kam wieder in den Fokus. Eine Frau in weiten, traditionellen Gewändern ging auf der anderen Straßenseite vorbei. Weiße Blüten wuchsen in einem verschlungenen Muster über den grünen Kimono hinauf, und sie summte leise, als würde sie sich auf etwas freuen. Mit meinem Blick folgte ich ihr, zwang die Bilder in meinem Kopf dahin, wo sie hingehörten. In die Vergangenheit. In eine Zeit, als ich noch kein Yōkai, sondern ein Teil von Genkai gewesen war. So wie Rin. So wie meine Eltern.

Wie meine Schwester.

Ich konnte nicht in mein altes Leben zurückkehren. Es war zu viel passiert. Dafür müsste ich den Teil von mir aufgeben, der das Feuer in mir entfachte. Und das konnte ich nicht.

Ich war nicht mehr das Mädchen von damals.

Das hier war ich. Meine wahre Gestalt. In jeder Form. In jedem Gedanken und jeder Flamme steckte ich.

Sie würden es nie verstehen. Das wusste ich. Da musste ich sie nicht fragen. Das, was man hasst, kann man nicht lieben lernen.

Der Stich in meiner Brust tat weh. Doch ich schluckte das Gefühl hinunter. Versuchte, den Schmerz zu verdrängen.

Ein Prickeln wanderte plötzlich durch mich. Warm wie Yūkai, dicht gefolgt von einem Schrei, der mich einmal mehr in meine Vergangenheit zurückversetzte.

Mir wurde schlagartig eiskalt. Die Sonne war noch nicht untergegangen. Doch das hieß nicht, dass keine Yōkai hier waren. Dass keine Ryōshi bei der Suche nach mir vielleicht auf andere von uns gestoßen waren, die sie nun einfingen – oder töteten.

Ich stürzte los, meine Flammen in mir nicht mehr als gedimmte Glut. Ein weiterer Schrei folgte, schriller, durchdringender. Beinahe menschlich.

Mein Atem dröhnte in meinen Ohren, als die Gasse in eine breite Straße mündete. Rechts und links ragten Bäume hoch, aber sie war leer. Keine Autos fuhren dort. Der Sonnenuntergang war nah, und die meisten Menschen hatten sich bereits zurückgezogen.

Etwas Matschiges klatschte zu Boden – ein Stück eines Yōkai-Körpers? Die Sonne sank immer tiefer. Brachte Yūkai Stück für Stück näher.

Ein Friedhof ersetzte die Häuser links neben mir, während ich rannte. Jemand stürzte mir entgegen, und ich warf mich hinter einen Busch am Straßenrand. Versteckte mich dort mit hämmerndem Herzen, in Gedanken bei wütenden Ryōshi.

Ein junger Mann mit dunklen Haaren und spärlichem Bartwuchs stürmte an mir vorbei. Ein Mensch. Auf seinem grauen Pullover war der Name einer Universität eingestickt, in seiner Hand ein Handy. Er stolperte, und sein Smartphone entglitt ihm, doch es schien ihn nicht zu kümmern, er lief einfach weiter. Panik in seinem Blick.

Ich kroch langsam vorwärts, hielt mich bedeckt, als ich in die nächste Straße lugte. Ein Schauer lief mir bei dem Anblick über den Rücken, und meine Nackenhaare stellten sich auf.

Vor mir kauerten zwei langhaarige Frauen mit staubiger Kleidung, hielten sich an den Händen umklammert. Nur ein paar Meter von ihnen entfernt lag ein Stab mit rundem Gold am Ende, wie Mönche ihn für Schutzzauber nutzten. So als hätten sie versucht, sich damit zu verteidigen. Doch keine Kälte ging davon aus. Die Magie darin war erloschen, außer Kraft gesetzt. Vergeblich hatte ein Mann im Anzug die Hand danach ausgestreckt, seine Augen starrten mich leblos an. Über ihn beugte sich die Frau im grünen Kimono, die vorhin an mir vorbeigegangen war. Ihre Kleidung war von seinem Blut rot verfärbt, und in ihrer Hand blitzte eine kurze Klinge.

Aber sie war nicht, was mich am meisten erschreckte. Hinter ihr, nur ein paar Meter entfernt, lag etwas, das aussah wie ein matschiger, blutiger Haufen, von dem sich die Gestalt eines Mönchs erhob.

Seine spitzen Zähne funkelten im Licht der untergehenden Sonne, und dort, wo seine Augen sein sollten, gab es nur leere Hautfalten.

Er wischte sich mit der Handrückseite über den Mund, gab dabei den Blick auf Augen in seinen Handflächen frei.

Ein warmes Prickeln ging sowohl von ihm als auch von der Frau mit dem Kimono aus. Das Gefühl, das ihre Magie als Teil von Yūkai kennzeichnete.

Die Frau im Kimono erhob sich, legte ihren Kopf schief und fixierte das Pärchen. Ein Kichern ging von ihr aus, ohne dass sich ihre Lippen bewegten. Ganz so, als wären sie nur aufgemalt. Als hätte sie noch einen zweiten Mund. Eine Futakuchi Onna. Eine gierige Yōkai, die normalerweise ungefährlich war. Die sonst das Gleiche wie Menschen fraß, nur doppelt so viel.

Der vermeintliche Mönch machte ebenfalls einen Schritt auf das Pärchen zu. Mein Magen zog sich zusammen, und ein klammes Gefühl breitete sich in meinen Knochen aus.

Die Glut in mir zischte. Die Sonne war kaum noch sichtbar, doch der rot verfärbte Himmel gehörte immer noch zu Genkai. Futakuchi Onna waren keine starken Yōkai, doch hier stimmte irgendetwas nicht. Diese zwei Yōkai hatten die Schutzzauber einer Nachtführung durchbrochen. Ich wusste nicht, ob ich einen Kampf gewinnen würde. Das hieß allerdings nicht, dass ich nichts tun konnte.

Funken stoben von meinen Fingern hoch, formten eine Gestalt. Ihre Schriftzeichen leuchteten grell. Ich wusste nicht, was dort stand. Sie waren falsch, genauso wie ihre Bannzauber, die sie zu zücken schien.

Aber vielleicht, vielleicht reichte es, um die beiden zu vertreiben. Sie fernzuhalten.

»Weg von den Menschen«, schrie ich mit Rins Stimme. Ließ ihre Worte aus ein paar Metern Entfernung kommen. Von da, wo auch ihre Gestalt erschienen war. Mein ganzer Körper war angespannt, unsicher, was geschehen würde, wenn die beiden merkten, wer sich hinter der falschen Ryōshi versteckte.

Die Futakuchi Onna sah zu der Illusion, Blut tropfte von ihrer Klinge. Der Mönch hob eine Hand. Ein blaues Auge blinzelte von seiner Handfläche hervor.

Für einen Moment fürchtete ich, dass sie kämpfen würden. Ich griff nach meiner Magie, überlegte, wie ich das kalte Gefühl von Rins Zaubern nachahmen sollte. Die beiden stießen jedoch einen triumphierenden Schrei aus und liefen in unterschiedliche Richtungen davon, sodass ich ihnen nicht folgen konnte. Ließen die erschrockenen Menschen zurück. Der blutige, matschige Haufen sackte in sich zusammen, als wäre er nur noch dünne Haut.

Der Mann im Anzug lag regungslos mit offenen Augen da, sein Gesicht für immer schreckverzerrt. Das Pärchen hingegen erwachte aus seiner Starre und zückte Handys, wählte den Notruf.

Ich wandte mich ab, ein klammes Gefühl in meinen Gliedern. Genkai war immer noch eine kühle Brise auf meiner Haut, doch das war nicht der einzige Grund, wieso es mich fröstelte.

Es war nicht selten, dass andere Yōkai Menschen angriffen. Selbst der Kamikiri, den ich befreit hatte, schnitt regelmäßig irgendwelchen unvorsichtigen Passanten Haare ab, um die Strähnen zu verschlingen. Aber das hier war nicht ein einzelner Yōkai, der Menschen nachts in der Gasse auflauerte.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, und sie hatten trotzdem Schutzzauber umgangen. Sie hatten gemeinsam angegriffen, offensichtlich gemeinsam geplant, was sie taten.

Und die letzten Yōkai, die so zusammengearbeitet hatten, hatten alle zehn Jahre Erstgeborene entführt.

Kapitel 3

Das magische Verschwinden der tausend Tiefen

Wenn die Welten sich verschoben, fühlte es sich immer an, wie warmer Regen, der über meine Haut rieselte. Ich blinzelte einen Moment verwirrt, als meine Umgebung sich von einer Sekunde auf die andere veränderte. Wie die Bäume der Allee vor mir alterten und sich die Straße in einen erdigen Pfad verwandelte. Da, wo eben noch die Gassen Kyōtos auf einen Park zuführten, wuchs nun ein dichter Wald. Die Gebäude waren hinter dem Geäst kaum noch zu sehen.

Ich war erleichtert, wieder in Yūkai zu sein. Nicht nur, um der Kälte von Genkai endlich zu entkommen, sondern weil es nur einen Ort gab, an dem ich mich umhören konnte. An dem ich mehr über den Angriff erfahren konnte.

Ich ließ mein Feuer über mich wandern. Hitze fuhr in Wellen aus meiner Mitte hoch, kämpfte sich durch die Restkälte der sichtbaren Welt. Meine Haare wurden etwas länger, sodass sie an meinen Ohren kitzelten. Meine Züge wurden weicher, runder, bis ich nicht mehr der studierenden Person aus dem Café ähnelte. Hörner wuchsen aus meinen Haaren, als wäre ich eine andere Yōkai in weiblicher Gestalt. Das Blätterdach über mir rauschte sanft im Wind, und rosa Blüten wehten mir entgegen, während ich ging.

Die Bäume lichteten sich, und hinter den dicken Stämmen kam ein altmodisches Gebäude zum Vorschein. Stockwerk um Stockwerk türmten sich schief in den Himmel hinauf. Das Welldach lag so hoch oben, ich konnte kaum mehr als die Unterseite sehen, und die hölzernen Wände waren mit hell leuchtenden Laternen geziert, als wäre gerade ein Festival. Ihre Flammen spiegelten sich in der glatten Oberfläche des Sees, der um das Haus verlief.

Ojiisamas Badehaus.

Seine Magie war so stark, so mächtig, sogar Menschen hatten darüber Filme gemacht. In der Filmreihe Die Wächterin im Tal des Windes kam es in einer der wichtigsten Szenen vor. Zumindest eine Abwandlung davon. Aber wirklich gesehen hatten das Badehaus nur die wenigsten. Es kam zu den Yōkai, die es am meisten brauchten, es war mal hier mal dort. Und es war unverkennbar ein Teil von Yūkai. Zeitlos.

»Sie sieht gut aus, findest du nicht?«, fragte eine der Papierlampen an den Wänden, und ich warf ihr einen genervten Blick zu. Die Papierfalte, die ihr Auge bildete, war runzlig, als wäre sie ein paar Jahrhunderte älter als die der straff gespannten neben ihr.

»Hm, zu menschlich für meinen Geschmack. Wo sind die zusätzlichen Körperteile? Die Augen oder Zähne an unmöglichen Orten?«

»Ich kann euch hören«, grummelte ich, meine Stimme dabei rauchig tief. Es war nicht das erste Mal, dass ich auf diese Yōkai traf, aber sie erkannten mich nicht wieder. Die wenigsten konnten das, wenn ich mich veränderte.

Die Augen auf ihren Papierkörpern blinzelten mir nur desinteressiert zu, bevor sie sich wieder von mir abwandten.

Trotz allem musste ich schmunzeln. Chōchin Obake redeten nicht gerne mit Nicht-Laternen. Das hinderte sie allerdings nicht daran, über sie zu sprechen.

Ich überquerte die kleine Brücke, die zum holzverzierten Eingang führte. Ein Vorhang hing in der Tür und wehte leicht im Wind. Ein sanftes Prickeln in meinen Fingern verriet mir, dass es sich auch bei dem Stoff um einen Yōkai handelte, obwohl er kein Wort sagte.

»Herzlich willkommen«, rief eine freundliche Stimme von weiter hinten. Der Parkettboden vor mir glänzte, und ein paar Schuhe und Socken waren dort fein säuberlich in ein niedriges Regal geschlichtet. Darüber hing das Bild eines Baumes. Alt und vergilbt, sodass man die bauchige Flasche, die davor lag, kaum noch erkennen konnte.

Von irgendwo hörte ich gemächliche Schritte, die sich näherten. Es würde ein bisschen dauern, bis mich jemand erreichte, also zog ich schon mal meine Schuhe aus und trat von dem Teppich am Eingang auf die Holzdielen.

Zuerst sah ich nur einen echsenartigen Kopf, der langsam hinter einer Ecke hervorkam, die schuppige Haut runzlig und spröde. Erst dann erhaschte ich einen Blick auf den Panzer, auf dem ein Mann mit einer hohen Glatze thronte.

»Oh«, machte er, ein freudiges Lächeln im Gesicht. »Hoher Besuch.«

Ich verneigte mich tief und ignorierte, dass die Eisschicht die von Genkai noch in meinen Gliedern lag, dabei knackte. Niemand wusste, ob Ojiisama ein Daiyōkai, also ein hochrangiger Yōkai, oder sogar ein Kami, eine Gottheit, war. Aber jeder hatte vor ihm den größten Respekt.

»Das ist nicht nötig«, winkte er ab. »Komm herein, nimm dir ein Handtuch, genieß ein Bad. Nutze die Zeit der Ruhe, um dich zu entspannen, und vergiss deine Sorgen.«

»Danke«, erwiderte ich. Ojiisama war einer von jenen, die immer wussten, dass ich es war. Darauf hatte ich ihn sogar mal angesprochen, und seine Antwort hatte sich tief in mein Gedächtnis gebrannt. Du bist mehr als dein Aussehen.

»Es sind noch welche hier«, fuhr er fort, obwohl ich gar nicht gefragt hatte.

»Immer noch?« Ich kam meist nicht alleine hierher und nur selten, um Informationen zu bekommen. Wenn Yōkai, die ich befreit hatte, verletzt oder aufgewühlt waren, brachte ich sie zu Ojiisama. Dort konnten sie sich erholen, bevor sie nachhause zurückkehrten. Und normalerweise taten sie das auch.

»Manche gehen sofort, andere bleiben. Erholung braucht jeder, aber nicht jeder braucht gleich viel. Und wieder andere kommen nicht zur Ruhe.« Ojiisama zwinkerte mir zu. »Das solltest du doch am besten verstehen.«

Ich nickte. Zwar hatte ich keine Ahnung, woher Ojiisama so etwas wusste, doch er schien zu ahnen, wie selten ich schlief. Wie oft ich einfach nur meine Form wechselte und weitermachte, weil eine Verwandlung auch Erschöpfung und Verletzungen verändern konnte. Eine Illusion war schließlich immer so real, wie man sie haben wollte.

Vielleicht wusste er das aber auch von jedem. Ojiisama sorgte dafür, dass sich hier jeder Yōkai zuhause fühlte. Selbst die gefährlichsten wurden von der Atmosphäre eingelullt. Also perfekt, um mich ein bisschen umzuhören.

Die Schildkröte setzte sich in Bewegung und führte mich nach hinten zum Badebereich. Die Handtücher, die ich mir am Eingang genommen hatte, waren weich in meiner Hand.

Schon in der Umkleide erwartete mich der Geruch von angekokeltem Holz vermischt mit dem zarten Duft der Kamelie. Ein brennendes Rad rollte an mir vorbei, der Kopf in dessen Mitte stumm, als wäre er zu entspannt, um sein übliches Geschrei auszustoßen. Er verschwand durch die Tür, durch die ich eben hereingekommen war, und mit ihm auch der Geruch der großen Blüte.

Ich zog mich aus und faltete meine Kleider, obwohl ich sie genauso gut verschwinden lassen konnte. Aber es hatte etwas Beruhigendes, sie geordnet in eines der Fächer zu legen. Es erinnerte mich an damals, als ich zum Spaß die Baumwollkimonos zweier Männer vertauscht hatte. An eine Zeit, in der alles weniger kompliziert gewesen war. Und in der ich mich viel näher an meinem alten, ursprünglichen Leben befunden hatte, als ich es je wieder sein würde.

Die durchdringenden Dämpfe des Mineralbades kamen mir bereits entgegen, als ich in den Waschraum trat. Er war erstaunlich leer, aber das bedeutete nichts. Yōkai verließen Ojiisamas heiße Quellen nicht so schnell wieder, wenn sie diese mal betreten hatten.

Ich wusch mich auf einem Schemel sitzend, bevor ich zu dem Onsen, dem eigentlichen Bad hinaustrat. Raues Gestein war grob bearbeitet worden, um einen Weg freizugeben. Holzdielen bildeten einen Pfad zum Wasserbecken, aus dem hohe Felsen aufragten. Und aus einem davon floss ein kleiner Bach hinunter in die Quelle, von der ein leichter Kamelienduft ausging. Es gab mehrere hier im Haus, das wusste ich. Aber ich war immer hier. Im Wasserfallraum, wo das Wasser stets plätscherte. Der Klang war wie eine ferne Erinnerung, ein Kitzeln in meinem Gedächtnis.

Im heißen Wasserdampf entdeckte ich das entspannte, grüne Gesicht eines Kappas. Sein Schnabel glänzte feucht und spiegelte die Miene der frauenähnlichen Gestalt neben ihm, die leise sprach. Einer der vermeintlichen Felsen im Wasser drehte sich, und ich erkannte, dass es sich dabei nicht um einen Gesteinsbrocken, sondern um einen grauen Oni handelte.

Das heiße Quellwasser brachte meine Glieder gefühlt zum Schmelzen, während ich mich hineinsinken ließ. Ein sichtbares Zischen ging dabei von mir aus, als würde die Kälte, die sich in Genkai wie eine dünne Eisschicht über mich gelegt hatte, sich wirklich in Wasserdampf auflösen. Ich schloss meine Augen und atmete den leicht scharfen Geruch der Mineralien vermischt mit dem zarten der Kamelie ein. Entspannte mich im warmen Wasser.

Ich wollte mich langsam näher an die Frauengestalt treiben lassen, ihrer leisen Stimme im Gespräch mit dem Kappa lauschen. Doch das Gurgeln des Wasserfalls zog durch meine Glieder, ließ das Feuer, das in mir loderte, aufflackern. Keine Funken stoben dabei auf. Es war bloß ein Tanz der Flammen, der durch meinen Körper wanderte.

Da war plötzlich die Stimme meiner Mutter, die gleichzeitig nicht mehr meine Mutter war. Das Lächeln einer Person, die es so nicht mehr gab. Meine Vergangenheit und gleichzeitig meine Zukunft als ewiges Plätschern im Fluss der Zeit.