Für immer mein - Luke Delaney - E-Book + Hörbuch

Für immer mein Hörbuch

Luke Delaney

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Beschreibung

Er wird sie finden. Und beschützen. Ob sie will oder nicht.

Als Louise am helllichten Tag verschwindet, weiß DI Sean Corrigan vom Morddezernat South London sofort, dass es sich um ein Verbrechen handelt. Denn die Schatten seiner Vergangenheit machen ihn empfänglich für das Böse. So auch in diesem Fall.
Obwohl Corrigan nicht eine Sekunde daran zweifelt, dass Louise gegen ihren Willen aus ihrer Wohnung verschleppt wurde, glaubt er, dass sie noch am Leben ist. Die Suche nach ihr läuft auf Hochtouren. Dann wird die Leiche einer Frau gefunden, die Louise zum Verwechseln ähnlich sieht. Ein Opfer von Louises Entführer? Die Zeit läuft Corrigan und seinem Team davon ...

DI Sean Corrigan ermittelt weiter - noch mehr atemlose und beängstigend authentische Spannung von dem ehemaligem Detective Luke Delaney:

Mein bist du
Wenn ihr schlaft
Sie zu strafen und zu richten

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.





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Zeit:6 Std. 4 min

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Titel

Widmung

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

Drei Tage später

Epilog

Danksagung

Über den Autor

Weitere Titel des Autors

Impressum

Über dieses Buch

Er wird sie finden. Und beschützen. Ob sie will oder nicht.

Als Louise am helllichten Tag verschwindet, weiß DI Sean Corrigan vom Morddezernat South London sofort, dass es sich um ein Verbrechen handelt. Denn die Schatten seiner Vergangenheit machen ihn empfänglich für das Böse. So auch in diesem Fall.

Obwohl Corrigan nicht eine Sekunde daran zweifelt, dass Louise gegen ihren Willen aus ihrer Wohnung verschleppt wurde, glaubt er, dass sie noch am Leben ist. Die Suche nach ihr läuft auf Hochtouren. Dann wird die Leiche einer Frau gefunden, die Louise zum Verwechseln ähnlich sieht. Ein Opfer von Louises Entführer? Die Zeit läuft Corrigan und seinem Team davon …

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.

LUKE DELANEY

FÜR IMMERMEIN

Aus dem Englischen vonDr. Holger Hanowell

Nicht jedem von uns ist es beschieden, im Leben den wahren Seelenverwandten zu finden, doch ich hatte dieses Glück. Nichts würde ich lieber tun, als ihren Namen in leuchtenden Farben an den Himmel zu schreiben, damit jeder ihn sehen kann, aber meiner Vergangenheit wegen geht das leider nicht. Anstatt also ihr zu Ehren ein galaktisches Feuerwerk zu veranstalten, widme ich diesen Roman meiner unvergleichlichen Frau: L J. Ihrer Liebe habe ich zu verdanken, dass ich der Mann werden konnte, der ich heute bin.

Bei unserer Hochzeit hielt mein Vater eine kurze Rede und bezeichnete uns, L J und mich, als unbändige Kraft. Ich brauchte ein paar Jahre, bis mir klar wurde, was er damit sagen wollte. Wer uns zusammen erlebt, der weiß, was gemeint ist. Wir treiben einander an, fordern einander und kritisieren einander, wenn es gerechtfertigt ist. Vor allem lieben und unterstützen wir uns gegenseitig. Das alles ist möglich, weil wir zusammengehören, einander respektieren und bewundern. Der eine ist beim anderen sicher aufgehoben und beschützt.

Also bringe ich einen Toast auf L J aus, eine hingebungsvolle Mutter, ein furchtloser Captain bei allem, was sie tut, eine inspirierende Kraft bei der Arbeit und zu Hause, eine junge Frau aus einer kleinen Stadt, die alle Benachteiligungen und sämtliche Hindernisse überwunden hat, die das Leben ihr in den Weg legte, und die es bis ganz nach oben schaffte – durch Freundlichkeit und Zuvorkommenheit, ohne je unaufrichtig zu sein.

Ohne L J hätte ich meinen Weg niemals gefunden. Ich hätte mit viel weniger dagestanden, als ich hätte erreichen können. Deshalb danke ich ihr von Herzen für alles, was sie mir gegeben hat.

Für LJIn LiebeLD x

1.

Thomas Keller spazierte über die ruhige Straße in Anerley, einem Vorort in South East London. Die Gegend bot denen, die sich von der Hauptstadt angezogen fühlten, noch bezahlbaren Wohnraum. Denn mancher, der in der Hoffnung nach London gekommen war, finanziell besser dazustehen, hatte rasch erkennen müssen, dass er sich nur am Rande der Metropole ein Leben leisten konnte und somit nicht zu den Privilegierten gehörte.

Thomas Keller kannte die Oakfield Road gut, denn er war diese Straße in den zurückliegenden Wochen mehrmals hinunterspaziert. Er wusste genau, in welchem Haus Louise Russell wohnte.

Keller war vorsichtig, obwohl er als Postbote kaum Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Nur war das nicht seine normale Route. Möglicherweise fiel jemandem auf, dass er gar nicht hier sein dürfte und dass die Post früher ausgetragen wurde als üblich. Aber er konnte nicht länger warten. Er brauchte Louise Russell heute.

Als er sich Haus Nummer 22 näherte, warf er vorsichtshalber Post durch die Briefschlitze der Nachbarhäuser, nur für den Fall, dass gelangweilte Anwohner nichts Besseres zu tun hatten, als die Straße zu beobachten, auf der sowieso nie etwas passierte. Während Keller Werbeprospekte durch die Schlitze schob, huschte sein Blick mehrmals zu den Fenstern und Türen der hässlichen Backsteinhäuser, denen es an jeglicher Individualität und Wärme fehlte. Doch von der Architektur her boten diese Häuser ausreichend Privatsphäre, und das machte Louise Russell für Keller umso attraktiver. Hatte man erst die Haustür erreicht, konnte man aufgrund der Architektur dieses seelenlosen Gebäudes von der Straße aus nicht mehr gesehen werden. Umgekehrt konnte er, Keller, auch nicht mehr Louises roten Fiesta sehen.

Seine Erregung und Furcht wurden so intensiv, dass er sie kaum noch bezähmen konnte. Das Blut rauschte so heftig durch seine Adern, dass ihm der Schädel pochte und sein Sichtfeld verschwamm. Hastig ging er noch einmal den Inhalt seiner Posttasche durch, schob die Werbezettel beiseite und tastete nach den Gegenständen, die er mitgebracht hatte. Augenblicklich spürte er die beruhigende Wirkung, als er den Elektroschocker berührte. Die Spülmittelflasche, die jetzt Chloroform enthielt. Das saubere Flanelltuch. Das Klebeband. Die dünne Decke. Das alles würde er brauchen. Sehr bald.

Es waren nur noch wenige Schritte bis zur Haustür. Keller konnte die Frau bereits spüren, schmecken, riechen …

Schon wollte er die Klingel betätigen, als er innehielt, um sich zu sammeln. Es konnte ja sein, dass er Louise erst überreden müsste, ihm die Tür zu öffnen. Eine halbe Ewigkeit schien vergangen zu sein, als Keller schließlich den Knopf drückte, der in den Türrahmen eingelassen war. Geduldig wartete er, bis eine schemenhafte Gestalt aus dem Innern des Hauses zur Tür kam. Gespannt starrte er auf das milchige Glas, während der herannahende Schatten Farbe und Kontur annahm.

Dann wurde die Tür geöffnet, und endlich stand sie vor ihm. Nichts war mehr zwischen ihnen – nichts, das sie noch hätte trennen können.

Schweigend stand Keller da, beinahe ehrfürchtig. Er hatte das Gefühl, als zögen Louises leuchtend grüne Augen ihn über die Schwelle, geradewegs zu ihrer schimmernden Haut, ihrem hübschen Gesicht. Sie war ein bisschen kleiner als er, knapp eins siebzig, und schlank; ihr glattes braunes Haar trug sie kinnlang als Bob. Sie mochte ungefähr in seinem Alter sein, achtundzwanzig.

Er begann zu zittern, aber nicht mehr vor Angst, sondern vor Freude.

Louise Russell blickte ihn freundlich an. »Hi. Haben Sie was für mich dabei?«

»Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu bringen, Sam«, sagte er. »Wie ich es versprochen habe.«

Louise lächelte verwirrt. »Tut mir leid, aber ich glaube, Sie verwechseln mich.«

Sie sah noch, wie sein Arm hochschnellte, und wollte zurückweichen, weg von dem bedrohlich aussehenden schwarzen Ding, das er in der Hand hielt. Doch Keller hatte ihre Reaktion vorhergesehen und war mit einem Schritt bei ihr. Als Louise den Elektroschocker am Brustbein spürte, hatte sie das Gefühl, von einer Abrissbirne getroffen zu werden. Sie verlor den Halt, wurde zurückgeschleudert und schlug hart auf dem Boden auf. Sekundenlang wusste sie von nichts mehr, als die Welt um sie herum dunkel wurde, aber die Bewusstlosigkeit währte nur kurz – zu schnell holte die Realität sie wieder ein.

Als sie die Augen aufschlug, erkannte sie voller Entsetzen, dass ihr Körper, der von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde, ihr nicht mehr gehorchte. Nicht einmal schreien konnte sie, so verkrampft war ihr Unterkiefer.

Dafür sah sie deutlich, was um sie herum geschah. Sie beobachtete, wie der als Postbote verkleidete Mann sich an ihrem Körper zu schaffen machte. Seine fleckigen, schiefen Zähne widerten sie ebenso an wie der üble Geruch seines ungewaschenen Körpers. Als er den Kopf näher an ihr Gesicht brachte, konnte sie sein ungepflegtes, fettiges Haar riechen, das ihm auf der schweißnassen Stirn klebte. Seine blasse Haut wirkte gräulich und ungesund und wies Narben von Akne und schlecht verheilten Windpocken auf.

Louises Blick fiel auf seine Hände, die knochig und hässlich aussahen; die Finger waren lang und dünn, die Haut wirkte durchsichtig wie bei alten Leuten. Sie sah seine langen, schmutzigen Fingernägel, während er damit beschäftigt war, irgendwelche Gegenstände aus der Posttasche zu kramen.

Alles an diesem Mann stieß sie ab, doch sie konnte nichts tun, war noch immer gelähmt von dem schwarzen Gerät, mit dem er sie attackiert hatte. Sie musste diesen Albtraum, in dessen Mittelpunkt sie selbst stand, wehrlos durchleben. Und die ganze Zeit sprach der Mann sie mit einem anderen Namen an, während die Bilder an den Wänden, die ihr so vertraut waren, auf sie herabblickten – Fotos aus glücklichen Tagen mit ihrem Mann, ihrer Familie, ihren Freunden. Wie oft war sie an diesen Bildern vorbeigegangen, ohne sie wahrzunehmen. Jetzt, da sie gelähmt im Flur ihres Hauses lag, schienen die Fotos sie zu verspotten.

Das alles konnte unmöglich wahr sein! Nicht hier, nicht in ihrem Haus …

»Alles in Ordnung, Sam«, sagte er. »Wir bringen dich so schnell wie möglich nach Hause. Ich helfe dir ins Auto, und dann ist es nur noch ein kurzes Stück. Keine Angst, jetzt bin ich ja bei dir.«

Er fasste sie an. Mit feuchten Händen strich er ihr durchs Haar, streichelte ihre Wange, und die ganze Zeit lächelte er. Sein übelriechender Atem war ihr zuwider. Ihr drehte sich der Magen um. Hilflos, mit geweiteten Augen beobachtete sie, wie er ihre Arme packte, an den Handgelenken kreuzte und sie ihr auf den Brustkorb drückte; einen Moment zu lange verharrten seine Finger auf ihren Brüsten. Sie sah, wie er breites schwarzes Klebeband von einer Rolle zog, die er mitgebracht hatte. Starr vor Angst sprach sie ein stilles Gebet in der Hoffnung, ihr Mann würde nach Hause kommen und diese Bestie mit Schlägen vertreiben. Sie betete, dieser Hölle entrinnen zu können, denn mit einem Mal begriff sie, dass der Fremde sie mitnehmen würde. Es wurde ihr schlagartig bewusst, mit schrecklicher Deutlichkeit. Ihre Schmerzen, ihre Todesangst würden nicht hier enden, in dieser vertrauten Umgebung. Nein, dieser Verrückte würde sie verschleppen, an einen fremden Ort, der ihr schon in der Vorstellung albtraumhaft erschien und den sie nie wieder verlassen würde …

Plötzlich spürte sie trotz der lähmenden Angst und des Ekels, dass ihr Körper wieder reagierte. Ihre Muskeln, ihre Hände, ihr Kiefer entspannten sich. Sie konnte den Rücken wieder durchstrecken und spürte, wie sich der Krampf in ihrem Hinterteil auflöste. Sofort dachte sie an Flucht.

Doch sie hatte sich längst verraten. Der Fremde ahnte, was sie vorhatte.

»Nein, Sam«, sagte er. »Sei ganz ruhig. Überlass alles Weitere mir. Ich schwöre dir, alles wird genauso sein, wie wir es immer haben wollten. Das weißt du doch, nicht wahr?«

Seine Stimme war eine Mischung aus aufrichtiger Sorge und einem bedrohlichen Unterton, der den Hass in seinen Augen widerspiegelte. Hätte Louise ihm antworten können, wäre sie mit allem einverstanden gewesen, was er sagte, solange er sie am Leben ließ. Inzwischen ahnte sie, dass sie vergewaltigt würde, und stellte sich auf diese Tortur ein. Sie würde alles tun, was er von ihr verlangte, wenn er sie nur leben ließ.

Nachdem er das Klebeband vorsichtig zur Seite gelegt hatte, holte er eine Spülmittelflasche aus der Tasche, dann ein Tuch, auf dem er eine klare Flüssigkeit verteilte. »Schön mitmachen, Sam. Atme ganz normal, das ist besser, glaub mir.«

Noch ehe das Tuch ihren Mund und ihre Nase bedeckte, nahm Louise einen stechenden Geruch nach Krankenhaus wahr. Kurz versuchte sie, den Atem anzuhalten, dann aber drangen die Chloroformdämpfe in ihre Lunge. Willenlos ließ sie sich in die Bewusstlosigkeit abdriften, doch ehe das willkommene Vergessen einsetzte, zog der Mann ihr das Tuch vom Gesicht. »Nicht zu viel«, hörte sie ihn sagen. »Du bekommst noch mehr, wenn du im Auto bist.«

Louise versuchte, ihn anzuschauen, sich auf seine Bewegungen zu konzentrieren, doch sie sah ihn nur unscharf. Seine Stimme war seltsam hohl und verzerrt. Immer wieder blinzelte sie, um besser sehen zu können, während die Wirkung des Chloroforms allmählich nachließ. Verschwommen nahm sie wahr, dass er ihr die Hände an den Gelenken mit dem Klebeband zusammenschnürte. Er zog es so straff, dass sie den Schmerz sogar im halb bewusstlosen Zustand spürte. Dann erschienen seine Hände in ihrem Gesichtsfeld. Sie sah, dass er irgendetwas in den Fingern hielt, und wollte den Kopf zur Seite drehen, aber es nutzte nichts: Sie merkte, wie er ihr das Klebeband auf den Mund drückte. In ihrer Panik glaubte sie, ersticken zu müssen, da die Wirkung des Chloroforms ihr Denken beeinträchtigte.

»Entspann dich, Sam«, beruhigte er sie. »Atme durch die Nase.«

Sie versuchte es, aber die Todesangst lähmte sogar ihren Selbsterhaltungstrieb.

Plötzlich verschwand der Mann aus ihrem Blickfeld, kramte in ihrer Handtasche und wandte sich dann den Schubladen neben der Haustür zu. Augenblicke später kam er zu Louise zurück. Er hatte das Gesuchte gefunden – ihren Autoschlüssel.

»Wir müssen jetzt los, Sam«, sagte er eindringlich. »Bevor sie versuchen, uns wieder aufzuhalten und auseinanderzubringen. Wir müssen uns vor ihnen verstecken.«

Unter Aufbietung aller Kräfte versuchte er, Louise auf die Füße zu bekommen. Zuerst hob er ihren Oberkörper an, indem er an ihrem Top zerrte, doch sie war zu schwer und stocksteif, und er war zu schmächtig, um ihr Gewicht zu halten. Schließlich gelang es ihm, ihren rechten Arm um seine Schultern zu legen. Langsam zog er sie vom Boden hoch.

»Du musst mir schon ein bisschen helfen, Sam …«

Durch den Schleier aus Verwirrung, Angst und Ekel hörte sie, dass sich Zorn in seine Stimme geschlichen hatte. Sie wusste, dass es besser war, ihm zu gehorchen, wollte sie die nächsten Minuten überleben. Also versuchte sie, die Beine zu bewegen, hatte aber Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht, da sie die gefesselten Arme nicht bewegen konnte. Immer wieder rutschte sie auf dem glatten Holzfußboden aus.

»So ist es besser, Sam«, ermunterte er sie. »Gleich haben wir’s geschafft, nur noch ein Stückchen.«

Louise spürte, dass sie aufrecht stand, aber die Welt drehte sich in einem rasenden Wirbel um sie. Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen, bewegte sich in das helle Licht draußen vor der Haustür, nahm ihre unmittelbare Umgebung aber nur undeutlich wahr. Doch sie erkannte voller Panik, dass sie das Haus verließ, das ihr Schutz bot, das ihre Zuflucht hatte sein sollen. Als sie an der frischen Luft allmählich wieder einen klaren Kopf bekam, sah sie, dass sie hinter ihrem Auto stand, während der Mann sich mit dem Schlüssel abmühte. Dann hörte sie, wie der Alarm deaktiviert wurde und der Kofferraumdeckel aufsprang.

»Hier bist du sicher, Sam«, sagte er. »Keine Bange, wir haben es nicht weit.«

Louise wusste, was er von ihr wollte, und brachte hinter dem Klebeband ein genuscheltes »Nein« zustande, ehe er sie bei den Schultern packte und zum Auto drückte. Sie verlor das Gleichgewicht und kippte in den Kofferraum. Dann lag sie da und flehte den Wahnsinnigen mit Blicken an, sie nicht zu entführen. Doch sein Gesicht verschwamm wieder, als ihr erneut der mit Chloroform getränkte Lappen aufs Gesicht gedrückt wurde. Diesmal hielt der Mann ihr das Tuch so lange vor Mund und Nase, bis Louise von tiefer Bewusstlosigkeit erlöst wurde.

Er nahm sich einen Moment Zeit, die Frau zu betrachten, und lächelte. Er hätte jubeln können vor Freude.

Er hatte sie wieder. Für immer und ewig.

Er holte die dünne Decke aus der Tasche und breitete sie vorsichtig über Louises Körper, ehe er behutsam den Kofferraumdeckel schloss. Im nächsten Augenblick saß er hinter dem Steuer und fummelte mit dem Schlüssel am Zündschloss herum, da seine Hände vor Aufregung zitterten. Als es ihm schließlich gelang, den Motor anzulassen, fuhr er gemächlich los, um ja keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Schon bald würde er den Fiesta gegen seinen Wagen tauschen und mit Sam nach Hause fahren. Nach Hause. Mit Sam. Für den Rest ihres Lebens.

*

Detective Inspector Sean Corrigan saß im Strafgerichtshof, besser bekannt als Old Bailey, benannt nach der gleichnamigen Straße in der City of London. Trotz all der Mythen und Geschichten, die um Old Bailey kreisten, mochte Corrigan dieses Gerichtsgebäude nicht. Das ging den meisten Ermittlern so. Mit dem Auto war Old Bailey schlecht zu erreichen, und in meilenweitem Umkreis gab es keine Parkmöglichkeiten. Deshalb war es eine Plackerei, Taschen voller Beweismittel ins Gericht zu schleppen; so etwas tat sich kein Ermittler freiwillig an. An anderen Gerichten Londons mochte es schwieriger sein, eine Verurteilung zu erwirken, aber da gab es wenigstens Parkplätze.

Es war Mittwochnachmittag, und Corrigan hatte bereits den ganzen Tag im Old Bailey verbracht. Schon seit Montag früh hatte er kaum etwas anderes gesehen als den Gerichtssaal. Jetzt schaute er sich um, hatte aber keinen Blick für die altehrwürdige Architektur. Es waren die Leute im Saal, die ihn interessierten.

Der Richter legte den Bericht des Bewährungshelfers zur Seite und ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. »Ich habe in dieser Angelegenheit sämtliche Ausführungen der Verteidigung in Betracht gezogen«, verkündete er, »und besonderes Augenmerk auf die psychologischen Gutachten gerichtet, die Mr. Gibrans Geisteszustand zum Zeitpunkt der furchtbaren Verbrechen beschreiben. Aufgrund der Einschätzung der Psychologen, die Mr. Gibran untersucht haben, komme ich zu dem Schluss, dass er nicht verhandlungsfähig ist. Stattdessen bin ich der Auffassung, dass der Angeklagte wegen schwerer psychischer Störungen behandelt werden muss. Hat jemand etwas zu sagen, ehe wir die Angelegenheit zum Abschluss bringen?«

Corrigan spürte, dass seine gespannte Erwartung bitterer Enttäuschung wich. Sein Magen krampfte sich zusammen. Doch seine Aufmerksamkeit galt sofort wieder der Verhandlung, da der Vertreter der Anklage aufgesprungen war.

»Euer Ehren«, begann er, »dürfte ich Ihre Aufmerksamkeit auf Seite zwölf des Bewährungsberichts lenken? Das könnte dem Gericht hilfreich sein.«

In der Stille des Saales war das Rascheln von Papier zu hören, als der Richter die entsprechende Seite suchte und sich in den Wortlaut vertiefte. Kurz darauf wandte er sich an den Anklagevertreter. »Ich danke Ihnen, Mr. Parnell. Damit helfen Sie dem Gericht tatsächlich weiter.«

Der Richter schaute zur Bank am anderen Ende des Saales, wo der regungslose Gibran saß. »Mr. Gibran«, sagte er gerade laut genug, um sich auf die Entfernung Gehör zu verschaffen. Er behandelte Gibran bereits wie einen Insassen der Psychiatrie, nicht mehr wie einen kaltblütigen Mörder. »Das Gericht ist zu dem Schluss gekommen, dass Sie für die Verbrechen, die Ihnen zur Last gelegt werden, nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Da wir bezweifeln, dass Sie begreifen können, was Sie zu erwarten haben, werden Sie vermutlich nicht in der Lage sein, sich entsprechend zu verteidigen. Deshalb habe ich angeordnet, dass Sie in psychiatrischer Behandlung bleiben. Doch in Anbetracht der ernsten Bedenken seitens der Bewährungshelfer, dass Sie eine Gefahr für sich selbst und für die Öffentlichkeit darstellen …«

Die Leere, die Corrigan eben noch erfasst hatte, verflog genauso rasch, wie sie gekommen war, verdrängt von der Aufregung, die erneut von ihm Besitz ergriff. Es war ihm vollkommen egal, wer die Schlüsselgewalt hatte – Gefängniswärter oder Personal der Psychiatrie –, solange Gibran hinter Schloss und Riegel war, und zwar für immer.

Der Richter führte seinen Satz zu Ende: »… kann ich das Risiko, das Sie darstellen, nicht ignorieren und ordne hiermit an, dass Sie auf unbestimmte Zeit in psychiatrische Sicherheitsverwahrung kommen. Sollte sich in Zukunft zeigen, dass Sie Fortschritte gemacht haben, wird erneut untersucht, ob Sie verhandlungsfähig sind.«

Mit diesen Worten erhob sich der Richter, um das Ende der Verhandlung zu bekunden. Respektvoll standen alle im Saal auf. Corrigan hatte Mühe, ein zufriedenes Schmunzeln zu unterdrücken, als er auf Gibran blickte und flüsterte: »Viel Spaß in Broadmoor, du Hurensohn.«

Er hielt Gibrans Blick gefangen, als die Wächter ihn von der Anklagebank zum Zellenbereich unterhalb des Gerichtssaals führten. Corrigan wusste, dass er Gibran höchstwahrscheinlich zum letzten Mal gesehen hatte.

Nachdem er seine Unterlagen in seine alte, abgegriffene Aktentasche geschoben hatte, hielt er auf den Ausgang zu und hoffte, der Handvoll Journalisten aus dem Weg gehen zu können, die man in den Gerichtssaal gelassen hatte. Auf halbem Weg blieb er stehen, um dem Rechtsbeistand die Hand zu schütteln und ihm für seine Bemühungen zu danken.

Draußen vor dem Saal waren zu Corrigans Erleichterung weder Journalisten noch Familienangehörige von Gibrans Opfern zu sehen. Im Augenblick wollte er mit niemandem sprechen. Nachdem er jenen Bereich des Gebäudes hinter sich gelassen hatte, der öffentlich zugänglich war, verschwand er in den Tiefen von Old Bailey und gelangte in ein Labyrinth aus kurzen, schlecht gelüfteten, schummrigen Gängen, die zu einer viktorianischen Treppe führten. Am Ende dieser Treppe erreichte Corrigan eine unauffällige Tür. Er öffnete sie und trat wie selbstverständlich über die Schwelle. Sofort wurde er von Stimmengewirr umfangen.

Die kleine Kantine, die der Polizei vorbehalten war, hatte ebenfalls einen Platz in den Mythen und Legenden der Polizeibehörde. Ein Geheimtipp, bekannt für das beste Fleischbüfett in ganz London. Corrigan brauchte nicht lange, bis er Detective Sergeant Sally Jones entdeckt hatte, seine Kollegin, die allein an einem der Tische saß und Kaffee trank. Sie spürte sofort, dass Corrigan die Kantine betreten hatte, und schaute ihm in die Augen. Corrigan ahnte, dass Sally seine Miene zu deuten versuchte, als er sich einen Weg zu ihr bahnte, vorbei an den voll besetzten Tischen, wobei er sich mehrmals entschuldigte, wann immer er Kollegen bei ihren hastig eingenommenen Mahlzeiten störte. Als er schließlich Sallys Tisch erreichte, ließ er sich auf den Stuhl ihr gegenüber sinken.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte sie ungeduldig.

»Nicht verhandlungsfähig.«

»Scheiße!« Bei diesem Ausruf schauten mehrere Detectives von ihren Tellern auf. Corrigan blickte sich um und gab jedem, der in ihre Richtung blickte, zu verstehen, dass es sich um nichts Persönliches handelte.

»Du liebe Güte«, fuhr Sally leise fort. »Was soll das bringen?«

Corrigan fiel auf, dass sie sich unbewusst über eine Stelle am rechten Oberkörper strich, als spürte sie erneut, wie Gibran ihr das Messer in den Körper stieß. »Kommen Sie, Sally«, versuchte er sie aufzumuntern. »Wir wussten doch die ganze Zeit, dass diese Möglichkeit besteht. Nach einem Blick in die psychiatrischen Gutachten war es fast sicher.«

»Ich weiß.« Sally seufzte. »Nur hatte ich dummerweise geglaubt, dass im Old Bailey endlich gesunder Menschenverstand Einzug hält. Ich hätte es besser wissen sollen.«

»Könnte doch sein, dass Gibran wirklich verrückt ist.«

»Oh, das ist er«, bekräftigte Sally. »Trotzdem ist er verhandlungsfähig. Er wusste, was er tat, als er die Verbrechen beging. Da waren keine Stimmen in seinem Kopf. Er ist ebenso clever wie gefährlich. Ich wette, dass der Mistkerl sogar die Ergebnisse der psychiatrischen Gutachten beeinflusst hat. Der hat sich einen Spaß aus den sogenannten Testverfahren gemacht. Der Dreckskerl! Er müsste sich verantworten für das, was er getan hat …« Ihre Stimme verlor sich, und sie blickte auf den inzwischen kalt gewordenen Kaffee, der vor ihr stand.

»Glauben Sie mir, ungeschoren kommt er nicht davon«, versicherte Corrigan ihr. »Während wir hier sitzen, ist er schon auf dem Weg zum Hochsicherheitstrakt in Broadmoor. Wer da einsitzt, kommt nie mehr raus.« Einige berüchtigte Mörder und Kriminelle saßen in Broadmoor; ihre Gesichter blitzten in Corrigans Erinnerung auf: Peter Sutcliffe, auch bekannt unter dem Namen »Yorkshire Ripper«; Michael Peterson alias »Charles Bronson«; Kenneth Erskine alias »Stockwell Strangler« und Robert Napper, der Täter im ebenso grausamen wie spektakulären Mord an der jungen Mutter Rachel Nickell.

Sallys Stimme riss Corrigan aus seinen Gedanken.

»Gibran hat einen Polizisten auf dem Gewissen und hätte beinahe auch mich getötet. Man wird ihn dort wie einen Gott verehren.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher, denn …« Corrigan stockte, als das Handy in seiner Jackentasche vibrierte. Da die Rufnummer unterdrückt wurde, rief wahrscheinlich jemand aus dem Konferenzzimmer seiner Dienststelle an, der Peckham Police Station. Corrigan nahm das Gespräch entgegen. Er erkannte den Anrufer sofort am prägnanten Tonfall, eine Mischung aus Glasgower Dialekt und Cockney. Detective Sergeant Dave Donnelly hätte sich nicht gemeldet, wäre es unwichtig gewesen.

»Chef, Superintendent Featherstone will Sie hier sehen, sofort bitte. Offenbar gibt es Neuigkeiten, die unserer speziellen Fertigkeiten bedürfen.«

»Wir sind in einer Stunde da. Es zieht sich ein bisschen von Old Bailey«, erklärte Corrigan. »Wenigstens sind wir hier fertig.«

»Was denn, schon fertig?«, fragte Donnelly erstaunt. »Hört sich gar nicht gut an.«

»Ich erzähle Ihnen alles nachher.« Corrigan beendete das Gespräch.

»Probleme?«, wollte Sally wissen.

»Wann gibt es die mal nicht.«

*

Louise Russells Lider öffneten sich flatternd, während ihr Verstand verzweifelt versuchte, sich aus dem chloroformumnebelten Schlaf zu befreien, der ihr nichts als Albträume, bedrückende Dunkelheit und ein Ungeheuer in ihrem Haus beschert hatte. Mühsam versuchte sie, sich in der düsteren Umgebung zurechtzufinden. Sie blinzelte, ehe sie die Augen vor Entsetzen weit aufriss.

O Gott, er hat mich verschleppt, hat mich aus meinem Haus entführt, aus meinem Leben gerissen …

Würde sie ihren Mann je wiedersehen? Panik erfasste sie. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte die Flucht ergriffen, doch die Nachwirkungen des Chloroforms machten sie schlapp und träge. Sie schaffte es gerade noch, sich auf Händen und Füßen abzustützen, ehe sie zur Seite sank und den Kopf auf den angewinkelten Arm bettete. Ihr Atem und ihr Puls gingen schnell und unregelmäßig. Verzweifelt versuchte sie, ihre Angst in den Griff zu bekommen. Ihr Atem beruhigte sich ein wenig, und da ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnten, konnte sie allmählich ihre unmittelbare Umgebung erkennen.

Der große Raum, in dem sie lag, hatte keine Fenster. Eine Tür schien es auch nicht zu geben. Louise sah nur die unteren Stufen einer Treppe, die sich in der Dunkelheit verlor und wahrscheinlich nach oben zu einem Ausgang führte. Eine nackte, schwache Glühbirne hing von der Decke, verschmiert und fettig; das Licht reichte gerade aus, dass Louise in dem seltsamen Raum Einzelheiten ausmachen konnte. Soweit sie es von ihrer Position aus beurteilen konnte, war der Raum sieben, acht Meter lang und ebenso breit. Die kahlen Wände waren vor einer halben Ewigkeit das letzte Mal getüncht worden; hier und da schimmerte das Rot und Grau der alten Backsteinmauern durch. Der Fußboden schien eine Betonfläche zu sein, die unangenehme Kälte verströmte. Das einzige Geräusch war ein monotones Tropfen von der Decke oder einer der Wände. Offenbar handelte es sich um einen unterirdischen Raum, ein Kellergewölbe oder einen alten Bunker.

Louise stieg der Geruch von Urin, menschlichen Exkrementen und Ausdünstungen in die Nase, aber das war nichts im Vergleich zu ihrer nackten Angst. Sie zog sich die dünne Decke, unter der sie lag, bis unter das Kinn, da sie auf dem kalten Boden zu zittern begann. Ein Blick auf ihren Körper verriet ihr, dass jemand ihr die Kleidung weggenommen und ihr stattdessen die Decke dagelassen hatte. Sie roch sauber, beinahe angenehm im Vergleich zum Gestank in diesem Gewölbe – aber wer, um alles in der Welt, entführte sie und zog sie nackt aus, ließ ihr dann aber eine warme Decke zum Schutz gegen die Kälte?

Wer machte so etwas? Und warum?

Louise schloss die Augen. Sie hoffte inständig, dass der Unbekannte sie nicht angerührt hatte. Vorsichtig strich sie sich mit einer Hand über den Körper und zwischen die Schenkel. Behutsam tastete sie sich ab und kämpfte gegen das Ekelgefühl. Sie spürte keinen Schmerz, keine wunden Stellen, und zwischen ihren Beinen war sie trocken.

Sie atmete ein wenig auf. Offenbar hatte der Irre sie nicht vergewaltigt.

Aber warum war sie dann hier?

Nachdem ihre Augen sich an das matte Licht gewöhnt hatten, erkannte sie, dass sie nicht direkt auf dem Betonboden lag, sondern auf einer alten, fleckigen Matratze. Außerdem hatte der Unbekannte ihr in einem Plastikbecher Wasser hingestellt, das frisch zu sein schien.

In diesem Augenblick bemerkte sie mit Schrecken, dass sie nicht nur in diesem kellerartigen Raum eingesperrt war. Sie steckte in einer Art Käfig. Erst jetzt sah sie die Metallstäbe und das dicke Gittergeflecht.

Ein Käfig.

Vielleicht zwei Meter breit und anderthalb Meter hoch.

Das konnte nur zweierlei bedeuten: Entweder hatte der Irre sie hier zum Sterben zurückgelassen, oder er kam wieder, um das Tier zu beobachten, das er gefangen und in diesen Käfig gesteckt hatte. Oder es zu quälen.

Die nackte, wehrlose Kreatur.

Je länger Louise darüber nachdachte, desto sicherer war sie, dass der Wahnsinnige zurückkommen würde, um seine Beute zu füttern … oder mit ihr zu tun, was ihm in den Sinn kam.

Sie trocknete ihre Tränen an der Decke und versuchte erneut, sich mit dem unterirdischen Raum vertraut zu machen. Noch hatte sie die leise Hoffnung, etwas zu entdecken, was ihr Mut machte. An einer Seite des Käfigs, an der sich die Käfigtür befand, war ein Vorhängeschloss. Jetzt erst fiel Louise eine Klappe an der Seite auf, durch die der Irre ihr vermutlich das Essen in den Käfig schob.

Todesangst erfasste sie. In ihrer Verzweiflung sprang sie förmlich an die Käfigtür, drückte die Finger durch das Gitter, rüttelte an den Stäben. Tränen strömten ihr über die Wangen. Beinahe hätte sie um Hilfe geschrien.

Dann erstarrte sie. Sie hatte etwas gehört. Ein Geräusch, eine Bewegung.

Hier im Raum.

Ich bin nicht allein!

Voller Angst spähte sie in die schummrigen Tiefen des Gewölbes, lauschte auf weitere Geräusche.

Da war es wieder. Irgendetwas bewegte sich dort.

Wie unter Zwang starrte Louise auf die Stelle, an der sie die Geräusche zuletzt wahrgenommen hatte. Und dann sah sie es: Am anderen Ende des Gewölbes stand ein weiterer Käfig, der genauso aussah wie der, in dem sie selbst steckte.

Großer Gott, ist da ein Tier eingesperrt?

Hatte der Verrückte sie in einem Raum festgesetzt, in dem irgendeine wilde Bestie hauste? Hatte er sie entführt, um sie einem Raubtier zum Fraß vorzuwerfen?

Voller Entsetzen rüttelte Louise wieder an den Gitterstäben, obwohl sie wusste, dass es nichts brachte. Als sie eine Stimme hörte, blieb ihr vor Schreck beinahe das Herz stehen. Eine leise, matte Stimme. Die Stimme einer anderen Frau.

»Tu das lieber nicht«, wisperte die Stimme. »Er könnte dich hören. Man weiß nie, wann er lauscht. Wenn er hört, was du hier machst, bestraft er uns beide.«

Louise erstarrte vor Angst. Die Gewissheit, dass sie nicht die Einzige war, die dieser Irre entführt hatte, lähmte ihren Verstand. Einen Augenblick verharrte sie reglos, lauschte ungläubig und glaubte beinahe schon, sich die Stimme nur eingebildet zu haben. Als sie die Stille nicht mehr aushielt, rief sie leise ins Zwielicht: »Wer bist du? Wie bist du hierhergekommen?« Keine Antwort. »Ich heiße Louise Russell«, fügte sie hinzu. »Und du?«

Keine Antwort. Louise wartete, während die Stille sich endlos hinzog.

»Wir müssen uns gegenseitig helfen«, flüsterte sie eindringlich.

»Bitte, sei ruhig«, erwiderte die Frauenstimme. Sie klang ängstlich, nicht wütend. »Er könnte uns hören.«

»Das ist mir egal. Sag mir, wie du heißt.« Wieder wartete Louise, spähte hinüber zu dem Schemen, der sich endlich bewegte und menschliche Gestalt annahm.

Louise sah eine junge Frau, die im Schneidersitz in dem anderen Käfig saß. Sie war schlank und hübsch, trotz ihrer ungepflegten Erscheinung: Ihr kurzes braunes Haar war verfilzt, ihr Gesicht blass und verschmutzt. Jegliches Make-up war längst von Tränen und Schweiß verwischt. Sie hatte Prellungen am Körper und im Gesicht, und die Unterlippe war aufgesprungen.

Louise schätzte die Frau auf Ende zwanzig. Soweit sie es beurteilen konnte, schien die Fremde ungefähr so groß zu sein wie sie selbst. Sie ähnelte ihr sogar auffallend. Jetzt fiel ihr auch auf, dass die andere Frau weder Matratze noch Decke besaß und nichts am Leib trug als einen schmutzigen Slip und einen BH. Sie schien zu frieren, obwohl es in dem Gewölbe nicht allzu kalt war. Andererseits konnte Louise nirgends einen Ofen oder eine Heizung sehen. Möglicherweise war nebenan ein Heizkeller. Oder es lag daran, dass es sich um einen unterirdischen Raum handelte.

Aber wieso wurde die Frau schlechter behandelt als sie, Louise? Wurde sie für etwas bestraft? Sagte sie deshalb so wenig? Weil sie befürchten musste, umso schlimmer bestraft zu werden, wenn der Irre es mitbekam? Was mochte dieser Geisteskranke ihr als Nächstes antun?

»Ich heiße Karen«, sagte die Frau plötzlich. »Karen Green.«

Beim Klang der Stimme erstarrte Louise. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie sprechen konnte.

»Wie lange wirst du schon hier festgehalten, Karen?«

»Weiß ich nicht. Er hat mir die Uhr weggenommen.«

»Weißt du noch, was für ein Tag war, als er dich entführt hat?«

»Donnerstagmorgen«, erwiderte Karen. »Was für ein Tag ist heute?«

»Ich bin mir nicht sicher. Es war Dienstagmorgen, als er …« Louise rang um Worte. »Als er mich überfallen hat. Weißt du, wie lange ich hier bin?«

»Vielleicht einen Tag. Du warst die ganze Zeit bewusstlos.«

Kraftlos sank Louise gegen das Käfiggitter. Womöglich wurde sie schon einen ganzen Tag vermisst, aber niemand hatte sie bisher gefunden.

Ein anderer Gedanke durchfuhr sie eiskalt: Karen Green war seit fast einer Woche verschwunden und verrottete in dem verfluchten Käfig. Und bis jetzt war sie ganz allein hier unten gewesen, allein mit diesem Psycho.

»Weißt du, was er von uns will?«, fragte Louise. »Wieso hält er uns hier fest?«

»Keine Ahnung, aber er nennt mich dauernd Sam.«

Louise erinnerte sich, dass der Mann auch sie mit diesem Namen angeredet hatte.

Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu bringen, Sam. Wie ich es versprochen habe.

Ihr wurde übel. Bittere Galle stieg ihr in die Kehle und brannte im Mund. Wie es aussah, mussten sie und Karen als Ersatz für jemanden herhalten, der Sam hieß.

Erneut spülte eine Woge der Angst über Louise hinweg, beinahe körperlich spürbar. Sie und Karen wurden von einem Geisteskranken festgehalten, der keinerlei Vernunftgründen zugänglich war.

Ihre Hoffnung schwand.

Als Louise wieder zur halbnackten Karen hinüberschaute, wurde ihr bewusst, dass sie unter der Decke splitternackt war. »Hat er dich angefasst?«, fragte sie und erkannte, dass sie eine Vergewaltigung fast genauso fürchtete wie den Tod.

Keine Antwort. Das Schweigen dehnte sich. Louise beobachtete, wie Karen sich auf den Boden des Käfigs kauerte und die Beine anzog.

»Anfangs nicht«, sagte sie dann leise schluchzend. »Als ich aufwachte, trug ich keinen Faden mehr am Leib, aber ich glaube nicht, dass er mir da schon etwas angetan hatte. Er ließ mir eine Matratze und eine Decke, so wie dir, aber später nahm er mir beides weg und dann … dann fing es mit den Vergewaltigungen an. Er injizierte mir irgendwas, das meinen Widerstand lähmte. Mittlerweile vergewaltigt er mich nur noch, wenn er mich bestrafen will.«

»Bestrafen?«, fragte Louise.

»Ja. Und ich weiß nicht, was ich getan habe, dass er so wütend auf mich ist …«

Louise schauderte bei dem Gedanken, dass auch ihr dieses Schicksal bevorstehen könnte. Ihre Muskeln verkrampften sich. »Was ist mit deiner Kleidung?«, fragte sie heiser. »Du hast gesagt, du hättest keinen Faden mehr am Leib gehabt. Aber die Unterwäsche hat er dir zurückgegeben? Wieso nicht auch den Rest?«

»Das ist nicht meine Unterwäsche«, erklärte Karen. »Während der ersten Tage durfte ich mich noch waschen, dann gab er mir ein paar Sachen und sagte, ich soll sie anziehen. Gestern Nacht kam er unerwartet und nahm mir alles wieder ab, bis auf den Slip und den BH. Ich wusste nicht, warum, bis ich dich gesehen habe …«

Louise ahnte, dass bald sie die Sachen tragen würde, die vorher Karen gehört hatten. Wieder würgte sie und spuckte Galle, und ihre Augen tränten.

Mit einem Mal wurde die Stille von einem klirrenden Geräusch unterbrochen, als hätte jemand mit einem schweren Gegenstand gegen Blech geschlagen. Ein Vorhängeschloss wurde geöffnet. Einen Moment lang glaubte Louise, es könnten Retter sein, doch als sie wieder Karens ängstliche Stimme vernahm, wich ihre aufkeimende Hoffnung nacktem Entsetzen.

»Er kommt!«, wisperte Karen. »Sprich nicht mehr mit mir!«

Louise sah, dass die junge Frau sich in die hinterste Ecke des Käfigs zwängte wie eine verängstigte Kreatur.

*

Kurz vor sechzehn Uhr am Mittwochnachmittag betraten Corrigan und Sally Jones den Besprechungsraum der Peckham Police Station. In der Dienststelle herrschte ungewöhnliche Geschäftigkeit, da die Kollegen aus Corrigans Team die Zeit zwischen den abgeschlossenen Fällen und den neuen Ermittlungen nutzten, um den Papierkram aufzuarbeiten. Seit Wochen hatte das Morddezernat keinen problematischen Fall mehr auf den Tisch bekommen, obwohl es nicht an Fällen mangelte. Es freute Corrigan, eine Verschnaufpause zu haben, zugleich aber ahnte er, dass irgendetwas auf ihn wartete, was ihm gar nicht schmecken würde.

Als er gemeinsam mit Sally Jones und Donnelly den Bürotrakt durchquerte, sah er Superintendent Featherstone bereits durch das Plexiglas der Trennvorrichtung. Irgendwie ahnte Corrigan, dass heute der Tag X gekommen war, den er insgeheim gefürchtet hatte.

Featherstone erhob sich, als die Detectives eintraten. »Ein kleiner Vogel hat mir gezwitschert, dass es heute im Gerichtssaal nicht ganz so gut gelaufen ist«, lautete seine Begrüßung.

»Hängt vom Blickwinkel ab, Sir«, antwortete Corrigan.

»Und wie ist Ihre Sicht der Dinge?«, forschte sein Vorgesetzter nach.

»Nun, wahrscheinlich verbringt Gibran den Rest seines verkorksten Lebens in Broadmoor, unter einem Dach mit den schlimmsten psychopathischen Killern. Das ist doch schon mal was. Keiner kommt je aus Broadmoor raus. Gibran wird dort verrotten. Sehen Sie es mal so, Sir: Er hat lebenslänglich gekriegt, und wir mussten nicht mal einen Verhandlungsmarathon durchstehen. Es hätte schlimmer kommen können. Angenommen, irgendwelche minderbemittelten Geschworenen hätten sich von ihm blenden lassen, und er hätte Old Bailey als freier Mann verlassen. Stellen Sie sich das mal vor.«

»Lieber nicht«, erwiderte Featherstone.

Corrigan beschloss, das Thema zu wechseln. Cops hielten sich nie lange mit alten Fällen auf. Trotzdem, die Ermittlungen im Fall Gibran hatten sich als vollkommen anders erwiesen als alles, was man je beim Morddezernat erlebt hatte. Doch so schlimm es für alle Beteiligten gewesen sein mochte – Sally hatte es am schlimmsten erwischt. Beinahe hätte Gibran sie in ihrer eigenen Wohnung ermordet. Körperlich hatte sie überlebt, aber Corrigan wurde das Gefühl nicht los, dass in ihrem Innern etwas gestorben war.

Zwei Monate hatte sie auf der Intensivstation zugebracht, drei weitere in etlichen Reha-Maßnahmen. Drei Monate später hatte sie den Dienst wieder aufgenommen. Aber es war zu früh gewesen; weder physisch noch mental war sie den Aufgaben gewachsen. Das war nun einen Monat her. Inzwischen waren seit dem Überfall neun Monate vergangen.

»Aber es bringt nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was gewesen ist«, nahm Corrigan den Faden wieder auf. »Ich nehme an, Sie haben uns aus einem bestimmten Grund herbestellt, Sir.«

»Ja. Es geht um eine Vermisste.«

Featherstones Worte stießen auf ungläubiges Schweigen.

»Es geht um was?«, hakte Corrigan nach.

»Eine Vermisste«, wiederholte sein Chef.

»Muss ja ein Promi sein, dass wir jetzt schon den Fall übernehmen sollen.«

»Kein Promi«, ließ Featherstone sie wissen. »Natürlich bedeutet sie ihrer Familie sehr viel. Besonders ihrem Mann, der sie als vermisst gemeldet hat.«

»Gilt er als Verdächtiger?«, fragte Corrigan.

»Nein.«

»Wie lange wird die Frau vermisst?«

»Seit gestern Morgen. Der Ehemann, ein gewisser John Russell, ist gegen halb neun zur Arbeit gefahren«, sagte Featherstone. »Er kam gegen achtzehn Uhr nach Hause und stellte fest, dass seine Frau und ihr Auto nicht mehr da waren. Ihre Handtasche lag im Flur, auch ihr Handy und ein paar andere Dinge, aber Louise selbst war unauffindbar. Also ist klar, dass ihr etwas zugestoßen sein muss, und es könnte durchaus sein, dass sie in Gefahr schwebt.«

Was er da hörte, gefiel Corrigan gar nicht. Frauen, die mit heimlichen Geliebten durchbrannten, ließen weder ihre Handtasche noch das Handy zurück. »Wie weit sind wir mit den Ermittlungen?«, wollte er wissen.

»So weit, wie ich es gerade eben zusammengefasst habe«, erwiderte Featherstone. »Der Kollege vom örtlichen Revier, der die Vermisstenanzeige aufgenommen hat, hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache und hat den Fall weitergereicht. Wir müssen die Frau lebend finden, klar?«

»Das fällt doch gar nicht in unseren Aufgabenbereich«, hielt Detective Sergeant Donnelly dagegen. »Wir haben mit Mordfällen zu tun, nicht mit Vermisstenfällen.«

»Die hohen Herren bei Scotland Yard haben beschlossen, dass Vermisste, die in ernster Gefahr schweben, besondere Aufmerksamkeit erhalten. Ein Zusatz zum Präventionsprogramm, mit dem Morde verhindert werden sollen.«

»Also gut. Wie alt ist die Frau?«, fragte Corrigan, der keine Lust hatte, sich auf Wortgefechte einzulassen.

Featherstone warf einen Blick in die Akte. »Dreißig.«

»Genau das Alter, in dem Frauen mit einem anderen durchbrennen«, meldete Donnelly sich zu Wort.

»Sie ist bestimmt nicht durchgebrannt.« Sally schüttelte den Kopf. »Eine Frau würde nie so viele für sie wichtige Dinge zurücklassen. Nein, da muss etwas passiert sein.«

»Und was?«, fragte Donnelly.

»Vielleicht wurde sie entführt«, sagte Sally.

»Finden Sie es heraus, und zwar schnell«, meinte Featherstone. »Halten Sie mich auf dem Laufenden. Die hohen Herren wollen Ergebnisse, damit sie nicht die Medien am Hals haben.« Er reichte Corrigan die Vermisstenakte. »In dieser Akte sind Fotos von der Frau. Keine besonderen Merkmale, abgesehen von einer Blinddarmnarbe aus Teenagerjahren.«

»Könnten Sie bitte ein paar Kopien machen und im Team verteilen?«, fragte Corrigan und reichte die Akte an Sally weiter. »Dave hilft Ihnen sicher gern.«

Donnelly quittierte die letzten Worte seines Chefs mit einem Seufzer. »Wir vergeuden nur unsere Zeit. Ich sag Ihnen, die Frau ist in ein paar Tagen zurück, duftet nach Aftershave und reicht die Scheidung ein.«

Corrigan strafte Donnelly mit einem strengen Blick. »Das sehe ich anders.« Mehr sagte er nicht.

Zum Glück wusste Donnelly, wann es an der Zeit war, mit dem Nörgeln aufzuhören. Schweigend trottete er hinter Sally her.

Featherstone wartete, bis die beiden außer Hörweite waren, ehe er wieder das Wort ergriff. »Wie steht es um Sally?«, wollte er dann wissen.

Corrigan zuckte die Achseln. »Sie wird schon wieder.«

»Ja?« Featherstone blickte ihn skeptisch an. »Sieht doch jeder Trottel, dass sie zu kämpfen hat. Was ja nicht verwunderlich ist.«

»Sie fängt sich wieder«, versicherte ihm Corrigan. »Sie braucht noch etwas Zeit und einen anständigen Fall, damit sie auf andere Gedanken kommt.«

»Wie Sie meinen.« Featherstone nickte ihm auffordernd zu. »Okay, an die Arbeit. Und denken Sie daran, mich auf dem Laufenden zu halten. Wenn ich Ihnen helfen kann, rufen Sie mich an. Ich weiß, wie allergisch Sie auf die Medien reagieren. Wenn die Ihnen Schwierigkeiten machen, sagen Sie es mir.«

Corrigan wandte sich zum Gehen, als ihm noch eine Frage einfiel. »Glauben Sie, dass die Frau bereits tot ist? Wollen Sie deshalb, dass ich den Fall übernehme?«

»Sean, diese Louise Russell hat einen Mann, einen Vater, eine Mutter. Wenn wir unseren Job gut machen, könnte sie eines Tages selbst Mutter werden. Sollten wir uns das nicht vor Augen halten?«

Nachdenklich kehrte Corrigan in sein Büro zurück. Mit einem Mal kam er sich furchtbar allein vor, als er in dem kleinen, überhitzten Raum saß, umgeben von billigen Möbeln und überalterten Computern, die längst ins Museum gehörten. Der Blick aus dem Fenster bot auch nichts Berauschendes: Sozialbauten in Peckham, und auf der freien Fläche unmittelbar neben dem Revier breitete sich eine Wohnwagensiedlung aus.

Corrigans Gedanken schweiften zu Louise Russell. Er versuchte sich vorzustellen, was sich abgespielt haben könnte. Wo steckte die Frau jetzt? Würde ein Entführer sich mit Lösegeldforderungen melden? War sie überhaupt noch am Leben?

Corrigan fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht und versuchte, die sinnlosen Fragen zu verscheuchen. »Die Frau ist als vermisst gemeldet«, sagte er laut zu sich selbst. »Also hör auf, so zu tun, als wäre sie schon tot.«

2.

Tageslicht flutete die Treppenstufen hinunter und erhellte den Raum. Louise musste die Augen zusammenkneifen. Kaum hatte sie sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt, als eine Tür sacht ins Schloss fiel und den Lichtkegel abschnitt. Seltsamerweise hieß Louise das Zwielicht willkommen, das ihr inzwischen vertraut war, und schaute rasch hinüber zu Karen Green, die wie ein Häuflein Elend in der Ecke ihres Käfigs kauerte. Ihre Finger krallten sich in das Gittergeflecht, als suche sie Halt, um sich vor einer Woge zu schützen, die sie fortzureißen drohte.

Louise hörte, wie Karen versuchte, ihr Schluchzen zu unterdrücken, als sich auf der Treppe Schritte näherten. Sie hörten sich weder schwer noch eilig, noch sonst wie auffällig an; im Gegenteil, jemand schien auf leisen Sohlen heranzuschleichen.

Die verstohlenen Laute erfüllten Louise mit eisiger Furcht. Ihr war, als könnten ihre Sinne das leiseste Geräusch wahrnehmen, die Schatten, die Gerüche, ja sämtliche Bewegungen in ihrem unterirdischen Gefängnis.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie genau wie Karen in ihrem Käfig zurückgewichen war. Ihr rasender Pulsschlag überdeckte fast die leisen Schritte, die sich unaufhaltsam näherten. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Als der Mann die unteren Stufen erreichte und das Gewölbe betrat, schienen Stunden vergangen zu sein.

Die Deckenlampe flammte auf. Louise beobachtete den Mann im trüben Licht und sah, wie er kurz innehielt, ehe er sich an der Wand entlang bewegte. Soweit sie erkennen konnte, trug er einen dunklen oder grauen Trainingsanzug. Nach wie vor sagte er kein Wort, während er tiefer in den Raum vordrang, um plötzlich wie von Zauberhand zu verschwinden.

Kurz darauf hörte Louise, wie eine zweite Lampe eingeschaltet wurde. Das grelle Licht einer wattstarken Glühbirne erhellte den Raum. Louise sah, dass der Mann hinter einem Wandschirm verschwunden war, wie man ihn aus Krankenhausstationen kennt. Sie hatte den Eindruck, das Schattenspiel einer Marionettenaufführung zu beobachten. Der Mann stand auf der anderen Seite des Schirms. Nur seine Arme und Hände waren in Bewegung und beschäftigten sich mit irgendetwas, das leise Geräusche erzeugte. Deutlich hörte Louise das Quietschen eines alten Wasserkrans. Währenddessen summte der Mann eine Melodie vor sich hin, die Louise unbekannt war, aber der Klang war schrecklicher als jeder Schrei in der Nacht. Ihr Mund war pulvertrocken, ihre Kehle wie zugeschnürt, ihre Augen weit aufgerissen wie bei einem Tier, das instinktiv spürt, dass es jeden Moment von seinen Peinigern in Stücke gerissen wird.

Dann sah sie, dass die Silhouette in ihren Bewegungen erstarrt war. Sie ahnte, dass der Fremde sich ihr und Karen zugewandt hatte. Jetzt hörte sie sein schnelles Atmen; er schien aufgeregt zu sein wie ein Schauspieler, der eine Bühne betritt und gegen Lampenfieber ankämpft.

Schließlich trat er hinter dem Wandschirm hervor – ein unauffälliger, schmächtiger Mann mittlerer Größe. Er hatte wirres braunes Haar und eine wachsartige Haut. Für Louise aber war er ein Ungeheuer, das sie in ihrer Menschenwürde, in ihrer gesamten Existenz bedrohte. Wie konnte es sein, dass diese Bestie so viel Macht über sie und Karen hatte?

Louise sah, dass der Mann lächelte. Es war ein Lächeln, von dem nichts Bedrohliches ausging, doch augenblicklich erinnerte sie sich an seine fleckigen Zähne und den stinkenden Atem. Schon bei der Erinnerung stieg ihr ein widerwärtiger Geschmack in den Mund. Schaudernd dachte sie an den Geruch seiner fettigen Haare, an den Schweißgeruch, der seinen Poren entströmte, an seine klebrigen Hände, die sie an den Brüsten berührt hatten.

Als ihr mit einem Mal bewusst wurde, dass der Mann sie ansprach, erschrak sie so heftig, dass ihr der Atem stockte.

»Sam? Alles okay?«, fragte er. »Ich habe dir etwas mitgebracht. Etwas zu essen und zu trinken, wenn du möchtest. Es ist nicht gerade viel, aber es wird dir besser gehen, wenn du einen Happen zu dir genommen hast.« Langsam kam er in ihre Richtung, ein Tablett in der Hand, auf dem ein Plastikbecher mit Wasser stand, daneben ein Teller mit einem Sandwich. Das Sandwich sah aus, als hätte ein Kind es gemacht.

Als er am Käfig vorbeikam, duckte er sich leicht und spähte durch das Gitter. Ein Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln, als er den Blick über Louises Körper schweifen ließ. Sie spürte ein schmerzhaftes Prickeln auf der Haut.

»Ich muss dir das Tablett durch die Luke reichen«, sagte er. »Das ist besser so, bis du mehr verstehst. Du weißt doch, was ich meine, Sam? Du hast immer verstanden, was ich meine, auch wenn alle anderen mich nicht verstehen wollten. Deshalb sind wir ja zusammen, du und ich.«

Er zog einen kleinen Schlüssel aus der Tasche der Trainingshose und öffnete das Vorhängeschloss an der Käfigluke. Voller Angst verfolgte Louise jede seiner Bewegungen und zuckte zusammen, als er durch die Luke die Hand nach ihr ausstreckte, doch er hielt ihr nur das Tablett hin und wartete, dass sie es ihm abnahm.

»Nimm«, forderte er sie auf. »Ist alles für dich. Ich komme später wieder, wenn du genug hast.«

Zögernd wagte Louise sich vorwärts, ohne den Blickkontakt auch nur einen Sekundenbruchteil zu unterbrechen. Sie nahm das Tablett und stellte es auf dem Käfigboden ab. Sofort zog sie sich wieder in den hintersten Winkel ihres Gefängnisses zurück.

»Lass es dir schmecken«, versuchte der Mann sie zu ermuntern. »Aber zuerst trinkst du einen Schluck. Du wirst vom Chloroform dehydriert sein.«

Langsam streckte Louise die Hand nach dem Plastikbecher aus und beäugte die Flüssigkeit skeptisch, da sie von diesem Irren kam. Schließlich aber nahm sie einen Schluck und spürte, wie ihr das saubere, kalte Wasser die Kehle hinunterrann. Erst jetzt merkte sie, wie durstig sie war, und trank in gierigen Zügen.

»Gut, nicht wahr?«, fragte er. »Nicht zu viel auf einmal, dir könnte schlecht werden.«

Louise hielt inne und befeuchtete ihre Lippen und ihr Gesicht mit dem kühlen Wasser. Hatte sie jetzt schon die Kraft, mit diesem Verrückten zu sprechen? Versuch es, sagte sie sich. Wenn es ihr gelang, eine Verbindung zu ihrem Entführer herzustellen, konnte es ihr das Leben retten, weil der Mann es vielleicht nicht mehr fertigbrachte, sie umzubringen.

»Was ist mit ihr?«, brachte Louise mühsam hervor. Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder.

»Von wem sprichst du?«, erwiderte er. Wieder zuckte es in seinen Mundwinkeln.

Louise löste sich kurzzeitig von seinem Blick und schaute hinüber zu dem anderen Tierkäfig. »Von ihr. Von Karen. Jedenfalls sagt sie, dass sie Karen heißt.«

Sein Blick wurde kalt und abweisend. Von seinem Lächeln war keine Spur mehr zu sehen. »Mit der darfst du nicht reden, hörst du? Sie ist eine Lügnerin und Hure. Sie wollte mich glauben machen, sie wäre du, aber natürlich ist sie das nicht.«

Louise beobachtete, wie das Gesicht des Mannes sich vor Hass verzerrte. Er zog die Oberlippe zurück wie eine Hyäne; die Adern an seinem Hals schwollen an und traten dick und bläulich hervor.

Louise erkannte, dass sie Karen in Gefahr gebracht hatte, und versuchte hastig, ihren Fehler wiedergutzumachen. »Nein!«, stieß sie hervor. »Sie hat kein Wort zu mir gesagt, ehrlich. Ich habe sie gezwungen, mir ihren Namen zu nennen. Es war nicht ihre Schuld. Hier … hier ist doch genug Wasser. Bitte geben Sie ihr das restliche Wasser. Bitte.«

Doch ihr Bemühen, seinen Zorn auf die andere Frau zu mildern, die wimmernd in einer Ecke ihres Käfigs kauerte, war umsonst, denn er wandte sich abrupt von Louise ab und ging in Karens Richtung, den Blick starr auf sein anderes Opfer geheftet.

»Die Hure kriegt nichts!«, schrie er, und seine Stimme hallte hohl in dem Backsteingewölbe nach. »Die Hure kriegt nur das, was alle Huren wollen!«

Louise hielt sich vor Entsetzen die Ohren zu, während sie hilflos beobachtete, was geschah. »Es war nicht ihre Schuld!«, rief sie trotz ihrer Angst. »Lassen Sie Karen in Ruhe. Bitte. Sie hat nichts getan!« Tränen liefen ihr über die Wangen und schmeckten salzig auf der Zunge. Zäher Speichel hinderte sie beinahe am Sprechen, als sie den Entführer weiter beschwor, von Karen abzulassen.

Doch er kramte längst in der Hosentasche, um einen Gegenstand hervorzuholen, der größer zu sein schien als der Käfigschlüssel. Was immer es sein mochte – es hatte sich in der Tasche verfangen, sodass der Mann wild daran zerrte, wobei er keine Sekunde den Blick von Karens Käfig nahm. »Jetzt kriegst du, was du brauchst, du Nutte!«

Louise wollte die Augen zukneifen und den Kopf wegdrehen, als Karen sich verzweifelt gegen das Gitter am hinteren Ende des Käfigs stemmte, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Erst jetzt erkannte Louise den Gegenstand, den der Irre aus der Tasche gezogen hatte. Es war das Kästchen, mit dem er sie an ihrer Wohnungstür betäubt und gelähmt hatte.

Der Mann war inzwischen dermaßen außer sich vor Wut, dass er das Vorhängeschloss an der Tür des anderen Käfigs nicht aufbekam. Er fluchte wild. Schließlich aber hatte er die Tür geöffnet und beugte sich weit in den Käfig hinein. Obwohl Louise sich die Hände auf die Ohren presste, drangen Karens spitze Schreie bis in ihr Bewusstsein. Sie zitterte am ganzen Körper.

Karen wich so weit zurück, dass sich das Gittermuster auf ihrem Gesicht abzeichnete. Blut lief ihr übers Kinn, da die geschwollene Lippe wieder aufgeplatzt war, während sie vergeblich versuchte, sich zwischen den Gitterstäben hindurchzuquetschen. Die ganze Zeit flehte sie den Irren an, von ihr abzulassen, doch ihre Stimme klang immer matter, hilfloser.

Er ließ nicht von ihr ab. Stattdessen kam er Zoll für Zoll auf sie zu, als pirsche er sich an ein Opfer heran, bis er schließlich den Arm ausstreckte und Karen mit dem Elektroschocker berührte. Mehrmals setzte er an, mal blindlings, mal gezielt, und wich zwischendurch immer wieder zurück, als wollte er Karens Qualen in die Länge ziehen. Schließlich schnellte er nach vorn und traf Karen im Nacken.

Für den Bruchteil einer Sekunde versteifte sich ihr Körper; dann brach sie auf dem Boden des Käfigs zusammen, ein jämmerlich zuckendes, wimmerndes Etwas. Noch blieb der Mann auf Distanz, schien sich an ihrem Elend zu weiden. Ein boshaftes Grinsen huschte über seine Lippen, während Karens Krämpfe nachließen. Erst jetzt wagte er sich näher an sein Opfer heran, drehte Karen auf den Rücken und zog ihre Beine gerade.

Wieder wollte Louise wegschauen, doch es gelang ihr nicht, den Blick von der schrecklichen Szene zu nehmen. Wie unter Zwang schaute sie zum anderen Käfig, als sähe sie in einer Kristallkugel ihre eigene Zukunft. Hilflos beobachtete sie, wie der Mann sich an seiner Trainingshose zu schaffen machte. Hastig streifte er sie herunter, bis sein weißes Hinterteil und seine Erektion zu sehen waren. Mit langen Fingern streckte er die Hand nach Karen aus, zog ihr den schmutzigen Slip über die Knie, spreizte ihre Beine und schob sich grob zwischen ihre Schenkel. Louise hörte ihn stöhnen, als er in Karen eindrang und sich rhythmisch zu bewegen begann, zuerst langsam, dann mit immer schnelleren Stößen, wobei er grunzende Laute ausstieß, die sich an den Wänden brachen. Karen lag reglos unter ihm, ließ es geschehen und schluchzte nur.

Louise lief es eiskalt über den Rücken.

Kurz darauf verrieten raue Schreie der Lust, dass er zum Höhepunkt gekommen war. Nachdem die Geräusche verebbt waren, breitete sich lastende Stille aus. Niemand sprach ein Wort, niemand regte sich. Louise hatte das Gefühl, stundenlang in ein und derselben Haltung verharrt zu haben.

Dann erhob der Mann sich langsam, zog sich die Jogginghose über das noch immer steife Glied. Ohne ein weiteres Wort stieg er aus dem Käfig, brachte das Schloss wieder an und räusperte sich. Eine seltsame Ruhe war über ihn gekommen. Er wirkte beinahe verlegen und mied Louises Blick.

»Tut mir leid«, sagte er schließlich. »Das solltest du eigentlich nicht sehen, aber das macht sie nun mal mit mir, immer wieder, dieses Luder. Das Miststück will mich überlisten. Sie treibt mich zu so was. Dabei weiß sie genau, dass ich es gar nicht will. Sie weiß, dass ich nicht in ihr sein will. Sie gibt mir das Gefühl, schmutzig zu sein. Aber noch mal lasse ich mich nicht von ihr überlisten. Denn jetzt bist du ja hier, Sam. Ich lasse dich jetzt ein Weilchen allein. Später komme ich und hole das Tablett, ja? Versuch jetzt, ein bisschen zu essen.«

Mit diesen Worten wandte er sich zum Gehen, knipste die Lampen aus und ging zur Treppe, mit hängendem Kopf, als wäre ihm sein Verhalten peinlich. Louise hörte die langsamen, schlurfenden Schritte, als er über die Treppe im Dunkeln verschwand.

Kurz darauf war der metallene Klang der unsichtbaren Tür weiter oben zu hören. Noch einmal flutete Tageslicht über die Stufen und schmerzte Louise in den wunden, blutunterlaufenen Augen. Dann nahm die Düsternis wieder Besitz von dem unterirdischen Gewölbe, als die Tür ins Schloss fiel.

Atemlos spähte Louise durch das Zwielicht hinüber zu der Gestalt, die reglos auf dem Boden des anderen Käfigs lag. Karen machte keine Anstalten, sich mit den wenigen Kleidungsstücken zu bedecken, die ihr geblieben waren.

»Karen?«, wisperte Louise in die Dunkelheit. »Oh, Karen, es tut mir schrecklich leid …«

Sie erhielt keine Antwort. Stattdessen rollte Karen sich zusammen, schlang die Arme um die angezogenen Beine und summte kaum hörbar ein Lied.

Louise runzelte die Stirn und lauschte angestrengt. Als sie den Wortlaut erkannte, wusste sie, dass Karen gar kein Lied angestimmt hatte. Sie summte einen Kinderreim.

*

Am frühen Mittwochabend hielten Sally und Corrigan in der Oakfield Road 22, vor dem Haus von Louise und John Russell. Für Sally war es bloß eines der vielen unansehnlichen, aber praktischen modernen Stadthäuser, und sie achtete nicht weiter darauf. Corrigan hingegen nahm auf einen Blick Details wahr: Die Haustür lag ein wenig zurückgesetzt, war von der Straße aus nicht einsehbar und bot Schutz vor neugierigen Blicken der Nachbarn oder Passanten. Die Fenster waren doppelt verglast und relativ einbruchsicher. An der gesamten Straße standen nahezu identische Häuser. In einer solchen Umgebung fielen nur Männer auf, die zu lange an ein und derselben Stelle standen, oder herumlungernde Jugendliche mit Kapuzenpullis.

»Wieso hat keiner das Haus für die Forensiker abgesperrt?«, fragte Corrigan.

»Weil niemand weiß, ob hier etwas passiert ist«, sagte Sally. »Bis jetzt weiß man nur, dass Louise hier das letzte Mal gesehen wurde.«

Es war Tag eins der Ermittlungen, und Sally klang jetzt schon erschöpft.

Sie parkten den Wagen am Seitenstreifen und gingen die paar Meter bis zur Garagenauffahrt. Corrigan blieb stehen und sah sich um. Schweigend ließ er jeden Zentimeter der Hausfassade und der Straße auf sich wirken. In vielen Nachbarhäusern brannte Licht, obwohl es noch nicht richtig dunkel war.

Corrigan ließ den Blick in die Runde schweifen. Während er sich um die eigene Achse drehte und die Häuser einzeln ins Visier nahm, zuckte hinter einem der Fenster eine Gardine – ein Nachbar, der sie heimlich beobachtet hatte und nun schuldbewusst seine Neugier zu vertuschen suchte.

Sehr gut, dachte Corrigan. Neugierige Nachbarn erwiesen sich oft als die besten Zeugen. Manchmal waren sie sogar die Einzigen. Er nahm sich vor, die heile Welt dieses Nachbarn zu stören. Aber zuerst mussten sie ein paar Worte mit Russell wechseln.

Als Corrigan sich wieder Haus Nr. 22 zuwandte, sah er, dass Sally bereits an der Tür auf ihn wartete. Ungeduld hatte er nie mit Sally in Verbindung gebracht. Erst nachdem Gibran sie beinahe getötet hätte, schien sie es nicht mehr ertragen zu können, auch nur eine Sekunde ihres Lebens zu vergeuden – wie viele andere, die dem Tod von der Schippe gesprungen waren.

Corrigan kam zu ihr und hob die Hand, um auf den Klingelknopf zu drücken, klopfte dann aber mit der Faust an die Tür.

»Seit der Entführung hat man hier bestimmt schon hundert Mal geklingelt«, sagte er auf Sallys fragenden Blick. »Falls die Frau überhaupt entführt wurde. Die Jungs von der Spurensicherung werden kaum noch was Verwertbares an der Klingel finden, aber das bedeutet ja nicht, dass auch ich noch meine Fingerabdrücke hinterlassen muss.«

»Ein Profi bleibt ein Profi«, erwiderte Sally lapidar.

Im Innern des Hauses waren eilige Schritte zu hören, dann wurde die Tür geöffnet, und ein großer schlanker Mann Anfang dreißig stand vor ihnen. Er sah müde und deprimiert aus. Alles an seinem Äußeren und seinem Verhalten zeugte von Verzweiflung, selbst die Eile, mit der er zur Tür gekommen war. Corrigan ahnte, dass der Mann gehofft hatte, seine Frau wiederzusehen – dass sie reumütig zu ihm zurückkehrte und für ihre Untreue um Verzeihung bat. Leider sah die Wirklichkeit anders aus.

»Ja?«, fragte der Mann angespannt.

»John Russell?«, fragte Sally.

»Ja, der bin ich. Was gibt’s?«

»Wir sind von der Polizei«, sagte Sally. »Wir sind wegen Ihrer Frau hier.«

Corrigan sah, wie dem Mann das Blut aus dem Gesicht wich, und ahnte, was er dachte.

»Sie wird noch immer vermisst, mehr wissen wir bisher leider nicht«, sagte er und hielt dem Mann den Ausweis hin. »Detective Inspector Corrigan, und das hier ist Detective Sergeant Jones. Dürfen wir kurz hereinkommen?«

Russells Schmerz war so übermächtig, dass er einen Moment brauchte, um Corrigans Frage zu begreifen. »Oh, ja, sicher … kommen Sie.« Er machte die Tür hinter ihnen zu und führte sie in eine komfortable Wohnküche.

Corrigan schaute sich um: Schnappschüsse von gemeinsamen Reisen und aufwendig gerahmte Hochzeitsfotos, die auf Beistelltischchen oder an prominenter Stelle an den Wänden hingen. Das Paar schien glücklich zu sein in seinem unauffälligen Leben; beide waren offenbar zufrieden mit dem, was das Schicksal ihnen zugeteilt hatte. Sie konnten sich glücklich schätzen, nichts von den Dingen zu ahnen, die Corrigan jeden Tag sehen musste.

»Möchten Sie etwas trinken?«, bot Russell höflichkeitshalber an.

»Nein, danke.« Corrigan schüttelte den Kopf. »Wir wollten Ihnen nur ein paar Fragen über Ihre Frau stellen.«

»Ja, sicher. Fragen Sie.«

Corrigan spürte, dass der Mann nervös war, aber seine Unruhe hatte nichts mit einem schlechten Gewissen zu tun.

»Wann haben Sie Ihre Frau das letzte Mal gesehen?«, wollte Corrigan wissen.

»Dienstagmorgen. Ich bin gegen halb neun zur Arbeit gefahren, da war Louise noch hier. Als ich nach Hause kam, war sie verschwunden.«

»Und das war ungewöhnlich?«

»Ja. Sie ist fast immer vor mir zu Hause. Ich arbeite meist länger.«

»Hatte sie vielleicht erwähnt, dass sie nach der Arbeit ausgehen will? Könnte doch sein, dass es Ihnen entgangen ist. Vielleicht waren Sie mit den Gedanken woanders. Wir alle haben unseren stressigen Berufsalltag, Mr. Russell«, meinte Corrigan. »Meine Frau sagt immer, ich bekäme nur ein Drittel von dem mit, was sie sagt.«