Wenn ihr schlaft - Luke Delaney - E-Book + Hörbuch

Wenn ihr schlaft Hörbuch

Luke Delaney

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Beschreibung

Ihr fühlt euch sicher in euren Häusern, Wenn ihr schlaft. Doch genau dann komme ich und hole eure Kinder ...

Celia Bridgeman erlebt den Albtraum jeder Mutter: Eines Morgens liegt ihr kleiner Sohn George nicht mehr in seinem Bett. Sean Corrigan und sein Team werden auf den Fall angesetzt. Noch bevor erste Ermittlungsergebnisse vorliegen, verschwindet ein weiteres Kind. Auf den ersten Blick gibt es keine Verbindung zwischen den Familien der entführten Kinder, keine Spur, die zum Täter führen könnte. Doch Corrigan weiß: Er muss ihn stellen - bevor ein weiteres Kind in seine Fänge gerät ...

DI Sean Corrigan ermittelt weiter - noch mehr atemlose und beängstigend authentische Spannung von dem ehemaligem Detective Luke Delaney:

Mein bist du
Für immer mein
Sie zu strafen und zu richten

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.




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Zeit:7 Std. 11 min

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Titel

Meiner Mutter – Mary.

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Fünf Tage später

Danksagung

Über den Autor

Weitere Titel des Autors

Impressum

Über dieses Buch

Ihr fühlt euch sicher in euren Häusern, wenn ihr schlaft. Doch genau dann komme ich und hole eure Kinder …

Celia Bridgeman erlebt den Albtraum jeder Mutter: Eines Morgens liegt ihr kleiner Sohn George nicht mehr in seinem Bett. Sean Corrigan und sein Team werden auf den Fall angesetzt. Noch bevor erste Ermittlungsergebnisse vorliegen, verschwindet ein weiteres Kind. Auf den ersten Blick gibt es keine Verbindung zwischen den Familien der entführten Kinder, keine Spur, die zum Täter führen könnte. Doch Corrigan weiß: Er muss ihn stellen – bevor ein weiteres Kind in seine Fänge gerät …

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.

LUKE DELANEY

WENN IHRSCHLAFT

Aus dem Englischen vonDr. Holger Hanowell

Meiner Mutter – Mary.

Ich wuchs in einer kinderreichen Familie auf. Meine Geschwister und ich lagen altersmäßig nicht weit auseinander, und Engel waren wir wahrlich nicht. Beizeiten waren wir ein Albtraum, und allein die Kinder satt zu kriegen, einzukleiden und auf Sauberkeit zu achten, muss schon extrem stressig gewesen sein … eigentlich zu viel für eine Mutter. Doch ich kann mich bis heute nicht erinnern, dass unsere Mutter einmal wütend auf mich gewesen wäre oder übermäßig mit mir schimpfen musste. Ich weiß nur, dass ich mich geborgen fühlte und es immer mochte, wenn sie für uns da war. Ich denke, manchmal hätte mir ein Tritt in den Hintern ganz gutgetan, aber ich vermute, unsere Mutter war der Ansicht, dass das Leben noch genug Tritte und Schläge für uns bereithielt, und daher sah sie sich wohl dazu berufen, uns Halt zu geben, wenn wir ihn denn brauchten – und Halt hatten wir tatsächlich nötig.

Allerdings wäre es falsch, den Eindruck zu erwecken, unsere Mutter sei weichherzig gewesen. Sie ist intelligent und taff und kann ordentlich austeilen – sie wuchs als einzige Schwester mit drei Brüdern im industriell geprägten Nordosten auf. Sie nutzte ihre Zähigkeit, um uns zu beschützen, als wir jünger waren: Sie war der Puffer zwischen uns und der großen, bösen Welt – meiner Welt, denke ich heute. Manchmal durfte ich freitags blaumachen, und dann fuhr sie mit mir in die Stadt, wo ich geduldig zusah, wie sie noch mehr Kissen kaufte. Zur Belohnung gab es ein üppiges Mittagessen in einem Café. Das waren die besten Freitage!

Als ich zum Teenager heranwuchs, war meine Mutter mein Fels in der Brandung. Immer stand sie mir mit Rat und Tat zur Seite und baute mich auf, wenn ich ganz unten war, ermunterte mich, wenn ich aufgeben wollte, und steckte mir (und meinen Kumpels) ein paar Pfund zu, damit wir was zu rauchen hatten oder uns gelegentlich ein Pint leisten konnten. Bei uns bekamen auch oft meine Freunde etwas zu essen, und schließlich hatte meine Mutter Ratschläge für mich und meine Kumpel parat, um uns über den Herzschmerz hinwegzutrösten, wenn die Freundinnen uns mal wieder für Jungs sitzen ließen, die tolle Autos fuhren.

Eines Tages, als ich mich in meinem Liebeskummer verlor, sagte meine Mutter etwas, was ich bis heute nicht vergessen habe: Sich elend zu fühlen ist eine bewusste Entscheidung und reine Zeitvergeudung. Jede Minute, die du da hockst und dir in deinem Selbstmitleid gefällst, ist eine Minute deines Lebens, die du nicht zurückbekommst. Im Nu bist du dann so alt wie ich und wirst es bereuen, diese Zeit verschwendet zu haben. Wirklich weise Worte.

Leider verlor Mary vor ein paar Jahren die einzige große Liebe ihres Lebens – meinen Dad, Mike. Seither hatte sie ziemlich zu kämpfen, was verständlich ist. Meine Eltern lebten fast fünfzig Jahre zusammen – waren sich treu und liebten sich bis zuletzt. Es ist hart, die Liebe deines Lebens zu verlieren, aber meine Mutter ist immer noch eine schöne und eindrucksvolle Dame.

Für all das, was sie für mich, meine Geschwister und meinen Vater Mike getan hat, möchte ich ihr dieses Buch widmen.

Dies ist für Mum. Für Mary.

Gott segne dich.

1. Kapitel

Die Courthope Road war menschenleer. Die einzigen Geräusche kamen von dem Laub, das im böigen Wind durch die Straße wirbelte, der im Nordwesten Londons über Hampstead Heath hinwegfegte. Die gepflegten Häuser im georgianischen Stil wurden vom blassgelben Schein der Straßenbeleuchtung erfasst. Doch der warme Schimmer der Laternen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Spätherbst bittere Kälte mitbrachte. In manchen der Hauseingänge brannte Licht, das sich mit dem Schein der Straßenlaternen vermischte: Einige auf Sicherheit bedachte Bewohner hatten die Lampen brennen lassen, andere hatten schlichtweg vergessen, das Licht auszuschalten, ehe sie müde zu Bett gingen. Doch in diesen Häusern lebten die wohlhabenden Bürger Londons, die wenig von den Straßen zu befürchten hatten – die explodierenden Immobilienpreise hatten dazu geführt, dass die Viertel zum Refugium der Reichen und Privilegierten geworden waren. Mehr als anderswo fuhr die Polizei Streife, und private Sicherheitsfirmen und moderne Alarmsysteme gewährleisteten, dass die Leute ruhig und unbehelligt in ihren Häusern schlafen konnten.

Mit seinen behandschuhten Händen arbeitete er schnell und geschickt, während er vor der Haustür hockte. Die kleine, starke Taschenlampe – ein Modell, das Höhlenforscher bevorzugen und das man einfach mit einem elastischen Band um den Kopf trägt – lieferte ihm ausreichend Licht, um in das Innere des Schlosses zu spähen: Zwei Schließriegel oben und unten, ein kombinierter Schließzylinder mit Schlossfalle in der Mitte. Nebelartig stieg sein warmer Atem auf und verwirbelte im Lichtstrahl der Taschenlampe, ehe er sich in der Dunkelheit verflüchtigte, gefolgt vom nächsten Atemstoß. Die obere und untere Sperrvorrichtung hatte er bereits problemlos entsichert – unzählige Stunden Übung erleichterten ihm diese Aufgabe, aber der Schließzylinder in der Mitte war kompliziert. Dennoch blieb er vollkommen ruhig, während er sanft und äußerst präzise mit den beiden Miniaturwerkzeugen hantierte, die von der Form her an die Instrumente eines Zahnarztes erinnerten – der dünne Stiftschlüssel mit dem leicht gebogenen Ende hielt die Stifte des Schließzylinders nach unten, während der Hook geräuschlos vor und zurück glitt, bis alle Stifte im Zylinder gesetzt waren und das Schloss mit leisem Klicken aufging. Ein kleines Geräusch nur, das ihn jedoch angesichts der leeren Straße erstarren ließ. Er hielt den Atem an und wartete auf eine Reaktion in der Dunkelheit, die ihn umgab. Als seine Lungen zu brennen begannen, atmete er die verbrauchte Luft aus und warf erneut einen Blick auf seine Uhr. Kurz nach drei am frühen Morgen. Die Familie im Haus befand sich inzwischen in der Tiefschlafphase – unwahrscheinlich, dass einer von ihnen auf kleinere Geräusche oder eine Veränderung des Luftzuges reagieren würde.

Er führte den schmalen Spanner in das letzte Schloss ein und schob den Hook wieder so weit in den Zylinder, bis er spürte, wie die Stifte einzeln nachgaben und es ihm ermöglichten, den Zylinder zu drehen und das Schloss zu öffnen. Die Tür ging nur wenige Millimeter auf. Geräuschlos ließ er die Werkzeuge in das Futteral aus Wildleder gleiten, gefolgt von den vielen anderen Instrumenten, die man fürs Lockpicking brauchte. Dann rollte er das Futteral zusammen und verstaute es in der kleinen Sporttasche, die er mitgebracht hatte. Darin verschwand auch die Taschenlampe. Einen Moment hielt er inne, ehe er einen Gegenstand hervorholte, der – das wusste er – so wertvoll für den kleinen Jungen im Haus war. Ja, das Mitbringsel würde dem Kleinen Freude bereiten und dafür sorgen, dass der Junge kooperierte.

Sacht drückte er die Tür weiter auf, trat über die Schwelle und zog die Tür leise hinter sich zu, bis sie ins Schloss fiel. Instinktiv rechnete er mit dem verzögert einsetzenden Schrillen der Alarmanlage, aber alles blieb still. Er wusste, dass die Anlage nicht funktionierte.

Im Haus war es angenehm warm. Schnell verblasste die Kälte draußen in seiner Erinnerung, als er sich tiefer in das Haus der Familie vorwagte und auf die Treppe zuhielt. Die Straßenbeleuchtung spendete das einzige Licht, das durch die Fenster fiel. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und hier und da glommen Nachtlichter in Steckdosen, für den Fall, dass ein Kind nachts wach wurde und durchs Haus streifte. Er fühlte sich sicher in dem Haus, kam sich selbst wieder wie ein Kind vor – nicht länger allein und ungeliebt. Während er langsamen Schrittes auf die Treppe zuhielt, über die er zu dem Jungen gelangen würde, fiel ihm auf, wie ordentlich es im Haus war. Alles war aufgeräumt und sauber, alles an Ort und Stelle, abgesehen von dem Spielzeug, das unten im Flur lag. Die Kinder hatten es einfach liegen lassen, und die Eltern waren offenbar zu müde gewesen, sich auch noch darum zu kümmern. Er nahm den Geruch wahr, der dieser Familie eigen war – der Geruch des Abendessens hing noch in der Luft und vermischte sich mit dem Parfum der Mutter, den Badezusätzen, den Seifen, dem Aroma der Luftreiniger und Polituren.

Er lauschte auf die Geräusche des Hauses – aus dem Kinderspielzimmer drang das leise Sirren eines Aquariumfilters. Elektrogeräte, die zu jedem modernen Haushalt gehörten, summten vor sich hin, begleitet von grün und rot blinkenden Lämpchen. Die ganze Zeit dachte er an die Eltern, die ihre Kinder gar nicht schnell genug ins Bett kriegen konnten, da sie es nicht abwarten konnten, das erste Glas Wein zu trinken. Sie fanden nicht mehr die Zeit, den Kleinen eine Gutenachtgeschichte vorzulesen oder ihnen übers Haar zu streichen, ehe der Schlaf sie umfing. Eltern, für die es einfach dazugehörte, Kinder zu haben, Eltern, für die Kinder so etwas wie Besitz und ein Zeichen für Wohlstand waren. Bloße Anhängsel der sündhaft teuren Häuser, in denen sie lebten, und der exotischen Autos, die sie fuhren. Selbstverständlich erhielten die Kinder Unterricht an Privatschulen, denn auch damit stellte man unter Beweis, wie reich und einflussreich man war. Man erkaufte sich die Bildung für die Kinder, um als Eltern so wenig wie möglich selbst bei der Erziehung in Erscheinung treten zu müssen. Gleichzeitig stellte man dadurch sicher, dass die Kinder nie ihr soziales Gefüge zu verlassen brauchten – nicht einmal am Schultor.

Auf einigen Treppenstufen lag noch mehr Spielzeug verstreut, als er zum Zimmer des Jungen hinaufstieg, wobei er achtgab, nicht auf die Dielen zu treten, die ihn mit einem Knarren verraten konnten. In der behandschuhten Hand hielt er die Tasche und das Mitbringsel, das dem Jungen so viel bedeutete. Seine Schritte wurden vom Teppichboden verschluckt, als er am Schlafzimmer der Eltern vorüberglitt. Die Tür stand auf, falls ein Kind in der Nacht unruhig wurde. Doch er spürte, dass nur die Mutter im Zimmer schlief – kein herber Männergeruch, kein Schnarchen. Er ließ die Frau dort im Halbdunkel schlafen und erklomm die nächste Treppe, die zu den Schlafzimmern der Kinder führte – zu George und dessen älterer Schwester Sophia, jedes Kind in einem eigenen Zimmer. Würden sie in einem gemeinsamen Zimmer schlafen, wäre er nicht hier.

Er erreichte den zweiten Stock und verharrte einen Augenblick auf dem Treppenabsatz. Sein Blick wanderte zur dritten Etage, denn er wusste, dass sich dort oben die Gästezimmer befanden. Angestrengt lauschte er auf mögliche Geräusche, denn er war sich nicht sicher, ob die Familie noch einen späten Gast beherbergte. Erst als er überzeugt war, dass im obersten Stock niemand mehr schlief, schlich er weiter den Flur entlang.

Pinkfarbenes und blaues Licht von den Nachtlichtern der Kinder sickerte durch die Türspalte – das blaue Licht führte ihn zu George, und unwillkürlich umfasste er den speziellen Gegenstand fester. Nur noch Sekunden trennten ihn von seinem Vorhaben. Er schlich am Raum des Mädchens vorbei, ohne einen Blick hineinzuwerfen, und bewegte sich langsam, vorsichtig und leise auf das Zimmer des Jungen zu. Behutsam drückte er die Tür auf, obwohl er wusste, dass die Angeln nicht quietschen würden. Dann durchquerte er den Raum bis zum Bett des Kleinen, das unter dem Fenster stand. Dort blieb er einen Moment stehen, um sich die blaue Tapete mit den weißen Wolken anzusehen. Gelegentlich war das Muster der Tapete unterbrochen von Bildern, die der Junge selbst gemalt hatte. Ein Mobile mit Loks, die lächelnde Gesichter hatten, pendelte leicht über dem Kopf des Jungen, und fast das ganze Bett war übersät von Teddys in allen Formen und Größen. Er spürte, wie sich sowohl Freudentränen als auch Traurigkeit tief in seinem Innern regten, Tränen, die ihm in den Augen brannten. Doch er wusste, dass er zu Ende bringen musste, was er angefangen hatte: Eine große Kraft hatte ihn bis hierher geleitet und würde ihn auch auf dem Rest des Weges schützen.

Er kniete neben dem Bett des Kleinen und stellte die Tasche auf dem Boden ab, sein Gesicht nur noch wenige Zoll von den weichen Zügen des Jungen entfernt. Sie waren sich so nah, dass ihr Atem sich vermischte, während er zu wispern begann. »George … scht … George.« Der Junge regte sich unter der Bettdecke, sein schmaler, gerade einmal vier Jahre alter Körper zuckte, kämpfte aber gegen das Aufwachen an. »George … scht … mach die Augen auf, George. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe etwas für dich, George. Etwas sehr Kostbares.« Der Junge rollte sich auf die Seite, blinzelte den Schlaf aus den zusammengekniffenen Augen – aus Augen, die mit einem Mal groß wurden vor Aufregung und Verwirrung. Doch dann breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Kleinen aus, und seine Augen leuchteten vor Freude, als er sah, was der Mann ihm mitgebracht hatte – er streckte die Hand aus nach dem kostbaren Geschenk, während der Mann ihm mit der behandschuhten Hand über das glatte blonde Haar strich. »Willst du mit mir zu einem Zauberort gehen, George? Zu einem ganz besonderen Ort, wo es besondere Dinge gibt?«, flüsterte er. »Wenn ja, dann müssen wir sofort gehen. Aber wir müssen sehr, sehr leise sein. Verstehst du?« Er lächelte den Kleinen an.

»Ein Zauberort?«, fragte der Junge, gähnte und reckte sich in seinem hellblauen Pyjama, sodass die aufgedruckten Dinos wie lebendig wirkten.

»Ja«, versicherte ihm der Mann. »Ein Ort, zu dem nur die besten und nettesten Kinder dürfen.«

»Müssen wir jetzt sofort los?«, wollte der Junge wissen.

»Ja, George.« Er nahm den Kleinen bei der Hand und hob die Tasche an. »Wir müssen jetzt los. Jetzt gleich.«

In der Peckham Police Station saß Detective Inspector Sean Corrigan in seinem Büro, in dem er sich oft wie ein Goldfisch im Glas vorkam, und blätterte in den Berichten und Gutachten des CPS – des Crown Prosecution Service, des Strafverfolgungsdiensts. Die Unterlagen bezogen sich auf den letzten Fall, mit dem er und sein Team zu tun gehabt hatten. Das war ein halbes Jahr her. Anfänglich waren sie alle froh gewesen, nicht sofort wieder mit neuen Mordermittlungen zu tun zu haben, aber nach sechs Monaten machte sich allmählich Langeweile breit, zumal auch der Papierkram des letzten Falls abgearbeitet und archiviert war. Eine gewisse Rastlosigkeit machte sich bemerkbar. Bislang waren sie dazu verdammt, den anderen Mordkommissionen im Südosten Londons zuzuschauen, die in alltäglichen Mordfällen ermittelten und fleißig Überstunden schoben. Auf diese Weise könnten die Kollegen ihre Kredite rechtzeitig abbezahlen oder vielleicht sogar was auf die hohe Kante legen für einen teuren Familienurlaub. Corrigans Team spürte allmählich den Druck, und sogar alte, erfahrene Leute wie Detective Sergeant Dave Donnelly bemühten sich, Mittel und Wege zu finden, mit denen sich der Wunsch nach Überstunden rechtfertigen ließe.

Corrigan schaute von den Unterlagen auf und warf einen Blick in das Großraumbüro, wo die Hälfte der Kollegen entspannt an ihren Schreibtischen und PCs saß. Vom gewöhnlichen Stresslevel war nichts zu spüren. Corrigan wusste, dass sein Team stets die besonderen Fälle bekam, aber wenn diese Flaute noch länger anhielt, würde er sich an Detective Superintendent Featherstone wenden müssen, damit der Chef ihnen irgendetwas überließ, und sei es ein gewöhnliches Tötungsdelikt – irgendetwas, damit die Leute wieder etwas zu tun hätten. Kopfschüttelnd widmete er sich erneut dem CPS-Bericht, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Noch einmal vergegenwärtigte er sich die Einzelheiten des Falls Thomas Keller – ein Kidnapper und Frauenmörder, der obendrein Corrigan fast getötet hätte. Er rieb sich die Schulter. Die Stelle schmerzte immer noch, selbst nach drei Operationen. Mehrfach hatten die Ärzte versucht, sämtliche Schrotkörner zu entfernen, die aus Kellers Flinte stammten.

Während Corrigan im Bericht der Psychologin las, welchen Misshandlungen Keller als Kind ausgesetzt gewesen war – Misshandlungen, die ihn zum Teil an seine eigene Kindheit erinnerten –, überlegte er erneut, was er empfand, wenn er an diesen Mann dachte. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er Keller weder hasste noch verabscheute; er tat ihm einfach nur unendlich leid. Aber auch die Opfer taten ihm leid. Aus dem Fall Keller war niemand als Sieger hervorgegangen.

Obwohl sich Corrigan in den Bericht vertieft hatte, spürte er, wie sich die Atmosphäre im Großraumbüro fast unmerklich veränderte. Als er aufschaute, sah er, dass Featherstone das Büro durchquerte, lächelnd und grüßend, als wäre er der nächste Kandidat im amerikanischen Wahlkampf. Corrigan blies die Backen auf und wartete darauf, dass der Chef jeden Augenblick ins Büro platzte. Wie immer klopfte Featherstone an den Türrahmen, obwohl die Tür weit offen stand, und rauschte ungebeten in Corrigans Reich. Dort ließ er sich schwer auf den Stuhl gegenüber von Corrigan sinken.

»Verdammt. Saukalt draußen« waren seine ersten Worte. »Aber hier haben Sie es schön warm. Bei dieser Kälte will sich niemand an einem Tatort die Beine in den Bauch stehen.«

»Morgen, Chef«, erwiderte Corrigan. Er hatte bereits jetzt das Interesse an Featherstones Auftritt verloren, denn er spürte, dass auch der Chef ihnen keinen lang ersehnten Mordfall servieren würde. »Gibt’s irgendwas Neues?«

»Absolut!«, lautete die Antwort. »Ich dachte, ich komme selbst vorbei, um es Ihnen zu sagen.«

Corrigan zog die Stirn in Falten. »Um mir was zu sagen?«

»Nicht, dass Sie gleich sauer werden, Sean, aber ich hatte vor ein paar Stunden einen Anruf vom Assistant Commissioner.«

»Ja, und?«

»Einer dieser Fuzzis aus der Top-Etage vom CPS hat ihn angerufen und ihm erzählt, man werde Thomas Keller nicht wegen Vergewaltigung oder Mordes verurteilen. Das Gericht wird dem Antrag der Verteidigung auf Totschlag stattgeben, da Keller als nicht zurechnungsfähig eingestuft wird. Also wandert er für den Rest seiner Tage nach Broadmoor. Ich wollte Ihnen das persönlich sagen, Sean. Denn ich weiß ja, was der Kerl Ihnen angetan hat.« Corrigan fasste sich unwillkürlich an die Schulter. »Was macht die Schulterverletzung, da wir gerade davon sprechen?«

»Alles bestens«, log Corrigan, »und ich bin weder sauer noch überrascht. Keller ist, wie er ist. Mir ist es egal, wie er hinter Gittern endet, Hauptsache, er wird weggeschlossen.«

»Na, dann kann er sich ja in Broadmoor mit all den anderen Durchgeknallten unterhalten.« Featherstone lächelte, wurde aber wieder ernst, als er merkte, dass Corrigan nicht zum Scherzen aufgelegt war. »Wie dem auch sei, diese Sache wäre damit also abgehakt. Nehme an, Sie brauchen etwas, um die Truppe auf Trab zu halten, wie? Denn Müßiggang … man kennt das ja.«

»Ehrlich gesagt, im Augenblick würde ich alles annehmen«, sagte Corrigan.

»Kann ich leider nicht zulassen, fürchte ich«, antwortete Featherstone. »Assistant Commissioner Addis beharrt darauf, dass Sie für die … spezielleren Fälle bereitstehen, das wissen Sie ja.«

»Ja, schon, aber das hier ist der Südosten Londons und nicht Washington State. Könnte Jahre dauern, bis der nächste Keller auftaucht.«

»Ganz recht«, stimmte Featherstone zu. »Aber wie wäre es, wenn Sie ganz London abdeckten oder, falls nötig, über die Stadtgrenze hinausschauen?«

»Wie sollen wir einen Mord im tiefdunklen Londoner Norden aufklären, wenn wir hier in Peckham sitzen?«

»Und schon sind wir bei meiner nächsten Neuigkeit für Sie, Sean – Sie werden umziehen.«

»Wie bitte?« Corrigan hatte unweigerlich die Stimme erhoben, sodass einige der Detectives im Großraumbüro, die ohnehin die Ohren gespitzt hatten, besorgte Mienen aufsetzten. »Wohin denn?«

»Wohin wohl? Zum Yard, natürlich.«

»Scotland Yard?« Corrigan konnte es nicht fassen. »Die meisten meiner Leute wohnen in Kent oder an der Grenze der Grafschaft. Wie sollen die jeden Morgen zum Yard kommen?«

»Wie jeder andere auch«, ließ Featherstone ihn wissen. »Mit dem Zug, dem Bus – man kann sogar das Auto nehmen, wenn’s sein muss. Der Assistant Commissioner hat Ihnen ein paar Parkplätze in der Tiefgarage dort reserviert. Am besten pochen Sie auf Ihren Dienstrang und sichern sich einen der freien Plätze.«

»Das hört sich alles gar nicht gut an«, ließ Corrigan durchblicken.

»Ich kann daran nichts mehr ändern, Sean, und Sie auch nicht.« Featherstone sprach inzwischen ein wenig leiser, als könnte Addis das Gespräch von seinem Büro hoch oben im Hochhaus von New Scotland Yard belauschen. »Ich sage es noch einmal: Mr Addis ist fest entschlossen, Ihnen die speziellen Fälle zu überlassen. Also Sexualmorde, Verbrechen an Kindern, Morde, bei denen extreme Gewalt angewendet wird oder verstümmelte Leichen zurückbleiben. Natürlich auch die Fälle mit Vermissten, sofern der Verdacht besteht, dass ein Stalker oder so was in der Art darin verwickelt ist. Sie hören ja, wohin die Reise geht. Addis hat dem Commissioner den Vorschlag unterbreitet, und der hat zugestimmt. Damit hat es sich. Die in den oberen Etagen befürchten, dass wir hinterherhinken, wenn wir keine Experten haben, die in diesen Sonderfällen ermitteln. Also hat man kurzerhand beschlossen, ein Team aus Spezialisten ins Leben zu rufen, und das wird Ihr Team sein.«

»Das bedeutet aber auch«, sagte Corrigan, »dass wir den Kopf hinhalten müssen, sobald wir mit einem Fall, der in den Medien für großes Aufsehen sorgt, nicht so schnell vorankommen, wie man es von uns erwartet, oder?«

»Der Gedanke liegt nahe, aber darauf möchte ich nicht eingehen«, antwortete Featherstone. »Nur so viel: Man wird nicht Assistant Commissioner der Metropolitan Police, ohne gelernt zu haben, wie man den eigenen Arsch rettet.« Corrigan schob die Unterlippe vor. »Wie dem auch sei, Ihr neues Domizil ist im siebten Stock, Zimmer 714. Das waren die Büroräume der Kollegen, die für Kunstdiebstahl und Fälschungen zuständig waren. Doch Addis beschloss, dass die Abteilung ihr Geld nicht länger wert ist, und schickte die Leute zurück in den normalen Innendienst – die Hälfte ist wieder auf Streife. Ich frage mich, wie die Kollegen sich an diesem Morgen fühlen. Sind irgendwo da draußen auf Streife und frieren sich den Arsch ab. Übrigens eine Warnung – Addis sollte man sich nicht zum Feind machen.«

»Was, wenn ich ablehne?«, fragte Corrigan unvermittelt. »Was, wenn ich sage, dass ich das nicht mehr machen will?« Seine Frau Kate blitzte vor seinem inneren Auge auf. Sie lächelt und fasst sich erleichtert ans Herz, als er ihr sagt, dass er aus der alten Mordkommission ausscheidet.

»Aber was wollen Sie sonst machen?« Featherstone sah ihn verblüfft an. »Wollen Sie wieder in den normalen Innendienst und irgendwelche Durchsuchungsbefehle abstempeln oder fragwürdige Anzeigen wegen Vergewaltigung aufnehmen? Kommen Sie, Sean – das wäre das Ende für Sie.«

»Sondereinsatzgruppe? Antiterror-Abteilung?«

»Das sind Traumjobs, Sean. Sie wissen doch, wie das läuft. Jeder, der eine Beförderung ablehnt, muss erst wieder in den normalen Innendienst, ehe er sich auf eine neue, höhere Stelle bewerben kann. Und wie ich schon sagte, nur für den Fall, dass Sie nicht zugehört haben, Addis sollte man sich besser nicht zum Feind machen.« Kates freudig lächelndes Gesicht verblasste in Corrigans Vorstellung. »Abgesehen davon, genau dort gehören Sie hin. Ich blase Ihnen keinen Zucker in den Arsch, Sean, aber jetzt ernsthaft, Sie sind mein bester Mann – der Beste, den ich je hatte. Den anderen immer einen Schritt voraus, manchmal sogar zwei, drei Schritte. Ich weiß zwar nicht, wie Sie das immer machen, aber ich weiß, dass Sie Ihre Gabe nutzen, um ein paar wirklich üble Leute zu kriegen. Und nebenbei retten Sie noch manch einem das Leben.« Corrigan schwieg beharrlich. »Also, es ist beschlossene Sache. Und jetzt machen Sie sich mit Ihrem Team auf den Weg zum NSY. Machen Sie da Ihren Laden auf, Sean. Ihr neues Zuhause erwartet Sie schon.«

Featherstone hatte offenbar beschlossen, dass die Unterhaltung beendet war, denn er stand auf und bewegte sich in Richtung Tür. »Hier gibt’s nichts mehr für uns. In ein paar Tagen komme ich vorbei und schaue, wie die Sache vorangeht. Wer weiß, vielleicht haben Sie dann sogar schon einen speziellen Fall. Genau das, was Ihre Truppe bräuchte, um nicht länger über den Umzug nachzudenken. Also, viel Erfolg, und vergessen Sie nicht: Wenn Sie im Yard sind, sollten Sie aufpassen. Denn Addis hat seine Augen und Ohren überall. Wie heißt es doch so schön: Vorsicht, der Feind hört mit!«

Mit diesem Scherz auf den Lippen verließ er das Büro. Corrigan blieb ernüchtert zurück und starrte auf die Tür, durch die der Chef soeben verschwunden war. Ein spezieller Fall, dachte er. Welch eine abstrakte Umschreibung für das, was er tatsächlich gesehen hatte und vermutlich erneut sehen würde: Frauen und Männer, die verstümmelt oder misshandelt wurden, ehe der Tod sie holte. Was käme als Nächstes?

Celia Bridgeman schaute am Morgen hektisch auf ihre Uhr, während sie im Einbauschrank unter der Treppe nach ihren Laufschuhen suchte. Es war fast Viertel nach acht. Um neun musste sie im Fitnessstudio sein. Mit Mitte dreißig wurde es immer schwieriger, schlank zu bleiben, ganz gleich, wie sehr sie aufs Essen achtete. Um halb elf dann der Termin beim Friseur und später, gegen halb eins, hatte sie sich mit einigen anderen Müttern zum Mittagessen verabredet: Salat mit Hähnchenbruststreifen, kein Dressing. Zum Glück gab es die Nanny, die die Kinder mit allem versorgte und zur Schule und in den Kindergarten brachte, auch wenn die Reinigungshilfe wieder mal spät dran war; Celia würde sie sowieso bald feuern. Als sie die Sportschuhe endlich fand, hörte sie Schritte oben auf der Treppe, machte den Schrank zu und sah, wie ihre sechs Jahre alte Tochter von der drittletzten Stufe hinunter in den Flur hüpfte. Celia strich sich die blondierten Strähnen aus dem Gesicht und wandte sich ihrer Tochter zu. »Hast du George irgendwo gesehen, Sophia?« Ihre tadellosen weißen Zähne blitzten auf.

»Nein«, kam es gelangweilt. Sophia hörte sich schon wie ein Teenager an, nicht mehr wie ein kleines Mädchen. »Wahrscheinlich spielt er noch in seinem Zimmer, wie immer.«

»Er kommt zu spät zur Schule.«

»Zum Kindergarten, Mum«, verbesserte Sophia sie. »George geht in den Kindergarten, nicht in die Schule. Schon vergessen?«

»Hör auf, in diesem Ton mit mir zu reden, Sophia. Und jetzt geh und sag Caroline, was du zum Frühstück haben willst.« Sophia drehte den Kopf zur Seite, um ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, und ging in die Küche. Die Kleine kam ganz nach ihrer Mutter und war schon jetzt für ein Leben an der Spitze der Gesellschaft bestimmt. Celia schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf, als sie Papas kleiner Prinzessin nachschaute, die zu ihrem gesunden Frühstück stolzierte. Dann wandte sie sich der Treppe zu und rief laut nach oben: »George! Leg deine Spielsachen weg und komm frühstücken!« Sie wartete auf eine Reaktion. Doch alles blieb ruhig. »George!« Wieder nichts. Die Nanny hatte das Haus betreten, als Celia noch unter der Dusche gewesen war. Hatte sie George etwa schon angezogen und mit Frühstück versorgt? Wieder warf sie einen Blick auf die Uhr. Da sie spät dran war fürs Fitnessstudio, wollte sie nicht extra die Treppe nach oben laufen und ging stattdessen gleich zu Caroline in die Küche. Das Kindermädchen schnitt gerade einen Apfel und eine Banane für Sophia klein. »Willst du nicht wenigstens eine Scheibe Toast essen?«, fragte Caroline in fast tadelndem Ton.

»Ich will aber nicht dick werden«, antwortete Sophia prompt. Celia hatte schon die passende Zurechtweisung auf den Lippen, aber dafür war jetzt keine Zeit.

»Caroline, haben Sie George schon versorgt?«

»Nein, Mrs Bridgeman«, antwortete sie. »Noch nicht. Ich dachte, er hätte schon gefrühstückt.«

»Er wird es sich wohl kaum selber machen«, mischte sich Sophia ein.

»Spar dir deine Bemerkung«, wies Celia die Kleine zurecht.

»Dann fühlt er sich heute Morgen vielleicht nicht gut?« Caroline überlegte. »Soll ich rasch nach ihm schauen?«

»Nein«, gab Celia kurz angebunden zurück. Mit einem Mal verspürte sie eine unbestimmte Furcht, die sich schleichend in ihr ausbreitete. George war schon öfter zu spät zum Frühstück gekommen, da er sich in seinem Zimmer noch still und leise etwas mit seinen Spielsachen beschäftigt hatte. Er weigerte sich einfach, an dem morgendlichen Ritual teilzunehmen, das sich wie jeden Tag zwei Stockwerke weiter unten abspielte. Aber diesmal fühlte es sich anders an. »Ich schaue selbst nach ihm«, sagte Celia.

Ihre Tochter und die Nanny schauten einander verwirrt an, als Celia ihnen den Rücken zukehrte und zur Treppe eilte. Sie nahm zwei Stufen auf einmal. Dank ihres schlanken Körpers und ihrer athletischen Beine kam sie schnell voran, aber je mehr Stufen sie hinter sich ließ, desto langsamer schien sie zu werden, bis sie nur noch wenige Schritte von Georges Zimmer entfernt war. Hier oben war es so still, dass Celia ihren eigenen beschleunigten Herzschlag hören konnte. All ihre Gedanken an das Fitnessstudio und die Verabredung zum Mittagessen waren verflogen.

Als sie die Tür ein wenig weiter aufdrückte, sah sie, dass die Vorhänge zugezogen waren. Das bläuliche Nachtlicht in der Steckdose brannte noch – nicht ungewöhnlich bei George, aber das bedeutete, dass an diesem Morgen noch keiner nach dem Kleinen geschaut hatte. »George?«, rief sie leise in den Raum, als die Tür weiter aufschwang. Sie wollte den Jungen nicht erschrecken, falls er doch noch schlief oder sich nicht wohlfühlte – ob er wieder Fieber hatte? »George?« Sie betrat das Kinderzimmer, und das Stechen in der Magengegend nahm zu, als sie näher an das Bett trat. Auf den ersten Blick war es bei der Fülle der Bettdecke und dem flauschigen Kissen schwer zu sagen, ob der Junge noch im Bett lag oder nicht. Als Celia jedoch direkt vor dem Bett stand, sah sie, dass es leer war. Es war zwecklos, aber trotzdem tastete sie die Decke ab, zog sie zurück, schleuderte sie auf den Boden und drehte sogar das große Kissen um, bis ihr schwindelte. Dann riss sie die schweren Vorhänge zur Seite, die dabei fast aus der Schiene glitten, und flutete das Zimmer mit hellem, rötlich-gelbem Licht. Die Herbstsonne stand tief am Himmel und hatte die andere Häuserzeile noch nicht erfasst.

Celia stand in der Mitte des Kinderzimmers und blickte sich gehetzt um, auf der Suche nach Anzeichen, wo George stecken könnte – sie rechnete mit einer kleinen Bewegung in einer Ecke oder einem Kichern aus einem neuen Versteck. Kurzzeitig war ihr nach Lachen zumute, da sie sich vorstellte, sich auf ein Spiel einzulassen. George hatte sich versteckt, und sie musste ihn suchen. Daher ging sie in die Hocke, spähte unter das Bett und hatte schon seinen Namen auf den Lippen, da sie glaubte, sein Versteck gefunden zu haben. Aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen, und ihr Lächeln erstarb, je länger sie unter das leere Bett starrte. Ihre Panik kehrte zurück, stärker als zuvor.

»Wo steckst du, verdammt, George?«, sprach sie in die Leere des Zimmers, stand wieder auf und eilte zum Schrank. Sie suchte sogar an Stellen, an denen er unmöglich sein konnte: in Schubladen und Spielzeugkisten, bis sie ahnte, dass er nicht im Zimmer sein konnte. Der Hals war ihr wie zugeschnürt, so als würde sie gleich zu weinen beginnen. Doch dann sagte sie sich, dass sie den Kleinen jeden Moment finden würde.

Schnell verließ sie das Kinderzimmer, eilte von Raum zu Raum und durchsuchte jeden Schrank und jede Kommode, schaute hinter jeden Vorhang und unter jeden Tisch. Sie überprüfte, ob die Fenster noch alle von innen verschlossen waren, und rief die ganze Zeit Georges Namen. Allmählich verlor sie die Geduld. Mal drohte sie dem Kleinen, dann ermunterte sie ihn, sich endlich zu zeigen. Aber etwas tief in ihrem Innern verriet ihr, dass er nicht in den Zimmern war, auch nicht im obersten Stock. Denn die Stille dort kam ihr leblos und kalt vor. Plötzlich unterbrach sie ihre verzweifelte Suche und musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen. In ihrer aufschießenden Furcht ahnte sie, dass sie womöglich nie wieder spüren würde, wie es sich anfühlte, wenn man mit einem kleinen Kind Verstecken spielte. Bei diesem Gedanken wurde ihr übel, und das Schwindelgefühl kehrte zurück. Sie versuchte, ihren Atem zu kontrollieren, und atmete bewusst tief ein, bis der Fußboden, auf den sie starrte, wieder schärfere Konturen annahm. In ihrer Ohnmacht ging sie die Treppe wieder nach unten, wobei sie Halt an der Wand suchte, bis sie in die Küche kam. Trotz der leicht sonnengebräunten Haut sah man, wie bleich sie war. Ihre Lippen hatten sich leicht bläulich verfärbt. Die Nanny wurde als Erste auf sie aufmerksam. »Ist alles in Ordnung, Mrs Bridgeman?«

Celia blieb ihr die Antwort schuldig und starrte das Kindermädchen mit großen Augen an. Durch ihren Kopf wirbelten Gedanken und Ängste, die sie ihr ganzes Leben nie für möglich gehalten hätte. »Haben Sie heute schon meinen Mann gesehen?«

»Nein«, antwortete die Nanny und wirkte verdutzt. »Ich dachte, er wäre auf Geschäftsreise?«

»War er auch.« Sophia antwortete für ihre Mutter.

»Still jetzt, Sophia«, herrschte Celia ihre Tochter an. »Und Sie sind sicher, dass er nicht zufällig ganz früh heute Morgen nach Hause gekommen ist? Vielleicht …« Celia wusste im Moment nicht, wie sie ihre Gedanken in Worte fassen sollte.

»Also, als ich kam, war er jedenfalls nicht hier«, sagte die Nanny. »Sein Auto habe ich auch nicht gesehen. Stimmt irgendetwas nicht?«

»Die Haustür«, fuhr Celia fort, »war sie zu, als Sie kamen?«

»Ja.«

»Sie mussten aufschließen?«

»Ja, Mrs Bridgeman. Aber was ist denn?« Die Nanny war nun noch besorgter.

Celia versagte die Stimme, und als sie wieder sprach, klangen ihre Worte schwach und zittrig. »Ich kann George nirgends finden«, brachte sie schließlich hervor. »Er ist weg. Jemand hat ihn mitgenommen.«

»Aber das kann doch gar nicht sein«, sagte die Nanny und lächelte Celia aufmunternd an, doch in Wirklichkeit versuchte sie nur, ihre eigene Angst zu überspielen. »Der Kleine wird sich irgendwo versteckt haben.«

»Nein«, sagte Celia, doch ihre Stimme verlor sich. »Er ist weg. Jemand hat ihn entführt. Ich spüre es.« Langsam sank sie in der Küche auf die Knie.

Die Nanny trat zu ihr, beugte sich zu Celia hinab und versuchte sie zu ermuntern, wieder aufzustehen. »Kommen Sie, wir schauen beide nach dem Jungen. Wir finden ihn, ganz bestimmt.«

»Nein!«, schrie Celia mit letzter Kraft. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Hören Sie …«, fügte sie leiser hinzu. »Er ist fort. Man hat ihn mir weggenommen. Wir haben schon zu viel Zeit vergeudet. Ich muss die Polizei rufen.«

»Ich rufe Mr Bridgeman an«, bot die Nanny ihr an.

»Nein!« Celia entriss ihr das Telefon. »Das mache ich.«

Corrigan blickte durch das Plexiglas der Trennvorrichtung seines Büros in das Großraumbüro und sah, dass sich inzwischen genug Leute seines Teams eingefunden hatten. Das Meeting konnte beginnen. Er atmete lange aus, holte tief Luft und ging die wenigen Schritte zur Tür. Erst da machte er sich bewusst, wie laut es im Büro nebenan war: Die Leute lachten und plauderten ausgelassen, und ständig klingelte an einem der Schreibtische ein Telefon oder Handy. Corrigan fing Donnellys Blick ein, aber sein anderer treuer Detective Sergeant, Sally Jones, hatte offenbar eine Frauengruppe aufgemacht und unterhielt sich mit den weiblichen Detectives drüben bei der Kaffeemaschine und dem Wasserkocher … neben dem alten Kühlschrank, in dem es immer so streng roch – als sei dort etwas verrottet.

Donnelly wusste, was sein Chef von ihm erwartete. »Also dann, Leute!«, rief er laut und in prägnantem Tonfall, eine Mischung aus Glasgower Dialekt und Cockney. »Die Sitzung ist eröffnet, also setzt euch und spitzt die Ohren.« Er suchte Blickkontakt mit den Kollegen, während er wartete, dass endlich Ruhe einkehrte. Als schließlich alle still waren, wandte Donnelly sich Corrigan zu. »Chef, die Bühne gehört Ihnen.«

Ehe Corrigan beginnen konnte, meldete sich jemand anders aus dem Team.

»Chef«, fragte DC Alan Jesson mit starkem Liverpooler Akzent. »Wann gibt’s einen neuen Fall? Bin so gut wie pleite. Ich brauche die Überstunden, um über die Runden zu kommen, wissen Sie?« Das zustimmende Gemurmel der anderen verriet Corrigan, dass die meisten aus dem Team so dachten.

»Da wird sich schon bald etwas tun«, versuchte er die Kollegen zu beruhigen.

»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Sally. »Das kann genauso gut noch dauern.«

»Ich weiß es aber, weil die Fanggründe, in denen wir von jetzt an unsere Netze auswerfen werden, sehr viel größer sind.« Corrigan sprach ungewöhnlich leise, sodass die meisten verdutzt dreinschauten.

»Sorry, Chef«, rief Sally. »Ich kann Sie nicht verstehen.«

Corrigan räusperte sich. »Wir sind nicht länger ein Morddezernat im Südosten Londons, von jetzt an sind wir für ganz London verantwortlich.« Er sah es den Mienen der Kollegen an, dass kaum jemand begriffen hatte, was er soeben gesagt hatte.

»’tschuldigung, aber wie haben Sie das gerade gemeint, Chef?«, unterbrach Donnelly die Stille.

»Von jetzt an übernehmen wir Fälle aus ganz London«, erklärte Corrigan. »Auf ausdrücklichen Befehl von Assistant Commissioner Addis. Superintendent Featherstone hat es mir heute Morgen erzählt. Der Commissioner hat seine Zustimmung gegeben, also hat es sich damit. Von jetzt an kriegen wir alles, was ein bisschen ausgefallener ist. Potenzielle Serientäter, Kindesmorde, sexuell motivierte Morde – all die guten Sachen landen auf unserem Tisch. Wird nicht gerade leicht werden, aber dafür interessant. Wer das nicht möchte, muss mir bis morgen einen Antrag auf Versetzung auf meinen Schreibtisch legen. Ich denke, die Personalabteilung hat für jeden die passenden Stellen im Innendienst. Vielleicht kann man sogar hier in Peckham bleiben.«

»In Peckham bleiben?«, hakte Donnelly nach. »Soll das heißen, dass das Team umziehen wird?«

»Genau das heißt es.« Allmählich gefiel Corrigan das Spielchen.

»Und verraten Sie uns auch, wo es hingehen soll?«

»Zum Yard.«

Donnelly schloss die Augen, seufzte und lehnte sich so weit in seinem Stuhl zurück, dass dieser nach hinten zu kippen drohte. »Gottverdammt. Doch nicht der Yard! Wie soll ich da denn jeden Morgen von Swanley hinkommen? Und parken können Sie vergessen.«

»Man hat uns in der Tiefgarage ein paar Plätze reserviert.«

»Na, dann ist ja alles in Butter«, sagte Donnelly in sarkastischem Ton.

»Wieso, hört sich doch großartig an«, meldete sich Sally mit durchtriebenem Grinsen zu Wort. Sie mochte es, Donnelly einen zu verpassen.

»Sie haben gut reden, Sally«, entgegnete Donnelly. »Sie wohnen ja auch in Putney. Putney – Victoria Station. Jeden Tag. Toll.«

»Tut mir leid, Dave«, sagte Sally und grinste über beide Ohren.

»Und das soll ich jetzt gut finden?« Donnelly verdrehte die Augen.

»Okay, das reicht«, unterbrach Corrigan die kleinen Zwistigkeiten unter Kollegen. »Machen wir es offiziell. Wer nicht mitkommen möchte, hebt die Hand.« Er schaute sich im Büro um, doch niemand hatte die Hand erhoben. »Ich verspreche Ihnen, dass ich gegen niemanden Groll hegen werde, der jetzt aussteigen will. Ich weiß, dass viele von Ihnen Familie haben, Kinder und so weiter. Sollte Ihnen der Weg zum Arbeitsplatz zu weit sein, verstehe ich das.« Immer noch blieben alle Hände unten. »Dave?«

»Ja, ach, verdammt … wieso nicht? Aber ich will doch hoffen, dass es genügend Überstunden gibt.«

»Wahrscheinlich mehr, als Sie ausgeben können.«

»Hoffen wir’s.«

»Also gut.« Corrigan sprach lauter als zuvor. »Wir ziehen noch heute um.« Seine Stimme ging fast im Stöhnen der Kollegen unter. »Packen wir alles zusammen und fahren rüber zum Yard – Zimmer 714, siebter Stock im Nordturm. Wir nehmen alles mit, was nicht festgeschraubt ist. Packen Sie die Computer ein, die Telefone, und vergessen Sie nicht die Stühle. Alles muss raus und rübergebracht werden.«

»Pickfords stellt uns also keinen Umzugswagen zur Verfügung, Chef?«, fragte Jesson.

»Wo glauben Sie, wo Sie sind, Alan – bei der City Police? Das hier ist die gute alte Met – schon vergessen? Wir stopfen alles in ein Gefährt, das vier Räder hat und unten auf dem Parkplatz steht. Dann nichts wie raus aus diesem Karton.« Er spürte immer noch die ungläubigen Blicke mancher Kollegen. »Kommen Sie, worauf warten Sie noch?«

Als die Detectives sich an die Arbeit machten, schlüpfte Corrigan leise in sein Büro und gab Donnelly und Sally mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass sie ihm folgen sollten.

»Gibt’s Probleme?«, fragte Sally.

»Noch nicht«, sagte Corrigan, als Donnelly eintrat.

»Noch nicht was?«, wollte er wissen.

»Probleme«, erklärte Sally.

»Die kommen schon früh genug«, lautete Donnellys lakonische Bemerkung.

»Also gut«, meinte Corrigan. »Ich habe da so das Gefühl, dass wir nicht mehr lange auf einen Fall zu warten brauchen. Und wenn wir etwas auf den Tisch bekommen, wird es sicher kein normaler Fall sein, den man mal eben mit links löst. Wir werden auch nicht unter uns sein. Im Yard wimmelt es nur so von älteren Kollegen, die Däumchen drehen und nur darauf warten, anderen über die Schulter zu schauen … sie werden also ihre Nase in unsere Angelegenheiten stecken.«

»Heißt?«, fragte Sally.

»Heißt, dass wir auf alles gefasst sein müssen.« Corrigan sah seine Kollegen ernst an. »Daher brauche ich Sie beide. Sorgen Sie dafür, dass unser Team rund läuft. Machen Sie den Leuten Feuer unterm Arsch, bis wir uns im Yard etabliert haben. Verstehen Sie?«

»Klar, Chef«, antwortete Sally.

»Ja, wie auch immer.« Donnelly gab eher missmutig seine Zustimmung.

»Was mich betrifft«, fuhr Corrigan fort, »so mache ich mich jetzt gleich auf den Weg. Will mich da ein bisschen umschauen, ehe die anderen eintrudeln.«

»Haben Sie etwas Spezielles im Sinn?«, forschte Donnelly argwöhnisch nach.

»Nein, aber sagen wir so: Ich möchte lieber die Telefone nutzen, die wir hier hatten, als die Geräte, die man uns dort zur Verfügung stellen wird.«

»Ist das nicht ein bisschen paranoid, Chef?«, fragte Sally.

»So ist es aber im Yard«, rief Corrigan ihr in Erinnerung. »Ein bisschen paranoid zu sein trägt dazu bei, dass man nicht in der Scheiße stecken bleibt.«

»Also ich habe den Yard immer gemieden, wenn’s ging«, sagte Donnelly. »Dort werden die Dinge schnell … ein Politikum. Deshalb habe ich mich immer an die Sondereinsatzgruppe gehalten. Ein Einsatz, und dann aus den Augen, aus dem Sinn. Wunderbar.«

Corrigan unterbrach Donnelly in seinen Gedanken. »Jetzt ist es aber nun mal der Yard. Stellt euch darauf ein und haltet euch bereit. Ich habe das Gefühl, dass etwas Hässliches auf uns wartet, und zwar schon recht bald.«

2. Kapitel

Corrigan stolperte den Flur im siebten Stock entlang und mühte sich mit einem Umzugskarton ab, der so schwer war, dass ihm der Schweiß ausbrach. Die verdammte Heizung im Yard lief auf Hochtouren, sehr zur Freude der alten Computer. Corrigan musterte die Türen, an denen er vorbeikam – Lagerräume, leere Räume. Ab und an eine Tür, die halb offen stand, ohne Aufschrift; nur eine Zimmernummer und ein paar Leute, die stumm vom Schreibtisch aufschauten, während Corrigan mitsamt Karton vorbeiging. Er machte keine Anstalten, sich vorzustellen, sondern folgte dem Verlauf des schmalen Flurs, der so aussah wie alle anderen Korridore bei New Scotland Yard. Deckenverkleidung aus Polystyrol-Platten, Wände nicht dicker als Gipskarton und hellbraun, ein Farbton, der perfekt zu dem abgetretenen, etwas dunkleren Teppichboden passte. »Wenigstens quietscht der Boden nicht«, sagte er leise vor sich hin, denn er dachte an die furchtbaren Gummiböden in Peckham. Schließlich stand er vor der geschlossenen Tür mit der Nummer 714.

Er hätte es den inzwischen beurlaubten Kollegen aus der Abteilung Kunstfälschung zugetraut, dass sie die Tür abgeschlossen hatten, als letzte kleine Gehässigkeit – ein Stinkefinger in Richtung Assistant Commissioner Addis. Corrigan musste schmunzeln, denn komischerweise hatte er sich immer vorgestellt, dass ein Mann wie Addis in einem Haus voller Kunstwerke und Antiquitäten lebte. Vielleicht würde eines Tages bei Addis eingebrochen, und schon sähe der Assistant Commissioner sich genötigt, die alte Abteilung wieder einzusetzen, damit seine gestohlenen Kunstschätze wieder auftauchten.

Corrigan balancierte den Karton auf dem Oberschenkel und umfasste den Türgriff mit der freien Hand. Zu seiner Überraschung ließ die Tür sich öffnen, sodass er seinen neuen Arbeitsbereich betreten konnte.

Doch ehe er über die Schwelle schritt, spähte er zunächst in den Raum. »Gott im Himmel«, rief er und trat ein. Der Bürotrakt war nur halb so groß wie die Räumlichkeiten in Peckham und sah so chaotisch aus, als hätte eine Handgranate eingeschlagen. Die Leute von der Abteilung für Kunstfälschung waren offenbar Hals über Kopf ausgezogen und hatten nichts als Müll und uralte Computer zurückgelassen. Corrigan beglückwünschte sich, dass er seinem Team geraten hatte, alles aus dem Büro in Peckham mitzunehmen, das nicht niet- und nagelfest war. Seufzend stellte er den Karton wahllos auf einem der Schreibtische ab und ging zu den heruntergelassenen Jalousien – billiges graues Plastikzeug. Er zog an dem Seitenzug und rechnete damit, dass die Lamellen in einem Schwung, wenn auch rasselnd, zur Decke laufen würden. Stattdessen löste sich die ganze Chose aus der Halterung und landete krachend auf dem Boden – das Scheppern hallte von den kahlen Wänden wider. Corrigan stand noch stocksteif da und schnitt eine Grimasse, als der Lärm bereits abgeebbt war. Er schaute zur Tür, rechnete er doch mit neugierigen Kollegen, aber von nebenan kam niemand. Allerdings hatte Corrigan das Gefühl, ein paar Türen weiter den Gang hinunter Lachen zu hören. Vorsichtiger machte er sich an die zweite Jalousie und zog ganz sacht an der Schnur, bis kurz darauf durch alle Fenster Licht hereinflutete. Er blickte hinab auf die Straßen am St James’s Park; der Straßenverkehr war nicht mehr als ein leises Grummeln.

Schließlich stand er mit dem Rücken zur Fensterfront und ließ den Blick bei Tageslicht durch das Büro schweifen. Doch was er sah, gefiel ihm auch bei den neuen Lichtverhältnissen nicht. Verdammt eng würde es hier für das Team. Corrigan ahnte jetzt schon, dass bald die Diskussion losginge, wer einen eigenen Schreibtisch bekäme und wer nicht. Aber am Ende des Großraums gab es zumindest zwei separate Büros, die mit einer Konstruktion aus Polystyrol, Aluminium und Plexiglas vom großen Raum abgetrennt waren. Corrigan betrat das größere der beiden Büros und kam zu dem Schluss, dass es auch nicht größer war als sein altes Goldfischglas. Rasch beschloss er, diesen Raum Sally und Donnelly zu überlassen, während er sich nebenan mit dem kleineren begnügen würde. Vielleicht ein schwacher Trost für den gebeutelten Donnelly.

Dann verließ er den Raum, holte den Karton, der seine wertvollen Utensilien enthielt, und betrat das kleinere der beiden Büros. Den Karton stellte er auf den Standard-Schreibtisch, auf dem schon bald Bildschirme, Telefone, Akten und die Tastatur stehen oder liegen würden. Unter der Schreibtischplatte entdeckte Corrigan den üblichen, billigen Rollcontainer mit drei Schubladen. Zum Glück hatte der vorherige Besitzer die Schlüssel im oberen Steckschloss gelassen. Nur jemand, der den Dienst für immer quittierte, würde alles so zurücklassen. Corrigan verspürte einen Anflug von Neid, als er sich vorstellte, wie der gesichtslose Vorgänger dieses Büro am letzten Arbeitstag verlassen hatte, in der Gewissheit, nie wieder einen Fuß hier hineinzusetzen. Doch er vertrieb den Gedanken und blickte sich nach einem Stuhl um. In einer Ecke des Raums stand ein Drehstuhl, der bereits einen Riss auf der Sitzfläche hatte. Egal – der würde es auch tun.

Doch ehe er Platz nahm, musste er noch den Karton auspacken: zuerst die wenigen persönlichen Dinge. Er hatte sie zuoberst in den Karton gelegt, damit nichts unterwegs kaputtging. Ein Foto von seiner Frau Kate, ein anderes mit seinen lächelnden Töchtern Mandy und Louise. Zuletzt holte er ein kleines Silberkreuz hervor, das an einer dünnen Kette hing. Den Anhänger hatte ihm seine Mutter gegeben, als er noch ein Junge war. Damals hatte sie ihm gesagt, das Kreuz werde ihn beschützen. Es hatte ihn aber nicht beschützt. Trotzdem hatte er es behalten, er wusste selbst nicht, warum. Jetzt hängte er das Silberkettchen über den Bilderrahmen mit Kates Foto und erinnerte sich, wie man ihn als Kind immer zur Kirche geschleppt hatte. Als Erwachsener hatte er nie wieder einen Fuß in ein Gotteshaus gesetzt, auch wenn seine Mutter ihn immer wieder darum gebeten hatte.

Schweigend packte er die anderen Sachen aus: das Detective’s Training Course Manual – auch bekannt unter dem Namen »Die Bibel«, dann eine Ausgabe von Butterworths Criminal Law sowie den Police and Criminal Evidence Act und alte Akten, in die man womöglich noch einmal einen Blick warf. Es folgten Druckerpapier und das Telefon, das er im alten Büro in Peckham aus der Wand gezogen hatte. Zwischendurch betrachtete er den Schreibtisch, der immer mehr so aussah wie die alte Arbeitsfläche, ehe er seinen Blick auf das verwaiste Großraumbüro richtete. Er stellte sich vor, wie es in wenigen Tagen hier zugehen würde. Die Kollegen, die er immer mit Peckham assoziiert hatte, würden bald in diese fremde, neue Umgebung verfrachtet, um hier an den PCs zu arbeiten … den Telefonhörer zwischen Ohr und hochgezogener Schulter, hastig mitschreibend, was am anderen Ende der Verbindung gesprochen wurde. Das ständige Stimmengewirr und die Geräusche des Büroalltags würden auch diesem Arbeitsumfeld bald neues Leben einhauchen. Schließlich blinzelte Corrigan die noch imaginären Kollegen fort und spürte erneut die unheimliche Stille, die in ihm ein unwillkommenes Gefühl von Einsamkeit auslöste. Einsam fühlte er sich kaum jemals, vielleicht zuletzt als Kind, obwohl das Alleinsein damals gleichbedeutend gewesen war mit Sicherheit. Kopfschüttelnd packte er die letzten Sachen aus dem Karton, bis ihn eine Stimme aus seinen Gedanken riss. Corrigan erschrak regelrecht, denn es überraschte ihn, dass er die Anwesenheit der Person nicht gespürt hatte.

»Haben Sie sich schon ein wenig eingelebt, Inspector?«, fragte Assistant Commissioner Addis vom Durchgang zum kleinen Büro aus.

»Von Einleben kann noch nicht die Rede sein, Sir, bin gerade erst angekommen«, lautete Corrigans Antwort.

»Ganz recht.« Ein dünnes, undurchsichtiges Lächeln umspielte Addis’ Mundwinkel, in seinen funkelnden Augen lagen Verschlagenheit und Scharfsinn. »Diese Bürotrakte hier liegen auf der schmaleren Seite der Etage, ich weiß. Aber ich bin mir sicher, dass alles zu Ihrer Zufriedenheit sein wird.«

»Ich komme schon klar, danke«, antwortete Corrigan, ohne begeistert zu klingen, und widmete sich weiter dem Inhalt des Kartons.

»Gut, gut.« Addis betrat den Raum. »Sie können von Glück reden, dass Sie schon so früh gekommen sind«, fügte er hinzu. Corrigan schaute auf.

»Ach, ja?« Er war auf der Hut, da er nicht wusste, womit er zu rechnen hatte. »Wie meinen Sie das?«

»Nun, da haben wir ein wenig Zeit zu plaudern … unter vier Augen.« Addis warf einen Blick zurück in das leere Großraumbüro, als müsse er seine Bemerkung unterstreichen.

»Plaudern? Über was, zum Beispiel?« Corrigan gab sich keine Mühe, den Argwohn aus seiner Stimme herauszuhalten.

»Über Ihre neue Position natürlich – hier im Yard. Ich gehe doch davon aus, dass Superintendent Featherstone Sie bereits von allem in Kenntnis gesetzt hat?«

»Das hat er, ja … mehr oder weniger zumindest.«

»Sie sollten mir dankbar sein«, sagte Addis ohne jeden Anflug von Ironie. »Sie sind jetzt ungebunden. Frei von all dieser zermürbenden Ermittlungsarbeit, die auch ein abgerichteter Schimpanse machen könnte: Ehemann würgt Frau zu Tode, Drogendealer knallt Rivalen ab, Teenager einer Straßengang sticht anderen Teenager aus einer anderen Gang nieder. Ich denke, das Alltägliche sollten wir den weniger Begabten überlassen, nicht wahr?«

Corrigan hatte dafür nur ein Achselzucken übrig. »Wenn Sie es sagen.«

»Sie wissen, was ich meine, Inspector, oder nicht?« Corrigan schwieg. »Wissen Sie denn nicht, worin wir richtig gut sind bei der Polizei? Wir vergeuden Talente. Aber ich vergeude kein Talent, wenn ich es sehe, Sean – ich mache es mir zunutze, auf eine Art und Weise, die ich für richtig halte.«

»Und deswegen bin ich also hier?«, fragte Corrigan. »Um benutzt zu werden?«

Addis lachte einmal trocken auf, ehe er unter dem Arm einen dünnen Umschlag hervorzauberte, der Corrigan noch gar nicht aufgefallen war. Addis warf den Umschlag auf den Schreibtisch, wobei ein paar Unterlagen herausrutschten, darunter auch ein Foto, auf dem ein hübscher, lächelnder Junge zu sehen war. »Ihr erster Fall«, ließ Addis ihn emotionslos wissen. »Ein vierjähriger Junge verschwand auf mysteriöse Weise aus seinem Elternhaus in Hampstead.«

»Hampstead?«, fragte Corrigan, denn er kannte die Gegend, oder zumindest einige der Pubs dort. Bei Weiterbildungen der Metropolitan Police im nahe gelegenen Hendon ging man auf ein paar Pints in die Pubs in Hampstead.

»Der Junge verschwand offenbar in der Nacht, während seine Mutter und die ältere Schwester tief und fest schliefen. Keine Anzeichen gewaltsamen Eindringens. Daher hat es den Anschein, der Kleine habe sich in Luft aufgelöst. Ein echtes Rätsel, wenn Sie mich fragen. Genau Ihre Kragenweite, nicht wahr?«

»Und was ist mit dem Vater?«, fragte Corrigan.

»Der war auf Geschäftsreise, wie es aussieht. Die Leute vom CID sind vor Ort bei der Familie und erwarten Sie bereits.«

»Wurde das Haus schon von oben bis unten durchsucht?«, erkundigte sich Corrigan. »Hört sich für mich so an, als habe der Kleine sich irgendwo versteckt.«

»Die Mutter hat bereits überall gesucht. Später haben zwei Polizeibeamte und die Leute des CID das Haus noch einmal auf den Kopf gestellt. Keine Spur von dem Jungen. Und deshalb überlasse ich Ihnen die weiteren Ermittlungen.«

»Verstehe.« Corrigan war bewusst, dass er keinerlei Einfluss auf Addis’ Entscheidung mehr hatte.

»Sollten Sie den Jungen dennoch in irgendeinem Versteck aufspüren, das den anderen entgangen ist, umso besser«, meinte Addis. »Aber falls nicht …« Den Rest des Satzes überließ er Corrigans Fantasie. »Wie ich hörte, waren Sie vor einigen Jahren höchst erfolgreich, als Sie sich undercover in einen Pädophilenring einschleusten, der unter der Bezeichnung Network bekannt war?«

»Ja, stimmt.« Corrigan war überrascht, dass Addis sich die Zeit genommen hatte, in seiner Personalakte zu stöbern.

»Dann haben Sie ja eine Vorstellung davon, wie diese Leute vorgehen.«

»Sie denken also, dass wir es hier mit einem Pädophilen zu tun haben?«

»Das vermute ich, ja«, antwortete Addis. »Und die Eltern des Kleinen gehören nicht zum Abschaum aus dem sozialen Wohnungsbau, Sean – falls Sie sie beschuldigen, die Finger mit im Spiel zu haben.«

»Ich denke, es ist noch zu früh für Mutmaßungen dieser Art. Sollte die Familie wohlhabend sein, könnte bald die erste Lösegeldforderung eingehen.«

»Nun ja«, meinte Addis, wobei er darüber hinwegsah, dass Corrigan ihm zu widersprechen gewagt hatte. »Das überlasse ich Ihnen. Sämtliche Einzelheiten entnehmen Sie bitte der Akte.« Addis deutete mit einem Blick auf den braunen Umschlag. »Oh, und da wir gerade dabei sind, ich habe beschlossen, dass Ihr Team einen neuen Namen braucht – damit Sie sich von der Masse abheben. Von jetzt an gehören Sie der Special Investigations Unit an. Dürfte Ihre Leute zufriedenstellen: Nichts mögen Detectives lieber als ein wenig Elitedenken. Zumindest war das stets mein Eindruck. Vornehmlich werden Sie sich natürlich mit Mordfällen beschäftigen, aber zwischendurch gibt es immer wieder andere Herausforderungen.« Corrigan ging darauf nicht ein und sah Addis unverwandt an. »Ich will Sie nicht aufhalten, damit Sie sich an die Arbeit machen können. Ein schneller Erfolg in diesem Fall wäre wünschenswert. Wir könnten ein positives Echo in den Medien brauchen. Wenn Sie irgendetwas benötigen, sagen Sie einfach Bescheid. Ich bin immer in der Nähe, einige Etagen über Ihnen. Erstatten Sie mir Bericht, wenn Sie erste Erkenntnisse haben. Ansonsten wenden Sie sich an Superintendent Featherstone, wenn ich unterwegs sein sollte. Also, bis dann.« Addis wandte sich zum Gehen.

»Mr Addis«, rief Corrigan hinter ihm her. Der Assistant Commissioner blieb stehen, drehte sich um und sah Corrigan perplex an, ganz so, als sei es vollkommen neu und unerwartet für ihn, im Gehen angesprochen zu werden.

»Stimmt irgendetwas nicht, Inspector?«

»Doch, doch, es ist nur so, dass ich im sozialen Wohnungsbau groß geworden bin«, sagte Corrigan ruhig. »Ich dachte, das sollten Sie wissen.«

Addis grinste und nickte steif. Seine Miene blieb undurchdringlich, als er sich erneut von Corrigan abwandte und in der Tür beinahe mit Sally zusammengeprallt wäre, die halb hinter dem Karton verborgen war, den sie hereinschleppte. Addis wich im letzten Moment aus und räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen.

Sally spähte über den Rand des überdimensionierten Kartons hinweg, entdeckte den mürrisch dreinblickenden Assistant Commissioner und stöhnte innerlich auf. »Scheiße«, entfuhr es ihr, ehe sie die Wortwahl bereute und den Fauxpas sofort zu überspielen versuchte. »Ich meinte, Mist … tut mir leid, Sir … tut mir wirklich leid.«

Addis funkelte sie böse an und schritt den Flur entlang. Sally blieb verwirrt stehen, hielt dann im neuen Büro Ausschau nach Corrigan, entdeckte ihn schließlich und entledigte sich kurzerhand ihres Kartons. Dann wandte sie sich sogleich dem kleinen Büro zu, doch Corrigan kam bereits auf sie zu, den Umschlag mit dem Foto des vermissten Jungen in der Hand.

»Aufgeblasener Wicht«, schimpfte sie und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Flur, in dessen Weite Addis soeben verschwunden war. Als sie sah, dass Corrigan nicht bei ihr stehen blieb, sondern ebenfalls zur Tür ging, sah sie ihm verdutzt nach. »Schon wieder unterwegs, Chef?«

»Ja, und Sie können gleich mitkommen.«

Donnelly saß auf dem Beifahrersitz, während DC Paulo Zukov das Auto durch den dichten Verkehr rund um den Parliament Square lotste. Bei dem Gedanken, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, schüttelte Donnelly nur den Kopf. »Der Yard«, stöhnte er. »Warum ausgerechnet der Yard? Die verscherbeln das Haus doch, sobald sie einen Käufer finden. Kaum haben wir uns eingerichtet, werden wir wieder umziehen müssen. Verdammte Zeitverschwendung, sag ich. Und wohin dann, verflucht? Belgravia?«

»Das müssen Sie anders sehen«, meinte Zukov. »Wir können allen erzählen, dass wir von jetzt an Detectives bei New Scotland Yard sind. Hört sich doch besser an als Ich arbeite in Peckham. Außerdem ist der Verkehr gar nicht so schlimm, wenn man’s genau betrachtet. Man muss sich nur dran gewöhnen.«

Donnelly musterte seinen Kollegen mit unverhohlener Geringschätzung. »Besser, Sie konzentrieren sich aufs Fahren und überlassen mir das Denken … und das Sprechen, klar? Man muss sich nur dran gewöhnen! Manchmal frage ich mich, wie Sie es überhaupt zum CID geschafft haben. Nehmen die heutzutage jeden? Ich sag Ihnen jetzt mal was: Nach ein paar Wochen im Yard werden Sie sich wünschen, Sie könnten wieder im Büro in Peckham sitzen. Wo wohnen Sie noch gleich? Purley, war’s nicht so? Wie wollen Sie jeden Tag von dort fahren?«

»Mit dem Zug«, ließ Zukov ihn wissen, hielt es aber für besser, Donnelly keine weitere Angriffsfläche zu bieten.

»Ah, okay, dann schauen wir mal, wie das für Sie laufen wird … Sie stehen sich auf dem zugigen Bahnsteig die Beine in den Bauch, ehe Sie sich in den vollen Wagen quetschen und nur einen Stehplatz kriegen. Schulter an Schulter mit wildfremden Leuten, die sich nicht waschen, und das jeden Tag, morgens hin, abends zurück. Und wie wollen Sie nach Hause kommen, wenn Sie mal bis drei Uhr morgens arbeiten müssen? Da gibt es dann keinen Streifenwagen mehr, bei dem man per Anhalter mitfahren kann.«

»Ich finde schon eine Mitfahrgelegenheit.«

»Ja, klar, wie alle anderen auch. Da gibt’s nur ein Problem. Wir sind viel mehr Leute als Autos. Sie sollten sich schon jetzt daran gewöhnen, im Büro auf dem Boden zu übernachten.«

»Mir fällt schon was ein«, antwortete Zukov und nahm sich vor, vorerst den Mund zu halten.

»Ja, Ihnen fällt bestimmt was ein.« Donnelly hatte seinen herablassenden Tonfall angeschlagen. »Darauf freue ich mich schon, auf Ihre Ideen. Und da wir gerade dabei sind, denken Sie dran, die Augen offen zu halten. Noch so ein fataler Fehler wie beim Gibran-Fall, und ich werde Ihnen nicht mehr den Arsch retten können, nicht im Yard. Für uns hat sich jetzt alles verändert: Die da oben haben uns jetzt genau da, wo sie uns immer haben wollten, direkt vor ihrer Nase. Und ich weiß auch, warum.«

Die nachfolgende Stille, angereichert mit einem Hauch von Geheimnisvollem, war zu viel für Zukov. Er hielt es nicht mehr aus. »Und warum?«, fragte er. »Warum wollen die uns direkt vor ihrer Nase haben?«

»Das, mein Freund, weiß nur ich allein, und Sie werden es selbst herausfinden müssen«, sagte Donnelly. »Und jetzt bringen Sie uns aus diesem Stau raus und fahren zum Yard. Ich muss dringend pissen.«

Corrigan und Sally parkten in der Courthope Road am Rand von Hampstead Heath und hielten auf das vierstöckige, georgianische Haus mit der Nummer 7 zu, aus dem der vierjährige George Bridgeman verschwunden war. Allerdings ging Corrigan noch nicht von einem Verbrechen aus. Den vermeintlichen Tatort musste er sich erst mit eigenen Augen ansehen. Das Haus erinnerte ihn von der Architektur her an andere Häuser, in denen er bislang ermittelt hatte. Gesichter anderer Opfer blitzten in seiner Erinnerung auf, wie in einer rasanten Dia-Show. Doch er verscheuchte all diese Bilder, da er sich auf den aktuellen Fall konzentrieren musste. Leider war sein Geist noch träge von dem Umzug und den verwaltungstechnischen Hürden, die ihm schon jetzt Kopfschmerzen bereiteten. Zwischendurch tauchte Thomas Keller in seinen Träumen auf, auch tagsüber, wenn Corrigan es am wenigsten gebrauchen konnte. Selbst die Frauen, die Keller auf dem Gewissen hatte, drängten sich in Corrigans Erinnerung. Eines war ihm bewusst: Wenn er wieder so denken wollte, wie er es sonst immer tat, musste er dringend den Kopf frei bekommen.