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Ein spannender Streifzug durch die Geschichte der Mathematik Von der Antike bis zur Gegenwart: Der Mathematiker Edmund Weitz erzählt von fünf vielumrätselten Fehlstellen der Mathematik und zeigt, dass die Mathematik zwar nicht alle Probleme lösen kann, dass sie im scheinbaren Scheitern aber immer wieder zur Quelle neuer Erkenntnisse über die Welt wird – mathematisch ebenso wie philosophisch: Warum lässt sich die Fläche eines Kreises nicht exakt auf ein Quadrat übertragen? Können sich parallele Geraden berühren und wenn ja, wo? Warum gibt es verschiedene Stufen der Unendlichkeit, und warum weiß eigentlich niemand, in welcher Beziehung diese zueinander stehen? Edmund Weitz geht den größten Rätseln der Mathematik auf den Grund, erzählt von den Krisen und von dem Leben und der Bedeutung der großen Mathematiker, die uns gezeigt haben, was Mathematik kann und ist – und was nicht. Für alle, die gerne über grundlegende Fragen nachdenken und wissen wollen, wo die Grenzen unseres Wissens verlaufen.
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Seitenzahl: 290
Veröffentlichungsjahr: 2025
Edmund Weitz
Wie sich eine Wissenschaft selbst die Grenzen aufzeigt
Von der Antike bis zur Gegenwart: Der Mathematiker Edmund Weitz erzählt von fünf viel umrätselten Problemen der Mathematik und zeigt, dass diese Wissenschaft zwar nicht alle Probleme lösen kann, dass sie im scheinbaren Scheitern aber immer wieder zur Quelle neuer Erkenntnisse über die Welt wird – mathematisch ebenso wie philosophisch: Warum lässt sich die Fläche eines Kreises nicht exakt auf ein Quadrat übertragen? Können sich parallele Geraden berühren und wenn ja, wo? Warum gibt es verschiedene Stufen der Unendlichkeit, und warum weiß eigentlich niemand, in welcher Beziehung diese zueinanderstehen?
Edmund Weitz geht den größten Rätseln der Mathematik auf den Grund, erzählt von den Krisen, dem Leben und der Bedeutung der großen Mathematiker, die uns gezeigt haben, was Mathematik kann – und was nicht. Für alle, die gerne über grundlegende Fragen nachdenken und wissen wollen, wo die Grenzen unseres Wissens verlaufen.
Edmund Weitz ist Professor für Mathematik und Informatik an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Autor und ein großer Popularisierer seines Fachs. Auf YouTube und in seinen beliebten Weihnachtsvorlesungen bringt er Tausenden Zuschauerinnen und Zuschauern die Schönheit und Kreativität der Mathematik nahe – ebenso wie in seinen Büchern.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Illustrationen Heike Stephan
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung FinePic®, München
ISBN 978-3-644-01963-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Am 15. April 2003 war es wieder einmal so weit: In der New York Times erschien ein ausführlicher Artikel über ein Ereignis aus der Welt der Mathematik. Und in den kommenden Wochen und Monaten griffen auch andere Massenmedien wie die BBC oder Der Spiegel die Geschichte auf. Sie verbreitete sich zwar nicht so schnell wie Gerüchte über Fußballer und Prominente, aber immerhin fanden Journalisten aus aller Welt sie berichtenswert.
Dass die Mathematik überhaupt in den Nachrichten erwähnt wird, passiert nur alle Jubeljahre. Fast immer geht es dabei um die Lösung eines Problems, mit dem die Mathematiker lange vergeblich gerungen haben. Je länger es gedauert hat, desto spektakulärer ist es für die Öffentlichkeit. Im Jahr 2003 handelte es sich um den Beweis der sogenannten Poincaré-Vermutung durch den Russen Grigori Perelman. Die Vermutung war zu diesem Zeitpunkt fast hundert Jahre alt. Noch höhere Wellen hatte knapp zehn Jahre vorher der Brite Andrew Wiles mit dem Beweis des Großen Fermatschen Satzes geschlagen. Damit beantwortete er eine über 350 Jahre alte offene Frage. Und beide werden übertroffen durch eine Publikation des deutschen Mathematikers Carl Friedrich Gauß vom Ende des 18. Jahrhunderts. Hätte es damals bereits das Internet gegeben, dann wären innerhalb kurzer Zeit Schlagzeilen wie «Teenager löst 2000 Jahre altes Problem!» um die Welt gegangen.
Es gibt in der Mathematik also offene Fragen. Und es kann sehr lange dauern, bis sie beantwortet werden. Das ist eine ziemliche Überraschung für Menschen, die Mathematik für ein Fach halten, in dem seit Urzeiten unverrückbar feststeht, was richtig und was falsch ist.
Mindestens ebenso faszinierend ist allerdings, dass es sogar mathematische Probleme gibt, von denen man inzwischen weiß, dass niemand sie jemals lösen wird! Um genau die soll es in diesem Buch gehen. Damit sind nicht etwa Scherzfragen gemeint, die absichtlich aufs Glatteis führen sollen. Auch nicht solche, die so vage formuliert sind, dass eine definitive Antwort gar nicht möglich ist. Es handelt sich vielmehr um präzise gestellte, ernsthafte Fragen, welche die Mathematik lange beschäftigt haben. Sie zählten sogar zu den bekanntesten und wichtigsten ihrer Zeit. Aber irgendwann stellte sich heraus, dass sie nicht beantwortet werden können. Und dass man das beweisen kann!
Die Mathematik kann sich nämlich – anders als andere Wissenschaften – gleichsam selbst über die Schulter schauen und mit ihren eigenen Mitteln ihre Grenzen aufzeigen. Wir werden in diesem Buch fünf beeindruckende Beispiele dafür kennenlernen. Es wird um Fragen gehen, die älter als unsere Zeitrechnung sind, aber auch um solche, die bis ins Zeitalter der bemannten Raumfahrt unbeantwortet blieben. Die Beschäftigung mit diesen Problemen konnte jeweils erst durch einen radikalen Wechsel des Blickwinkels zum Abschluss gebracht werden.
Beim ersten Beispiel handelt es sich eigentlich um mehrere verwandte Probleme, die alle aus der Antike stammen. Es geht um geometrische Konstruktionen, bei denen lediglich ein Zirkel und ein unmarkiertes Lineal als Hilfsmittel zugelassen sind. Zahllose Menschen haben sich über einen Zeitraum von etwa 2500 Jahren daran versucht – auch deshalb, weil die Fragestellung ohne jegliche Vorkenntnisse zu verstehen ist. Erst im 19. Jahrhundert konnte bewiesen werden, was schon länger vermutet wurde: Diese Konstruktionen sind prinzipiell unmöglich.
Beim zweiten Beispiel geht es um das Lösen von Gleichungen. Manchmal ist das so einfach, dass die Gelehrten schon vor 4000 Jahren wussten, wie es geht, und heutzutage jede Schülerin und jeder Schüler es in der Mittelstufe lernen muss. Manchmal ist es jedoch unmöglich – obwohl die betreffenden Gleichungen nur unwesentlich komplizierter aussehen als jene aus der Schule. Geahnt hatten einige Mathematiker das schon länger. Aber bis man sich endgültig sicher sein konnte, dass es wirklich nicht geht, mussten erst völlig neue Methoden entwickelt werden, die inzwischen zum Standardrepertoire der modernen Mathematik gehören.
Auch das dritte Beispiel ist mehr als zwei Jahrtausende alt und ebenfalls geometrischer Natur. Allerdings steht in diesem Fall die grundsätzliche Frage im Hintergrund, was Geometrie eigentlich ist und inwieweit sie die Wirklichkeit widerspiegelt, in der wir leben. Die Antwort, die sich schließlich herausschälte, erschütterte das gesamte Fundament der Mathematik und stellte auch scheinbare Gewissheiten der Philosophie infrage.
Die drei bisher genannten Beispiele erwuchsen aus spezifischen Fragestellungen. Das vierte ist dagegen von geradezu existentieller Natur: Es betrifft das Selbstverständnis der gesamten Disziplin. Anfang des 20. Jahrhunderts starteten einige Mathematiker ein ambitioniertes Projekt, mit dem sie die uneingeschränkte Gültigkeit ihrer Wissenschaft gegenüber Zweiflern aus den eigenen Reihen verteidigen wollten. Die Mathematik sollte aus sich selbst heraus mit unwiderlegbaren Argumenten begründen, dass ihre Theoreme «die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit» liefern – wie es in Justizdramen aus Hollywood so schön heißt. Auch in diesem Fall stellte sich im Endeffekt heraus, dass man sich an eine Aufgabe herangewagt hatte, die – beweisbar! – unlösbar ist.
Das fünfte und letzte Beispiel wirkt im Vergleich zu den vorhergehenden auf den ersten Blick unscheinbar. Es handelt von einem eher technischen Problem, das für Laien nicht ohne Weiteres verständlich ist. Dabei geht es um das Unendliche, das wir uns vielleicht vorstellen können, das aber in der Wirklichkeit keine greifbare Entsprechung hat. Dass die Mathematik auch von dieser Frage zeigen konnte, dass man sie nicht beantworten kann, demonstrierte für die Experten jedoch eindrucksvoll, dass sie über einige der Objekte, mit denen sie es täglich zu tun haben, Grundlegendes nicht wissen. Wie bei einem Eisberg bleiben große Teile unter der Wasseroberfläche verborgen und man hat sogar die Gewissheit, dass man diese Teile niemals zu Gesicht bekommen wird.
Wir werden überraschende Querbezüge zwischen diesen fünf Themenkomplexen entdecken und verstehen, dass es erst eines grundsätzlichen wissenschaftsphilosophischen Wandels bedurfte, damit die Relevanz der Unmöglichkeitsbeweise erkannt wurde, um die es in diesem Buch geht. Obwohl die Unlösbarkeit eines Problems zunächst ein negatives Ergebnis zu sein scheint, ergaben sich doch in allen Fällen neue Perspektiven, aus denen wiederum viele weitere Fragen erwuchsen. Durch die Entdeckung des Unmöglichen ist die Mathematik nicht ärmer, sondern reicher geworden.
In der Mathematik geht es nicht um Rechnen, Gleichungen und Formeln, sondern um Ideen. Regelmäßig tauchen revolutionäre neue Ideen scheinbar aus dem Nichts auf und erschließen völlig neue Gebiete oder machen alte obsolet. Einerseits ist es gerade das, was die Mathematik und ihre Geschichte spannend macht. Andererseits kann man diese Essenz oft nur schwer erkennen, wenn man mit der Materie nicht vertraut ist und sich in technischen Details verfängt.
Darum will ich versuchen, diese Ideen so darzustellen, dass man sie ohne spezielle Vorkenntnisse nachvollziehen kann. Mathematische Konzepte lassen sich häufig erklären, ohne auf Fachbegriffe zuzugreifen, die nur für Experten verständlich sind. Das ist der Plan, nach dem ich vorgehen möchte.
Allerdings wird die Lektüre damit nicht zum Kinderspiel. Wichtiger als das, was Sie an Wissen mitbringen, ist das, was Sie an intellektueller Neugier investieren. Das Wort Mathematik kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet sinngemäß «Kunst des Lernens». Um von der Mathematik etwas zu haben, sollte man bereit sein, neue Dinge zu lernen: ungewohnte Sichtweisen, komplexe Argumentationen, befremdlich wirkende Abstraktionen. Das erfordert Geduld und kann zuweilen regelrecht anstrengend sein. Die Belohnung am Ende ist es aber wert: Sie ist das, was der französische Mathematiker und Philosoph Henri Poincaré die «Freude des Verstehens» genannt hat. Ich hoffe, dass dieses Buch eine solche Freude vermitteln kann.
Für Leserinnen und Leser, die tiefer in die Materie eindringen wollen, sind Kästen wie dieser gedacht. Darin werden bestimmte Aspekte etwas ausführlicher behandelt, wenn auch nicht auf Lehrbuchniveau. Man kann solche Einschübe aber auch jederzeit überspringen, ohne den roten Faden zu verlieren.
Die Ideen, die die Mathematik voranbringen, sind immer auch mit denen verknüpft, die diese Ideen hatten – denn Mathematik wird schließlich von Menschen gemacht. Darum wird das Buch auch von diesen Menschen und ihrem Leben erzählen. Allerdings läuft man dabei Gefahr, einige «Helden» herauszugreifen und die Beiträge anderer unerwähnt zu lassen. Mathematik entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern durch die Interaktion und gegenseitige Befruchtung vieler Beteiligter, die leider nicht immer alle gebührend gewürdigt werden können. Außerdem legt man den Mathematikern vergangener Jahrhunderte durch die Übersetzung ihrer Äußerungen in eine moderne Darstellung vielleicht Worte in den Mund, die sie in dieser Form nie geäußert hätten.
Beides ließe sich nur durch ausführliche Studien anhand von Originalquellen vermeiden. Das geht aber über den Anspruch dieses Buchs weit hinaus. Im Zweifelsfall sind die Geschichten über die beteiligten Personen eben nur Geschichten und dienen der farbigen Untermalung der Geschichte der Ideen. Sollten Sie nach der Lektüre mehr über die historische Entwicklung der Mathematik wissen wollen, wäre das ein erfreulicher Nebeneffekt.
Wie schon bei einigen meiner vorherigen Bücher haben Jörg Balzer, Maren Hoberg und Professor Wolfgang Willaschek erste Fassungen des Manuskripts gelesen, mich auf Fehler und Unklarheiten hingewiesen und Vorschläge für Ergänzungen und bessere Formulierungen gemacht. Für diese für mich sehr wertvolle Hilfe bedanke ich mich ganz herzlich. Bei Antje Röttgers und Bernd Schuh, die die Entstehung des Buchs für den Rowohlt Verlag begleitet haben, bedanke ich mich ebenfalls herzlich für die gute Zusammenarbeit und viele hilfreiche Anregungen.
Trotz aller Sorgfalt wird das Buch nicht frei von Fehlern sein. Unter der URLhttps://weitz.de/5UR/ finden Sie daher Errata und weiterführende Informationen. Sollten Sie beim Lesen Fehler finden, die dort noch nicht erwähnt werden, freue ich mich über eine Mitteilung.
Bei meiner Frau schließlich bedanke ich mich für die wunderschönen Illustrationen, mit denen eine inzwischen sieben Jahre währende Tradition fortgesetzt wird – und wie immer auch für ihre Unterstützung, ohne die ich gar keine Bücher schreiben könnte.
Als die Welt Anfang 2020 von der COVID-19-Pandemie überrascht wurde, hatte das weitreichende Konsequenzen und führte zu teilweise heftigen Kontroversen über die richtigen Gegenmaßnahmen. Aber zumindest wusste die Wissenschaft im Prinzip, von welcher Art die Bedrohung war und was man ihr entgegensetzen konnte. Man hatte es mit einem Virus zu tun, das man erforschen konnte. Man konnte an Medikamenten und Impfstoffen arbeiten. Und man konnte Strategien für die Verringerung der Ansteckungsgefahr entwickeln.
Das war in der Geschichte der Menschheit nicht immer so. Als sich die Bewohner der griechischen Insel Delos vor weit über zweitausend Jahren mit einer schweren Seuche konfrontiert sahen, hatten sie nur eine Option: die Befragung ihres Orakels. Orakelsprüche waren damals begehrt und nicht jeder kam in ihren Genuss. Wohlhabende Klienten bekamen eine Art «Privataudienz» mit ausführlichen, zumeist jedoch rätselhaften Antworten. Die Ärmeren hingegen mussten sich – wenn sie überhaupt an die Reihe kamen – mit Fragen begnügen, die mit einem simplen Ja oder Nein beantwortet werden konnten. Die Epidemie, welche die gesamte Insel bedrohte, hatte selbstverständlich auch beim Orakel Priorität. Es wies die Bürger von Delos an, den würfelförmigen Altar in ihrem Apollontempel zu verdoppeln. Aus dieser Aufgabe entwickelte sich ein Problem, das die Mathematik bis ins 19. Jahrhundert beschäftigte und das aufgrund dieser Herkunft häufig als Delisches Problem bezeichnet wird.
Die meisten Menschen werden sich wohl fragen, wieso das eine so große Sache sein solle. Der Altar hatte die Form eines Würfels und sollte nach dem durch das Orakel übermittelten Willen der Götter verdoppelt werden. Das interpretierten die Bürger von Delos als Verdoppelung des Volumens – siehe Abbildung 1.1. Alternativ könnte man es auch als Verdoppelung der Masse deuten, wenn alter und neuer Altar aus demselben homogenen Material bestehen, zum Beispiel Marmor.
Abbildung 1.1
Bekanntlich berechnet man die Fläche eines Quadrats, indem man dessen Seitenlänge mit sich selbst multipliziert: man «quadriert» sie. Das Volumen eines Würfels erhält man, indem man die Seitenlänge zweimal mit sich selbst multipliziert. Abbildung 1.2 demonstriert das schematisch für die Seitenlänge 3. Ein Quadrat mit dieser Seitenlänge besteht aus 3 · 3 – also 9 – Quadraten der Seitenlänge 1. Ein Würfel mit derselben Seitenlänge besteht aus 27 Würfeln der Seitenlänge 1, denn diese Zahl ergibt sich als Resultat der Multiplikation 3 · 3 · 3.
Abbildung 1.2
Nehmen wir der Einfachheit halber an, der alte Altar habe eine Seitenlänge von einem Meter gehabt. (Die tatsächlichen Ausmaße sind für unsere Frage irrelevant. Man könnte ja auch statt in Metern in Ellen oder Klaftern messen oder in einer fiktiven Maßeinheit, die genau «passt».) Das ergibt ein Volumen von einem Kubikmeter beziehungsweise eintausend Litern. Baut man nun einen neuen Altar mit einer Seitenlänge von 126 Zentimetern, so ergibt das ein Volumen, das ziemlich genau zwei Kubikmetern entspricht. Ist man besonders pingelig, so berechnet man 126 · 126 · 126 und kommt auf 2000376 Kubikzentimeter. Das sind sogar 376 Milliliter mehr als die geforderten zwei Kubikmeter. Die Götter müssten damit doch zufrieden sein, oder?
Was also war das Problem? Sollten die Griechen nicht auf diese Lösung gekommen sein? Oder verfügten sie nicht über die Technik, einen Altar nach diesen Vorgaben anzufertigen? Beides können wir ausschließen. Dafür muss man sich nur die aus der klassischen Antike erhaltenen Bauwerke anschauen. Selbst noch ältere Hochkulturen wie beispielsweise jene der Ägypter, die uns die Pyramiden hinterlassen haben, hätten einen solchen Altar wohl bauen können.
Hier geht es um etwas anderes, nämlich um die Genauigkeit. Das Volumen des neuen Altars sollte nicht bei ungefährzwei Kubikmetern liegen, sondern es ging darum, exakt diesen Wert zu erreichen. Veranschaulichen wir uns aber zunächst einmal die Abweichung der oben vorgeschlagenen Lösung vom richtigen Wert. Ein mit Wasser gefüllter Behälter mit einem Fassungsvermögen von zwei Kubikmetern würde für mindestens zehn Vollbäder reichen. Und er hätte ein Gewicht, das dem einer schweren Limousine entspricht. Die oben berechneten 376 Milliliter «Zugabe» passen hingegen locker in Trinkbecher, wie man sie zum Beispiel bei McDonald’s erhält. Anders ausgedrückt: Man läge um weniger als 0,02 Prozent «daneben».
Auch heute noch wäre jeder Handwerker zu Recht stolz auf eine derart genaue Arbeit. Und selbst dann, wenn man die Seitenlänge des Altars mit einer Präzision von einem Zehntel eines Millimeters fertigen könnte – dafür bräuchte man schon die hochentwickelte Technik unserer Tage –, läge man immer noch um einen kleinen Cappuccino (etwa 100 Milliliter) daneben. Nicht einmal die Präzision, mit der Computerchips gefertigt werden, würde zum gewünschten Ergebnis führen: Auch mit der atemberaubenden Genauigkeit von einem Milliardstel eines Meters würde man das angestrebte Volumen von zwei Kubikmetern erneut knapp verfehlen. Das «Problem des perfekten Altars» ist kein technisches, das sich durch bessere Geräte lösen ließe. Es handelt sich um eine mathematische Herausforderung.
Was die Bewohner von Delos schließlich getan haben und wie viel Wahrheit überhaupt in der Geschichte um das Orakel steckt, werden wir nach mehr als zweitausend Jahren nicht mehr erfahren. Das Delische Problem, über das bereits in der Antike berichtet wurde und das noch in der Neuzeit viele schlaue Köpfe beschäftigte, ist jedenfalls eine theoretische Frage, bei der es nicht um die Konstruktion eines realen Würfels geht. Um zu verstehen, was es interessant macht, müssen wir in die Gedankenwelt der klassischen griechischen Mathematik eintauchen.
Aber zunächst sollten wir klären, woher die vorhin erwähnten 126 Zentimeter kommen. In der praktischen und inzwischen weltweit gebräuchlichen mathematischen Kurzschreibweise würden wir die zu ermittelnde Seitenlänge des Würfels mit einem Buchstaben bezeichnen, typischerweise mit x. Dass der Würfel das doppelte Volumen des ursprünglichen Würfels haben soll, bedeutet, dass sich 2 ergeben muss, wenn man x · x · x berechnet; noch kürzer: x3 = 2. Die gesuchte Lösung dieser Gleichung nennt man die dritte Wurzel bzw. die Kubikwurzel von 2 und schreibt dafür . Im 21. Jahrhundert kann man das einfach in einen Taschenrechner oder die entsprechende App eines Smartphones eintippen. Die angezeigte Antwort wird jeweils eine Zahl sein, die mit 1,259921… anfängt. Rundet man auf zwei Stellen nach dem Komma, so ergibt sich 1,26. Voilà!
Zur Zeit der Seuche auf Delos gab es natürlich weder Taschenrechner noch Smartphones. Und selbst Computer können nicht zaubern, sondern arbeiten bei der Berechnung der Kubikwurzel nur Anweisungen ab, die ihnen Menschen vorgegeben haben. Bestimmte Verfahren zur näherungsweisen Berechnung von Wurzeln waren schon vor über zweitausend Jahren in verschiedenen Teilen der Welt bekannt. Antike griechische Mathematiker hätten sicher einen ziemlich guten Wert für die Seitenlänge ermitteln können. Darum ging es ihnen jedoch nicht.
Wenn im letzten Absatz von Näherung die Rede ist, dann steht dahinter implizit das Wissen, dass man die besagte Wurzel gar nicht exakt berechnen kann. Heutzutage erfährt man das bereits in der Schule, nimmt es in der Regel achselzuckend zur Kenntnis und vergisst es dann höchstwahrscheinlich wieder. Als diese Tatsache allerdings etwa 500 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung erstmals entdeckt wurde, war das für die Beteiligten ein Schock.
Zugeschrieben wird die Entdeckung den Pythagoreern. Dabei handelte es sich um eine Gruppe, die sich im sechsten vorchristlichen Jahrhundert um den sagenumwobenen Pythagoras von Samos versammelt hatte und von der man im Nachhinein nicht mehr so genau sagen kann, ob es eine politische Gruppierung, ein religiöser Kult oder eine philosophische Schule war. Dass es sich jedenfalls nicht ausschließlich um Wissenschaftler im heutigen Sinne handelte, ist für die damaligen Ereignisse nicht unwesentlich. Wir wollen uns zunächst die für den Fortgang unserer Geschichte entscheidende Erkenntnis anschauen. Es ging dabei ursprünglich nicht um dreidimensionale Würfel, sondern um zweidimensionale Quadrate und um die Aufgabe, die Länge der Diagonale eines Quadrats zu ermitteln, wenn die Seitenlänge bekannt ist. Siehe Abbildung 1.3: Man kennt a und ist an b interessiert.
Abbildung 1.3
Die Pythagoreer kannten natürlich den Satz des Pythagoras, der – obwohl er nach ihrem Anführer benannt ist – schon Jahrhunderte vorher den Babyloniern, Ägyptern und Indern geläufig war. Dieser wohl bekannteste Satz der gesamten Mathematik stellt einen Zusammenhang zwischen Seitenlängen in rechtwinkligen Dreiecken her. Für das in Abbildung 1.3 hervorgehobene Dreieck besagt er, dass b2 = a2 + a2 gelten muss oder noch kürzer: b2 = 2a2.
Wir würden heute sagen, dass die Sache damit klar ist. Man muss die Gleichung «nur noch» nach b auflösen. Die Pythagoreer sahen das völlig anders. Eine Lösung wie die 1,26 von vorhin oder 1,414 wäre für sie – abgesehen von der ihnen nicht vertrauten Schreibweise – keine akzeptable Antwort gewesen. Nach ihrem Selbstverständnis mussten sowohl a als auch bZahlen sein und damit waren ausschließlich eins, zwei, drei, vier und so weiter gemeint: die Zahlen, die man zum Zählen verwendet und die wir inzwischen als natürliche Zahlen bezeichnen. Diese Zahlen und ihre Verhältnisse zueinander spielten in der pythagoreischen Sicht der Welt – nicht nur der Mathematik – eine zentrale Rolle, die häufig durch das Diktum «Alles ist Zahl» zusammengefasst wird.
1,26 und 1,414 mögen aus damaliger Sicht keine Zahlen sein, aber 126 und 1414 sind sicher Zahlen. In diesen konkreten Fällen kann man sich also damit behelfen, dass man die Maßeinheit wechselt: statt in Metern misst man in Zenti- oder Millimetern. Und so stellte man sich auch die Lösung der Aufgabe mit dem Quadrat vor. Man suchte ein sogenanntes gemeinsames Maß für a und b: eine Maßeinheit, in der sowohl a als auch b (natürliche) Zahlen sind. Mit simpler Bruchrechnung lässt sich jedoch begründen, dass das nicht möglich ist. (Man bezeichnet deshalb a und b als inkommensurabel, was übersetzt heißt, dass man ein gemeinsames Maß nicht finden kann.)
Ließe sich die Gleichung b2 = 2a2 wie gewünscht lösen, dann könnte man beide Seiten durch a2 teilen und käme auf b2/a2 = 2. Wenn wir davon ausgehen, dass a und b natürliche Zahlen sind, dann ist die linke Seite ein Bruch – und zwar das Quadrat des Bruchs b/a. Wir wissen aus der Schule, dass man jeden Bruch durch Kürzen so darstellen kann, dass Zähler und Nenner teilerfremd sind: Aus 60/80 kann man beispielsweise 3/4 machen.
b/a lässt sich also als p/q schreiben, wobei p und q teilerfremde natürliche Zahlen sind. Dann muss aber einerseits p2/q2 = 2 gelten und andererseits sind selbstverständlich auch p2 und q2 teilerfremd. Da rechts vom Gleichheitszeichen eine natürliche Zahl steht, ist das nur möglich, wenn der Nenner q2 die Zahl 1 ist. Dies wiederum würde implizieren, dass p2 den Wert 2 hat. Aber eine natürliche Zahl, deren Quadrat 2 ist, gibt es nicht: das Quadrat von 1 ist 1 und alle anderen Quadratzahlen sind größer als 2.
Diese Begründung lässt sich sofort verallgemeinern: Es klappt auch nicht, wenn man 2 durch 3 oder 5 oder 42 ersetzt. Die Gleichung geht nur auf, wenn man es mit Quadratzahlen wie 4, 9 oder 16 zu tun hat. Und wenn man den Exponenten 2 durch 3 oder eine andere Zahl ersetzt, kommt man zu analogen Resultaten.
Es gibt das gesuchte gemeinsame Maß nicht! Das war der vorhin erwähnte Schock. Wenn alles Zahl ist, wie kann dann so etwas Grundlegendes wie das Verhältnis der Diagonale zur Seitenlänge eines Quadrats nicht das Verhältnis zweier Zahlen sein? Die moderne Sicht der Dinge ist, dass der Quotient b/a eine Zahl ist, die man als irrational bezeichnet. (Es handelt sich um die Zahl, für die wir heute schreiben und deren ungefährer Wert 1,414214 ist.) Das Adjektiv drückt schlicht und einfach aus, dass diese Zahl kein Bruch ist, dass also nicht sowohl a als auch b natürliche Zahlen sein können. Die Mathematik hat in der Moderne im Vergleich zur Antike ihren Zahlbegriff radikal erweitert. Darauf kommen wir später wieder zurück.
Die klassische griechische Mathematik wählte einen anderen Weg und determinierte damit für viele Jahrhunderte die Art und Weise, wie diese Wissenschaft betrieben wurde. Gleichzeitig beginnt mit den Griechen überhaupt erst die Mathematik als Wissenschaft. Mathematik als Werkzeug hatte es bereits lange vorher gegeben. Schon in Mesopotamien und Ägypten verwendete man sie bei der Berechnung von Steuern sowie für die Landvermessung, den Handel, die Architektur und die Astronomie. In Griechenland wurde sie jedoch in den Händen einer kleinen Elite wohlhabender Männer zur l’art pour l’art. Man betrieb Mathematik um der Erkenntnis willen und grenzte sich explizit von der Mathematik ab, die von Menschen geringeren sozialen Standes wie ein Handwerk ausgeübt wurde. Hätte man für die Quadratwurzel aus zwei einen Näherungswert akzeptiert, dann hätte man sich auf deren Niveau herabgelassen.
Stattdessen nahm man den Standpunkt ein, dass die Wahrheit nicht in der Welt der Zahlen, sondern in der Geometrie zu suchen sei. Denn sowohl die Diagonale als auch die Seiten eines Quadrats existierten ja zweifelsohne als geometrische Objekte. Die Geometrie wurde zur «wahren» Mathematik, der sich alles andere unterzuordnen hatte. Und das Delische Problem, bei dem es längst nicht mehr um die Seuche und den Orakelspruch ging, wurde dadurch zu einer Aufgabe, die man folgendermaßen formulieren kann: Vorgegeben ist eine Strecke der Länge a. Man konstruiere geometrisch eine Strecke der Länge b, so dass b3 genau das Doppelte von a3 ist. Siehe Abbildung 1.4. Macht man alles richtig, dann ist b die Seitenlänge des großen Würfels in Abbildung 1.1, wenn a die des kleinen ist.
Abbildung 1.4
Um zu verstehen, wie die Sache mit der geometrischen Konstruktion gemeint ist, schauen wir uns erst einmal einen einfachen Fall an, der bereits in der Antike eine simple Fingerübung war. Wir verdoppeln nicht das Volumen eines Würfels, sondern die Fläche eines Quadrats, d. h., wir konstruieren zu derselben vorgegebenen Strecke a eine Strecke b mit der Eigenschaft b2 = 2a2. Das ist die Aufgabe von vorhin, und Abbildung 1.3 zeigt die Lösung: Wir müssen lediglich ein Quadrat der Seitenlänge a zeichnen. Dessen Diagonale ist nach dem Satz des Pythagoras die Seitenlänge eines Quadrats mit der doppelten Fläche. Fertig!
Was ist damit gewonnen? Das Verhältnis der Längen b und a zueinander ist nach wie vor irrational. Wenn wir a als Zahl im damaligen Sinne genau messen könnten, dann könnten wir mit demselben Maßstab b nicht exakt als Zahl angeben und umgekehrt. Aber darum geht es nicht. Das Messen von Längen, Flächen, Winkeln und so weiter ist ohnehin in der realen Welt immer ungenau. Es fällt in den Bereich der Anwendung, mit dem die antiken Mathematiker nichts zu tun haben wollten. In ihrer Sichtweise, die insbesondere durch den einflussreichen Philosophen Platon propagiert wurde, sind geometrische Figuren wie Kreise und Strecken ideale Objekte, die in perfekter Form lediglich in unserer Vorstellung existieren. Genauer: in einem eigenständigen, real existierenden «Reich der Ideen», das wir nach Platon nur auf geistigem Wege erschließen können. In der «unreinen» Welt, die uns umgibt, haben wir es mit schlechten Kopien dieser Objekte zu tun: es gibt in der Realität weder perfekte rechte Winkel noch Linien ohne Breite. Wenn wir jedoch eine Konstruktion wie die der Diagonale beschreiben, dann ist sie in der idealen Welt der Geometrie die perfekte Lösung der Aufgabe, und wir können das durch Nachdenken erkennen. Grafiken wie Abbildung 1.3 können beim Vermitteln der Ideen hilfreich sein, aber auch sie sind selbstverständlich nur unzureichende Approximationen.
Die sehr ähnlich klingende Aufgabe mit der Forderung b3 = 2a3 stellte sich allerdings als viel härtere Nuss heraus. Nichtsdestotrotz wurden bereits in der Antike diverse geometrische Lösungen für dieses Problem gefunden. Wir werden uns nun eine davon anschauen und dann klären, warum solche Ansätze nicht akzeptiert wurden.
Die besagte Lösung stammt aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert von einem Mathematiker namens Menaichmos und wird durch Abbildung 1.5 illustriert. Die vorgegebene Strecke der Länge a wird rechtwinklig zu sich selbst ein zweites Mal gezeichnet und dann in der einen Richtung halbiert, in der anderen geviertelt. Durch entsprechende parallele Linien, die in der mittleren Skizze zu sehen sind, erhält man zwei Schnittpunkte. Durch diese Schnittpunkte zieht man nun Parabeln, die jeweils symmetrisch zu einer der «Achsen» sind und durch deren Ursprung gehen. Das sieht man in der Abbildung rechts. Die Projektionen der beiden gemeinsamen Punkte der Parabeln auf die horizontale Achse haben den gesuchten Abstand b. Das ist eine geometrische Konstruktion, und sie führt zum richtigen Ergebnis. Was gibt es daran auszusetzen?
Abbildung 1.5
Die Argumentation damals war wesentlich umständlicher, aber wenn man die Brille der modernen Mathematik aufsetzt, kann man sich ohne großen Aufwand davon überzeugen, dass die Lösung korrekt ist. Dazu arbeitet man mit Koordinaten (siehe nächstes Kapitel), wählt den Maßstab so, dass a = 1 gilt, und betrachtet die Parabeln wie in der Schule als Funktionsgraphen. Die nach oben offene Parabel geht dann durch den Punkt (1/2,1/4) und erfüllt damit die Gleichung y = x2. Die andere Parabel geht durch (1/2,1) und erfüllt x = y2/2 (wobei hier x von y abhängt und nicht wie üblich y von x). Der rechte Schnittpunkt der Kurven erfüllt beide Gleichungen und muss daher, wie man leicht nachrechnet, die x-Koordinate haben.
Über das Leben von Menaichmos ist – wie über das der meisten griechischen Mathematiker seiner Epoche – äußerst wenig bekannt. Er soll Mitglied der legendären Akademie von Platon gewesen sein. Angeblich war er auch Lehrer Alexanders des Großen, aber es gibt dafür keine handfesten Belege. Aufgrund seiner Arbeiten zum Delischen Problem gilt er heutzutage jedenfalls als der Entdecker der Kegelschnitte, zu denen außer Parabeln auch Hyperbeln und Ellipsen gehören. Und vor einigen Jahren wurde ein Asteroid nach ihm benannt.
In der Mathematik brütet man häufig sehr lange über einer Frage. Die Freude, wenn man endlich eine zufriedenstellende Antwort gefunden hat, ist dann entsprechend groß. Noch erfüllender ist es, wenn man dabei Gedanken entwickelt hat, die vorher noch nie jemand anders hatte. Umso enttäuschender dürfte es für Menaichmos gewesen sein, dass sein Ergebnis nicht als Lösung des Delischen Problems in die Geschichte einging, weil es nicht als vollwertig anerkannt wurde.
Für die Zeitgenossen von Menaichmos waren dessen Parabeln nämlich unerlaubte Hilfsmittel, weil Kreise und Geraden nach der platonischen Lehre als die einzigen «vollkommenen» geometrischen Figuren galten. Als akzeptabel wurde nur anerkannt, was auf diesen Figuren basierte. Für geometrische Konstruktionen waren daher lediglich Zirkel und Lineal als Werkzeuge zugelassen. Das Lineal konnte man verwenden, um eine gerade Linie durch zwei vorhandene Punkte zu ziehen oder um eine vorhandene gerade Linie zu verlängern. Den Zirkel konnte man natürlich verwenden, um Kreise zu zeichnen. Da man sich in der «idealen Welt» Platons befand, zog man makellose Linien ohne Breite und arbeitete mit Punkten ohne Ausdehnung. Zirkel und Lineal waren Instrumente perfekter Genauigkeit und immer so groß oder klein wie nötig. Allerdings – man erinnere sich an die Ablehnung der «handwerklichen» Mathematik – hatte das Lineal keine Markierungen, mit denen man Abstände hätte messen können. Man konnte lediglich den Zirkel verwenden, um vorhandene Abstände von Punkten zu übertragen.
Abbildung 1.6
Abbildung 1.6 zeigt an einem einfachen Beispiel, wie das gemeint ist: Man verwendet den Zirkel, um zu einer vorgegebenen Strecke der Länge a zwei Kreise zu ziehen, die jeweils als Mittelpunkt einen der Endpunkte der Strecke haben und durch den gegenüberliegenden Endpunkt verlaufen. Die Schnittpunkte der beiden Kreise verbindet man mit dem Lineal und hat dadurch sowohl die ursprüngliche Strecke halbiert als auch eine Gerade konstruiert, die senkrecht auf dieser steht. Die ersten Schritte der Lösung von Menaichmos sind daher auch nicht zu beanstanden. Nur seine Parabeln hätte er allein mit Zirkel und Lineal eben nicht zeichnen können. Solche Herangehensweisen galten als «mechanisch» und waren nicht akzeptabel im Sinne der strengen Auslegung.
Die antike Mathematik schränkte sich also freiwillig aufgrund philosophischer Erwägungen sehr stark ein. Und diese Einschränkungen wurden von den nachfolgenden Generationen übernommen. Konstruktionen mit Zirkel und Lineal galten über viele Jahrhunderte als der Gipfel mathematischer Tätigkeit. Und einige der gesuchten Konstruktionen wurden zu «klassischen» Problemen, weil sie sich allen Lösungsversuchen widersetzten. Das Delische Problem der Würfelverdoppelung ist eines davon, aber es gibt noch zwei weitere, zu denen es zwar keine Legenden mit Orakeln und Seuchen gibt, die aber mindestens ebenso berüchtigt sind.
Beim zweiten Problem geht es um Winkel. Es ist einfach, mit Zirkel und Lineal einen Winkel zu halbieren. Das wird in Abbildung 1.7 demonstriert. Der graue Winkel links soll in zwei gleich große Winkel zerlegt werden. Dafür zeichnet man einen Kreis mit der «Spitze» des Winkels als Mittelpunkt. Dieser Kreis schneidet beide Schenkel des Winkels in einem Punkt. Um jeden dieser Schnittpunkte als Mittelpunkt zieht man nun ebenfalls Kreise derselben Größe. Verbindet man deren Schnittpunkt mit der Winkelspitze, also dem Mittelpunkt des ersten Kreises, durch eine gerade Linie (in der Abbildung gestrichelt), halbiert diese wie gewünscht den Winkel.
Abbildung 1.7
Aber wie drittelt man einen Winkel? Das klingt nach einer harmlosen Variante der gerade betrachteten Konstruktion. Aber keiner der großen griechischen Mathematiker konnte die Frage beantworten und auch keiner ihrer Nachfolger im Mittelalter oder in der Neuzeit. Wohlgemerkt geht es hier um eine Konstruktion, mit der man beliebige vorgegebene Winkel dritteln kann. Einige spezielle Winkel – etwa rechte Winkel – kann man durchaus dritteln.
Und schließlich noch die dritte Aufgabe, die wohl berühmteste der drei: Zu einem vorgegebenen Kreis konstruiere man ein Quadrat, das exakt dieselbe Fläche wie dieser hat – siehe Abbildung 1.8. Diese sogenannte Quadratur des Kreises ist mit der Zeit so populär geworden, dass sie inzwischen in vielen Sprachen als Metapher für ein unlösbar scheinendes Problem dient.
Abbildung 1.8
Verdoppelung des Würfels, Dreiteilung des Winkels, Quadratur des Kreises, mit Zirkel und Lineal nach strikten Regeln: das sind die drei klassischen Konstruktionsprobleme der Antike, mit denen die Mathematik über zwei Jahrtausende vergeblich rang. Im Folgenden wird sich zeigen, dass sich alle drei schließlich als unlösbar herausstellten. Um die Vergeblichkeit jeglicher weiterer Lösungsversuche einzusehen, musste die Mathematik sich aber gleichsam erst neu erfinden und die «Scheuklappen» des griechischen Erbes loswerden.
Sollte das Orakel die Aufgabe der Vergrößerung des Altars tatsächlich so streng geometrisch gemeint haben, wie sie damals interpretiert wurde, dann wäre das wohl als verklausulierter Hinweis darauf zu deuten, dass die Menschen gegen die Epidemie machtlos seien …
Abbildung 2.1: René Descartes (1596–1650)
Die antike griechische Mathematik hatte wegen der inkommensurablen Größen die Zahlen gleichsam aus der Geometrie verbannt. Erst im 17. Jahrhundert kehrten diese zögerlich zurück. Den Weg geebnet hat ihnen dabei ein Mann, den Zeitgenossen als «klein und schmächtig, mit einem großen Kopf und einer markanten Nase» beschrieben: der Franzose René Descartes. Descartes, der nach dem Tod der Mutter von seiner Großmutter und einer Amme großgezogen wurde, zog nach einem Jurastudium einige Jahre als Soldat und Pilger quer durch Europa und entwickelte dabei den Ehrgeiz, ganz neue Wege zur systematischen «Erforschung der Wahrheit» zu finden. Er stellte unter anderem umfassende physikalische und physiologische Theorien auf, die sich später zwar im Detail als falsch erweisen sollten, die aber nichtsdestotrotz wegweisend waren. Descartes wurde damit zum Begründer des sogenannten Rationalismus und wird häufig sogar als Vater der modernen Philosophie bezeichnet. Auch seine Bedeutung für die Entwicklung der Mathematik kann man schwerlich überschätzen.
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