Fünf Pfade und ein Traum - Troy Dust - E-Book

Fünf Pfade und ein Traum E-Book

Troy Dust

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Beschreibung

Als sich Jerome Barner mit einem sonderbaren Zufallsfund an Glenn Beltram wendet, wissen beide noch nicht, was sich hinter der Sammlung von alten Fotografien, seltsamen Skizzen und unheimlichen Zeichnungen verbirgt. Und sie ahnen nicht, dass ihre sehr unterschiedlichen Leben gleichermaßen dazu bestimmt sind, vollkommen aus den Fugen zu geraten und sich mit etwas zu verweben, das längst vergessen war ... Nach dem Verkauf an einen unerwarteten Interessenten müssen beide allerdings erkennen, dass sie am Beginn einer langen Reise stehen, deren Verlauf nicht nur sie verändern wird ...

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Seitenzahl: 557

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Für meine Eltern

»Die Wirklichkeit

Sie ist der Untergang für mich«

Zeraphine

›Die Wirklichkeit‹

Inhalt

Vorspiel Der dritte Tag

I

Kapitel 1 Kunst

Kapitel 2 Das Moor oder Der dritte Tag II

Kapitel 3 Fragen

Kapitel 4 Am Ende des Weges oder Der dritte Tag III

Kapitel 5 Interessen

Kapitel 6 Im Herrenhaus oder Der dritte Tag IV

Kapitel 7 Das Treffen

Kapitel 8 Rätsel

Kapitel 9 Rückblick

Kapitel 10 Angebot und Nachfrage

II

Kapitel 11 Der Anruf

Kapitel 12 Normalität

Kapitel 13 Oblivio

Kapitel 14 Auktion

Zwischenspiel Die Lieferung

Kapitel 15 Die Truhe

Kapitel 16 Umschlag Nummer 3

III

Kapitel 17 Der erste Schritt

Kapitel 18 Thronsaal

Kapitel 19 Kyler

Kapitel 20 Das Gemälde oder Die Geschichte hinter dem Bild

Kapitel 21 Glühwürmchen im Nebel

Kapitel 22 Das Versprechen

IV

Kapitel 23 Vorbereitungen

Kapitel 24 Abstieg

Kapitel 25 In den Gängen

Kapitel 26 Richtig und falsch

Kapitel 27 Der Plan

Kapitel 28 Outback

Kapitel 29 Guillotine

Kapitel 30 Entscheidung

V

Kapitel 31 Hürden

Kapitel 32 Am Ende der Welt oder Die grünen Wogen

Kapitel 33 Die Kathedrale

Kapitel 34 Mortegues Wunder

Kapitel 35 Ihr Herz blutet Rost oder Die Rosen der Blutenden

Kapitel 36 Von der Spaltbarkeit eines Traumes

VI

Kapitel 37 Der letzte Auftrag

Kapitel 38 An der Wiege der Geschichte

Kapitel 39 Stuhl der Pein

Kapitel 40 Die Übergabe

VII

Kapitel 41 Die Fahrt

Kapitel 42 Das Werk oder opus monumentum

Kapitel 43 Und dann kam der Tod

Kapitel 44 Am Ende der Reise

Kapitel 45 Katharinas Vermächtnis oder Die Große Geschichte

Nachspiel Ausklang

Vorspiel

Der dritte Tag

Seit drei Tagen war er unterwegs. Wo anfangs Nebel und leichter, nicht enden wollender Nieselregen seinen Willen auf eine harte und unangenehme Probe gestellt hatten, war im Laufe des zweiten Morgens sonniges Wetter getreten, welches mit kaltem Wind einherging. Dieser Wind, der stetig Wolken über den sonst makellos blauen Himmel trieb, ließ Schatten über das Land ziehen und sorgte dafür, dass das Rauschen in den Baumkronen Begleiter seiner Schritte am Boden wurde.

Er marschierte tagsüber bis zum Einsetzen der Dämmerung und schlug im schwindenden Abendlicht in aller Ruhe sein Zelt auf, ehe er etwas aß, die Eindrücke des Tages Revue passieren ließ und sich nach einigen Romanseiten schlafen legte. Seinen Wasservorrat hatte er für sieben Tage kalkuliert; seine Nahrung bestand aus Energieriegeln in verschiedenen Geschmacksrichtungen und Obst. Zwar plagte ihn unentwegt ein Hungergefühl, doch dieser Preis war ihm – bereits seit der Planungsphase – das geringere Gewicht seiner Ausrüstung wert.

Die weitläufigen Wälder, die ihn umgaben, wurden durchzogen von Hügeln, Senken, Bächen, Flüssen, Auen und Mooren. Weiher und Tümpel kamen ebenso vereinzelt vor wie größere Wiesen, welche teilweise über einen Hain verfügten, wo er sich zu der einen oder anderen Rast eingeladen fühlte. Die tieferen Regionen hatten die Jahrzehnte unberührt überdauert, da sich kaum jemand über die offiziellen Wanderwege hinaus in die Wildnis wagte, in der es keinerlei Forstwirtschaft oder anderen Arbeitsbetrieb gab.

Mit Kompass und Landkarte war er aufgebrochen, um abzuschalten vom Alltag, in dessen Wirren er sich nur zu schnell verhedderte und dadurch die Dinge aus den Augen verlor, die wichtig waren. Er benötigte ab und zu eine Auszeit von allem, um sich wieder zu fangen und zu besinnen. Der hierfür beste Weg waren für ihn Reisen und Wanderungen, bei denen er auf sich allein gestellt war.

Insgeheim wünschte er sich, über einen ausreichenden finanziellen Hintergrund zu verfügen, um sich irgendwo ein Haus in der Natur kaufen und dort ungestört leben zu können. Allerdings wurde er in dem kleinen Army-Shop, in welchem er als Verkäufer arbeitete, nicht wirklich reich; er kam gut über die Runden und konnte sich bisweilen sogar einen kleinen Betrag zur Seite legen. Er war glücklich, denn die Arbeit brannte ihn nicht aus und es blieb ihm noch ausreichend Freizeit, um sich nebenher seiner Leidenschaft zu widmen: Der Fotografie.

Seit einigen Jahren veröffentlichte er Teile seiner Arbeiten als Mitglied einer Künstlergruppe, die sich im Internet formiert hatte, und konnte auf diesem Wege den einen oder anderen Verkauf für sich verbuchen. Es freute ihn stets, wenn sich eine Person fand, die sich für seine Bilder interessierte oder sogar so begeisterte, dass sie sich entschied, eine der Aufnahmen zu erwerben und damit ein Zimmer zu verschönern. Doch selbst ohne diese Bestätigung hätte er es sich niemals nehmen lassen, Stimmungen und Szenen festzuhalten, denn er fühlte, dass es genau das war, was ihm Zufriedenheit schenkte. Auf der anderen Seite wäre es eine Lüge gewesen, hätte er behauptet, ein Verkauf sei kein Motivationsschub. Der Vorteil bei alledem fand sich darin, dass er nicht darauf angewiesen war, mit den Bildern das Geld für sein Leben erwirtschaften zu müssen. Wie er bei einem Angebot, professionell in diesem Bereich arbeiten zu können, reagieren würde, konnte er nicht sagen. Und ehe diese Situation nicht eintrat, lohnte es sich nicht, Gedanken daran zu verschwenden.

Natürlich hatte er sich schon mehrmals die Frage gestellt, was wäre, würde er ernsthaft versuchen, in der Branche Fuß zu fassen, doch letztendlich war es immer darauf hinausgelaufen, dass er mit dem, was er hatte, zufrieden war; das Bild sollte seine Leidenschaft bleiben, auch wenn das eventuell die Chancen minimierte, irgendwann ein Haus im Grünen zu besitzen. Alles hatte seinen Preis.

Nachdem er sein Nachtlager abgebaut, sich gestärkt und kurz orientiert hatte, hatte er seinen Marsch fortgesetzt. Im Laufe der vergangenen Nacht hatte der Wind nachgelassen und sich in den frühen Morgenstunden verloren, so dass er beim Verlassen seines Zeltes eine ungewohnte Stille betreten hatte, welche nur von Wassertropfen unterbrochen wurde, die sich in den Baumkronen lösten und auf Blätter, Gräser und Farne fielen. Die Sonne, die sich mit ihrer goldenen Glut immer erfolgreicher durch den Nebel, der die gesamte Gegend eingehüllt hatte, kämpfte, schenkte ihm zahlreiche Stimmungen und Spiele von Licht, Schatten und Reflexionen, die ihn lockten, innehalten und zur Kamera greifen ließen. Und je höher die Sonne am Himmel stieg, desto lebendiger wurde die Welt um ihn herum.

Am frühen Nachmittag erhob er sich nach einer kurzen Pause vom Stamm eines umgestürzten Baumes und streckte sich. Der frische Wind war kurz nach dem Verschwinden des letzten Nebels zurückgekehrt und sollte – gemeinsam mit dem Rauschen in den Bäumen – wieder zu seinem unsichtbaren Begleiter werden. Er schulterte den Rucksack und verließ die mit hohem Gras, bunten Blumen und Gestrüpp überwucherte Lichtung, um sich in einiger Entfernung zwischen den Bäumen und ihren Schatten über den weichen Boden zu bewegen, auf dem es neben Moos nur hier und da Grasbüschel und Farne gab. Im Vergleich zu anderen Bereichen, die er passiert hatte, war hier vermoderndes Holz ebenso rar gesät wie Pilze, ob nun am Boden, an abgebrochenen Ästen oder an Baumstämmen. Aufgrund der Sonnenstrahlen, die deutlich sichtbar zwischen den locker verteilt gewachsenen Laubbäumen mit ihren riesigen und zugleich dichten Kronen einfielen, bekam die Szene etwas Verträumtes.

Es bedurfte keiner zusätzlichen Überzeugungskraft von Seiten der Natur, um ihn nach wenigen Minuten wieder zur Kamera greifen und geeignete Motive suchen zu lassen, von denen es auch hier zahlreiche gab, die es zu bewahren galt, wobei er nie aus den Augen verlor, in unregelmäßigen Abständen seine Marschrichtung zu prüfen.

Er allein in der friedlichen Natur, dahinziehende Wolken, Sonnenschein und rauschende Blätter über ihm, duftender Waldboden unter ihm und die alten Bäume um ihn herum – er war in seinem Element. Seine von Sorgen losgelöste Laune ließ ihn wie im Rausch umherstreifen. Genau das war es, was ihm gefehlt hatte; so fühlte sich Freude an.

I

Kapitel 1

Kunst

Es war ein ungemütlicher Abend. Der leichte Regen, der seit zwei Tagen ohne Unterbrechung fiel, malte Reflexionen von den Lichtern der Stadt auf die Straßen und Gehwege. Der sich obendrein beharrlich haltende Dunst verlieh der Welt einen fahlen Schein. Es wehte kaum Wind, die unangenehme Witterung kroch einem dennoch mit ihrer Kälte unbeirrt in die Glieder.

Barner öffnete die Türe und betrat die Lounge.

Es herrschte eine warme Atmosphäre, was nicht zuletzt an den vereinzelt platzierten Kerzen lag, die neben den gedimmten Deckenflutern ein angenehmes Licht schufen. Der Boden war mit hellbraunem Holz ausgelegt, die Decke war pastellgelb und die Wände orange, wobei der Ton einen etwas höheren Rotanteil besaß. Auf der rechten Seite gab es an der Wand ein Bücherregal, in welchem sich ausschließlich Romane befanden. Links daneben war die Theke und links neben dieser die Wandgarderobe, einige Kleiderständer und je eine Türe zur Toilette für die Damen und für die Herren. Es gab Holztische mit Stühlen, einige ausladende Ledersessel mit kleinen Beistelltischen und im hinteren Teil zwei Bereiche mit je einer großen Couch, Ledersesseln und einem niedrigen Tisch; im Gegensatz zum restlichen Raum war dort alles um etwa 20 Zentimeter erhöht auf einem großen Podest angeordnet. In der Mitte der Lounge befand sich ein Pfeiler, an dessen Seiten Fotografien und Gemälde hingen, wie auch an den drei übrigen Wänden des Raumes – die an der Straße liegende vierte Wand bestand aus zwei großen Fenstern, welche durch die Eingangstüre, die genau in der Wandmitte lag, voneinander getrennt wurden. Aufgelockert wurde alles durch Pflanzen, die entweder in Töpfen am Boden wuchsen oder aus Blumenampeln nach unten hingen und dabei ihre bunten Blüten zur Schau stellten.

Bis auf eine junge Frau, die direkt am Fenster saß und bei einem Tee in einem Fachbuch zum Thema Datenkomprimierung las und sich nebenher Notizen machte, und einen älteren Herren, der es sich mit einer Zeitung in einem der Sessel bequem gemacht hatte, gab es keine Gäste. Aus den Boxen drang ein ruhiges Klavierstück.

Er wischte sich mit der Hand das Wasser aus dem Gesicht und strich sich kurz durch sein dunkelblondes Haar, das ihm leicht lockig bis zu den Schultern reichte.

„Hallo Jerome!“ rief ihm eine heitere Frauenstimme zu, welche zu Fiona gehörte, die hinter der Theke gerade dabei war, sich einen Kamillentee zuzubereiten.

Fiona und Jerome hatten als Jugendliche die gleiche Schule besucht und sich angefreundet. Später hatten sie einige Wochen etwas miteinander gehabt, es jedoch für besser befunden, es wieder sein zu lassen. Neben den angenehmen Erinnerungen hatte auch die Freundschaft die Zeit überdauert, denn nachdem sich ihre Wege getrennt hatten, waren sie vor rund drei Jahren wieder zusammengelaufen, als er durch Zufall die neu eröffnete Lounge besucht und man sich auf Anhieb erkannt hatte.

Fiona hatte von ihrem begonnenen Architekturstudium zu Produktdesign gewechselt. Zwei Semester später hatte sie abgebrochen, um sich in einer kleinen Künstlergemeinschaft durchzuschlagen. Diese hatte ein altes Haus gemietet und die einzelnen Räume zu Ateliers umgebaut, welche jeweils über eine kleine Schlafnische verfügten; geduscht werden konnte auf den drei Etagen in je einer Gemeinschaftsdusche – den Herren hatte man jene im Erdgeschoss gegeben, während die beiden anderen für die Damen zur Verfügung gestanden hatten. Etwa 40 Prozent ihres Lebens hatte sie während dieser Zeit über ihre Kunst finanziert und die restlichen 60 Prozent mit Gelegenheitsjobs, welche ihr nie die für ihre Kreativität nötige Freiheit geraubt hatten. Später hatte sich zwischen ihr und einer Freundin aus dem Künstlerhaus – Clarissa – die Idee entwickelt, eine Lounge zu eröffnen, in der es nur Tee, Kaffee und Säfte gab; und Romane. Gesagt und mit finanzieller Unterstützung durch ihren Bruder – mit Kunsthandel, geschickten Immobiliengeschäften und einigen Börsenspekulationen hatte er mit Anfang 30 seine erste Million verdient – getan, als der Zufall sie in diese Großstadt getrieben hatte. Und nachdem alles etwas schleppend angelaufen war, hatte sich die Lounge recht schnell zu einem beliebten Treffpunkt für Künstler, Intellektuelle und schräge Vögel entwickelt. Auch hier ließ die Arbeitszeit genügend Spiel für Kunst, denn sie arbeitete zwei Tage und wechselte sich dann für zwei Tage mit Clarissa ab – außer die Anzahl der Kunden erforderte ihre gemeinsame Tüchtigkeit. Neben der Lounge teilten sie sich auch ein Atelier, da sich so die Kosten dafür in Grenzen hielten.

„Hallo!“ grüßte er zurück und nickte kurz den beiden Personen zu, die von ihrem Lesestoff aufblickten. Er lief zur Garderobe, entledigte sich seiner Jacke und setzte sich an der Theke auf einen der Hocker. Seine schwarze Segeltuchtasche aus Stoff, der man deutlich die Jahre ansah, legte er auf den Nachbarhocker.

Fiona schwenkte das Tee-Ei, ehe sie es an der kleinen Kette aus der Tasse zog und daneben auf einen Unterteller legte. „Was kann ich dir anbieten?“

„Ein Pfefferminztee wäre klasse“, antwortete er. „Mit einem Löffel Honig.“

„Kommt sofort“, sagte sie, füllte einen der insgesamt fünf Wasserkocher und schaltete ihn ein, nahm eine Tasse, den entsprechenden Tee, ein Tee-Ei und einen Löffel und bereitete alles vor.

Sie erinnerte sich, dass er bei seinem ersten Besuch Pfefferminztee mit einem gehäuften Teelöffel Kakao geordert und darauf bestanden hatte, dass reiner Kakao ohne Zusatzstoffe genutzt wurde. Er hatte ihr später gesagt, dass es einfach nur ein Test gewesen war, um herauszufinden, ob sie gut vorbereitet war oder nicht. Sie hatte die Aufgabe tadellos gemeistert und sich aus reinem Interesse selbst eine Tasse mit der gleichen Mischung zubereitet. Das hatte dazu geführt, dass die Kreation als „Pfefferminztee K“ in die Karte einging, denn auch Clarissa war davon angetan gewesen.

Später hatten sie – nach ausführlichen Recherchen und Kostproben – einige aromatisierte Kakaosorten in ihr Sortiment aufgenommen und Sirup in zahlreichen Varianten, um damit diverse Getränke zu verfeinern und ihnen das gewisse Etwas zu verleihen. Da bei der Kundschaft alles wunderbar ankam, führten sie auch ein Tagesangebot ein, welches in der Regel aus einem unkonventionellen, in ihren Augen aber sehr leckeren Getränk bestand; ein idealer Weg für die Feuertaufe neuer Kreationen und zum Einholen von Kundenreaktionen.

Fiona behielt die kleine Erinnerung für sich und ehe diese verblasst war, konnte sie den Tee servieren.

„Wie geht es dir?“ fragte sie, nahm einen Schluck ihres eigenen Tees und blickte kurz zu den beiden anderen Besuchern, die noch immer in ihre Lektüre vertieft waren.

Barner rührte mit dem Löffel in seinem Tee, da ihm dieser noch etwas zu heiß war. „Soweit ganz gut. Ich hatte kürzlich ein paar Tage frei und war wieder in der Natur unterwegs, um Bilder zu machen und mich zu entspannen. Zudem plant unsere Gruppe einen Bildband mit Fotografien, Zeichnungen, Manipulationen und so weiter. Könnte ein sehr interessantes Projekt werden.“

„Klingt auf jeden Fall spannend.“ Sie nahm einen Schluck. „Ach, ehe ich es vergesse: Übermorgen ist der Monat vorbei.“

„Stimmt“, bemerkte er überrascht.

Auch Barner stellte in der Lounge handverlesene Werke aus. Es hatte sich eingebürgert, dass jeder Künstler nach einem Monat einige oder alle seiner Arbeiten ersetzte, um den Besuchern neue Eindrücke zu vermitteln. Hierbei lagen die Künstler jeweils ein paar Tage bis zu einer Woche auseinander, wodurch stets ein Teil der Ausstellung verändert wurde. Barner hatte seine Zeit um den Anfang eines Monats herum. Jeden zweiten Monat gab es am ersten Samstag einen Thementag, an dem sich alle Bilder mit einem vorgegebenen Thema befassten, das meist von Fiona und Clarissa ohne Rücksprache mit den Künstlern festgelegt wurde, um den Überraschungseffekt zu nutzen und zu sehen, was man so auf die Beine stellen konnte. Die Veranstaltung wurde ausschließlich durch Mundpropaganda beworben, denn Anzeigen schaltete in der Stadt jeder und Flyer gab es ohnehin überall zu viele.

„Ich komme abends nach dem Job vorbei und bringe neue Sachen.“

„Sehr schön“, sagte Fiona und lächelte. „Clarissa weiß Bescheid, denn sie rief mich vorhin an und da kamen wir auf das Thema. Ich hätte sonst auch nicht daran gedacht.“

Barner probierte zaghaft schlürfend vom Tee, der noch immer zu heiß war. „Wie sieht es denn bei euch im Moment künstlerisch aus?“

„Clarissa entwirft eine kleine Kollektion mit Motiven für T-Shirts und ich versuche aktuell, mittels Spiegeln und Licht in verschiedenen Farben ein Bild an die Wand zu projizieren. Am Ende möchte ich mit einer programmierbaren Steuerung das Licht beeinflussen und eine Animation erzeugen.“

„Klingt komplex.“

„Das ist es auch. Aber die Idee spukt mir schon seit Jahren im Kopf herum und momentan denke ich, dass es an der Zeit ist, es anzugehen, zumal mich bei der Malerei eine Blockade in Schach hält und mir für den geplanten Brickmovie momentan einfach der Nerv fehlt.“

Barners Tee war nun trinkbar. Er spürte, wie sein Körper von innen heraus aufgewärmt wurde. Er schaute kurz nach rechts hinaus auf die Straße; es regnete nun in Strömen. Das Prasseln war deutlich hinter der Musik zu vernehmen und die vorbeifahrenden Wagen zogen Wolken aus Spritzwasser durch die zunehmende Dunkelheit.

„Hast du noch regelmäßigen Kontakt mit Glenn?“ fragte Barner, der nicht ganz ohne Hintergedanken bei diesem ungemütlichen Wetter vor die Türe getreten und in die Lounge gekommen war.

„Wir telefonieren ab und zu miteinander, aber nicht wirklich regelmäßig.“ Sie wurde stutzig. „Wieso fragst du?“

Barner stellte die Tasse ab, griff neben sich in die Tasche und holte ein Foto hervor, welches er Fiona reichte. „Falls er sich nach wie vor mit Kunst und Antiquitäten befasst, würde ich gerne seine Meinung dazu hören.“

Fiona nahm das Foto und betrachtete es. „Was ist das?“

„Ich habe keine Ahnung“, war die offene Antwort. „Und niemand, den ich kenne, konnte mir weiterhelfen.“

Auf dem Foto war eine beige Bettdecke zu sehen, auf der eine Art lederne Mappe lag. Sie war aufgeschlagen und ungewöhnlich groß – Fiona erkannte das durch den Bleistift, der daneben lag. Teile ihres Inhalts lagen wie für eine Präsentation ausgebreitet im unteren Bildbereich vor dem üppigen Rest, der sich in der Mappe regelrecht auftürmte. Es waren unzählige Blätter mit Skizzen und Zeichnungen in verschiedenen Größen; auch Schwarzweißfotografien befanden sich darunter. Fiona fielen zwei lederne Riemen auf, die an der Seite lagen und offenbar dazu dienten, die Mappe geschlossen zu halten. Leider konnte sie nicht genau erkennen, wie die Mappe aufgebaut war, da die Blätter alle Details verdeckten. Sowohl die Mappe als auch ihr Inhalt sahen ungewöhnlich alt aus.

„Das hat etwas von einer wissenschaftlichen Arbeit“, fand Fiona.

Barner nickte. „Ich kann mir dennoch keinen Reim darauf machen.“

„Ich kann es gerne einscannen und Glenn per E-Mail zukommen lassen.“

„Das wäre ideal.“

Fiona nahm einen Kugelschreiber zur Hand, der neben der Kasse lag. „Gib mir mal deine E-Mail-Adresse, dann kann er dir direkt antworten, falls er Fragen hat oder etwas herausfindet.“ Sie drehte das Foto um. „Darf ich?“

„Klar“, sagte Barner und nannte ihr seine E-Mail-Adresse.

Fiona hielt sie auf der Rückseite des Fotos in Druckbuchstaben fest. Danach drehte sie das Bild nochmals um und sah es an, ehe sie es kurz darauf in ihrer Handtasche verschwinden ließ, die sie in einer Ablage unter der Theke aufbewahrte.

Die Türe öffnete sich und herein kam eine Frau Mitte 50, die einen Augenblick stehen blieb und sich einen schönen Platz auszusuchen schien. Sie fand ihn in Form eines Sessels, trat an ihn heran und legte ihre Handtasche darauf ab.

Sie war ein Stammgast und Fiona wusste, dass sie Kinderbücher und unter einem anderen Namen Kriminalromane schrieb. Ihr Geld verdiente sie als Geschichtslehrerin an einer Grundschule.

„Hallo, Liebes“, wurde Fiona von ihr über die Theke hinweg gegrüßt.

„Da haben Sie ja tolles Wetter für einen Besuch bestellt“, scherzte Fiona.

Die Frau brachte ihren tropfenden Ledermantel zur Garderobe. „Ich gab mir alle Mühe, die ich aufbringen konnte.“

„Was darf ich Ihnen bringen?“

„Bitte einen starken Kaffee mit zwei Stückchen Zucker“, sagte die Frau und stellte sich einen Moment lang an die Theke. Sie wandte sich lächelnd an Barner: „Ihre Bilder gefallen mir.“

Überrascht sagte er: „Danke sehr. Übermorgen hänge ich neue auf. Ich hoffe, sie werden Ihnen ebenso zusagen.“ Er konnte sich nicht entsinnen, je mit ihr gesprochen zu haben. Aber offensichtlich wusste sie, wer er ist.

„Davon bin ich überzeugt“, sagte die Frau. „Aber jetzt muss ich mich der Arbeit widmen, denn Bücher schreiben sich leider noch nicht von allein.“

„Wäre schlimm, wenn sie es täten“, sagte Fiona, welche die von Hand zu bedienende Kaffeemühle aus Holz füllte. Sie hatte das schöne Stück von ihrem Bruder zur Eröffnung der Lounge geschenkt bekommen.

Die Frau begab sich zu ihrem Sessel, setzte sich und holte aus ihrer Tasche ein Notizheftchen, eine Lesebrille und einen Bleistift hervor. Die Tasche klemmte sie im Anschluss zwischen die Armlehne und ihre Hüfte.

Barner trank seinen Tee aus, erhob sich und fischte einen Geldschein aus seiner Hosentasche.

„Du verlässt mich schon wieder?“ fragte Fiona, deren Tasse nun auch leer war.

„Ich will noch versuchen, etwas über meinen mysteriösen Fund in Erfahrung zu bringen“, antwortete er mit gespielt bedeutungsschwerer Betonung.

„Woher hast du das Zeug überhaupt?“

„Ich habe es letztens zufällig gefunden. Die Geschichte erzähle ich dir bei Gelegenheit in Ruhe.“

„Das würde mich interessieren“, sagte Fiona und nahm den Schein entgegen.

Er steckte das Wechselgeld ein, holte seine Jacke und schulterte die Tasche. „Dann sage ich mal: Bis übermorgen!“ Damit lief er Richtung Türe.

„Bis dann“, erwiderte Fiona lächelnd, während sie den Kaffee, den sie gemahlen hatte, in die Maschine füllte. „Und gib mir bitte Bescheid, wenn du etwas Neues herausfindest.“

„Werde ich“, sagte Barner, winkte nochmals, öffnete die Türe und trat hinaus, wo der starke Regen zu seiner Erleichterung wieder in leichten Nieselregen übergegangen war.

Er lief nach links, denn an der nächsten Ecke gab es eine kleine Pizzeria, wo er sich eine Pizza mitnehmen wollte, da er an diesem Tag bisher kaum etwas gegessen hatte. Anschließend würde er die knapp 30 Minuten nach Hause zu Fuß zurücklegen, um erstens Geld zu sparen und zweitens noch etwas über seinen Fund nachzudenken.

Kapitel 2

Das Moor oder Der dritte Tag II

Er behielt den Weg bei, den er eingeschlagen hatte, und konnte beobachten, wie sich die Umgebung langsam veränderte und dabei immer schöner wurde. Die Bäume lichteten sich, ihre ausladenden Kronen glichen den einfallenden Sonnenschein jedoch aus, was dazu führte, dass die angenehme Stimmung nicht verschwand und der Boden nach wie vor mit Lichtflecken gesprenkelt dalag, die aufgrund des Windes einen Tanz aufführten. An vereinzelten Stellen wuchsen zarte Blumen mit blauen, violetten oder roten bis rosa Blüten. Das Moos ging in kurzes Gras über – es wuchs nicht höher als etwa 15 bis 20 Zentimeter – und dieses wiederum in einen Teppich aus Farn, der Barner bis zu den Hüften reichte. Dieser Teppich wurde zu einem regelrechten Meer, denn nach etwa einer halben Stunde bot sich nach allen Seiten hin das gleiche Bild: Baumstämme, die aus dem Grün am Boden zum Grün in der Höhe ragten, einfallende Sonne, rauschende Baumkronen, wogender Farn und eine sich in der Ferne verlierende Welt. Hätte er nicht den Kompass in seiner Ausrüstung gehabt, wäre genau jetzt der passende Zeitpunkt gekommen, sich hier draußen hoffnungslos zu verirren.

Nach einer weiteren halben Stunde lichteten sich die Farne wieder und gingen in das bekannte Gras über; es war, als wäre er durch ein flaches Gewässer zum gegenüberliegenden Ufer gewatet. Farbliche Abwechslung kam diesmal nicht in Form von Blumen daher, sondern in Gestalt von Pfützen, in denen faules Laub lag und welche nach und nach größer wurden und zunehmend häufiger auftraten.

Als Barner einen Bogen um eine dieser Pfützen machte, fiel ihm unweit von sich auf der rechten Seite ein Streifen auf, welcher in seine Laufrichtung führte und der von Blättern bedeckt war, denen allerdings der nasse Glanz aus den Pfützen fehlte. Er trat näher und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass das Laub auf teilweise moosbedeckten Pflastersteinen lag. Große Teile des etwa drei Meter breiten Weges waren verborgen unter Gras und Erde; die deutlich sichtbaren Bereiche waren – genau wie die zu erahnenden Stellen – aber in einer solchen Menge vorhanden, dass man den Verlauf ohne Probleme erkennen und nachvollziehen konnte. Der Pfad verschwand in der entgegengesetzten Richtung nach und nach unter dem Waldboden, als wäre er langsam abgesackt – oder als würde er sich langsam aus dem Erdreich erheben. Es konnte daher keinerlei Aussage darüber getroffen werden, wo sein Anfang lag.

Überrascht, diese zufällige Entdeckung gemacht zu haben, griff er zu seiner Kamera und schoss einige Aufnahmen. Er fragte sich, wann zuletzt ein Fuß den Stein berührt hatte. Vor 40 Jahren? Vor 60? Vor 100? Er ließ den Blick über den kerzengerade verlaufenden Weg in die Ferne schweifen, ehe er die Kamera zurück in ihre Tasche steckte, die er umhängen hatte. Er versicherte sich durch einen Blick auf den Kompass, dass die Richtung stimmte, und setzte seinen Marsch auf dem festen Untergrund fort.

Die Fragen, die ihm durch den Kopf schwirrten, vereinnahmten ihn so sehr, dass er nicht bemerkte, wie sich die Umgebung abermals wandelte. Er stellte es erst fest, als er sich rund eine Stunde später von seinen Gedanken losreißen konnte und so abrupt stehen blieb, als hätte er schlagartig vergessen, wohin er eigentlich unterwegs war oder worin seine zu verfolgenden Pläne bestanden. Er sah sich in Ruhe nach allen Richtungen um und griff dabei automatisch nach seiner Kamera.

Der saftig grüne Wald, den er durchschritten hatte, war etwas gewichen, das fast nur aus toten und knochig schief in die Höhe ragenden Bäumen bestand; der einstige Boden war nun nichts weiter als Morast. Es gab hier und da Birken, frische Triebe, den einen oder anderen Strauch, kraftlos wirkende Gräser und Schilf. Pilze und Moos bedeckten zu großen Teilen das morsche Holz stehender Baumleichen und bereits umgestürzter Stämme. Zwischen alledem gab es Pfützen und schwarze Wasserlöcher.

Barner erkannte, dass der tote Wald ein Moor umgab, das sich fast kreisrund vor ihm ausbreitete und einen Durchmesser von etwa zweihundert Metern besaß. Er vermutete, dass diese Zone des Verfalls ein durchgehender Ring war, der das Moor vom umliegenden Wald trennte. Das Moor selbst war überhäuft mit farbenfrohen Blumen, die einen starken Kontrast zu dem abgestorbenen Waldstreifen bildeten, mit bodenlos scheinenden Wasserlöchern, wo in dem einen oder anderen Algen aus der Tiefe nach oben ragten, und mit zahllosen Gräserarten; Büsche und Bäume suchte man vergebens. Der Wind, dessen Dröhnen in der Höhe nicht vom Rauschen dichter Baumkronen übertönt wurde, schüttelte die Pflanzen und ließ die Spiegelbilder der ziehenden Wolken auf den Wasserlöchern tanzen. Wäre es bewölkt und nebelig gewesen, hätte der Ort eine unheimliche Ausstrahlung gehabt. Da aber die Sonne schien, ging keinerlei Bedrohung von der Umgebung aus. Es war einfach ein karger Teil des Waldes, den es zu durchschreiten galt.

Der steinerne Weg verlief unverändert in einer geraden Linie mitten durch das Moor und verlor sich auf der anderen Seite in der Ferne zwischen den Überresten der Bäume. Da Barner nun bewusst war, wo er sich befand, ließ er Vorsicht walten und bewegte sich nur zaghaft voran. Bei jedem Schritt verstärkte sich der Eindruck, dass die Steine pfeilerartig in der Tiefe stabil in festen Erdschichten verankert sein mussten. Da jedoch Moos und andere Pflanzen einen Schmierfilm bilden konnten, wurde er nicht leichtsinnig, auch wenn er genau in der Mitte des Weges lief und es so nahezu ausgeschlossen war, dass er bei einem Zwischenfall in das Moor stürzen würde. Die Gefahr durfte er aber keineswegs unterschätzen, denn immerhin war er zahllose Kilometer fernab jeglicher Zivilisation. Es stand auch nicht fest, ob sein neues Outdoor-Mobiltelefon den Vollkontakt mit Wasser überleben würde oder nicht. Da er allein unterwegs war, musste er die Vorsicht an seine Seite holen und stets ein Auge auf sie haben, um sie nicht zu verlieren.

In der Ferne hörte er einige Vögel singen, während Insekten nur vereinzelt von Blüte zu Blüte flogen. Offenbar war vielen das Landemanöver auf einer sich bewegenden Blume zu aussichtslos, zumal der Wind weit mehr als eine leichte Brise war.

Barner durchquerte das Moor, machte immer wieder Fotos und erreichte nach einiger Zeit ohne Zwischenfall die andere Seite, wo er den dortigen Ring des Verfalls hinter sich brachte, welcher langsam in einen Bereich überging, in dem nur Birken wuchsen, und das stellenweise so dicht, dass er ohne das Vorhandensein des steinernen Weges immer wieder einen Bogen hätte laufen und seine Marschrichtung mit dem Kompass häufiger hätte prüfen müssen.

Den Boden zierten hier im Tanz von Licht und Schatten hohes Gras und zahlreiche Sprösslinge. Die Blätter der Baumkronen schienen in ihren Bewegungen zu funkeln und die von ihnen gesungenen Lieder erzählten von Hoffnung, Träumen und Freiheit.

Die Frage, wer wann den Weg gebaut hatte, rückte nach und nach in den Hintergrund. Barners Interesse galt nun mehr der Frage, was am Ende zu finden sein würde, denn auch ein abermaliges Studium seiner Karte zeigte lediglich eine gigantische Waldfläche, in der er seine Position nur ungefähr abschätzen konnte. Gelegentlich markierte er die zurückgelegte Entfernung und die daraus grob abgeleitete Position mit einem kleinen Kreis, über welchem er die aktuelle Uhrzeit notierte. Wo er Rast gemacht oder übernachtet hatte, befand sich die Zeit seiner Ankunft und darunter die des späteren Aufbruchs.

Er hoffte, dass der Weg tatsächlich irgendwo enden und nicht einfach auf die Art im Waldboden verschwinden würde, mit der er aufgetaucht war.

Kapitel 3

Fragen

Barner sperrte die Türe seiner Wohnung ab. Er ließ den Schlüssel stecken und lief unter Begleitung des immer leiser werdenden Klimperns des Schlüsselbundes in die Küche, welche gegenüber der Wohnungstüre lag. Links neben der Küche war das Wohnzimmer, das auch als Schlafzimmer und Arbeitszimmer diente, und rechts das kleine Bad, das er zusätzlich als Dunkelkammer nutzte. Im Flur hing eine staubige Glühbirne nackt von der Decke und verbreitete ein gelbliches Licht, dessen Helligkeit vom braunen Bretterboden ebenso geschluckt wurde wie von der hellbraunen, uralten Tapete mit ihren ockerfarbenen Blattornamenten und der Decke, von der man nicht genau sagen konnte, ob ihre Farbe ein dreckiges Orange war oder jahrzehntelang vergilbtes Weiß. Neben der Wohnungstüre gab es eine kleine Garderobe. Am linken und rechten Ende des Flurs hing jeweils ein Poster, das die gesamte Wand bedeckte und eine Szene aus einem Wald zeigte. Der Rest des Flurs war kahl und trist.

Er legte seine Tasche im Halbdunkel auf dem kleinen Küchentisch ab – die Pizzaschachtel behielt er in der Hand – und holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Er ging ins Wohnzimmer, knipste das Licht dort an und im Flur aus.

Direkt vor ihm stand an der rechten Wand die ausgeklappte Schlafcouch und an deren Fußende ein Couchtisch, auf dem ein kleiner Fernseher, ein DVD-Player und eine Videospielkonsole standen. Die Wand gegenüber der Türe war zur Straße hin gelegen. Die Fenster, die sich über die gesamte Breite des Zimmers erstreckten, lagen verborgen hinter schwarzen, geschlossenen Jalousien. Etwas weiter links wurde der Raum durch ein Bücherregal getrennt, das bis zur Decke reichte. Es war so im Zimmer positioniert, dass es zu den Fenstern den gleichen Abstand hatte wie zu der Wand auf der anderen Seite. Hinter dem Bücherregal gab es einen breiten Tisch mit einem Laptop, der über mehrere externe Festplatten verfügte, mit zahlreichen offenen Büchern, Zetteln, Papieren und schier endlosen Mengen an Unrat. Rechts daneben – fast an den Fenstern – standen drei Regale, die aus quadratischen Ablagefächern bestanden. Ein Regal war gelb, eines minzgrün und das dritte hellblau. Hier bewahrte Barner seine Klamotten auf, Unterlagen, seine Fotoausrüstung und alles andere, was in der kleinen Wohnung keinen anderen Platz gefunden hatte. Zwar hatte er eine Stange und einen hellgrünen Vorhang angebracht, um die Regale verbergen zu können, doch nutzte er die Möglichkeit kaum. Die Wand über dem Tisch zierten zahlreiche Fotografien, die er mit schwarzem Gewebeklebeband kreuz und quer angebracht hatte.

Er legte die Schachtel mit der mittlerweile kalten Pizza auf dem Couchtisch ab und griff sich den Flaschenöffner, der auf dem Fernseher lag, öffnete die Flasche, legte ihn zurück und warf den Kronkorken in den Papierkorb vor dem überfüllten Bücherregal, in welchem es neben Büchern und Zeitschriften auch DVDs, CDs, Videospiele und eine kleine Stereoanlage mit Boxen gab. Er nahm einen Schluck und setzte sich am Fußende auf die Schlafcouch. Er schaltete den Fernseher ein, suchte einen Sender mit Nachrichten, öffnete die Pizzaschachtel und nahm sich ein Stück.

Nachdem Pizza und Bier in seinem Magen waren – er hatte eine Reportage über die Suche nach Rubinen in Australien entdeckt und war bei dieser hängen geblieben –, wandte er sich mit frisch gewaschenen Händen seinem Fund zu, den er aus einem Karton unter dem Couchtisch hervorholte. Er legte die lederne Mappe auf die Bettdecke und setzte sich mit der Türe im Rücken im Lotussitz davor. Er beugte sich kurz zur Seite und griff zum Tisch, nahm die Fernbedienung der Stereoanlage und startete die aktuelle CD, bei der es sich um ein Album von Joe Hisaishi handelte – der Fernseher lief bereits nicht mehr. Dann öffnete er die beiden Lederriemen, die nahezu lose um die Mappe gelegt waren – einer horizontal und einer vertikal, fast wie bei einem Geschenk. Er zog sie nicht unter dem Fund hervor, sondern ließ sie da liegen, wo sie waren.

Die Mappe war etwa 30 Zentimeter breit, 47 Zentimeter hoch und durch die Fülle an Inhalt rund 10 Zentimeter dick. Das Leder war stark abgewetzt und überall gleichmäßig geschmeidig. Auf der Oberseite befand sich mittig eine Prägung in der Form eines Kreises. Um an den Inhalt zu kommen, musste man das obere Leder nach oben umschlagen, die nächste Lage nach rechts, dann eine nach unten und die letzte nach links. Am Ende lag der Inhalt auf einem ledernen Kreuz, das aus zwei Schichten bestand, die umlaufend vernäht waren. Der Schöpfer der Mappe hatte das Kreuz aus zwei großen Häuten geschnitten und das so rechtwinklig und sauber, als wäre es nicht von Menschenhand geschehen; hinter der unscheinbaren Fassade verbarg sich höchste Handwerkskunst.

Im Inneren offenbarte sich eine Flut aus Zeichnungen, Skizzen und Fotografien. Barner hatte sich schon mehrmals durch das Chaos gearbeitet, doch außer der Tatsache, dass einige Motive doppelt vorkamen, hatte er nichts entdecken können, was ihn schlauer gemacht hätte. Es handelte sich um exakt 109 Stücke; gefaltete Blätter, Zeichnungen auf offensichtlich herausgerissenen Seiten von Büchern und Skizzenheften sowie große und kleine Fotografien, grobkörnig und teilweise schlecht belichtet – das zentrale Motiv war jedoch stets auszumachen.

Barner griff in den Haufen und förderte ein vergilbtes Foto zu Tage, auf dem man die Luftaufnahme einer Inselgruppe erkennen konnte. Eine andere Aufnahme zeigte die Radierung eines Friedhofes, auf dem schiefe Grabsteine standen. Einige von ihnen waren umgekippt. Im Hintergrund erkannte man eine Kirche. Im linken Bereich hockte eine buckelige, nicht näher erkennbare, dürre Gestalt mit dem Rücken zum Betrachter gewandt auf einem Grabstein.

Er wollte sich gleich am nächsten Morgen Baumwollhandschuhe besorgen, denn einige der Blätter schienen erheblich älter zu sein als die Fotografien und er wollte keinesfalls durch konstant fehlende Vorsicht – zumal er sich bisher nicht intensiver mit den einzelnen Stücken befasst hatte – irreparable Schäden verursachen.

Eine Zeichnung zeigte den Blick über eine hügelige Waldlandschaft mit Bächen und Lichtungen. In der Ferne war das Meer zu erkennen.

Es gab unzählige solcher Motive: Höhlen, Ruinen, tier-ähnliche und auch undefinierbare Kreaturen, groß und klein, sonderbare Kolosse, gigantische Tempelanlagen und einsame Landschaften.

Barner fragte sich, ob er ein Museum ansprechen sollte, um herauszufinden, ob sich in der Mappe zwischen all den Sachen ein verschollenes Kunstwerk befand oder ob es sich bei alledem nur um das Ergebnis einer bedeutungslosen Sammelleidenschaft handelte. Oder sollte er anonym Nachforschungen anstellen? Enthielt er der Welt wertvolle Schätze vor? Beging er so eine Straftat? Oder würde ihm durch falsche Offenheit rechtmäßig zustehender Finderlohn entgehen? Wie er es auch drehte und wendete, er fand keine Lösung auf diese Frage, die von allen anderen wahrscheinlich noch die einfachste war.

Aufgrund der Entscheidung, sich Handschuhe zu kaufen, hielt er es entgegen seiner Planung für vernünftig, die Mappe wieder zu schließen und zurück in den Karton zu legen. Das ausgiebigere Studium konnte noch einen Tag warten.

Den Rest des Abends verbrachte er mit einigen Flaschen Bier bei Kerzenlicht am Laptop, wo er mit Mitgliedern seiner Künstlergruppe chattete und durch den Upload neuer Arbeiten seinen Beitrag zur bevorstehenden „[#21.]“ einreichte. Diesmal waren insgesamt acht Bilder dabei, nachdem er bei „[#2x10]“ lediglich zwei Fotos hatte präsentieren können. Er ließ nur die beste Auswahl in die Gruppe einfließen, um stetig daran zu arbeiten, das hohe Niveau zu halten und auszubauen.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden, in denen sich das durch das Küchenfenster einfallende Licht im Flur bemerkbar machte – deutlicher als an den Rändern der Jalousien –, blies er die verbliebenen Kerzen aus, legte sich auf die Schlafcouch und sank bei der noch immer in der Endlosschleife laufenden CD in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

Kapitel 4

Am Ende des Weges oder Der dritte Tag III

Das Moor und der Ring des Verfalls lagen bereits über eine Stunde hinter ihm und noch immer trat er bei jedem Schritt auf die Steine, an die er sich mittlerweile so gewöhnt hatte, wie an das dadurch entstehende Laufgeräusch und vor allem an den noch immer kerzengeraden Verlauf, dem er schon seit mindestens 10 Kilometern folgte. Die Umgebung war in eine weitläufige Wiese übergegangen, deren Gräser und bunte Blumen teilweise hüfthoch standen und sich im Wind wogenhaft wie Wasser verhielten. Hier war der Weg kaum zu erkennen, so überwuchert war alles. Barner ließ sich daher von der Ahnung leiten, dass sich die Richtung nicht ändern würde, und vom spürbaren Widerstand, der sich vom weichen, beinahe schwammigen Boden neben den Steinen abhob.

Mittlerweile waren die Wolken am Himmel komplett fortgetrieben worden, so dass sich nur das endlose Blau mit der strahlenden Sonne über ihm erstreckte. Aus der Ferne rückte der Baumbestand des Waldes mauergleich näher; in der grünen Front konnte er lediglich einen dunklen Bereich mit einem Durchgang ausmachen, und das war genau dort, wohin der Weg führte. Der Blick zurück zeigte ihm ein ähnliches Bild, während er links und rechts nur mehr oder minder gleichmäßige Baumreihen mit Dickicht am Rand der Wiese ausmachen konnte.

Der Durchgang entpuppte sich wenig später als eine verwilderte Allee, die von den Kronen der säumenden Bäume überdacht wurde, was Barner spontan an das Mittelschiff einer Kirche erinnerte. Der gedrängte Baumbestand ließ im Vergleich zu den anderen von ihm gesehenen Waldarealen verhältnismäßig wenig Licht bis zum Boden, was ein Zwielicht entstehen ließ. Und was er anfangs erahnte und nach und nach besser erkennen konnte, stellte sich tatsächlich als das Ende des Weges heraus: Ein von wuchernden Ranken nahezu unsichtbar gemachtes Eisentor, das so stark verrostet war, dass sich Barner fragte, ob nicht eventuell die Pflanzen dafür verantwortlich waren, dass es nicht schon längst in sich zusammengefallen war.

Zu beiden Seiten hin erstreckte sich eine unter all dem Grün kaum erkennbare Mauer, an der teilweise armdickes Rankengeflecht emporragte. Sie war etwa drei Meter hoch und ebenso wie das leicht höhere Tor von zahllosen Eisenspitzen bekrönt.

Im angenehm kühlen Schatten, den Tor und Mauer warfen, machte er eine Aufnahme vom Tor und dem hinter ihm liegenden Weg, ehe er sein Überlebensmesser zog, um mit der Säge des Klingenrückens einige der Ranken zu durchtrennen und herauszufinden, ob sich die Flügel des Tores überhaupt noch bewegen ließen und was auf der anderen Seite lag, da die sich drängenden Pflanzen keine freie Sicht zuließen.

Nach einigen Minuten konnte er feststellen, dass das Tor gar nicht richtig geschlossen war, sondern der rechte Flügel etwa einen Zentimeter offen stand. Barner drückte dagegen und spürte, wie die Ranken die Flügel standhaft zusammenhielten. Er legte seinen Rucksack und die Kameratasche auf dem steinernen Weg ab, um sich daran zu machen, weitere Pflanzen zu durchtrennen. Hierfür kletterte er auch höher und hielt sich am Eisen und an den Ranken fest oder stützte sich darauf ab. Zwischendurch versuchte er, das Tor so weit zu öffnen, dass er hätte hindurchschlüpfen können. Es benötigte drei Versuche, bis der dann doch störrische und rostig quietschende Flügel so weit aufzudrücken war, dass Barner den Rucksack durch den Spalt schieben und sich gebückt mit der Kameratasche in der Hand hindurchzwängen konnte, nachdem er das Messer in die Scheide an seinem Gürtel zurückgesteckt hatte. Dann klopfte er sich Blätter vom Körper. Den Rost an seinen Armen, den er abbekommen hatte, als er durch die Gitterstäbe hindurch Ranken zerteilt hatte, konnte er nur teilweise abwischen. Er hatte sich mehrere Schürfwunden zugezogen, die aber nicht bluteten, so dass er ihnen keine weitere Aufmerksamkeit schenkte.

Bei seinen Sägearbeiten auf der anderen Seite hatte er zunehmend ausmachen können, wo er sich nun befand: In einem völlig verwilderten Garten, in welchem Bäume und Gebüsch in einem Chaos aus Gräsern und Blumen um die Vorherrschaft kämpften. Die überwucherte Mauer schien alles zu umgeben, auch wenn Barner kaum ihren Verlauf nachvollziehen konnte, da in all den Jahren hinter den Steinen ein kleiner, eigenständiger Wald gewachsen war. Und inmitten all des Grüns konnte er leicht rechts zwischen den Bäumen ein altes und augenscheinlich großes Herrenhaus ausmachen, auf welches sich der nun im leichten Bogen verlaufende Weg – hinter dem Tor hatte er seine Breite verdoppelt – zubewegte.

Barner schulterte den Rucksack und griff zu seiner Kamera, um die ersten Eindrücke des vergessenen Anwesens festzuhalten. Er folgte dem Weg. Sein stetig umherschweifender Blick machte nichts Besonderes aus; nur Pflanzen und das Blau des Himmels, an welchem die Sonne schon merklich gesunken war und so die Schatten langsam in die Länge wachsen ließ. Das direkte und angenehm wärmende Licht würde bald verschwunden sein.

Das Herrenhaus, vor dem Barner stehen blieb, war beinahe komplett mit Rankenwerk überwuchert; die Fassade lag größtenteils verborgen hinter Rosen, Efeu und Wein. Hätte es nicht das eine oder andere erkennbare Fenster, den einen oder anderen frei sichtbaren Mauerbereich oder das halbwegs unverwilderte Dach gegeben, hätte alles noch unwirklicher ausgesehen, als es das ohnehin schon tat. Die Architektur besaß mehrere Erkertürmchen, die ausschließlich da zu finden waren, wo zwei Außenwände unter 90 Grad aufeinander trafen. Fast der gesamte Bau war zweigeschossig, wobei der zentrale Teil in seiner Mitte über ein weiteres Stockwerk verfügte, das von der Grundfläche her deutlich kleiner war. Nach links und rechts erstreckte sich je ein Seitenflügel.

Barner stand dem Haupteingang gegenüber, der über eine ausladende Treppe erreichbar war, die ebenfalls überwuchert dalag. Der Steinweg war in einen am Haus liegenden Halbkreis übergegangen, von welchem aus wiederum ein etwa drei Meter breiter Weg nach links und nach rechts um das Haus verlief. Mauerwerk und Steinweg trennte ein knapper Meter, der genügend Platz für den Ursprung all der Ranken bot – diese hatten sogar Teile des dritten Stockwerks in Beschlag genommen. Die Fassade, welche den Haupteingang mit der riesigen Flügeltüre beheimatete, war leicht nach innen gekrümmt, was den umliegenden Teilen des Hauses eine gewisse Dominanz gab, denn man fühlte sich, als würde man vor sich ausbreitenden Armen stehen. Durch die ansonsten eher klar winklige und schnörkellose Gestaltung – soweit Barner das unter all dem Grün ausmachen konnte – wirkte der Bau auf der einen Hand massig, bekam jedoch auf der anderen durch die Erkertürmchen, die dritte Etage und die Türmchen, die sich auf dem Dach befanden, auch etwas Luftiges. Barner konnte nur einzelne Elemente ausmachen und aus ihnen keinen wirklich zusammenhängenden Stil ableiten. Er spürte aber überdeutlich die Präsenz des Hauses; es erweckte mit seiner Aura eine tiefe Ehrfurcht.

Er machte einige Aufnahmen von den Wegen, die sich auch hier durch etwas weniger Bewuchs von der Umgebung abhoben, vom Haus, wo er einige zersprungene Fenster fand, und von der ehemaligen Anlage drum herum, von deren einstiger Gliederung gar nichts übrig geblieben war. Wie er von seinem Standpunkt aus sehen konnte, war der für ihn sichtbare Teil der Grundstücksmauer durchgehend – bis auf den Bereich mit dem Tor.

Er wandte sich nach links, um das Herrenhaus zu umrunden. Dabei fiel ihm das wilde Gezwitscher der Vögel auf, die in den Ranken brüteten und stetig kamen und gingen. Dieser Umstand verlieh dem Bauwerk einen zusätzlichen Hauch von Sanftmut.

Im Westflügel – der Blick auf den Kompass verriet es ihm – befanden sich unter all den Ranken die kaum noch zu erkennenden Nebeneingänge. Hinter der ersten Ecke, dem Ende des Westflügels, gab es eine Türe und rechts davon eine Treppe hinab zur Kellertüre. Hinter dem Flügel tat sich eine hochgelegene Veranda in Viertelkreisform auf, von der aus eine Treppe hinab zum Boden führte und an welcher auch der Steinweg endete. Die Stufen erstreckten sich über die gesamte Außenlänge der Veranda.

Barner betrat die Treppe, die bis auf einige Gräser, die aus den Fugen ragten, pflanzenfrei war, und lief hinauf auf die Veranda. Hier gab es am Westflügel großzügige Fenster und gläserne Türen, durch die er aber nichts erkennen konnte, da der Dreck der Jahrzehnte das Glas völlig überzogen hatte; die Türen waren alle abgeschlossen. Der Vorbau ging in nördlicher Richtung in eine weitere Veranda über, die von einer Balustrade begrenzt wurde. Sie erstreckte sich weit vom Haus weg und endete halbkreisförmig. Auf ihr befand sich ein mächtiger Wintergarten, der wie ein Teil einer gläsernen Kathedrale in die Höhe ragte und einen Grundriss hatte, der vom Prinzip her dem der Veranda glich, nur in verkleinerter Form. Auf der linken und der rechten Seite des Vorbaus verlief jeweils eine breite Treppe in einem schwungvollen Bogen gen Norden hinab in das Gras. Vom Ende der Veranda aus, welches Barners nächster Halt war, konnte er erkennen, dass der Wintergarten auch ein gläsernes Dach hatte, das im Querschnitt einen Halbkreis bildete und nahtlos aus den beiden Seitenwänden entsprang. Zusätzlich ging die Form perfekt in die halbkreisförmige Außenwand des Wintergartens über, der Barner nun gegenüberstand. Viele der quadratischen Scheiben waren kaputt, doch das eiserne Skelett der Grundkonstruktion schien restlos intakt zu sein.

Barner machte einige Aufnahmen, ehe er den Rucksack abnahm, ihn gegen das deutlich – aber nicht übermäßig – verwitterte Steingeländer lehnte und eine halbvolle Wasserflasche herausnahm. Er trank einen kräftigen Schluck und blickte hinauf zum Dach des Wintergartens, von wo aus ihn die goldenen Reflexionen des Sonnenlichts blendeten. Er kniff die Augen zusammen.

Die Rückseite des Hauses – es war zusammen mit den Veranden symmetrisch aufgebaut – war um einiges lichter bewachsen als die Vorderseite. Das Grundstück hingegen war so verwildert wie der Rest, den Barner schon zu Gesicht bekommen hatte. Er hielt auch hier erfolglos Ausschau nach einem zweiten Tor in oder einem Schaden an der Mauer, die eventuell auch nur zu gut unter dem dichten Rankenwerk verborgen lag, um auf diese Entfernung eine Aussage treffen zu können.

Er setzte sich nach einem kurzen Blick auf die Uhr auf den Boden, lehnte sich gegen die Balustrade und nahm einen Energieriegel aus dem Rucksack. Es war noch genügend Zeit und somit Tageslicht bis zum Einsetzen der Dämmerung vorhanden, so dass keine Eile geboten war. Zudem würde er in der kommenden Nacht kein Zelt benötigen, wodurch das Aufbauen entfiel.

Sein Fund überwältigte ihn. Da hatte dieses Herrenhaus 60, 80 oder mehr Jahre hier geschlafen, nur um von ihm durch Zufall entdeckt zu werden. Er ging nicht davon aus, dass in den letzten Jahren – wenn überhaupt – jemand hier gewesen war, denn dazu waren die Ranken am Tor schlichtweg zu dick und vor allem zu robust gewesen. Er musste unbedingt herausfinden, wie alt das alles war und vor allem, wem es gehörte oder gehört hatte. Und über diese Antworten würde er vielleicht auch die Frage klären können, wie es dazu gekommen war, dass das Vergessen sein Tuch über die Gegend gelegt hatte.

Ihm war klar, dass er Hausfriedensbruch beging, aber das taten auch all jene Menschen, die verlassene Gebäude auf der ganzen Welt erkundeten. Daher griff er sich in Ruhe einen weiteren Riegel und atmete tief durch, um die wunderbare Luft in sich aufzunehmen.

Kapitel 5

Interessen

Beltram drückte oberhalb seines Kopfes auf einen Knopf, wodurch die Fensterscheiben seines Schlafzimmers schlagartig durchsichtig wurden und sogleich mehr Sonnenlicht in den Raum ließen. Er richtete den Oberkörper auf, stützte sich auf die Ellenbogen und sah sich aus dem Bett heraus um. Es maß drei mal drei Meter und war etwa 50 Zentimeter in der Mitte des Zimmers in den hellbraunen Parkettboden eingelassen. Der Raum maß etwa 20 Meter im Quadrat und seine vier Wände bestanden aus Fenstern, die vom Boden bis zur gläsernen Decke reichten. Per Knopfdruck konnte auch ihre Erscheinung von milchig trüb zu kristallklar geändert werden, wodurch den Betrachter nur nahezu unsichtbares Glas vom Himmel darüber trennte. Die Wand zu Beltrams rechter Seite verfügte zusätzlich über eine breite Schiebetüre aus ebenfalls veränderbarem Glas, welche hinaus auf den Balkon mit einem Pool führte, der mit 10 mal 25 Metern genügend Fläche bot, um in Ruhe seine Bahnen ziehen zu können. Von dem Balkon aus hatte man einen wunderbaren Blick über die grünen Hügel mit ihren weißen Villen und das nur einige Kilometer weit entfernte Meer mit seinem weißen Sandstrand und dem tiefblauen Wasser.

Beltram stand auf, trat an die Türe und öffnete sie, um die frische Meeresluft und die Laute einiger Seevögel in den Raum zu lassen.

Vor dem Fußende des Bettes stand eine verchromte Musikanlage und an den vier Ecken des Bettes jeweils eine über einen Meter hohe Box, deren Grundriss etwa der Größe einer CD-Hülle entsprach. Vor der Wand auf der Seite des Kopfendes standen ein Tisch mit einem Laptop und ein ausladender Bürosessel aus himmelblauem Leder, der fest mit dem Boden verbunden war.

Beltram, welcher nackt war, lief zum Tisch und schaltete den Laptop ein.

Er war knapp 1,80 Meter groß und so durchtrainiert, dass er keinerlei Fett am Körper zu haben schien. Dennoch war er nicht zu muskulös. Er hatte breite Schultern, kurzes, hellbraunes Haar und weiße Haut, die elegant wirkte und alles andere als kränklich blass. Er nahm in der Sonne keinerlei Farbe an, was ihn aber nicht störte.

Einige Meter rechts vom Tisch entfernt befand sich eine rechteckige Öffnung im Boden, durch welche man über die drei Meter breite Treppe hinab in das erste Obergeschoss gehen konnte, was Beltram tat. Der ebenfalls drei Meter breite Gang am Ende der Treppe besaß auf der rechten Seite Türen und Gänge zu anderen Räumen und auf der linken Seite ein Edelstahlgeländer. Von hier aus konnte man hinauf zu einem weiteren gläsernen Dach blicken und hinab in einen Raum – von den Dimensionen her eher eine Halle –, in dessen Mitte sich eine kleine Rasenfläche befand, die von einem künstlichen Bach umspielt wurde, der quer durch den Raum plätscherte. Auf dieser Grünfläche standen eine ausgewachsene Trauerweide und zwei Meter vor ihrem Stamm ein Tisch mit einem weiteren Laptop. Zwischen Stamm und Tisch befand sich ein lederner Bürosessel.

Nachdem Beltrams Augen unten niemanden wahrnehmen konnten, lief er geradeaus, bis der Gang einen Knick nach links machte und so ein L formte. Er folgte diesem Verlauf. Rechts führten weitere Gänge und Türen ab. Das Licht des sonnigen Tages strömte durch das gläserne Dach, ebenso wie durch die beiden gläsernen Wände, welche die übrigen Seiten des rechteckigen Raumes bildeten. Am Ende des Ganges führte eine Treppe nach links hinab in das Erdgeschoss. Rechts konnte er von der ersten Stufe aus durch die Glaswand hinaus auf die große Terrasse mit einem weiteren Pool und in seinen Garten schauen, der einerseits sehr naturbelassen wirkte, andererseits aber auch durchdacht und gepflegt. Wind streifte seine Haut, denn in den Glaswänden standen per Knopfdruck bedienbare Elemente offen. Die Krone des Baumes rauschte wie zur Begrüßung. Unten angekommen bog er zweimal nach links ab und lief an der Treppe vorbei in die weitläufige, offene Küche. Auch hier gab es links eine gläserne Wand – diese ging nahtlos aus der des großen Raumes hervor. Eine Türe führte hinaus in den Garten und eine weitere in die großzügige Garage. Der Bach lag hier im Boden unter Glas, das so sauber war, dass man vorsichtiger lief, aus Angst, in die Luft zu treten und nasse Füße zu bekommen. Die Abdeckung nahm ihren Anfang lotrecht zum eine Etage höher liegenden Geländer.

Beltram nahm ein Glas vom Küchentresen und füllte es am Kühlschrank mit kaltem Orangensaft, ehe er damit die Küche verließ und sich nach links wandte, wo das offene Esszimmer die Küche mit dem offenen Wohnzimmer verband, wo es eine Couch, einige Sessel, einen Fernseher, eine Stereoanlage und allerlei andere Annehmlichkeiten in einer Qualität und Preisklasse gab, die sich jemand leisten konnte, der nicht auf sein Geld achten musste. Im weitläufigen Wohnzimmer, das flächenmäßig größtenteils unter Beltrams Schlafzimmer lag, entsprang der Bach aus einem an der Wand befestigten Wasserspeier – ursprünglich Teil einer englischen Kathedrale, der im Zuge von Restaurationsarbeiten allerdings komplett ausgetauscht wurde – und nahm offen seinen Lauf. In einer Flucht zum Baum gab es einen kurzen aber breiten Gang, der in einen Vorsaal mit der Eingangstüre überging. Im Gang gab es auf der rechten Seite einen Raum mit einer Gästetoilette und auf der linken eine Türe hinab in das Untergeschoss, das auch von der Küche aus über eine Treppe erreichbar war. Dort unten gab es neben Vorratsräumen einen weiteren Pool und eine Sauna.

Im Erdgeschoss sorgten nachts in den Bereichen, die über eine Decke verfügten, dort angebrachte Lampen und herumstehende Deckenfluter für Licht, während im freien Raum säulenförmige Lampen Helligkeit spendeten, die wie Begrenzungspfeiler hier und da dem Boden entsprangen.

Er trat an einen schlichten Sekretär von 1799, der links im Vorsaal stand, und sichtete mit wenig Elan die Post, die er am gestrigen Abend darauf abgelegt hatte. Er nahm einen Schluck Saft und schob dabei mit der rechten Hand einige Briefe umher, um sie voneinander zu trennen. Da der erste Blick aber keine wichtigen Unterlagen ausgemacht hatte, lief er zurück und trat über den kleinen Bach hinweg auf das kühle Gras, das seine Füße willkommen hieß. Er schaltete den Laptop ein, ehe er die Grünfläche verließ, sich vor die gläserne Wand stellte, die Türe zum Garten weit öffnete und einen Knopf daneben drückte. Augenblicklich ertönte eine Mischung aus Zischen und Rauschen, da von einigen Stellen auf dem Haus und im Garten aus Wasser in die Luft geschossen wurde, das sich dort streute und Sekunden später als künstlicher Regen Erde, Pflanzen und Haus berührte. Der Wind trieb neben der so abkühlenden und viel frischer riechenden Luft auch etwas von der Feuchtigkeit in das Haus, was Beltram alles andere als unangenehm empfand. Er betrachtete einige Minuten lang den entstandenen Regenbogen und das tanzende Glitzern, das sich über die Farben des Gartens legte. Dann drückte er den Knopf ein zweites Mal, wodurch der Regentraum endete.

Nach einer kurzen Überlegung lief er zurück zur Treppe, leerte das Glas in einem Zug, stellte es auf der dritten Stufe ab, lief hinauf und dort weiter bis zur letzten Türe am Fuße der Treppe, die zum Schlafzimmer führte. Er öffnete sie und trat ein.

Rechts befand sich eine Badewanne und neben dieser eine Dusche, die durch eine Glaswand mit einer Türe vom Rest des Raumes abgetrennt war. Geradeaus fand man einen kleinen Whirlpool und daneben die Toilette. Links gab es über die gesamte Raumbreite einen Spiegel und davor zwei breite Waschbecken, die in einen breiten Schrank eingelassen waren, der so mit Keramik verkleidet war, dass alles wie aus einem einzigen Guss zu sein schien. Neben Türen und Schubladen bot der Schrank zusätzlich einige Ablagen mit Handtüchern, sauberer Unterwäsche und frischen T-Shirts.

Vor einem der Waschbecken stand eine Frau barfüßig in einem kurzen, schwarzen Sommerkleid. Ihre schwarzen, glatten Haare waren noch etwas feucht und reichten ihr bis zu den Nieren. Sie war blass – ebenso wie Beltram weit entfernt von kränklicher Blässe –, schlank und verfügte schon rein optisch über eine makellose Haut, deren Geschmeidigkeit man mehr als erahnen konnte. Mit ihren strahlend grünblauen Augen warf sie Beltram einen kurzen Blick zu, ehe sie sich lächelnd weiter um den Lidschatten kümmerte.

„Schon wach?“ fragte Melissa.

„Mehr oder weniger“, antwortete Beltram, lief auf sie zu und stellte sich hinter sie. Sein Blick glitt nach unten, wo sich die weibliche Rundung ihres Hinterns unter dem Stoff abzeichnete. Er wusste aus der vergangenen Nacht, was der Stoff verbarg, und bekam beim Gedanken daran eine Erektion, die ihn dazu brachte, Melissas Taille zu greifen und sich von hinten gegen ihren Körper zu pressen.

Sie legte ihren Lidschattenpinsel zur Seite und drückte ihr Becken leicht nach vorn, während Beltram ihr Kleid so weit nach oben zog, dass er ihren Po sehen und erkennen konnte, dass sie nichts darunter trug. Sie war Beltram mit ihrer Hand beim Eindringen behilflich, stützte sich dann auf dem Rand des Waschbeckens ab und sah sich und Beltram im Spiegel zu.

Beltram spürte die reizvolle Kälte ihrer Pobacken, durch die seine Erregung weiter beflügelt wurde. Und kaum hatte er sich nach vorn gebeugt, um sie zwischen ihre in dieser Position perfekt definierten Schulterblätter zu küssen, stieg der kribbelnde Höhepunkt in ihm auf.

Sie lächelte ihm durch den Spiegel zu, wartete, bis er sich aus ihr zurückgezogen hatte, hielt ihre Hand unter und lief zur Toilette, wo sie sich setzte und die Hand mit etwas Toilettenpapier reinigte. Dann wartete sie ab.

Beltram, leicht verlegen wegen seiner kurzen Vorstellung, lehnte sich mit dem Po gegen die Kante des Schranks und stützte sich mit den Armen ab. Er spürte, wie durch die Bewegung ein Faden seines Samens kalt an seinem Bein kleben blieb.

„Was hast du deinem Freund eigentlich gestern erzählt?“ fragte er.

„Dass ich mit meinen Mädels unterwegs bin, wie immer.“

Sie kannten sich seit einigen Monaten und schliefen miteinander. Nicht mehr und nicht weniger. Sie liebte ihren Freund, war jedoch sexuell völlig unzufrieden mit ihm und hatte sich daher entschieden, ihn lieber ab und an zu betrügen als ihn deshalb zu verlassen. Würde er es herausfinden, wäre die Trennung keine Überraschung für sie. Sie wusste, dass es falsch und nicht aufrichtig war, aber irgendwie konnte sie sich nicht zum Ende der Beziehung durchringen. Vielleicht würde sie es in einem Monat können, einem halben Jahr oder nie; sie wusste es nicht. Es war eine jener Situationen, in denen man steckte und ohne wirklichen Grund gefangen war und vorerst gefangen bleiben würde, da man wie gelähmt nur verharren konnte. Dass sie Beltram kennengelernt hatte, war Zufall gewesen. Er machte ihr keine Geschenke und er führte sie auch nicht aus. Es war nur Sex. Er kontaktierte sie oder sie kontaktierte ihn. So war das.

Beltram ging es ebenfalls nur um das Ausleben seines Sexualtriebs. Von Prostituierten hatte er genug, genau wie von ernsthaften Beziehungen. Sie ließen sich regelmäßig auf sexuell übertragbare Krankheiten hin testen und gingen das Restrisiko ein, das an jeder Bettkante lauerte.

„Ich frage mich oft, wann es auffliegen wird“, gestand er.

„Vermutlich nie, denn fast alle meiner Mädchen gehen fremd und wir decken uns dabei gegenseitig. Es würde höchstens auffliegen, wenn ich mit der Sauberkeit unvorsichtig bin.“

„Sperma an den Beinen.“ Er sah an sich herunter.

„Auch“, sagte sie lachend.

Er lief kurz in die Dusche, um sich mit kaltem Wasser zu säubern. Dabei fragte er: „Kann ich dir noch einen Kaffee anbieten, ehe ich das Taxi rufe?“

„Gerne.“ Sie saß noch immer auf der Toilette.

Er trat aus der Dusche, nahm sich aus einer der Ablagen schwarze, eng sitzende Shorts, zog diese – ohne sich abzutrocknen – an und verließ das Badezimmer.

Beltram saß unter der Trauerweide. Er trug noch immer nichts außer den Shorts. Das Sonnenlicht fiel hinter ihm durch die Glaswand, die nach Westen ausgerichtet war, und erfüllte das gesamte Haus mit Reflexionen und einem beinahe magisch anmutenden Glühen.

Er hatte die E-Mail seiner Schwester beantwortet und zusätzlich eine an Barner geschickt, mit der Bitte, sich zwecks eines Treffens abzusprechen, damit er sich persönlich ein Bild von dem Gegenstand des Fotos machen konnte, das er noch immer auf dem Bildschirm betrachtete. Er ging geistig auch schon die Kontakte durch, die ihm eventuell nähere Fragen beantworten und weiterreichende Angaben zu der Sache machen konnten, denn er war ratlos. Er kannte Menschen, die mit Wissen in diesem Bereich Geld verdienten. Er wickelte selbst nicht wenige Geschäfte mit Kunstgegenständen jeglicher Art ab, doch nie ohne mehrere und vor allem unabhängige Meinungen.

Sein Interesse galt neben dem Inhalt vor allem der Frage, woher Barner das alles hatte. Vielleicht gab es an dieser unbekannten Quelle noch gänzlich unbekannte Schätze zu entdecken. Er war sich aber auch darüber klar, dass Barner keineswegs auf den Kopf gefallen war und selbst darauf brannte, mehr über die Unterlagen in Erfahrung zu bringen. Er musste folglich sein Geschick nutzen, um im Fall der Fälle etwas aus der ganzen Nummer schlagen zu können.