Fünfzehn Tage sind für immer - Vitor Martins - E-Book
SONDERANGEBOT

Fünfzehn Tage sind für immer E-Book

Vitor Martins

0,0
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Own-Voice-Autor Vitor Martins schreibt authentisch und einfühlsam über Body Positivity, LGBTQIA+ Themen, Mobbing, Familie, Freundschaft & Liebe

Der 17-jährige Felipe ist nicht mollig oder hat schwere Knochen. Nein, er ist da ganz realistisch: Felipe ist dick. Deswegen braucht er auch niemanden, der ihn daran erinnert - was seine Mitschüler trotzdem nicht davon abhält. Zum Glück sind bald Ferien! Endlich Ruhe und Zeit für Felipes Lieblingsbeschäftigungen: Serien schauen und ganz viel lesen. Aber dann kommt alles ganz anders, denn seine Mutter eröffnet ihm, dass Nachbarsjunge Caio die nächsten fünfzehn Tage bei ihnen wohnen wird. Felipe ist verzweifelt, denn a) ist er total in Caio verliebt seit ... na ja ... immer; und b) ist Felipes Liste an Unsicherheiten unendlich lang. Wie soll er da bloß die Ferien mit seinem Schwarm überleben?


Ein lockerleicht erzählter Young-Adult-Roman mit tiefgründigen Themen und Setting Brasilien

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Trigger

Widmung

Vorher

Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7

Tag 8

Tag 9

Tag 1

0

Tag 1

1

Tag 1

2

Tag 1

3

Tag 1

4

Tag 1

5

Danksagung

Leseprobe

Vitor Martins

Übersetzung aus dem Amerikanischen Englisch von Svantje Volkens

Für die Originalausgabe:Titel der Brasilianischen Originalausgabe:»Quinze Dias«Titel der Amerikanischen Ausgabe:»Here the whole time«

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München unter Verwendung von Motiven von © filitova_art – stock.adobe.com; redstone – shutterstock.com; Johannes Wiebel | punchdesign

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplus.de)

ISBN 978-3-7517-2386-2

one-verlag.de

luebbe.de

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Dazu findet ihr eine Triggerwarnung auf S. 281.

ACHTUNG: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer Team vom ONE-Verlag

Für alle, die im Pool schon malihr T-Shirt angelassen haben

Vorher

Ich bin fett.

Ich bin nicht »mollig« oder »rundlich«, und ich habe auch keine »schweren Knochen«. Ich bin massig, ich nehme viel Platz ein, und auf der Straße werde ich komisch angeguckt. Natürlich gibt es Leute auf der Welt, die viel größere Probleme haben als ich hier in Brasilien – aber ich habe in der Schule schon genug Schwierigkeiten, um mich auch noch um andere zu sorgen. Die letzten zweieinhalb Jahre in der Oberstufe waren meine persönliche Hölle.

Manchmal kommt es mir so vor, als gäbe es unendlich viele gemeine Spitznamen für dicke Leute. Damit will ich nicht sagen, dass sie alle besonders kreativ seien, aber die endlose Liste von Beleidigungen, die meine Mitschülerinnen und Mitschüler sich ausdenken, beeindruckt mich immer wieder. Es wäre so viel unkomplizierter, wenn sie mich einfach Felipe nennen würden.

Seit zu Beginn des Schuljahres im Erdkundeunterricht ein Stuhl unter mir zusammengebrochen ist, singen die Leute immer »Wrecking Ball«, wenn sie im Flur an mir vorbeikommen. Zwei Wochen später ist einem anderen Jungen in meiner Klasse dasselbe passiert, aber ihm singt niemand wegen eines kaputten Stuhls Miley Cyrus vor. Ihr könnt es euch vielleicht denken: Er ist dünn.

Ich bin schon immer fett gewesen, und nach siebzehn Jahren in meinem Körper bin ich Experte darin, dumme Kommentare zu ignorieren. Was nicht unbedingt heißt, dass ich mich daran gewöhnt habe. Es ist schwer, sich daran zu gewöhnen, täglich mit einer Abrissbirne verglichen zu werden. Ich habe mich nur daran gewöhnt, so zu tun, als meinten sie jemand anderen.

Letztes Jahr habe ich heimlich so eine Teenie-Zeitschrift mit Boyband-Postern gekauft. Ich mag Boybands zwar (mehr, als ich je zugeben würde), aber überzeugt hatte mich die Aufschrift auf dem Cover: »Sei du selbst! So fühlst du dich endlich wohl in deinem Körper!«

In dem Artikel ging es darum, dass man als mehrgewichtiger Teenager sein Gewicht irgendwie kompensieren muss, wenn man cool sein und Freunde haben will. Wenn man zum Beispiel total witzig oder superstylish ist, fällt angeblich niemandem auf, dass man dick ist.

Ich habe darüber nachgedacht, wie ich mein Gewicht wettmache. Mir ist nichts eingefallen.

Also, ich persönlich finde mich schon ziemlich lustig. Im Internet lieben mich die Leute. (Schon 543 Follower bei Twitter!) Aber im echten Leben komme ich als totaler Loser rüber. Ich bin auf den ersten Blick schon unten durch. Und mein Style? Haha. Der besteht aus Turnschuhen, Jeans und einem einigermaßen sauberen grauen T-Shirt. Coole Klamotten gibt es nicht in Größe XXL.

Den Rest der Zeitschrift habe ich kurz überflogen, das »Welcher Promi ist dein BFF?«-Quiz gemacht (Taylor Swift) und sie dann weggeworfen. Ich wollte nicht daran erinnert werden, dass ich nichts zu bieten habe.

Aber ab heute wird alles anders. Heute ist der letzte Schultag vor den Winterferien – der Tag, auf den ich mich schon seit Beginn des Schuljahres freue. Die Winterferien sind zweiundzwanzig Tage lang. Zweiundzwanzig glorreiche Tage, frei von Witzen auf meine Kosten, Spitznamen und gehässigen Blicken.

Ich stehe früh auf, um auf alle Fälle rechtzeitig zur Schule zu kommen. Als ich die Küche betrete, ist meine Mutter schon wach und pinselt an einer Leinwand herum. Vor drei Jahren hat sie ihren Job als Steuerberaterin an den Nagel gehängt, um Künstlerin zu werden. Und es ist auch drei Jahre her, seit unsere Küche das letzte Mal normal aussah. Jetzt stapeln sich auf jeder Oberfläche Leinwände, Farbdosen und halbfertige Tonfiguren.

»Guten Morgen, mein Engel«, sagt sie mit einem Lächeln, das so früh am Morgen unmöglich sein sollte.

Meine Mãe sieht umwerfend aus. Im Ernst. Sie hat große, ausdrucksvolle Augen, ihr dickes Haar ist immer hochgesteckt – und sie ist schlank. Was bedeutet, dass mein Pai, der abgehauen ist, als er herausfand, dass Mãe schwanger war, mir seine Fettgene vererbt hat. Danke, Vater.

»Guten Morgen. Du hast Farbe am Kinn. Aber du siehst trotzdem schön aus«, begrüße ich sie eilig, während ich mir ein Käsesandwich schnappe und mich nach meinem Schlüssel umsehe.

»Felipe, ich weiß nicht, ob ich es dir schon gesagt habe, aber heute Nachmittag ...«

»Sorry, keine Zeit, bin schon zu spät dran! Bis später, hab dich lieb, tschüss!«, antworte ich und ziehe rasch die Wohnungstür hinter mir zu.

Eigentlich bin ich nie zu spät, aber meine Angst redet mir ein, dass ich die Schule schneller hinter mich bringe, wenn ich früher da bin. Was leider überhaupt keinen Sinn ergibt.

Ich drücke dreimal mehr auf den Fahrstuhlknopf, als nötig gewesen wäre, während ich mir den Rest meines Sandwiches in den Mund stopfe. Dann öffnet sich die Tür – und da steht er. Caio, mein Nachbar aus Apartment 57. Schnell schlucke ich den Bissen runter, wische mir kurz mit der Hand über das Kinn, um potenzielle Krümel zu entfernen, und betrete den Fahrstuhl.

Mein gehauchtes »Guten Morgen« ist so leise, dass ich es selbst kaum höre. Caio antwortet nicht. Er hat Kopfhörer in den Ohren und die Nase in einem Buch. Unweigerlich frage ich mich, ob er wirklich beim Lesen Musik hört oder ob er die Kopfhörer nur als Attrappe benutzt, damit ihn niemand stört. Falls Letzteres zutrifft, würde ich es Caio aus Apartment 57 nicht verübeln. Das mache ich nämlich auch immer.

Der Fahrstuhl braucht ungefähr vierzig Sekunden bis ins Erdgeschoss, aber es fühlt sich an, als vergingen vierzig Jahre, bis sich die Tür wieder öffnet. Ich stehe wie versteinert da, während Caio hinaustritt, als habe er überhaupt nicht bemerkt, dass ich da bin. Bevor ich das Gebäude verlasse, bleibe ich noch drei Minuten im Flur stehen.

***

Der letzte Schultag zieht sich. Zum Glück muss ich nur noch einen Geschichtsaufsatz abgeben und eine Philosophieklausur schreiben. Ich bin als Erster mit der Arbeit fertig und beeile mich, aus dem Klassenzimmer zu kommen.

»Schon fertig, Pudding?«, sagt irgendwer, als ich mich hinter meinem Tisch hervorquetsche.

Professora Dora, die Lehrerin, nimmt meine Klausur entgegen, schaut mir tief in die Augen und sagt: »Ich wünsche dir schöne Ferien, Felipe.« Ihr Blick ist mitfühlend, als wollte sie eigentlich sagen: »Ich weiß, dass die Beleidigungen an dir nagen, aber lass den Kopf nicht hängen. Du bist stark. Und es ist absolut nichts verkehrt damit, dick zu sein. Mir ist bewusst, dass es unangebracht ist, das zu sagen, weil ich sechsundfünfzig Jahre alt und deine Lehrerin bin, aber du kannst dich echt sehen lassen.«

Vielleicht bin ich aber auch doch nicht so gut darin, mitfühlende Blicke zu interpretieren, und sie wollte mir wirklich nur schöne Ferien wünschen.

Als ich den Flur betrete, verabschiedet sich gerade eine Gruppe von Mädchen voneinander – und glaubt es oder nicht: Sie weinen dabei. Als hätten sie vergessen, dass die Winterferien nur zweiundzwanzig Tage lang sind. Oder dass wir in einer Kleinstadt wohnen, in der man nur den Kopf aus dem Fenster strecken muss, um die halbe Schule die Straße entlangspazieren zu sehen. Oder dass es das Internet gibt.

Wenn mein Leben ein Musical wäre, würde ich ein Lied über Freiheit singen, während ich durch das Schultor gehe, und hinter mir würden sich Menschenmengen versammeln, die zu einer einstudierten Choreografie tanzen. Aber mein Leben ist kein Musical, und als ich das Schulgelände verlasse, ruft mir jemand »Puddiiiiing!« hinterher. Ich senke den Blick und laufe weiter.

***

Mein Wohnkomplex ist nicht weit von der Schule entfernt, nur eine Viertelstunde zu Fuß. Ich laufe immer zur Schule und zurück, damit ich eine Antwort parat habe, wenn mein Arzt mich nach meinen sportlichen Aktivitäten fragt.

Das einzige Problem dabei ist der Schweiß. Auf meiner Liste von Dingen, die ich hasse, steht Schweiß direkt unter meinen Selbstwertproblemen und meinen bezaubernden Mitschülern.

Als ich zu Hause ankomme, sind die Schweißrinnsale in meinem Gesicht bereits zu Sturzbächen angewachsen. Meine Mutter ist genau da, wo ich sie zurückgelassen habe, nur hat sie viel mehr Farbflecken auf ihrer Kleidung, und ihr Bild ist fast fertig. Heute hat sie blaue Kreise gemalt (sie hat schon seit ein paar Monaten eine Blauphase), die aus einem bestimmten Winkel aussehen wie zwei sich küssende Delfine. Glaube ich zumindest.

Abgesehen vom üblichen Chaos stehen Töpfe auf dem Herd, und es riecht nach Mittagessen. Nach richtigem Mittagessen, nicht nur nach den übrig gebliebenen Yakisoba, die wir uns gestern Abend bestellt haben. Ich bin ganz aufgeregt bei dem Gedanken, die Ferien mit einer richtigen Mahlzeit zu beginnen.

»Hallo Jungs. Wie war die Schule?«, fragt Mãe, ohne von ihrem Bild aufzublicken.

»Mãe, das letzte Mal, als ich nachgeschaut habe, hattest du nur einen Sohn.«

»Oh, ich dachte, ihr wärt zusammen gekommen. Du und Caio, aus Apartment 57.« Sie dreht sich um und küsst mich auf die Stirn.

Ich bin verwirrt, aber meiner Mutter scheint das nicht aufzufallen, denn sie fügt dem nichts hinzu. Ich gehe in mein Zimmer, um meinen Rucksack abzulegen, und stelle überrascht fest, dass es sauber ist. Mãe hat das Bett frisch bezogen, mein Regal aufgeräumt und die Socken unter dem Bett eingesammelt.

»Mãe! Was hast du mit meinem Zimmer gemacht? Wo sind meine Socken?«, rufe ich.

»In der Schublade! Kannst du dir vorstellen, wie peinlich es wäre, wenn unser Nachbar elf Paar Socken in deinem Zimmer verstreut fände?«, ruft sie zurück.

Elf? Wow. Ganz schön beeindruckend.

Ich gehe zurück in die Küche, damit ich nicht weiter schreien muss. »Wie war das mit dem Nachbarn?«

»Habe ich dir das nicht gesagt? Er kommt heute. Caio übernachtet für fünfzehn Tage hier, während seine Eltern auf einer Konferenz über Pinguine sind. Oder vielleicht fahren sie auch in ihre zweiten Flitterwochen. Wer weiß. Auf jeden Fall hat Sandra mich gefragt, ob ich ein Auge auf Caio haben könnte, während sie weg sind. Das hat mich ein bisschen überrascht, weil er ja schon alt genug ist, um allein zu Hause zu bleiben, oder? Aber mir macht es keine Umstände, und er ist ein netter Junge.«

Mit jedem ihrer Worte wächst mein Entsetzen.

»Das hast du mir nicht gesagt! Wir können jetzt keinen Gast haben, nicht in den Winterferien – und für fünfzehn Tage! Ich habe so viel vor!«

»Im Internet surfen und Netflix schauen?« Mãe verdreht die Augen. »Weltbewegende Pläne, Felipe.«

Sie kennt mich zu gut.

»Aber ... aber ... hat er denn keine Verwandten? Kann er nicht doch allein zu Hause bleiben? Du bist doch überhaupt nicht mit seiner Mutter befreundet! Wer kommt denn bitte auf den Gedanken, einen Teenager einer Fremden anzuvertrauen, statt ihn einfach allein zu Hause zu lassen?«

»Na ja, wir sind nicht gut befreundet, aber wir unterhalten uns manchmal auf dem Flur. Sie hält mir immer die Fahrstuhltür auf. Und als du und Caio noch jünger wart und zusammen im Pool gespielt habt, hatten wir viel miteinander zu tun. Das waren schöne Zeiten. Aber egal. Deck bitte den Tisch und hilf mir in der Küche, er kann jeden Moment hier sein!«

Ich stehe nur komplett ungläubig da. Mein Gesicht ist verschwitzt und starr vor Schock. Vermutlich sehe ich aus wie ein Gemälde, das meiner Mutter misslungen ist.

Ihr denkt euch bestimmt gerade: Beruhig dich mal, ist doch nur dein Nachbar! Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, euch von Caio zu erzählen, meinem Nachbarn aus Apartment 57.

***

Unsere Wohnanlage hat einen ziemlich großen Freizeitbereich mit einem Tennisplatz, den niemand benutzt (denn ganz ehrlich, wer spielt schon Tennis?), einem kleinen, heruntergekommenen Spielplatz und einem mittelgroßen Pool, der an heißen Tagen immer voll ist.

Als ich noch ein Kind war, war der Pool mein eigenes kleines Meer. Ich schwamm stundenlang von einem Ende zum anderen und stellte Szenen aus Arielle, die Meerjungfrau nach. Und am Pool traf ich auch Caio. Ich weiß nicht mehr genau, wann oder wie wir uns kennengelernt haben. Wir waren Poolfreunde, und ich kann mich kaum an meine Kindheit davor erinnern.

Wenn man ein dicker achtjähriger Junge ist, beleidigt einen niemand als Pudding. Alle kneifen einem in die Wangen und sagen einem, wie süß man doch sei, und dass sie einen glatt auffressen könnten. Auf eine nette Art. Komisch, aber nett.

Als ich acht war, habe ich mich nicht dafür geschämt, in einer kurzen Badehose herumzulaufen oder beim Springen in den Pool eine große Wasserfontäne aufspritzen zu lassen. Wenn man acht ist, ist das okay. Und so sind Caio und ich Freunde geworden. Wir waren nie an der gleichen Schule (Caio geht auf eine Privatschule auf der anderen Seite der Stadt). Aber als wir klein waren, musste ich an einem heißen Tag nur die Treppe hinunter zum Pool gehen, und Caio war da, um mit mir zu schwimmen. Regentage waren das Schlimmste.

Wir sprachen nie viel. Kinder reden im Pool ja nicht wirklich miteinander. Wir schrien und sprangen ins Wasser und schlossen Wetten darüber ab, wer länger die Luft anhalten konnte. Eigentlich hatten wir auch überhaupt keine Zeit zum Reden, weil Caios Mutter jeden Moment ihren Kopf aus dem Fenster strecken und seinen Namen brüllen konnte. Dann war der Spaß plötzlich vorbei. Seine Mutter war schon immer so eine. Eine, die brüllt.

Irgendwann in dem ganzen Spaß und dem Nicht-miteinander-Reden gab es einen Tag, den ich nie vergessen werde. Ich muss ungefähr elf gewesen sein, und wir hatten den ganzen Nachmittag damit verbracht, Haie und Piraten zu spielen (ich war der Pirat, Caio der Hai). Ohne zu zögern, fragte ich: »Wollen wir Meermädchen spielen?«

Keines der anderen Kinder wusste, dass ich gerne Meermädchen spielte. Das machte ich nur für mich selbst. Ich hatte Angst davor, was die anderen Jungs denken würden, wenn sie wüssten, dass ich in meinem Kopf zu Arielle wurde, wenn ich untertauchte, und mir am Grund des Pools meine geheime Sammlung an Gabeln, Spiegeln und kleinen Wundern vorstellte.

Caio grinste nur, überschlug die Beine zu einem Fischschwanz und tauchte ins Wasser. Ich musste ihm nicht erklären, wie das Spiel funktionierte. Er wollte kein Wassermann sein, um mitzuspielen. Er nahm einfach an meiner kleinen Fantasiewelt teil, und wir spielten Meermädchen, bis es dunkel wurde. Das war der beste Tag meines Lebens.

Doch danach wurde alles anders. Als ich älter wurde, wuchs auch die Scham, vor Caio nur eine Badehose zu tragen. Ich verstand nicht ganz, was ich fühlte, aber mit zwölf fing ich an, im Wasser mein T-Shirt anzubehalten. Und nachdem ich dreizehn geworden war, setzte ich nie wieder einen Fuß in den Pool.

Mit dreizehn fing mein Körper nämlich an, sich zu verändern: Haare sprossen überall, und ich verspürte das seltsame Verlangen, jemanden auf den Mund zu küssen. Und die erste Person, die ich küssen wollte, war Caio.

Es war fast schon lächerlich, wie sehr ich mich in Caio verknallt hatte. Aber mir war damals schon klar, dass er eine Nummer zu groß für mich ist. Es ist ein bisschen so, als wäre man in den Frontsänger seiner Lieblingsband verliebt: Man kann nicht mehr tun, als ihn aus der Ferne anzuhimmeln und zu träumen.

Versteht ihr jetzt, warum ich so verzweifelt bin? Ich bin fett, schwul und verliebt in einen Jungen, der noch nicht mal auf mein »Guten Morgen« im Fahrstuhl reagiert.

Alles könnte schiefgehen. Alles wird schiefgehen. Und ich habe keine Zeit mehr, mich aus dem Staub zu machen, weil es in diesem Moment an der Tür klingelt und meine Mutter sie öffnet. Und natürlich bin ich schweißüberströmt.

So fängt es also an.

Tag 1

»Komm rein, komm rein!«, trällert Mãe. Sie führt Caio herein und streicht ihm dabei den Pony zurecht.

Grenzen, Mãe. Persönliche Grenzen.

Ich habe erwartet, dass Caio mit seiner Mutter und einer ganzen Liste von Anweisungen im Schlepptau auftaucht. Aber hier steht er jetzt, ganz allein.

»Meine Eltern sind heute Morgen gleich mit dem ersten Flug nach Chile abgereist«, erklärt er meiner Mutter.

Die beiden unterhalten sich bestimmt zwei Minuten lang, während ich nur danebenstehe und zuschaue. Ich tue mein Bestes, weniger zu schwitzen und normal zu wirken.

»Hilf ihm mit dem Koffer, Schatz!«, weist Mãe mich an. Sie schnipst mit den Fingern vor meinem Gesicht und holt mich so in die Realität zurück.

Eine Realität, in der ich einen riesigen Koffer mit Leopardenmuster in mein Zimmer rolle, voll von den Klamotten meines superheißen Nachbarn – der, ganz nebenbei bemerkt, die nächsten fünfzehn Tage bei uns verbringen wird. Ich atme tief durch und stelle den Koffer in der Ecke zwischen dem Schrank und meinem Schreibtisch ab. Dann atme ich noch einmal tief durch, nur zur Sicherheit.

»Sorry für den Riesenkoffer. Den habe ich meiner Mutter zu verdanken«, sagt Caio, der wie aus dem Nichts im Türrahmen erschienen ist.

Ich lächle verkniffen, um meine Erschrockenheit zu überspielen, und bleibe stumm, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Ich will Caio zeigen, dass ich lustig bin, aber mir fallen nur drei Witze ein. Für zwei davon müsste er sich an ganz bestimmte Folgen von Friends erinnern. Und der dritte könnte als Beleidigung gegen seine Mutter aufgefasst werden.

»Jungs! Es gibt Mittagessen!«, ruft Mãe und rettet mich damit vor der peinlichen Stille.

»Ich gehe nur schnell duschen, dann bin ich gleich da!«, rufe ich zurück. Schnell sprinte ich ins Badezimmer und lasse Caio allein zurück.

Das Wasser beruhigt mich, und ich kann klarer über die Situation nachdenken. Ich schaffe das. Ich weiß, wie man mit Leuten redet. Ich bin nett. Ich bin (einigermaßen) höflich. Caio ist nur ein Gast.

Im Grunde ist es auch nicht anders, als wenn meine Großtante Lourdes zu Allerseelen zu Besuch kommt. Ihr Ehemann liegt in unserer Stadt begraben, und sie verbringt immer eine ganze Woche hier, wenn sie sein Grab besucht. Großtante Lourdes kocht nur Rezepte mit grüner Paprika und streicht meine Augenbrauen immer mit Spucke glatt. Caio wird (hoffentlich) nichts dergleichen tun, also sollte das hier das reinste Kinderspiel werden.

Als ich fertig geduscht habe, fühle ich mich tatsächlich ruhiger und bin mir ziemlich sicher, dass alles gut wird. Ich war nur einfach zum tausendsten Mal in meinem Leben viel zu dramatisch. Daran sollte ich mich mittlerweile gewöhnt haben. Ich könnte fast über mich selbst lachen, aber ich komme nicht dazu.

Denn in dem Moment fällt mir auf, dass ich keine saubere Kleidung mit ins Bad genommen habe – nur ein Handtuch und einen Haufen verschwitzter Klamotten.

Ich muss mir schnell etwas überlegen, denn ich will auf keinen Fall, dass Caio denkt, ich würde zu lange duschen. Ihr wisst ja, was man über Jungs sagt, die unter der Dusche zu lange brauchen ...

Ich lausche an der Tür und höre Stimmen in der Küche. Meine Mutter ist da, und Caio isst vermutlich sein Mittagessen. Wenn ich ganz schnell durch den Flur husche, schaffe ich es vielleicht in mein Zimmer, ohne dass sie mich sehen. Ich wickele mir das Handtuch um die Hüfte. In meinem Kopf spielt die Mission: Impossible-Musik, als ich mit drei großen Schritten zu meinem Zimmer sprinte.

Und als ich die Tür aufmache ...

Will.

Ich.

Am liebsten.

Sterben.

Caio sitzt mit einem Buch in der Hand da. Verwirrt sieht er zu mir auf und öffnet den Mund, aber ich komme ihm zuvor. Genau genommen schreie ich ihn an.

»RAUS AUS MEINEM ZIMMER! SOFORT!«

Ein erschrockener Caio springt auf und flieht aus dem Raum.

Ich knalle die Tür zu, schließe sie ab und fange sofort an zu weinen. Kein lautes, dramatisches Weinen, nicht so eins, bei dem man an der Wand hinunterrutscht und am Boden zu einem Häufchen Elend zusammensinkt. Nur eine einzelne Träne, die meine Wange hinunterrollt.

Ich schäme mich. Ich schäme mich, weil ich nass und nackt bin, nur von einem Star-Wars-Handtuch bedeckt, das noch nicht einmal ganz um meine Hüfte passt. Ich schäme mich, weil Caio mich so gesehen hat. Und weil ich ihn angeschrien habe. Und heute ist erst Tag eins.

Die Klinke bewegt sich, aber die Tür ist abgeschlossen.

»Felipe, ist alles okay? Was ist passiert? Komm zum Mittagessen!«, sagt Mãe auf der anderen Seite.

An ihrer Stimme kann ich nicht ablesen, ob sie sich Sorgen macht oder sauer auf mich ist. Vermutlich beides.

»Ich esse später. Ich habe keinen Hunger«, lüge ich.

Ich öffne den Schrank, um mich anzuziehen, und beginne mein Ritual. Ein paar Sekunden lang schaue ich nackt in den Spiegel und mache eine Bestandsaufnahme von all den Sachen, die mich an mir selbst stören. An manchen Tagen achte ich eher auf kleinere Dinge, einen neuen Pickel zum Beispiel oder einen roten Dehnungsstreifen an meinem Bauch. An anderen Tagen analysiere ich meinen Körper als Ganzes, schaue mich von allen Seiten an und stelle mir vor, wie es wäre, dünn zu sein.

Aber heute will ich nicht zu viel Zeit vor dem Spiegel verschwenden. Obwohl die Tür abgeschlossen ist, fühle ich mich mit Caio in der Wohnung total entblößt. Wahllos ziehe ich Shorts und ein T-Shirt aus dem Schrank. Das Shirt klebt unangenehm an meiner nassen Haut.

Ich bleibe in meinem Zimmer, um meinen angeknacksten Stolz zu retten. In meinem Rucksack finde ich eine halbe Packung Kekse und schlage die Zeit an meinem Handy tot. Ich will nicht allein sein. Ich will, dass meine Mutter kommt und mit mir redet, mir Ratschläge und einen Teller mit Essen gibt – denn mal ganz ehrlich, eine halbe Packung Kekse? Wem mache ich hier etwas vor? Ich brauche ein richtiges Mittagessen!

Aber Mãe kommt nicht.

Mittlerweile sind zwei Stunden vergangen, und ich nehme endlich meinen Mut zusammen, um auf Zehenspitzen in die Küche zu schleichen. Mãe malt auf einer neuen Leinwand, ansonsten ist die Wohnung still.

»Dein Teller steht in der Mikrowelle«, sagt sie, sobald sie mich sieht. Sie ist definitiv genervt.

Ich murmele ein halbherziges »Dankeschön«, aber sie seufzt nur schwer – die Art Seufzer, auf die ein Vortrag folgt.

»Felipe, mein Sohn, ich bin nicht blöd. Ich bin deine Mutter. Ich kenne dich gut, und ich weiß, warum du Caio angeschrien hast«, sagt sie leise (vermutlich, weil Caio im Wohnzimmer sitzt). »Aber fang jetzt bitte keinen Streit an, das sieht dir nicht ähnlich. Ich weiß, dass du am liebsten deine Ruhe hast. Das verstehe ich ja. Aber es sind nur fünfzehn Tage, und ich brauche deine Hilfe. Du bist kein Kind mehr, und ich werde dich jetzt nicht zu deinem Freund schleifen, damit du dich entschuldigst. Aber du isst jetzt was, dann setzt du ein Lächeln auf, gehst ins Wohnzimmer und entschuldigst dich bei Caio.«

Ich verdrehe die Augen.

»Und dafür darfst du später das Geschirr spülen«, beschließt sie mit einem selbstzufriedenen Lächeln.

***

Ich stehe im Wohnzimmer und hoffe darauf, dass ein Meteorit einschlägt und mich vor dieser peinlichen Situation bewahrt – oder dass sich unter meinen Füßen ein schwarzes Loch auftut und mich verschluckt. Ich bin da nicht wählerisch.

Caio sitzt auf dem Sofa und liest dasselbe Buch, das er auch heute Morgen im Fahrstuhl dabeihatte (Der Herr der Ringe: Die Gefährten von Tolkien – eines meiner Lieblingsbücher). Er wirkt ein bisschen fehl am Platz. Es ist surreal, ihn auf unserem alten geblümten Sofa sitzen zu sehen, umgeben von den halb fertigen Gemälden meiner Mutter und einem eingerahmten Foto von mir, als ich zehn war. Auf dem Foto trage ich ein traditionelles Stammeskostüm für ein Schultheaterstück – was nicht nur superpeinlich, sondern wegen der kulturellen Aneignung auch ganz schön respektlos ist.

In all dem Chaos sticht er hervor wie ein Alien in einem Renaissance-Gemälde (und das, meine Damen und Herren, ist vermutlich der schlechteste Vergleich, den Sie heute lesen werden).

Caio kann unmöglich entgangen sein, dass ich vor ihm stehe. Es ist ziemlich schwer, jemanden von meiner Größe zu übersehen. Aber trotzdem sieht er mich nicht an, sondern konzentriert sich auf sein Buch. Sein Pony fällt ihm etwas über sein linkes Auge. In mir regt sich der unerklärliche Impuls, ihm das Gesicht abzulecken.

Ich würde mich gerne neben ihn setzen und nachschauen, wie weit er in seinem Buch ist, oder fragen, wie ihm die Geschichte bisher gefällt. Ich möchte wissen, ob er normalerweise erst den Film guckt und dann das Buch liest, oder andersherum.

Jetzt räuspere ich mich, damit er weiß, dass ich etwas zu sagen habe. »Tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe«, sage ich.

Caio schaut zu mir auf, und sein Blick bohrt sich in meinen. Ich bin mir nicht sicher, ob er sauer ist oder ob ich ihm leidtue, aber mir gefällt ohnehin keine der beiden Möglichkeiten.

»Ist schon okay«, sagt er schlicht.

Dann senkt er den Kopf und liest weiter.

Wow, was für eine tiefschürfende Unterhaltung. Gute Arbeit, Felipe.

***

Beim Abendessen wird die Situation nur noch seltsamer. Wir essen im Wohnzimmer und schauen nebenbei eine Realityshow über Hochzeitskleider. Mãe, Caio und ich quetschen uns alle auf unsere winzige Couch und verfolgen gebannt die Geschichte einer Braut, die in drei Tagen heiraten soll und in Panik verfallen ist, weil sie ihr Kleid nicht zubekommt. Ich könnte niemals genug abnehmen, um in so ein Kleid zu passen, schon gar nicht in drei Tagen, also esse ich mein Abendessen und sende der Braut im Stillen positive Gedanken.

Mãe zwingt Caio Smalltalk auf, und es ist fast schon nervig, wie nett er dabei bleibt. Sie unterhalten sich über eine Seifenoper, die meine Mutter noch nicht einmal schaut. Trotzdem weiß sie natürlich genau, was in der nächsten Folge passieren wird.

Caio lobt ihr Essen, und obwohl es die gleiche Reis-Bohnen-Pfanne mit Pommes und Hackfleisch ist, die es schon zu Mittag gab, klingt das Kompliment aufrichtig.

»Ich mein's ernst, Rita! Es ist so lecker. Meine Mutter ist immer so neurotisch, wenn es ums Essen geht. Mein Vater und ich sind uns einig, dass sie es zu weit treibt. Wir dürfen ihre Gerichte noch nicht einmal nachsalzen«, erzählt Caio, bevor er sich eine weitere Gabel in den Mund schiebt.

»Denk nicht einmal daran, Sandra zu verraten, dass ich dir Pommes gegeben habe! Sonst lässt sie dich nie wieder herkommen!« Mãe stupst ihn an und kichert.

Und während die beiden sich unterhalten, als wären sie beste Freunde, sitze ich am anderen Ende des Sofas und höre nur zu, ohne ein Wort herauszubekommen.

Ich weiß, dass es sich bescheuert anhört, aber ich bin ein bisschen eifersüchtig. Eifersüchtig auf Caio, weil meine Mutter sich nur um ihn kümmert und mich ganz vergessen zu haben scheint. Und um das Ganze noch schlimmer zu machen, bin ich auch eifersüchtig auf Mãe. Caio ist gerade erst seit ein paar Stunden hier, und schon lobt er ihre Kochkünste. Ich bin eifersüchtig, weil ich wünschte, er würde mit mir reden. Über Essen, über seine Mutter, über Seifenopern – egal, über was.

Als die Serie über Hochzeitskleider zu Ende ist (die Braut nimmt genug ab, das Kleid ist atemberaubend, alle weinen, Abspann), tippt Mãe mir auf die Schulter, und ich weiß, dass ich jetzt den Abwasch machen muss. Sie ist wohl noch nicht fertig damit, mich für die heutigen Ereignisse zu bestrafen.

Während ich die Küche aufräume, sagt meine Mutter Caio gute Nacht (natürlich total freundlich), und ich tue mein Bestes, nicht bei dem Gedanken auszuflippen, dass wir im gleichen Raum schlafen werden. Nur Zentimeter voneinander entfernt.

Unsere Wohnung ist klein, und wir haben kein Gästezimmer. Aber mein Bett ist ein Ausziehbett, bei dem man nur an einer Schlaufe ziehen muss und, ta-da!, kommt eine zweite Matratze zum Vorschein. Meine Mutter hat das Bett ausgesucht, zweifellos mit den Gedanken schon bei all den Freunden, die ich zu Übernachtungspartys einladen würde. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemals irgendwer anderes als meine Großtante Lourdes auf dem Ausziehbett geschlafen hat.

Die Tatsache, dass Caio und ich uns ein Zimmer teilen werden, könnte zu unzähligen Katastrophen führen. Nachdem ich drei Teller abgewaschen habe, ist meine Liste von Desastern, die ich herbeiführen könnte, schon auf fünfundfünfzig angewachsen. Der Großteil der Liste ist ziemlich eklig (hallo, nächtliche Fürze), aber einige Punkte sind ganz natürlich und unausweichlich (wie zum Beispiel Morgenlatten).

Mir das schlimmstmögliche Szenario auszumalen, ist meine Spezialität. Aber ich setze dem Ganzen ein Ende, als mir eine Situation in den Sinn kommt, in der ich schlafwandle (was ich noch nie getan habe) und mich mitten in der Nacht auf Caio stürze. Was ... ziemlich peinlich wäre.

Ich spüle das Geschirr zu Ende, trockne ab und räume alles in die Küchenschränke. Dabei vertrödele ich so viel Zeit wie möglich, um den Zeitpunkt hinauszuzögern, an dem ich ins Bett gehen muss. Schließlich wische ich mir mit einem Geschirrtuch den Schweiß von der Stirn (sorry, Mãe) und gehe zurück ins Wohnzimmer.

Ich weiß nicht, wie lange ich zum Abwaschen gebraucht habe, aber in der Zwischenzeit hat Caio seinen Schlafanzug angezogen und sich mit einem Kissen auf das Sofa gelegt, seine Füße sind auf eine gefaltete Decke gebettet.

Eine Nanosekunde lang weiß ich nicht, was ich sagen soll. Nicht, dass ich überhaupt etwas sagen wollte, aber ich bin komplett versteinert. In meinem Kopf versuche ich, mit den folgenden Informationen klarzukommen:

   

Caio schläft wahrscheinlich im Wohnzimmer.

Weil er ein Kissen und eine Decke hat. Im Wohnzimmer.

Caio hat schon seinen Schlafanzug an.

Schläft Caio im Wohnzimmer???

Offenbar schon, denn er hat seinen Schlafanzug an. Im Wohnzimmer.

Wow. Caio im Schlafanzug.

Dann muss ich mir wohl keine Gedanken um nächtliche Fürze und Morgenlatten machen.

Und trotzdem will ich nicht, dass Caio im Wohnzimmer schläft.

Ich will, dass er neben mir schläft.

Besonders, wenn er diesen Schlafanzug anhat.

   

Ich könnte stundenlang von Caios Schlafanzug schwärmen. Er ist dunkelblau und weiß gestreift, wie ein Matrosenoutfit. Das T-Shirt hat einen tiefen V-Ausschnitt, und die Hose ist mit kleinen Ankern und Schiffen bedruckt. Aber ich kann mich nicht auf den Aufdruck konzentrieren, denn wo die Shorts aufhören, fangen Caios Beine an. Die könnte ich noch zwei Stunden länger anhimmeln. Seine Oberschenkel sind muskulös und leicht behaart, und seine gebräunte Haut sieht im Licht des Kronleuchters noch glänzender aus. (Eigentlich ist der Kronleuchter eine runde Papierlaterne, die Mãe nach Anleitung eines YouTube-Tutorials gebastelt hat.)

Wenn man ihn aus einem bestimmten Winkel betrachtet, sieht Caio aus wie Aladdin. Gerade als ich anfange mir vorzustellen, wie wir beide auf einem fliegenden Teppich durch die arabischen Nächte fliegen, räuspert Caio sich lauter, als es nötig gewesen wäre, und schaut mich an. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon dastehe und seine Oberschenkel angaffe.

»Ich schlafe im Wohnzimmer«, sagt er sachlich. Als müsste ich Sherlock Holmes sein, um das zu erkennen ...

Kurz überlege ich, ob ich darauf bestehen soll, dass er in meinem Zimmer schläft. Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass das Sofa unbequem ist und er seinem Rücken damit keinen Gefallen tut (was auch stimmt). Aber warum mache ich mir etwas vor? Er will nicht in meinem Zimmer schlafen. Nicht, nachdem ich ihn nackt, tropfnass und nur von einem Handtuch bedeckt angeschrien habe: »RAUS AUS MEINEM ZIMMER!«

Schnell biete ich ihm Wasser an, Tee, ein zweites Kissen, aber er lehnt alles ab. Als er sich wieder seinem Buch widmet, sehe ich ein, dass ich ihn am besten in Ruhe lassen sollte. Ich gehe in mein Zimmer und knalle die Tür zu – nicht so laut, dass ich meine Mutter aufwecke, aber laut genug, damit es dramatisch klingt.