Tödliche Teenager - Luke Delaney - E-Book + Hörbuch

Tödliche Teenager E-Book und Hörbuch

Luke Delaney

4,0

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  • Herausgeber: Jentas
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Ein Opfer. Zwei Mörder. Ein Verbrechen, das das gesamte Land schockiert. Zwei gewalttätige Ex-Häftlingen sind wieder auf freiem Fuß –und ein Polizist ist ihnen dicht auf den Fersen. Luke Delaney, der "die Londoner Verbrecherszene wie seine Westentasche kennt" (The Times) erzählt in diesem Roman von der Tat, aber auch von deren Nachwirkungen. 2005 begehen zwei Teenager in London ein so abscheuliches Verbrechen, dass das ganze Land geschockt und aufgebracht ist. Als die Leiche der vierzehnjährigen Abigail Riley in einem unterirdischen Bunker gefunden wird, macht sich DS Fraser Harvey auf die Jagd nach ihren Mördern – deren Brutalität nur noch von ihrer Naivität übertroffen wird. Elf Jahre später werden die jungen Mörder mit neuen Identitäten in ferne Länder umgesiedelt. Und der Fall lässt Harvey immer noch nicht los, er ist überzeugt, dass einer –oder beide –wieder töten werden. Harvey befürchtet, als Einziger den Tod weiterer Unschuldiger verhindern zu können, und muss sich entscheiden, wie weit er dafür zu gehen bereit ist – zu welchem Preis für ihn selbst und auch für all die anderen, deren Leben durch Abigails furchtbares Schicksal für immer verändert wurde. Was Leser:innen über Tödliche Teenager sagen: »Auf jeder Seite hat man das Gefühl, im Zentrum einer polizeilichen Ermittlung zu stehen.« –Daily Mail »Beängstigende Authentizität.« –The Sun »Süchtig machend ... fesselnd und spannend.« –Richmond Times-Dispatch »Dieses tolle Buch war mein erstes von Luke Delaney, der inzwischen einer meiner neuen Lieblingsautoren ist. Die Geschichte fesselt einen von Anfang an, und man liest weiter und weiß, dass man sie nie vergessen wird ... Ich vergebe selten 5-Sterne-Bewertungen. Aber bei diesem Buch? Auf jeden Fall!!!« –Amazon-Rezension ⭐⭐⭐⭐⭐ »... eine spannende Geschichte, die ich von Anfang bis Ende genossen habe ... Die Plot-Twists sorgen für Hochspannung ... Absolute Leseempfehlung." –Amazon-Rezension "Fantastisch geschrieben, düsterer Realismus vom Feinsten ... Ich war megagespannt, empfand Angst, Mitleid, Abscheu, Traurigkeit, eine absolute emotionale Achterbahnfahrt ... Ein großartiges Buch« –Amazon-Rezension ⭐⭐⭐⭐⭐ »... von Anfang an absolut fesselnd ... Kann sein nächstes Buch kaum erwarten ...« –Amazon-Rezension ⭐⭐⭐⭐⭐

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Seitenzahl: 532

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Zeit:13 Std. 20 min

Sprecher:Beate Rysopp

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Tödliche Teenager

Tödliche Teenager

© Luke Delaney 2021

© Deutsch: Jentas A/S 2023

Titel: Tödliche Teenager

Originaltitel: The Killing Boys

Übersetzung : Christine Heinzius

ISBN: 978-87-428-2042-1

Published by arrangement with Rights People, London and Bloodhound Books Limited

Prolog

Kanada – Gegenwart

Der Mann, der als Peter Delph bekannt war, ging zu einem kleinen Lebensmittelladen in der verschneiten Provinzstadt Morecroft in der Nähe von Montreal, Quebec. Er sah aus wie jeder andere Einheimische, war warm angezogen und trug eine Mütze mit Ohrenklappen im russischen Stil, war aber trotzdem gut zu erkennen. Er betrat den Laden, schnappte sich einen Korb und durchstöberte die Gänge, wählte desinteressiert das eine oder andere Produkt aus.

Draußen hielt ein unscheinbarer Pick-up auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die Auspuffgase wurden in der eisigen Luft zu Wolken. Durch die getönten Scheiben war es unmöglich, den Fahrer zu sehen.

Delph machte sich auf den Weg zur Kasse und reichte der Kassiererin, einer Frau mittleren Alters, seinen Korb – er reagierte zwar nicht auf ihren Smalltalk, lächelte sie aber freundlich an. Er bedankte sich und ging mit seiner vollen braunen Papiertüte hinaus.

Der Fahrer wartete im Wagen. Er trug eine Sonnenbrille und eine tief ins Gesicht gezogene Baseballkappe, sein Kragen war hochgeschlagen. Eine Pistole lag auf seinem Schoß, während er über die verschneite Straße auf den kleinen Lebensmittelladen blickte – und wartete. Nach ein paar Sekunden verließ Delph den Laden und ging den Bürgersteig entlang. Der Fahrer stieg aus seinem Wagen und überquerte die Straße, folgte ihm auf dem Bürgersteig, kam ihm immer näher.

Als Delph sein Auto erreichte und in seiner Tasche nach den Schlüsseln kramte, verringerte der Fahrer den Abstand, bis er nur noch wenige Meter entfernt war. „Peter Delph?”, fragte er ruhig.

Delph drehte sich um, überrascht, seinen Namen auf der Straße zu hören. Ein seltenes Ereignis in seinem neuen Leben. Als er sich umwandte, sah er den Mann dastehen, die Hände an den Seiten. „Kann ich etwas für Sie tun?”, fragte er mit seinem englischen Akzent. Der Mann hob den Arm, eine Pistole mit Schalldämpfer in der Hand. Delph öffnete den Mund, als hintereinander zwei Luftstöße aus dem Schalldämpfer drangen, die Kugeln durchlöcherten die Einkaufstüte, bevor sie seinen Oberkörper trafen. Er brach auf dem Boden zusammen, die Einkäufe verteilten sich auf dem Bürgersteig. Der Mann ging zielstrebig auf ihn zu, stellte sich über ihn, die Waffe unablässig auf sein Gesicht gerichtet, während Delph nach Luft rang, verzweifelt zu sprechen versuchte, um sein Leben flehen wollte, während sich der Schnee unter ihm rot färbte. Plötzlich zwei weitere Schüsse, von denen einer in Delphs Stirn und der andere in sein rechtes Auge eindrang. Er fiel starr in den Schnee, begann dann zu zucken, weil sein Körper registrierte, dass sein Gehirn zerstört worden war. Sein Mörder war bereits im Wagen weggefahren, als sein Körper schließlich regungslos liegen blieb.

Erstes Kapitel

Irgendwo in England – 2016

Während Detective Sergeant Fraser Harvey sich auf einer holprigen Anliegerstraße einem bescheiden aussehenden Farmhaus näherte, suchte er die Gegend nach Lebenszeichen ab, entdeckte aber nichts. Als er vor dem Haus anhielt, kam ein leger gekleideter Mann in den Vierzigern aus dem Haus und blieb an der Tür stehen, um Harvey genau zu beobachten, während der aus dem Auto stieg. Sie beäugten sich gegenseitig, es war jedoch offensichtlich, dass sie keine Fremden waren.

„Alles in Ordnung?”, fragte Harvey, als er auf den Mann zuging.

„Alles in Ordnung”, antwortete DS Collins.

Harvey ging wortlos an ihm vorbei und betrat das Farmhaus, das drinnen eindeutig kein gewöhnliches Farmhaus war. Es sah eher aus wie eine Mischung aus einer Polizeistation und einem einfachen Haus. Zwei weitere Polizisten saßen dort und sahen gelangweilt aus – die Handfeuerwaffen deutlich sichtbar an ihren Gürteln. Beide nickten Harvey zu, der zurücknickte, bevor er einen Stuhl heranzog und sich setzte. „Was für eine verdammte Bruchbude”, beschwerte sich Harvey. „Wir sitzen mitten im Nirgendwo fest. Ich hasse das verdammte Land – Kuhscheiße und Traktoren.”

„Passt zu unserer Aufgabe”, sagte Collins lächelnd. „Keine neugierigen Blicke. Das ist das beste Versteck, das wir haben, und eines der ältesten. Es wurde damals gebaut, als einige der IRA-Typen anfingen, sich gegen ihre Brüder zu wenden. Danach wurde es hauptsächlich für Gangmitglieder genutzt, die ausstiegen. Und jetzt sind es wieder die Terroristen – einheimische, leicht verführbare Dummköpfe, die auf die dunkle Seite gelockt werden, und davon gibt es eine Menge, also je schneller ihr das erledigt, was ihr mit diesen beiden zu erledigen habt, und uns von ihnen befreit, desto besser. Verstehst du, was ich meine?”

„Ja, klar”, versicherte Harvey ihm. „Du bekommst dieses Drecksloch zurück, sobald ich fertig bin. Bis dahin ist alles, was hier passiert, streng vertraulich – sogar noch mehr als sonst. Unter keinen Umständen darfst du mit jemand anderem als mir über die beiden inhaftierten Männer sprechen. Ebenso dürfen weder du noch deine Leute mit den Inhaftierten sprechen, außer um ihnen grundlegende Anweisungen zu geben und ihre Fragen zu beantworten – vorausgesetzt, diese Fragen beziehen sich nicht auf den Grund ihrer Anwesenheit oder ihren historischen Fall. Ich muss allein mit ihnen sprechen. Niemand sonst darf anwesend sein. Verstanden?”

„Klar”, stimmte Collins zu, froh, nicht zu sehr involviert zu sein. „Wie du meinst.”

„Gut”, sagte Harvey und nickte langsam. „Und keine Namen. Nicht einmal, wenn sie dir oder deinen Männern sagen, wer sie sind. Sie sind Häftling Eins und Häftling Zwei, bis ich etwas anderes sage.”

„Das ist kein Problem für meine Leute”, versicherte Collins ihm. „Also, wann willst du loslegen?”

„Sofort”, antwortete er und stand wieder auf. „Ich fange mit Häftling Eins an, danach Nummer zwei.”

„Okay”, antwortete Collins. „Du siehst kaputt aus, Fraser. Ist alles in Ordnung?”

Er seufzte, bevor er antwortete. „Ich versuche seit mehr als elf Jahren, diesen Fall hinter mir zu lassen”, erklärte er, „aber er zieht mich immer wieder in sich hinein – wie verdammter Treibsand. Je schneller ich das hinter mich bringe, desto eher kann ich versuchen zu vergessen, dass ich die beiden je getroffen habe.”

„Wenn du sie einfach vergessen willst, warum hast du dann nicht jemand anderen mit ihrer Umsiedlung beauftragt?“, fragte Collins. „Die Umsiedlung fällt nicht in deinen Zuständigkeitsbereich.”

„Ich habe mich freiwillig gemeldet”, gab er zu.

„Freiwillig?”, hakte Collins nach. „Warum das denn?”

„Ich habe meine Gründe”, antwortete Harvey. „Vielleicht ist das der einzige Weg, wie ich mich jemals von ihnen befreien kann.”

„Glaubst du das wirklich?”, wollte Collins wissen.

Harvey lächelte resigniert und schüttelte leicht den Kopf. „Nein”, gab er zu. „Eigentlich nicht – aber ich hoffe es.”

„Hoffen?”, fragte Collins.

„Vergiss es”, sagte Harvey zu ihm. „Zeit, dass ich weiterziehe. Das ist alles. Wenn es dir nichts ausmacht – ich muss noch eine Menge erledigen.”

***

Harvey saß an dem kleinen Tisch im kahlen Vernehmungsraum, neben dem Doppelkassettenrecorder, seine Aktentasche neben ihm auf dem Boden. Die Tür ging auf, und nach einigen Momenten Stille wurde g Eins von einem der Ermittler, die Harvey bei seiner Ankunft gesehen hatte, hereingeführt. Trotz der elf Jahre, die vergangen waren, erkannte er den Gefangenen wieder – so blass und hässlich wie eh und je, bloß war sein Körper jetzt mit selbstgemachten Gefängnistätowierungen verziert, und seine Zähne waren nach Jahren des starken Rauchens und der Vernachlässigung gelb. Beide starrten sich eine gefühlte Ewigkeit lang an, bevor Harvey sich an den Detective wandte. „Sie können jetzt gehen”, sagte er zu ihm. Der Detective drehte sich um und ging, ohne ein Wort zu sagen. „Setzen Sie sich”, befahl Harvey. Der Gefangene ging teilnahmslos zum Tisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. „Lange her. Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, waren Sie noch ein kleiner Junge. Jetzt sind Sie ein Mann.”

Der Gefangene ignorierte das höfliche Geplänkel und schaute stattdessen misstrauisch auf den Kassettenrekorder. „Sind Sie hier, um mich zu befragen?”

„Nein”, erklärte Harvey. „Die Zeit der Befragungen ist vorbei.”

„Ich erinnere mich an Sie”, antwortete er nach einigen Sekunden, und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Sie sehen alt aus. Sind Sie krank oder so?”

Harvey starrte ihn kalt an. „Wir sind hier, um über Sie zu reden, nicht über mich.”

„Meinetwegen”, erwiderte er achselzuckend. „Ich habe Sie nicht mehr gesehen, seit Sie mich in Feltham besucht haben – als Sie ein letztes Mal versucht haben, mich dazu zu bringen, einen Mord zu gestehen, den ich nicht begangen habe.”

„Nun”, seufzte er. „Nachdem Sie wegen des Mordes verurteilt worden waren, gab es für mich keinen Grund mehr, Sie aufzusuchen – nicht wahr?”

„Bis jetzt”, sagte er, und das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht.

„Bis jetzt”, nickte Harvey. „Ich nehme an, Sie wissen, warum Sie hier sind?”

„Zu meinem eigenen Schutz”, sagte er achselzuckend. „Heißt es.”

„Das stimmt.”

„Aber ich bin doch frei – oder?”, fragte er. „Ich habe meine Zeit abgesessen.”

„Technisch gesehen schon”, antwortete Harvey. „Aber Sie sind lebenslang auf Bewährung. Wenn Sie gegen Ihre Bewährung verstoßen, gehen Sie zurück ins Gefängnis.”

„Gut”, antwortete er ungeduldig. „Dann verspreche ich, dass ich nicht gegen meine Bewährung verstoßen werde. Jetzt geben Sie mir meine Sachen und lassen Sie mich gehen. Ich ertrage es nicht, in diesem Drecksloch eingesperrt zu sein. Ich habe für mein ganzes verdammtes Leben genug davon, eingesperrt zu sein.”

„So einfach ist das nicht”, erklärte Harvey ihm. „Eine der Bedingungen der Bewährung ist, dass Sie mit den Behörden zusammenarbeiten. Dass Sie sich von uns beschützen lassen.”

„Ich brauche keinen Schutz”, knurrte der Gefangene. „Ich muss nur hier raus.”

„Und was glauben Sie, wie lange es dauert, bis Sie jemand erkennt und Ihnen ein Messer in den Bauch rammt oder Sie mitten in der Nacht von maskierten Männern aus dem Bett gezerrt und nie wieder lebend gesehen werden?”, schnauzte Harvey ihn an und erhob dabei seine Stimme. „Es gibt da draußen immer noch eine Menge Hass auf Sie – besonders seit Ihrer Entlassung. Die ganze Sache ist wieder aufgeflammt. Viele Leute da draußen würden Sie gerne tot sehen.” Er saß still und mit steinerner Miene da. „Gut”, sagte Harvey, während er neben sich griff und seine Aktentasche hochhob. Er öffnete sie und warf ihm dann eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug zu. „In den Akten steht, dass Sie im Gefängnis mit dem Rauchen angefangen haben.” Der Gefangene öffnete sofort die Schachtel, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an, ohne dabei jedoch Harvey aus den Augen zu lassen. Der zog eine als vertraulich gekennzeichnete Akte heraus und schlug sie auf.

„Was ist das?”, fragte er.

Harvey blätterte mit dem Daumen durch die Seiten. „Ihr neues Leben”, erklärte er. „Ihr Äußeres hat sich mit zunehmendem Alter verändert, aber nicht so sehr, dass nicht immer noch die Gefahr besteht, dass Sie erkannt werden – zumindest, wenn Sie im Land bleiben würden.”

„Sie schicken mich ins Ausland?”, fragte er beunruhigt.

„Ja”, sagte Harvey, als ob das nichts wäre. „Nach Kanada, um genau zu sein. In die kanadische Provinz. Sie werden beobachtet und überwacht, wenn auch nicht vierundzwanzig Stunden am Tag. Ihre E-Mails und Ihre Computernutzung werden kontrolliert, Ihre Festplatte wird von Zeit zu Zeit untersucht, aber Sie werden ein freier Mann sein.”

„Frei?” Der Gefangene lachte. „Und was ist, wenn ich nicht im verdammten Kanada leben will?”

„Dann gehen Sie zurück in die Siedlung, in der Sie Abigail getötet haben, und schauen, wie lange Sie durchhalten”, schlug Harvey vor.

„Ich habe sie nicht umgebracht”, erwiderte er, wie er es schon Jahre zuvor getan hatte, nur dass sein Blick nicht mehr kämpferisch war.

Harvey wartete ein paar Sekunden, bevor er antwortete. „Sie müssen verstehen, dass das Leben, das Sie vor dem Mord geführt haben, nicht mehr existiert”, erklärte er. „Sie können nicht einfach zurückgehen und dort weitermachen, wo Sie aufgehört haben. Sie müssen neu anfangen.” Der Gefangene saß still und grübelnd da, während Harvey in die Akte sah. „Da Sie sich entschieden haben, Ihre Zeit im Gefängnis zu vergeuden, und keinerlei Qualifikationen oder Fähigkeiten erworben haben, haben wir für Sie einen Job als Handlanger in einer Holzfabrik in der Nähe Ihres Wohnortes. Wir hatten Glück, dass wir den überhaupt gefunden haben. Glücklicherweise kannte der örtliche Bewährungshelfer einen der Chefs und hat uns den Job besorgt. Die Story dazu lautet, dass Sie ein Kleinkrimineller sind, der neu anfangen will.” Er schob die Akte über den Schreibtisch dem Gefangenen zu. „Alles, was Sie wissen müssen, steht in dieser Akte. Ihr neues Leben – Name, Geschichte, Strafregister, Familie – alles. Studieren Sie sie, wie Sie noch nie etwas studiert haben. Sie werden darauf getestet und verlassen dieses Versteck erst, wenn ich mir sicher bin, dass Sie sie in- und auswendig kennen. Verstanden?”

Er zog die Akte zu sich heran und blickte hinein. „Mein neues Leben?”

„Ihr neues Leben”, wiederholte Harvey und stand auf. „Entweder das oder zurück ins Gefängnis. Lernen Sie das alles auswendig und lernen Sie es gut. Ihr Leben hängt davon ab. Ich werde in ein paar Tagen wiederkommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht.” Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Akte. „Verschwenden Sie meine Zeit nicht. Ich gebe Ihnen eine Chance, von der nur wenige glauben, dass Sie sie verdient haben.” Der Gefangene ließ seine Hand auf der Akte ruhen und sah Harvey stumm an. „Bis zum nächsten Mal”, sagte Harvey und ging zur Tür.

***

Harvey stand allein vor dem Versteck und blickte auf die Landschaft, als Collins aus dem Haus kam, ein paar Pillen aus der Verpackung drückte und sie einwarf. Er trank einen Schluck aus dem Becher, den er in der Hand hielt, und verzog das Gesicht, während er die Pillen hinunterzwang.

„Mittagessen?“, fragte Collins.

„Nein”, antwortete er trocken. „Frühstück.”

Collins lächelte kurz, bevor er wieder zur Sache kam. „Was wollen Sie jetzt tun?”

„Mit ‚Wollenʼ hat das nichts zu tun”, antwortete er. „Bringen Sie Häftling Zwei in den Vernehmungsraum. Je schneller ich das hinter mich bringe, desto besser.”

***

Harvey betrat denselben Vernehmungsraum wie vorher. Dort saß der Mann, der nur noch als Häftling Zwei bekannt war, bereits aufrecht am Tisch. Er wirkte ruhig und gelassen. Derselbe Detective wie zuvor stand in einer Ecke und ließ den Gefangenen nicht aus den Augen. Der Gefangene sah fit und schlank aus – eine halb ausgetrunkene Wasserflasche stand vor ihm auf dem Tisch. Er beobachtete jede Bewegung Harveys.

„Sie können jetzt gehen”, sagte Harvey dem Wachmann.

Der Detective nickte und ging zur Tür. „Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie mir Bescheid”, bot er an.

„Danke”, antwortete Harvey und wartete, bis er gegangen war, bevor er sich dem Gefangenen gegenübersetzte. Die beiden Männer sahen sich einige Sekunden lang stumm an, dann brach der Gefangene das Schweigen.

„Detective Sergeant Harvey”, sagte er mit einem leichten Lächeln. „Ist schon lange her.”

„Sie erinnern sich also an mich?“, fragte Harvey.

„Dachten Sie, ich würde Sie vergessen?”

„Vielleicht”, erwiderte er achselzuckend. „Sie waren jung und standen unter großem Stress. Manchmal ist die Person, die die Fragen stellt, kaum mehr als ein gesichtsloser Vernehmer.”

„Sie waren aber nie nur ein Vernehmer, oder?”, erwiderte Häftling Zwei. „Sie waren immer sehr ... zielgerichtet.”

Wieder herrschte Schweigen, während Harvey versuchte, ein Gefühl für den Mann zu bekommen, der vor ihm saß. „Wie kamen Sie im Gefängnis zurecht? Ich weiß, dass es hart sein kann.”

„Feltham war ... schwierig”, gab er zu. „Zu viele Bandenmitglieder haben versucht, sich einen Namen zu machen. Sobald wir alt genug waren, um nach Belmarsh verlegt zu werden, wurde es ruhiger.”

„Regel 43”, erinnerte Harvey ihn, „die Sie von der Mehrheit der Gefängnisinsassen isoliert.”

„Das war wahrscheinlich das Beste”, antwortete er. „Ich habe mich an die Isolation gewöhnt.”

Harvey nickte langsam. „Haben Sie Ihren Freund drinnen oft gesehen?”

„Wir haben uns gesehen, aber nur selten miteinander gesprochen”, antwortete er – wohl wissend, dass Harvey den Mann meinte, mit dem zusammen er verurteilt worden war. „Er wollte. Und ich auch nicht.”

„Wie kommt das?”

„Er hat mein Leben zerstört”, sagte er emotionslos. „Hätte ich geglaubt, dass ich damit davonkäme, hätte ich ihn wahrscheinlich umgebracht.” Er schwieg einen Moment lang. „Ist er hier, an diesem ... Ort?”

„Nein”, log Harvey. „Nur Sie. Er ist woanders untergebracht – zu seinem eigenen Schutz.”

„Ich verstehe”, erwiderte der Gefangene. „Nur scheint dieser Ort für nur einen Häftling zu groß zu sein, außerdem darf ich immer nur zu bestimmten Zeiten nach draußen – als wäre hier noch jemand, den ich nicht treffen soll.”

„Das sind Sie nicht”, sagte Harvey.

„Was?”, fragte er leicht verwirrt.

„Ein Häftling”, antwortete er. „Sie sind kein Häftling mehr. Dieser Ort ist nur ein Versteck – eine sichere Einrichtung. Ein Ort, an dem Sie beschützt werden, während wir Sie auf Ihr neues Leben vorbereiten.”

„Verstehe”, sagte er und klang misstrauisch. „Und die abscheuliche Kreatur – ist er auch kein Häftling mehr?”

„Das ist richtig”, bestätigte Harvey. „Er wird anderswo auf sein neues Leben vorbereitet.”

„Seltsam, dass wir zur gleichen Zeit entlassen werden”, wechselte er das Thema. „Wenn man bedenkt, dass ich ein Musterhäftling war und er nicht. Er war ein fauler Unruhestifter, während ich mich angepasst und alles getan habe, was man von mir verlangte.”

„Ich gebe zu, es ist ungewöhnlich und auch ungerecht”, erklärte Harvey, „aber nach reiflicher Überlegung und vielen Gesprächen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es am besten wäre, wenn wir Ihnen beiden gleichzeitig ein neues Leben geben würden – angesichts der Einzigartigkeit des Verbrechens und des Medieninteresses, das immer noch an diesem Fall besteht.”

„Ich verstehe”, sagte der Gefangene. „Und um ehrlich zu sein, wann und wie Sie ihn freilassen, interessiert mich nicht. Er ist jetzt Ihr Problem. Nicht meins.”

Harvey nickte stumm, bevor er fortfuhr. „Sie haben sich im Gefängnis gut geschlagen – haben Ihre Zeit konstruktiv genutzt, sich einige nützliche Qualifikationen angeeignet und sogar einen Beruf erlernt. Obwohl ich Sie nie für einen Landwirt gehalten hätte.” Der Gefangene starrte ihn nur schweigend an. „Wie ich hörte, war Ihr Verhalten vorbildlich. Sie haben nie Ärger gemacht.”

„Ich habe meine Zeit im Gefängnis akzeptiert”, sagte er ihm. „Ich habe meine Strafe verdient. Sie wissen, warum ich so denke, aber das heißt nicht, dass ich, als ich mit diesen Tieren eingesperrt war, so werden wollte wie sie – mit Drogen und Tabak dealen, immer auf der Suche nach einem Weg, das System zu hintergehen. Sich mit anderen Männern erniedrigen, nur weil es keine Frauen gab. Ich musste ich selbst bleiben.”

Harvey sah ihn lange an, bevor er eine Akte aus seiner Aktentasche zog und sie dem Gefangenen über den Tisch zuschob.

„Was ist das?”, fragte er.

„Ihr neues Leben”, erklärte Harvey. „Ein neuer Name. Ein neuer Ort zum Leben.”

„Wo?”

„In Neuseeland auf dem Land”, sagte Harvey. „Je weiter Sie von hier weg sind, umso besser – für Sie.”

„Und wenn ich mich weigere, zu gehen?”

„Wird Ihre Freilassung widerrufen und Sie werden ins Gefängnis zurückgebracht, um den Rest Ihrer Strafe zu verbüßen, bevor Sie in eine Gemeinschaft entlassen werden, die Sie tot sehen will.” Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sagte aber nichts. „Es könnte schlimmer sein. Angesichts Ihrer landwirtschaftlichen Qualifikationen konnten wir eine kleine Farm für Sie erwerben. Sie werden sich bald selbst versorgen können und sogar in der Lage sein, zusätzliche Produkte zu verkaufen und den Gewinn zu behalten.” Er suchte im Gesicht von Häftling Zwei nach einer Reaktion, konnte aber keine erkennen. „Das ist ein gutes Geschäft. Fast wie ein Neuanfang. Sie werden weitgehend in Ruhe gelassen, obwohl es diskrete Besuche der örtlichen Polizei sowie von Beamten der Met geben und Ihre Bewegungsfreiheit in Neuseeland eingeschränkt sein wird. Ein paar andere Dinge auch, aber es wird ein Leben sein.”

„Alleine”, antwortete er. „Auf einer Farm mitten im Nirgendwo – noch mehr Isolation?”

„Ich dachte, Sie hätten sich an die Isolation gewöhnt?”, erinnerte Harvey ihn. Er antwortete nicht. „Außerdem – Ihre Wahlmöglichkeiten sehen nicht sehr ... verlockend aus.” Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Akte auf dem Schreibtisch. „Studieren Sie sie gut. Alles, was Sie wissen müssen, steht hier drin. Sie müssen sich jedes Detail einprägen. Sobald Sie wieder in der freien Welt sind, könnte der kleinste Fehler tödlich sein. Ich werde in zwei Tagen zurückkehren, um zu sehen, wie Sie zurechtkommen.” Er stand auf, um zu gehen.

„Warum sollte ich Ihnen vertrauen?”, fragte der Gefangene plötzlich. „Ich weiß fast nichts über Sie, aber Sie wissen alles über mich.”

„Weil Sie keine andere Wahl haben”, erinnerte er ihn eindringlich.

„Erzählen Sie mir eine Sache über sich und ich werde genau das tun, was Sie sagen”, versprach er. „Nur eine Sache.” Harvey starrte ihn eine Weile an, sagte aber nichts. „Sind Sie verheiratet?”, fragte er. „Kinder?”

„Ja”, antwortete er schließlich. „Ich bin verheiratet.”

„Das habe ich vermutet”, sagte er, bevor er ihn schnell an seine andere Frage erinnerte: „Und Kinder?”

„Die Akte.” Harvey wandte sich zur Tür. „Lesen Sie sie.”

„Warum Neuseeland?”, fragt er. „Warum nicht Südamerika oder die USA – wo der Fall nicht so bekannt ist?”

„Wir wollten, dass es ein Commonwealth-Land ist”, erklärte Harvey. „Wo wir immer noch ein gewisses Maß an Einfluss auf die Rechtsprechung ausüben können.”

„Dann nehme ich an, das gilt auch für ihn?”, sagte Dolby mehr, als dass er fragte. „Wo wird er versteckt – in Australien? Nein, zu nah. Sie werden uns so weit wie möglich auseinanderhalten wollen.” Seine Augen wurden schmaler, während er versuchte, es herauszufinden. „Kanada”, erklärte er plötzlich. „Ja – Sie schicken ihn nach Kanada. Nicht wahr?”

Harvey antwortete nicht, nahm seine Aktentasche und ging zur Tür. „Wie Sie gesagt haben – er ist nicht mehr Ihr Problem. Er ist meins”, erinnerte er ihn. „Zwei Tage. Sie gehen hier nicht weg, bevor ich mir nicht sicher bin, dass Sie sich nicht selbst gefährden. Egal, wie lange es dauert.”

„Ich werde alles lernen”, erwiderte der Gefangene lächelnd. „Sie haben mein Wort.”

Zweites Kapitel

Elf Jahre zuvor

In der kleinen Küche in ihrem Haus in Kilburn, Nordlondon, packte Abigail Riley eilig ihre Schultasche, während ihre Mutter Sarah das Frühstück für sie und ihren jüngeren Bruder vorbereitete.

„Komm und iss jetzt”, sagte sie in ihrem sanften irischen Akzent zu Abigail, während sie einen Teller auf den Tisch stellte. „Du kommst sonst zu spät zur Schule.”

„Ich komme nie zu spät zur Schule”, erinnerte Abigail sie mit einem Lächeln, hörte auf zu packen und setzte sich an den Tisch.

„Denk daran, dass du diese Woche entscheiden musst, mit welchem Profilfach du deinen GCSE-Abschluss machen willst”, erinnerte Sarah sie.

„Ja, Mum.” Abigail verdrehte die Augen, wie es jede Vierzehnjährige tun würde, und knabberte an einem Stück Toast.

„Und komm nach der Schule direkt nach Hause”, wies Sarah sie an. „Vielleicht musst du auf Jimmy aufpassen, während ich weggehe.”

„Sollte ich nicht fürs Babysitten bezahlt werden oder so?”, fragte sie frech.

„Nein, das solltest du nicht”, antwortete Sarah. „Kost und Logis sind frei. Besser geht es nicht. Vergiss es nicht, ja? Nicht, dass du stattdessen mit deinem Freund weggehst.”

„Mum”, beschwerte sich Abigail und wurde leicht rot. „Er ist nicht mein Freund. Wir haben uns noch nicht einmal geküsst.”

„Gut”, sagte Sarah. „Belass es dabei und pass auf, dass dein Vater es nicht herausfindet. Er ist nicht so verständnisvoll wie ich.”

„Ja, Mum.” Sie verdrehte wieder die Augen.

„Komm schon, Jimmy.” Sarah stupste den Jungen an. „Beeil dich und iss dein Frühstück auf, damit ich dich zur Schule bringen kann.” Jimmy zuckte nur mit den Schultern.

Abigail machte sich schnell ein chaotisches Schinkensandwich aus dem, was auf ihrem Teller lag, dann sprang sie auf. „Ich werde das auf dem Weg zur Schule essen”, erklärte sie.

„So frühstückt man nicht richtig”, sagte Sarah. „Teenager von heute, immer wird alles im Gehen erledigt. Ich weiß gar nicht, wieso du so gut in der Schule bist, bei deinem Benehmen.”

„Noten lügen nicht, Mama”, sagte sie mit einem zufriedenen Lächeln.

„Nun, ruh dich nicht darauf aus”, warnte Sarah sie. „Gute Noten erfordern harte Arbeit.”

„Ich weiß, Mum”, versicherte sie ihr, während sie aufstand, ihren Schulblazer von der Stuhllehne nahm und hineinschlüpfte.

„Du machst deinen Vater und mich sehr stolz”, sagte Sarah plötzlich zu ihr. „Und vergiss nicht, du kannst ...”

„Ich kann alles werden, was ich werden will”, beendete sie den Satz für sie. „Das sagst du mir jeden Tag, Mum.”

„Weil es wahr ist”, erwiderte Sarah. „Du bist ein besonderes Mädchen, Abigail. Vergiss das nie.”

„Das werde ich nicht”, versprach sie, von der Liebe ihrer Mutter erwärmt, wie jeden Tag, bevor sie sich allein auf den Weg zur Schule machte.

Sarah küsste sie auf die Stirn. „Pass auf dich auf. Und komm nicht zu spät.”

„Ja, Mama”, erwiderte sie, während sie zur Tür ging, umsorgt und geliebt. Ihr ganzes Leben lag vor ihr. Sie öffnete die Haustür und trat hinaus in den kalten Morgen – ein ganz gewöhnlicher Tag im Leben eines aufgeweckten, hübschen vierzehnjährigen Mädchens.

Drittes Kapitel

London – 2016

Harvey klopfte an die Tür des kleinen Reihenhauses der Rileys im Norden Londons und trat einen Schritt zurück, während er auf eine Antwort wartete. Er hörte Schritte, die sich von innen näherten, dann wurde die Tür von einem jungen Mann Anfang zwanzig geöffnet, den er trotz der verstrichenen Zeit als Jimmy Riley erkannte. Er konnte am stechenden Blick erkennen, dass Jimmy wusste, wer er war.

„Sie”, war alles, was Jimmy sagte.

„Hallo, Jimmy”, begrüßte Harvey ihn. „Ist Ihre Mutter da? Ich muss mit Ihnen beiden sprechen.”

Jimmy trat beiseite und ließ ihn hinein, dann führte er ihn in die Küche, wo Sarah gerade kochte. Sie wirkte ängstlich und misstrauisch, als sie Harvey sah.

„Hallo, Sarah”, sagte er zu ihr. „Es ist eine Weile her. Wie ist es Ihnen ergangen?”

„Wir kommen zurande”, erwiderte sie vorsichtig. „Was wollen Sie?”

Harvey nahm unaufgefordert Platz. „Ich habe einige Informationen für Sie”, antwortete er. „Nichts, was Sie hören wollen, aber Sie müssen es dennoch wissen.”

„Der Tag ist also endlich gekommen”, vermutete sie, und ihr Körper spannte sich an, als sie sich für die Bestätigung wappnete.

„Ich fürchte ja”, sagte er ihr direkt. „Sie sollen entlassen werden. Wir können sie nicht länger festhalten. Es tut mir leid.”

Sie ging schwankend zu einem Stuhl und setzte sich, um ihre Fassung wiederzuerlangen. „Wie lange noch?”

„Einige Tage”, sagte er zu ihr. „Höchstens ein paar Wochen.”

„Gut”, mischte sich Jimmy überdreht und aufgeregt ein. „Jetzt kann Abigail endlich die Gerechtigkeit widerfahren, die sie verdient. Wenn sie erst einmal aus dem Gefängnis sind, kann man sie nicht mehr beschützen. Die Bastarde werden bekommen, was sie verdient haben.”

„Das ist gefährliches Gerede, Jimmy”, warnte Harvey ihn. „An Ihrer Stelle würde ich so etwas nicht sagen.”

„Ja, aber ich bin nicht Sie”, schnauzte Jimmy. „Und Abigail war nicht Ihre Schwester.”

„Genug”, unterbrach ihn Sarah.

„Aber Mama”, beschwerte sich Jimmy. „Was sollen wir tun – sie einfach gehen lassen? Nach dem, was sie getan haben?”

„Ich sagte, das reicht”, beharrte sie. „Pass auf, was du sagst, mein Sohn.” Sie holte tief Luft, bevor sie sich an Harvey wandte. „Können Sie es verhindern? Können Sie irgendetwas tun, um es zu stoppen?”

„Es tut mir leid”, sagte er. „Nein. Es gibt nichts, was ich tun kann.”

„Das war’s dann also?”, sagte sie und starrte an die Decke. „Sie vergewaltigen und ermorden meine vierzehnjährige Tochter, werden für elf Jahre eingesperrt und kommen als freie Männer davon. Ich verliere meine Tochter, und sie verlieren kaum mehr als zehn Jahre ihres wertlosen Lebens.”

„Es tut mir leid”, sagte Harvey erneut. „Das liegt an ihrem Alter zum Zeitpunkt des Verbrechens. Solange sie sich im Gefängnis nicht daneben benommen haben, können wir sie nicht länger festhalten.”

„Das ist nicht richtig”, flehte sie. „Wie kann es richtig sein? Ich habe nicht nur meine Tochter verloren, sondern auch meinen Mann.”

„Ich habe von seinem Tod gehört”, erwiderte er. „Es tut mir leid.”

„Sie sind nicht zur Beerdigung gekommen”, sagte sie. „Ich dachte, Sie würden kommen. Irgendwie habe ich es erwartet.”

„Ich dachte, Sie würden nicht wollen, dass die Polizei dabei ist”, erklärte er. „Ich wusste, was Ihr Mann von uns hielt.”

„Können Sie es ihm verübeln?”, fragte sie.

Harvey seufzte, bevor er antwortete. „Wir haben alles getan, was wir konnten. Auf die Urteile hatte ich keinen Einfluss. Es ist kein Teil des Strafrechtssystems, das wir kontrollieren. Es tut mir auch weh ...”

„Das ist alles verdammter Schwachsinn”, unterbrach Jimmy. „Es ist noch nicht vorbei. Ich werde sie finden. Ich schwöre, ich werde sie finden. Sie haben unsere Familie zerstört. Sie haben unser Leben zerstört.”

„Das hat keinen Sinn, Jimmy”, warnte Harvey ihn. „Sie werden sie nie finden. Die beiden werden an einem Ort versteckt, an dem sie niemand jemals finden wird. Sie bekommen neue Identitäten und alle Papiere und Hintergrundinformationen, die sie brauchen – sogar kosmetische Operationen, wenn wir glauben, dass sie die brauchen. Vertrauen Sie mir – wir sind gut darin. Sie werden sie nie finden.”

Jimmy sah zwischen Harvey und seiner Mutter hin und her. „Sie helfen ihnen, verdammt noch mal – behandeln Mörder wie Opfer, während Sie mit uns reden, als wären wir die Verbrecher. Wie können Sie nachts schlafen, hm? Sie sollten sich verdammt noch mal schämen.”

„Es tut mir leid, Jimmy”, sagte Harvey zu ihm. „Es gibt nichts, was ich tun kann.”

„Scheiß auf Sie und Ihre Ausreden”, fluchte er. „Ich muss an die Luft! Ich kann hier nicht atmen.” Er stürmte an seiner Mutter und Harvey vorbei in Richtung Haustür.

„Jimmy! Jimmy”, rief Sarah ihm hinterher, aber sie hörten nur, wie die Haustür zugeschlagen wurde. Sie wandte sich an Harvey. „Bitte denken Sie nicht zu schlecht von ihm”, sagte sie. „Er hat eine Menge durchgemacht und ist noch so jung. Mein Gott – er hat seine Schwester verloren, da war er erst zehn, und dann seinen Vater. Das hat ihn schwer getroffen, wissen Sie. Er denkt immer noch an nichts anderes als an Rache – kann sich zu nichts Sinnvollem aufraffen –, er lässt sich immer nur treiben. Und dann sind die Zeitungen und das Fernsehen auch nie weit weg. Sie erinnern ihn immer daran, was passiert ist – manchmal wird dort gefragt, ob Abigail diese Tiere irgendwie ermutigt hat, und gemutmaßt, dass wenigstens einer von ihnen unschuldig sein könnte. Unschuldig. Herr Gott.”

„Ich weiß”, versicherte er ihr. „Ich sehe den gleichen Unsinn wie Sie. Ich wünschte, ich könnte Ihnen versprechen, dass es aufhört, aber sobald die Medien herausfinden, dass sie entlassen wurden, und das werden sie, wird es nur noch schlimmer werden.”

Sie saßen eine Weile schweigend da, bevor Sarah das Wort ergriff. „Nun denn, Sergeant Harvey – was nun?”

Er holte tief Luft. „Sobald sie entlassen werden, um ihr neues Leben zu beginnen, gebe ich Ihnen Bescheid. Es wird nicht mehr lange dauern. Sobald Sie von mir hören, empfehle ich Ihnen, für eine Weile zu verschwinden. Die Medien werden nach Ihnen suchen und versuchen, eine Reaktion von Ihnen, von Jimmy zu bekommen. Bleiben Sie so lange wie möglich weg.”

„Und dann?”, fragte sie.

„Ich weiß es nicht”, gab er zu. „Besorgen Sie sich einen guten Anwalt und verklagen Sie jeden, der versucht, auszunutzen, was mit Abigail passiert ist. Das sollte alle abschrecken, bis auf die Entschlossensten vielleicht. Abgesehen davon – versuchen Sie, mit Ihrem Leben weiterzumachen. Lassen Sie es irgendwie hinter sich.”

„Es hinter mir lassen?”, wiederholte sie seine Worte und presste die Hände zusammen, als ob sie beten wollte. „Weitermachen? Und was soll ich mit den Erinnerungen an eine ermordete Tochter und einen Ehemann tun, der sich lieber das Leben nahm, als den Schmerz der Erinnerung zu ertragen?”

„Das kann ich nicht beantworten”, sagte er seufzend. „Erinnerungen sind etwas, bei dem ich nicht helfen kann.”

„Nein”, sagte sie feierlich. „Ich glaube nicht.”

„Ich gehe jetzt besser”, meinte er. „Sobald sie freigelassen werden, sage ich Ihnen Bescheid.”

„Bemühen Sie sich nicht”, antwortete sie mit Bitterkeit in der Stimme. „Ich will nie wieder etwas von ihnen hören, außer, dass sie beide tot sind.”

„Meinetwegen.” Er zuckte mit den Schultern. „Passen Sie auf sich auf, Sarah.”

„Eine Sache noch.” Sie hielt ihn auf. „Bevor Sie gehen.”

„Ja?”, fragte er.

„Helfen Sie, sie zu verstecken?”, fragte sie. „Wissen Sie, wo sie sein werden?”

„Nicht das schon wieder.” Er schüttelte den Kopf, dann log er: „Nein. Ich werde nicht wissen, wohin sie verlegt werden, und selbst wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen nicht sagen.”

„Dann gibt es keine Chance auf Gerechtigkeit für Abigail.”

„Solchen Leuten passiert irgendwann etwas”, sagte er ihr. „Solche Leute leben nie lange und auch nicht glücklich.”

„Vielleicht”, erwiderte sie ungläubig. „Ich denke, Sie sollten jetzt gehen.”

„Ich verstehe”, antwortete er. „Passen Sie gut auf sich auf, Sarah.”

„Sie auch”, sagte sie, ohne ihn anzusehen.

„Ich finde schon allein hinaus”, sagte er ihr und ging langsam zur Haustür. Er fragte sich, ob er sie jemals wiedersehen würde. Als er an der Tür war, hörte er, wie sie zu schluchzen begann. Einen Moment lang überlegte er, zu ihr zurückzukehren, doch dann öffnete er die Tür und ging zu seinem Auto.

***

Harvey stand vor dem Eingang des Verstecks und sah nachdenklich aus, als Anderson von Collins und einem der anderen Detectives, die er zuvor gesehen hatte, aus dem Gebäude geführt wurde. Häftling Eins blieb stehen, als er Harvey sah, obwohl sein Begleiter versuchte, ihn weiterzuziehen.

„Wollen Sie mir zum Abschied winken?”, fragte er aggressiv.

„So ähnlich”, antwortete Harvey und musterte ihn von oben bis unten. „Vergessen Sie nur nicht, dass Sie jetzt Peter Delph sind. Die Person, die Sie einmal waren, ist tot.” Der Gefangene grunzte nur und grinste unfreundlich, dann schoben die Polizisten ihn nach vorn und schließlich auf die Rückbank eines wartenden Zivilfahrzeugs. Harvey sah schweigend zu, wie der Wagen auf der verlassenen Landstraße davonfuhr.

„Was für ein Stück Scheiße”, sagte Collins zu ihm. „Ich bin froh, ihn los zu sein. Der war mir echt nicht geheuer.” Harvey ignorierte ihn und behielt das Auto weiter im Blick, bis es fast außer Sichtweite war. Collins rief über seine Schulter zurück ins Haus, als ein anderer ziviler Wagen dort anhielt, wo der erste gestanden hatte: „Wir sind fertig. Bringt ihn raus.” Ein weiterer Detective, den Harvey erkannte, führte Häftling Zwei aus dem Haus, der, genau wie sein ehemaliger Freund, vor ihm stehen blieb, als er ihn warten sah.

Der Gefangene lächelte freundlich. „Nun – ich nehme an, das ist der Abschied”, sagte er leise.

„Wahrscheinlich”, antwortete Harvey, der immer noch Schwierigkeiten hatte, sich ein Bild von dem Mann zu machen, selbst nach all den Jahren. „Die örtliche Polizei in Neuseeland wird Sie im Auge behalten, aber Sie werden auch gelegentlich unangemeldeten Besuch von Detectives der Met bekommen – um Ihre Gefährdungslage neu einzuschätzen.”

„Welche Gefährdung?”, fragte er. „Die der Öffentlichkeit für mich oder meine für die Öffentlichkeit?” Harvey antwortete nicht. „Sie glauben mir immer noch nicht, oder? Sie glauben immer noch, ich hätte sie getötet.”

„Vergessen Sie nicht, Sie sind jetzt Alexander Knight”, sagte Harvey, der nicht bereit war, ein letztes Mal darauf einzugehen. „Die Person, die Sie waren, gibt es nicht mehr.”

Er nickte langsam. „Diese Person gibt es schon sehr lange nicht mehr, Sergeant”, antwortete er. „Sie ist in diesem Keller zusammen mit Abigail Riley gestorben.” Er sah zu dem wartenden Wagen und dann wieder zu Harvey. „Ich nehme an, der ist für mich?”

„So ist es”, bestätigte Harvey.

Der Gefangene machte einen Schritt nach vorne, bevor er innehielt und sich Harvey zuwandte. „Im Gefängnis wurde ich gebeten, einen Bluttest zu machen”, erzählte er. „Lange nachdem ich verurteilt worden war. Es hieß, Sie hätten darum gebeten. Ich habe zugestimmt. Vielleicht können Sie mir jetzt sagen, wofür der Test war?”

Harvey hielt inne, bevor er antwortete, immer auf der Hut vor dem Mann, den er zum ersten Mal getroffen hatte, als der noch ein Junge war. „Es war ein Test auf ein doppeltes Y-Chromosom”, antwortete er schließlich.

„Ah.” Er lächelte und nickte, als ob er genau wüsste, wovon Harvey sprach.

„Sie kennen sich damit aus?“, fragte Harvey.

„Genug”, antwortete er, ohne viel zu verraten. „Und haben Sie es gefunden, also bei mir?”

„Nein”, sagte er ihm. „Nein. Das haben wir nicht.”

„Und bei ihm?”, hakte Dolby nach, der sich weigerte, den Namen seines alten Mitangeklagten zu nennen.

„Das ist vertraulich”, antwortete Harvey, wohl wissend, dass Dolby es bereits herausgefunden hatte.

„Ich verstehe.” Er lächelte leicht. „Auf Wiedersehen, Sergeant”, fügte er hinzu und klang dabei ein bisschen traurig. „Passen Sie auf sich auf.”

Harvey sagte nichts, als er beobachtete, wie der Gefangene lässig zum wartenden Auto ging und auf den Rücksitz stieg. Die Türen knallten zu, und der Wagen raste sofort los, die Landstraße entlang – die ganze Zeit über beobachtet von Harvey, der über seine eigene Zukunft und sein Leben nachdachte, oder zumindest über das, was davon übrig war, ohne den Schatten von Abigail Rileys Mördern.

„Er wirkt nicht wie ein normaler, sexuell motivierter Killer, oder?”, unterbrach Collins seine Gedanken.

„Was auch immer ein normaler Mörder ist”, antwortete Harvey.

„Glaubst du, er hat sie getötet?“, fragte Collins.

„Die Geschworenen haben ihn für schuldig befunden”, erinnerte Harvey ihn.

„Geschworene?” Collins lachte kurz auf. „Seit wann sind die unfehlbar?”

„Vielleicht”, stimmte er halbherzig zu. „Aber er war da. Er hat nicht mehr bekommen, als er verdient hat.”

„Wie du meinst”, sagte Collins, bevor er wieder ins Haus ging und Harvey zurückließ, der dem in der Ferne verschwindenden Auto mit Alexander Knight nachstarrte.

***

Es war Nacht, und Sarah saß in ihrer schwach beleuchteten Küche, nippte an einem kleinen Whisky und betrachtete alte Fotos von Abigail und ihrem toten Mann. Sie sah auf, als sie hörte, wie die Haustür geöffnet und dann zugeschlagen wurde. Ein paar Sekunden später kam Jimmy in die Küche und sah leicht betrunken aus. Er sagte nichts zu seiner Mutter, während er im Kühlschrank nach etwas Essbarem suchte.

„Wo bist du gewesen?”, fragte sie.

„Weg”, antwortete er abweisend.

„Ich weiß, wie du dich wegen deiner Schwester und deinem Vater fühlst”, sagte sie zu ihm. „Wegen ihrer Mörder. Aber du musst es loslassen, Jimmy – bevor es auch dich zerstört.”

Er knallte den Kühlschrank zu und drehte sich zu ihr um. „Das kann ich nicht”, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Sieh dich an – du starrst mal wieder auf diese verdammten Bilder. Hast du es denn selbst losgelassen?”

Getroffen sammelte sie die Fotos ein. „Das ist etwas anderes”, beharrte sie. „Sie helfen ... sie helfen mir, mich an sie zu erinnern – wie sie waren.”

„Ich weiß noch, wie sie waren”, erwiderte er. „Und ich erinnere mich, wie sie geendet sind. Ich werde es nie vergessen. Das kann ich nicht. Nicht bevor sie für ihre Taten bezahlt haben.”

„Du verschwendest deine Zeit”, entgegnete sie und erhob ihre Stimme leicht. „Es ist sinnlos. Du wirst sie nie finden. Niemand wird sie finden.”

„Ich werde sie finden”, versprach er. „Es ist mir egal, wie lange es dauert. Ich werde sie finden.”

„Mein Gott, du klingst genau wie dein Vater. Was soll das, Jimmy?”, schrie sie ihn an. „Sie sind schon seit Jahren weg. Es ist Vergangenheit. Lass es dabei bewenden.”

„Vergangenheit”, lachte er zynisch. „Rache ist ein Gericht, das man am besten kalt serviert. Das sagen doch die Italiener.”

„Ja, das tun sie”, stimmte sie zu. „Aber du bist Ire, und wir haben ein anderes Sprichwort.”

„Ja?”, fragte er und nippte an einem Bier, das er aus dem Kühlschrank genommen hatte. „Und das wäre?”

„Bevor du dich rächen kannst”, sagte sie ihm, „musst du erst zwei Gräber ausheben.”

Er lachte kurz, aber das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, als er einige Sekunden lang schweigend dastand und dann langsam und schweigend die Küche verließ, beobachtet von seiner Mutter. Als er weg war, widmete sie sich wieder ihrem Whisky und den Fotos. Zurück zu dem Leben, das sie einst geführt hatte, bevor die Hölle über Sarah Riley und ihre Familie hereinbrach.

Viertes Kapitel

London – 2005

DS Harvey und DC Connie Matthews fuhren auf ein kleines Stück Brachland im dicht bebauten Norden Londons zu. Das Blaulicht, das auf dem Dach ihres Zivilfahrzeugs klebte, kündigte ihr Kommen an, obwohl die Sirene schwieg. Der Bereich vor ihnen war abgesperrt und wurde von einigen uniformierten Beamten bewacht. Ein paar Anwohner versuchten herauszufinden, was los war, während Jugendliche in Hoodies hin und wieder Beleidigungen ausstießen und damit deutlich machten, dass die Polizei in dieser Gegend nicht willkommen war. Es wurde dunkel und begann zu regnen.

Durch die Windschutzscheibe sahen sie einen stämmigen Mann in einem Regenmantel, der eilig aus der kleinen Menschenmenge auf sie zuging und sie heranwinkte. Er sah ernst und besorgt aus. Sie vermuteten, dass er von der örtlichen Kriminalpolizei war.

„Da hat es jemand eilig”, sagte Matthews und nickte in seine Richtung.

Harvey seufzte. „Er hat es eilig, sein Problem zu unserem zu machen.” Sie hielten an und stiegen gerade aus dem Auto, als der Mann im Mantel sie erreichte.

„DS John McCoy”, stellte er sich eilig vor. „Sind Sie MIT?”, fragte er und klang etwas nervös.

„Das sind wir”, bestätigte Harvey, während sie Hände schüttelten und weiter in Richtung der Absperrung gingen. „DS Fraser Harvey – DC Connie Matthews. Sie haben uns angefordert?”

„Ja, ich habe Sie angerufen”, antwortete er und klang besorgt.

„Uns wurde gesagt, es sei eine junge Frau?”, fragte Harvey nach. „Sind Sie sich sicher, dass es verdächtig ist?”

McCoy schaute zwischen ihnen hin und her und wusste nicht, was er sagen sollte, dabei gingen sie weiter auf das Band zu. „Es ist... es ist wahrscheinlich einfacher, wenn Sie es sich selbst ansehen”, erklärte er. Harvey und Matthews wechselten einen Blick, beide mit dem gleichen Ausdruck der Besorgnis. McCoy bemerkte es. „Aber Sie sollten wissen – es ist schlimm. So etwas hab ich noch nie gesehen.”

Es herrschte einen Moment lang Schweigen, dann ergriff Matthews das Wort. „War sonst noch jemand am Tatort – außer Ihnen?”

„Nein.” McCoy schüttelte den Kopf. „Nur der Constable, der mit mir da drin war. Er ist jetzt wieder auf dem Revier und fühlt sich nicht besonders gut.”

„Wurde irgendetwas am Tatort verändert?“, fragte Harvey, als sie weitergingen. „Wurde die Leiche bewegt?”

„Nein”, versicherte McCoy ihm. „Ich habe den Puls gefühlt – das war‘s. Ansonsten gab es keinen Grund, irgendetwas zu verändert. Das war kein Unfall, und Selbstmord können Sie ausschließen”, fügte er hinzu. „Sie hat sich das nicht selbst angetan.”

„Wir müssen uns das ansehen”, sagte Harvey und versuchte, einen klaren Kopf zu behalten und sich nicht von McCoys Worten beeinflussen zu lassen.

„Bitte sehr”, stimmte McCoy zu, als sie das Band erreichten. Er hob es für sie an, und Harvey und Matthews duckten sich darunter her.

„Uns wurde gesagt, die Leiche läge auf dem Brachland”, sagte Harvey und deutete mit dem Kopf über das Land vor ihnen. „Ich sehe nichts, was nach einem Tatort aussieht.”

„Nicht auf dem Brachland. Sondern darunter”, erklärte McCoy. „In einem alten Luftschutzkeller oder so. Die Jugendlichen aus dem Viertel treiben sich gern dort herum – wenn er nicht gerade von den ansässigen Crack-Süchtigen benutzt wird, die ein bisschen Privatsphäre suchen. Wir sind hier nicht in Chelsea, Detectives.”

„Wer hat sie gefunden?“, fragte Harvey, ohne auf McCoys Bemerkung einzugehen.

„Ein paar Kinder aus der Gegend”, antwortete McCoy. „Sie haben sich in den Bunker geschlichen und einen Platz zum Rauchen gesucht. Sie werden alle eine Therapie brauchen.”

Harvey und Matthews warfen sich noch einmal einen Blick zu. „Wo sind sie jetzt?“, fragte Harvey und blieb stoisch, zumindest nach außen hin.

„Im Krankenhaus mit ihren Eltern”, sagte McCoy zu ihm. „Ich glaube nicht, dass sie jemals vergessen werden, was sie da unten gesehen haben. Ich weiß, dass ich es nicht vergessen werde.”

„Wir brauchen ihre Kleidung”, wies Harvey an, der immer noch nicht auf McCoys unheilvolle Worte reagierte.

„Kein Problem”, versicherte ihm McCoy. „Ich kümmere mich darum.”

Harvey blickte besorgt über seine Schulter auf die wachsende Zahl von Menschen hinter der Absperrung. „Die Menge wird immer größer.”

„Das spricht sich hier schnell herum”, warnte McCoy sie.

„Holen Sie lieber noch ein paar Uniformierte her”, forderte Harvey ihn auf. „Und sagen Sie zu niemandem etwas, bis wir zurück sind. Ich muss sehen, womit wir es zu tun haben.”

„Wir wissen bereits, womit wir es zu tun haben”, antwortete McCoy. Harvey sah ihn an und wartete auf eine Erklärung. „Mit einem Monster. Welche andere Erklärung kann es geben?”

Die beiden Detectives sahen sich eine Sekunde lang in die Augen, dann fragte Harvey: „Wissen wir schon, wer sie ist?”

„Nein.” McCoy schüttelte den Kopf. „Wir konnten keinen Ausweis finden. Vielleicht entdeckt die forensische Untersuchung etwas.”

„Vielleicht.” Harvey zuckte mit den Schultern. „Niemand kommt ohne mein Einverständnis hinter die Absperrung. Ist das klar?”

„Wie Sie meinen.” McCoy widersprach nicht. „Es ist jetzt Ihre Show.”

„Ja”, sagte Harvey zu ihm. „Ja. Das ist es.” Er nickte Matthews zu, bevor sich beide umdrehten und auf den Tatort zusteuerten.

„Er scheint mehr als nur ein wenig geschockt zu sein”, sagte Matthews im Flüsterton.

„Ja.” Harvey seufzte. „Das ist es, was mir Sorgen bereitet.” Sie warfen sich einen wissenden Blick zu, dann bahnten sie sich ihren Weg durch die mit Schutt übersäte Einöde.

***

Harvey stieg die metallene Trittleiter hinunter, die an der Wand des alten Luftschutzbunkers befestigt war – die kleine Maglite-Taschenlampe zwischen den Zähnen –, seine Schuhe bereits mit forensischen Überzügen geschützt, die wie Duschhauben aussahen. Ein wenig Licht drang in das Innere und verschaffte ihm etwas Sicht, aber er brauchte seine Taschenlampe. Nachdem er von der Leiter gestiegen war, drehte er sich um und ging ein paar Schritte nach vorn, während Matthews ihm nach unten folgte, ebenfalls mit einer Taschenlampe zwischen den Zähnen.

Der Geruch von Feuchtigkeit war überwältigend, als er mit dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe den Boden abtastete und dabei einen Müllteppich beleuchtete, der die Spuren des Konsums harter Drogen trug. Er folgte dem Lichtstrahl, bis der plötzlich auf den nackten, verstümmelten Körper des Opfers fiel – ein weißes Mädchen im Alter von etwa vierzehn Jahren, das auf dem Rücken lag, die Gliedmaßen verdreht und das lange braune Haar zu einem blutverschmierten Knäuel verfilzt. Er wandte sich schockiert ab und hob die Hand, um Matthews aufzuhalten. „Stopp”, befahl er. „Warte kurz.” Er holte ein paar Mal tief Luft, um seine aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen. „Mein Gott”, stöhnte er. „Mein Gott.”

„Was ist los?”, fragte Matthews, ihre Stimme klang besorgt.

Harvey leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die Leiche. „Da drüben”, sagte er.

Matthews blickte in die Richtung, in die das Licht zeigte. Sie brauchte ein paar Sekunden, um den Anblick des Grauens zu verarbeiten, dann wandte sie sich ab und würgte, das Geräusch erfüllte den unterirdischen Schutzraum. Schließlich erholte sie sich genug, um zu sprechen. „Lieber Gott. McCoy hatte recht.”

„Keine voreiligen Schlüsse”, warnte Harvey sie, bevor er langsam auf die Leiche zuging und die Umgebung nach Auffälligkeiten oder Gefahren absuchte, bevor er sich neben sie hockte und seine Taschenlampe langsam über das tote Mädchen hin- und herschwenkte. Das Opfer hatte Dutzende von tiefen Stichwunden am ganzen Körper erlitten, und ihre Kehle war so tief durchschnitten worden, dass sie teilweise enthauptet war. Ihre Brüste waren entfernt worden. Um die Leiche herum befand sich eine große Blutlache.

„Mein Gott”, flüsterte er mehr zu sich selbst als zu Matthews. „Wer tut so etwas?”

Matthews antwortete nicht, sondern wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, begann, im Bunker herumzugehen, um mit der Taschenlampe den Boden abzusuchen. Dabei entdeckte sie blutverschmierte, weggeworfene Kleidungsstücke. „Sieht aus wie die Kleidung unseres Opfers”, sagte sie leise. „Wen auch immer wir suchen, er war nicht klug genug, sie mitzunehmen. Der Ort ist eine forensische Schatztruhe.”

„Es wird uns helfen, ihn zu überführen”, stimmte Harvey zu. „Aber es wird uns nur weiterhelfen, wenn er bereits aktenkundig ist.”

„Das muss er sein”, argumentierte Matthews. „Niemand veranstaltet gleich bei seinem ersten Vergehen so etwas. Er muss seit Jahren darauf hingearbeitet haben.”

Harvey fuhr fort, die Leiche mit seiner Taschenlampe abzutasten. „Wahrscheinlich”, stimmte er halbwegs zu. „Aber nicht unbedingt. Es gibt immer wieder seltene Exemplare, die einen großen, ersten Auftritt hinlegen wollen.”

„Glaubst, dass wir es hier damit zu tun haben?“, fragte Matthews.

„Ich weiß es nicht”, erwiderte er achselzuckend. „Zu früh, um das zu sagen. Ich wünschte, wir hätten hier drin Licht, verdammt”, beschwerte er sich. „Man kann kaum etwas sehen.” Er leuchtete mit seiner Taschenlampe auf den Torso des Mädchens und untersuchte die Dutzend Einstichwunden, die offenbar von einer relativ kleinen Klinge stammten, deren Länge er allerdings nicht einschätzen konnte. Das würde bis zur Obduktion warten müssen. Er zückte sein Handy und begann, die Leiche und ihre Umgebung zu fotografieren. Das Untersuchungsteam würde später noch viele Bilder und Videos machen, aber er hatte gerne seine eigenen zur Hand, wenn er sie brauchte. „Siehst du etwas, das die Waffe sein könnte?”, fragte er Matthews, während sie den Keller weiter absuchte.

„Nein”, antwortete sie und schüttelte den Kopf. „Der Ort ist ein Albtraum-Tatort. Überall liegt Müll herum. Die Forensiker werden es lieben.”

„Sieht nicht so aus, als hätten sie ein Zombiemesser benutzt”, sagte er über seine Schulter.

„Soll heißen?”, fragte sie.

„Dass das Messer nicht der Einschüchterung diente? Dass es allein zu diesem Zweck ausgewählt wurde?”

„Er hatte also von Anfang an vor, sie zu töten”, schloss Matthews.

„Ich denke schon”, stimmte er zu. „Bei einer schief gelaufenen Vergewaltigung – wenn er in Panik geraten ist und sie getötet hat, um sie zum Schweigen zu bringen, oder vielleicht, weil sie ihn kannte – würde ich dieses Ausmaß an Gewalt nicht erwarten. Das ist Wut.”

„Hast so etwas schon mal gesehen?”, fragte sie.

„Nicht so schlimm”, gab er zu. „Niemals so viel Wut.”

„Gibt es andere Teams, die so etwas gerade untersuchen?“, fragte Matthews, eher hoffend, als dass sie es erwartete.

„Nicht, dass ich wüsste”, antwortete er. „Und wenn doch, hätten wir sicher davon gehört.”

„Dann ist dies seine erste Tat”, schloss sie.

„Es scheint so”, stimmte er zu. „Aber eines ist sicher.”

„Was?”, fragte Matthews.

Er leuchtete mit seiner Taschenlampe direkt auf das Gesicht des toten Mädchens, und der Schein des Lichts ließ ihre blasse, blutverschmierte Haut wie eine groteske Wachsfigur aussehen. „Es wird nicht seine letzte sein.”

„Dann ist das erst der Anfang?” Matthews sprach aus, was sie beide dachten.

„Nur wenn wir ihn nicht vorher finden”, erinnerte Harvey sie. „Bete einfach, dass seine DNA bereits aktenkundig ist.”

Sie nahmen sich ein paar Sekunden Zeit, um das Gesehene und Gedachte zu verarbeiten.

„Es war vielleicht keine schiefgelaufene Vergewaltigung”, erinnerte sie ihn an seine frühere Aussage, „aber glaubst du, dass sie sexuell missbraucht wurde?”

„Mit ziemlicher Sicherheit”, antwortete er. „Es passt zu allem, was ich sonst noch sehe – Art des Opfers, abgelegte Kleidung, Art der Verletzungen. Für ihn sind Sex und Gewalt ein und dieselbe Sache. Er kann wahrscheinlich das eine nicht ohne das andere haben. Ich bezweifle nicht, dass sie vergewaltigt wurde, aber ob das vor oder nach ihrem Tod war, kann ich nicht sagen. Vielleicht beides – falls er eine Weile hier geblieben ist. Falls er nicht gestört wurde.”

„Du scheinst ihn schon gut zu kennen”, sagte sie, obwohl sie lange genug mit ihm zusammenarbeitete, um zu wissen, dass er ein Denker war – jemand, der gern versuchte, sich in die Gedankenwelt des Mörders hineinzuversetzen und nicht nur zu sehen, wohin die Beweise führten.

Er tastete die Leiche erneut mit dem Schein seiner Taschenlampe ab und kämpfte gegen den Ekel an, den er empfand. „Er wollte nicht, dass es schnell vorbei ist”, erklärte er. „So viele Verletzungen zuzufügen, braucht Zeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er wie ein verängstigtes Tier weglief, als sie tot war. Er wollte sicher bei ihr bleiben, wahrscheinlich, bis er wieder Sex haben konnte – mit ihrem toten Körper.”

„Mein Gott.” Matthews schreckte vor dem, was sie hörte, zurück, obwohl sie wusste, dass er vermutlich recht hatte.

„Dies war wahrscheinlich der größte Moment in seinem Leben”, fügte er hinzu. „Er wollte nicht weggehen, solange er nicht musste.”

„Du hast gesagt, es sähe nicht so aus, als hätte er sie getötet, weil sie ihn hätte identifizieren können”, erinnerte ihn Matthews, die sich neben ihn stellte und beim Anblick des verstümmelten Körpers des Mädchens erneut zusammenzuckte. „Aber könnte sie ihren Angreifer gekannt haben?”

Er schaute sich im Raum um und nickte. „Er kannte diesen Ort, oder?”, sagte er. „Entweder hat er sie hierher gebracht oder er ist ihr hierher gefolgt – so oder so muss er von diesem Ort gewusst haben, was bedeutet, dass er wahrscheinlich von hier ist, und wenn er von hier ist, könnte er sie gekannt haben, zumindest vom Sehen – sie beobachtet haben, sie begehrt haben, über sie fantasiert haben.”

„Ist es nicht möglich, dass er nur auf der Durchreise war und sich an sie geheftet hat?”, fragte Matthews. „Ein opportunistischer Killer, der seine Chance nutzt?”

„Nicht an diesem Ort.” Er schüttelte den Kopf. „Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, dass er von diesem Ort wusste.”

„Vielleicht kam sie hierher, um sich mit jemandem zu treffen”, schlug sie vor, „und er hatte einfach Glück und folgte ihr hinein.”

„Das glaube ich nicht”, verwarf er den Gedanken. „Aber wir müssen unvoreingenommen bleiben.”

„Wenn er aus dem Viertel stammt”, meinte Matthews, „wird es viel einfacher sein, ihn aufzuspüren.”

„Nur wenn ich recht habe”, warnte er sie. „Ich habe genug gesehen. Wir müssen das forensische Team zusammenrufen und dem Chef die gute Nachricht überbringen.” Er sah ein letztes Mal auf das Opfer hinunter und schüttelte den Kopf. „Mein Gott. Womit hat sie das verdient – an diesem Ort?”, fragte er mit einem Gefühl der Vorahnung.

„Mit nichts”, sagte Matthews und schüttelte den Kopf. „Zur falschen Zeit am falschen Ort. Das passiert manchmal. Das hier ist wie ein Blitzschlag. Dafür gibt es keinen Grund.”

„Zweifellos”, stimmte Harvey zu, dem die Gedanken zu diesem Mann durch den Kopf rasten, den er nun finden musste, bevor er wieder zuschlug. „Aber wir müssen ihn trotzdem finden, und das hier wird ihn auf den Geschmack gebracht haben. Es wird nicht lange dauern, bis er es wieder braucht.” Er stieß einen langen Seufzer aus, bevor er weiter sprach. „Komm – lass uns hier verschwinden.”

***

Nachdem sie dem Schrecken des Kellers entkommen waren, gingen sie zurück in Richtung der Absperrung, wo die Menschenmenge sich vergrößert hatte. Eine Frau, die ganz vorne stand und einen kleinen Jungen, der nicht älter als zehn Jahre war, dicht an sich drückte, weckte Harveys Aufmerksamkeit. Sie war offensichtlich sehr aufgeregt und stritt mit einem der uniformierten Beamten, sie wollte Informationen und durchgelassen werden. Harvey steuerte direkt auf sie zu, denn sein Instinkt sagte ihm, dass die weiße Frau Mitte vierzig irgendwie mit dem toten Mädchen in Verbindung stehen könnte.

„Gibt es ein Problem?”, fragte er den uniformierten Polizisten.

„Die Dame hier macht sich Sorgen um ihre Tochter”, erwiderte der Beamte.

„Ach?”, sagte er und wandte sich an die Frau.

„Meine Tochter”, brachte die Frau verzweifelt hervor. „Sie ist nicht nach Hause gekommen. Die Leute sagen, Sie haben eine Leiche gefunden?”

„Sie müssen sich ein wenig beruhigen”, sagte er so sanft wie möglich und gab ihr ein paar Sekunden Zeit, sich zu sammeln, bevor er fortfuhr. „Wer sagt, dass wir eine Leiche gefunden haben?”

„Die Leute in der Siedlung”, antwortete sie. „Sie sagen es alle.”

„Sie wissen nichts”, versuchte er sie zu beruhigen. „Aber wenn Ihre Tochter verschwunden ist, müssen wir sie finden. Wie lautet ihr Name?”

„Abigail”, antwortete sie und wischte sich schnell die Tränen der Angst aus den Augen. „Abigail Riley.”

„Und wie alt ist Abigail?”, fragte er.

„Vierzehn”, sagte sie. „Sie ist gerade vierzehn geworden.”

Er spürte, wie sich ein altes, vertrautes Unwohlsein in ihm ausbreitete, schaffte es aber, seine Miene emotionslos zu halten. „Und wie sieht sie aus?”

„Keine Ahnung”, sagte sie und klang verwirrt. „Etwas kleiner als ich, schlank, langes braunes Haar.”

„Können Sie mir sagen, was sie getragen hat, als Sie sie das letzte Mal gesehen haben?”

„N-nein”, stammelte sie. „Ich ... ich kann mich nicht erinnern.”

Er und Matthews wechselten einen Blick, bevor er sich wieder der Frau zuwandte – in der Hoffnung, dass sich das, was er in der Magengrube spürte, nicht in seinem Gesicht abzeichnete.

„Wie heißen Sie?”, fragte er sie und versuchte, unbeteiligt zu klingen.

„Sarah”, antwortete sie mit zitternder Stimme. „Sarah Riley.”

„Sie kommen am besten mit uns, Sarah”, sagte er so beiläufig wie möglich zu ihr.

„Warum?”, fragte sie und klang zunehmend panisch. „Was wissen Sie denn? Warum wollen Sie, dass ich mitkomme?”

„Wenn Ihre Tochter vermisst wird, müssen Sie aufs Revier kommen und es melden”, erklärte er, obwohl das nur zum Teil der Wahrheit entsprach. „Wir können Sie dorthin bringen – das ist alles. Gibt es jemanden, der sich um den Jungen kümmern kann?”

„Nein”, zischte sie und zog ihn näher zu sich. „Er bleibt bei mir.”

„Gut”, stimmte er zu und hob das Absperrband an, unter dem er und Matthews sich hindurchduckten, bevor er Sarah am Arm nahm und sie an den anderen Schaulustigen vorbei zu ihrem Auto führte. Er konnte das Gemurmel der Menge hören, das sich mit den vereinzelten Anti-Polizeirufen von weiter hinten mischte.

„Sie wissen etwas”, sagte sie zu ihm, als sie sich von der Menge entfernt hatten. „Ich weiß, dass Sie etwas wissen.”

„Hören Sie zu.” Er versuchte, sie nicht in Panik zu versetzen. „Ihre Tochter ist wahrscheinlich nur mit ihren Freunden oder ihrem Freund unterwegs und hat das Zeitgefühl verloren. Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, sie als vermisst zu melden.”

„Nein. Nein”, beharrte sie. „Sie ist ein gutes Mädchen. Sie hat sich noch nie so verspätet, ohne mir zu sagen, wo sie ist – und mit wem sie zusammen ist.”

„Es ist doch noch gar nicht so spät”, fügte Matthews beruhigend hinzu.

„Aber sie ist nach der Schule nicht nach Hause gekommen”, erklärte Sarah. „Das würde sie nie tun.”

„Vielleicht hatte sie einen Streit mit ihrem Freund oder so”, schlug Matthews vor. „Sie hat doch einen Freund, oder?”

„Nichts Ernstes”, sagte Sarah und verwarf den Gedanken. „Selbst bloß ein Kind.”

„Ich bin mir sicher, dass es ihr gut geht.” Harvey redete weiter freundlich auf sie ein, bis sie endlich das Auto erreichten. Er öffnete die hintere Tür für sie, aber anstatt einzusteigen blieb sie stehen.

„Was ist in dem alten Bunker?”, fragte sie, die Augen rot vor Tränen und Angst. „Was haben Sie gesehen?”

„Nichts”, antwortete er, aber er sah blass aus, weil ihm übel war. „Nur ...”

„Lügen Sie mich nicht an”, warnte sie ihn. „Ich muss es wissen.”

„Nicht hier”, sagte er ihr. „Nicht jetzt. Bitte. Sie und der Junge müssen jetzt ins Auto steigen.” Sie blickte zum Himmel, bevor sie widerwillig neben ihrem Jungen auf dem Rücksitz Platz nahm. Harvey schloss die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz. Als das Auto losfuhr, verfielen alle in ein unangenehmes Schweigen – jeder war mit seinen Gedanken und Ängsten allein.

***

Harvey saß an einem geliehenen Schreibtisch im Büro der Kriminalpolizei in Kilburn, der nächstgelegenen Polizeistation zum Tatort. Er nippte an einem Kaffee in einem Styroporbecher und hielt einen Telefonhörer ans Ohr. Er schenkte dem jungen, leger gekleideten Mann, der das Büro betrat und auf ihn zukam, kaum Beachtung. „Halten Sie mich einfach auf dem Laufenden”, sagte er ins Telefon, legte auf und sah den jungen Mann an, der nun auf der anderen Seite des Schreibtischs stand. „Kann ich Ihnen helfen?”, fragte er ungeduldig.

„PC Ruben Jameson”, stellte sich der junge Polizist vor. „Ich bin von der hiesigen Kriminalpolizei. Mein Sergeant, DS Waite, sagte, dass das MIT nach Mitarbeitern sucht, um bei den Ermittlungen zu helfen.”

„Das tun wir”, bestätigte Harvey und musterte ihn von oben bis unten. „Wie lange sind Sie schon ohne Uniform?”

„Ein paar Monate.”

„Waren Sie schon einmal an einer Mordermittlung beteiligt?”, fragte er.

„Nein”, antwortete Jameson geradeheraus.

„Aha.” Harvey lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nun, Sie werden nicht mittendrin sein – bei der Verhaftung oder Befragung von Verdächtigen. Nichts derartig Interessantes.”

„Das verstehe ich”, sagte Jameson. „Ich wäre nur froh über die Erfahrung.”

„Sie werden uninteressante Tätigkeiten ausführen, Akten ablegen und Tee kochen, wenn man es Ihnen sagt”, erklärte Harvey. „Immer noch interessiert?”

„Ja”, sagte Jameson mit Begeisterung in der Stimme.

„Also gut”, meinte Harvey. „Kommen Sie morgen um acht Uhr nach Colindale ins MIT-Büro. Dann beginnt die eigentliche Arbeit. Und tragen Sie einen Anzug – wenn Sie einen haben.”

„Ich werde da sein”, versicherte Jameson ihm, dann drehte er sich um und marschierte aus dem Büro, gerade als Matthews durch die Tür stürmte – sie hatte das forensischen Team am Tatort besucht – und ihn fast anrempelte. Sie ließ sich in einen Stuhl fallen.

„Wo sind Mrs Riley und der Junge?”, fragte sie und ließ alle Höflichkeitsfloskeln weg.

„Ich habe sie in der Opfersuite versteckt”, sagte er ihr. „Ich konnte ihre Fragen und Blicke nicht mehr ertragen. Oh Gott.”

„Sie glauben also, dass es ihre Tochter ist?”, stellte Matthews eher fest, als dass sie ihn fragte.