Für sie ist die Welt nicht mehr heil - Susanne Svanberg - E-Book

Für sie ist die Welt nicht mehr heil E-Book

Susanne Svanberg

5,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Die Kinderaugen sahen vorwurfsvoll zur Köchin Magda empor, die gerade aus dem Biedermeierzimmer kam. »Warum dürfen wir nicht zu Tante Isi?« fragte Vicky. Schmollend ließ sie die Unterlippe hängen. »Wir müssen sie etwas ganz Wichtiges fragen«, unterstützte Angelika die um zwei Jahre jüngere Schwester. Die mollige Magda stemmte die Arme in die Taille und neigte sich etwas herab. Ihr rundes, gutmütiges Gesicht wirkte wie immer heiter und gelassen. »Tante Isi hat Besuch. Gerade habe ich ihr Kaffee und einen Teller Kuchen gebracht. Die Hausmädchen bügeln Wäsche im Arbeitsraum. Deshalb mußte ich den Kaffee selbst servieren.« »Immer noch Besuch?« maulte Vicky enttäuscht. »Warum dauert denn das so lange?« »Ist es immer noch die blonde Dame mit der flotten Pelzjacke?« wollte Angelika wissen. »Es ist Fräulein Gaby Clausnitzer«, verriet die Köchin. »Kennst du sie denn?«

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Sophienlust – 298 –

Für sie ist die Welt nicht mehr heil

Wird deine Mami wieder gesund?

Susanne Svanberg

Die Kinderaugen sahen vorwurfsvoll zur Köchin Magda empor, die gerade aus dem Biedermeierzimmer kam.

»Warum dürfen wir nicht zu Tante Isi?« fragte Vicky. Schmollend ließ sie die Unterlippe hängen.

»Wir müssen sie etwas ganz Wichtiges fragen«, unterstützte Angelika die um zwei Jahre jüngere Schwester.

Die mollige Magda stemmte die Arme in die Taille und neigte sich etwas herab. Ihr rundes, gutmütiges Gesicht wirkte wie immer heiter und gelassen.

»Tante Isi hat Besuch. Gerade habe ich ihr Kaffee und einen Teller Kuchen gebracht. Die Hausmädchen bügeln Wäsche im Arbeitsraum. Deshalb mußte ich den Kaffee selbst servieren.«

»Immer noch Besuch?« maulte Vicky enttäuscht. »Warum dauert denn das so lange?«

»Ist es immer noch die blonde Dame mit der flotten Pelzjacke?« wollte Angelika wissen.

»Es ist Fräulein Gaby Clausnitzer«, verriet die Köchin.

»Kennst du sie denn?« Vicky legte das Köpfchen schief. Das braune Haar fiel ihr ein wenig ins Gesicht. Sie strich es zurück, blinzelte die kinderfreundliche Köchin neugierig an.

»Natürlich nicht. Aber ich habe Frau von Schoenecker die Visitenkarte der Besucherin gebracht. Da habe ich den Namen gelesen. Fräulein Clausnitzer ist Reporterin beim Fernsehen.«

Auf die Köchin hatte die Besucherin einen tiefen Eindruck gemacht. Denn Magda war überzeugt, daß jemand, der beim Fernsehen beschäftigt ist, unerhört tüchtig sein mußte. Außerdem war Gaby Clausnitzer eine bildhübsche junge Frau. Magda schätzte sie auf Mitte der Zwanzig und fand, daß sie wie ein Filmstar aussah: Gepflegt, elegant, selbstbewußt.

»Beim Fernsehen?« fragten die beiden Mädchen interessiert.

»Ich habe zufällig gehört, daß sie um die Weihnachtszeit eine Sendung über Solphienlust im Regionalprogramm bringen will«, verriet Magda tuschelnd. Das, was sie beim Servieren des Kaffees aufgeschnappt hatte, fand sie so wahnsinnig aufregend, daß sie es nicht für sich behalten konnte.

»Stark!« ergänzte Angelika. Sie trat näher zu der beleibten Köchin, schaute lebhaft zu ihr empor. »Kommen wir dann alle im Fernsehen?«

Magda zuckte die rundlichen Schultern. »Weiß ich nicht. Es ist aber möglich. Fräulein Clausnitzer meint, die Öffentlichkeit müsse unbedingt von Sophienlust erfahren, müsse wissen, wie gut es euch allen hier geht. Wahrscheinlich wird man auch meine Küche filmen. Du meine Güte, und das kurz vor Weihnachten! Ich muß unbedingt alles auf Hochglanz bringen. Gerade jetzt, da es so viel zu backen und zu richten gibt.« Die Köchin schlug die kräftigen Hände zusammen. Magda sah sich im Gedanken tatsächlich schon auf dem Bildschirm.

»Mann, das ist ein Ding! Das müssen wir unbedingt sofort den anderen erzählen«, sprudelte Vicky aufgeregt hervor. Ungeduldig zog sie ihre Schwester am Arm.

»Komm!« schrie Angelika. »Nick wird staunen. Und Irmela dreht sich bestimmt die Haare ein, bevor die Fernsehleute kommen.«

Die beiden Mädchen hatten das Anliegen, das sie Denise von Schoenecker hatten vortragen wollen, bereits vergessen. Eilig rannten sie durch die Halle.

Schmunzelnd schaute die Köchin ihnen nach.

Im Aufenthaltsraum saßen die größeren Kinder von Sophienlust über ihren Schularbeiten. Vor den Winterferien wurden in der Schule gewöhnlich noch eine Menge Arbeiten geschrieben. Da mußte fleißig gelernt werden.

Deshalb achtete Schwester Regine auch darauf, daß die Kleinen ihre größeren Kameraden nicht störten. Gewöhnlich unternahm sie am Nachmittag lange Spaziergänge mit den jüngeren Mädchen und Buben. Die herrliche Umgebung des Kinderheims bot dazu ausgezeichnete Möglichkeiten.

»Wir kommen alle im Fernsehen!« verkündete Vicky lautstark.

Pünktchen, ein hübsches blondes Mädchen mit wunderschönen blauen Augen, sah vom Englischheft auf. Die vielen Sommersprossen auf der kleinen Stupsnase, denen Angelina ihren Spitznamen Pünktchen zu verdanken hatte, gaben dem jungen Gesicht einen unglaublichen Reiz.

»Sag mal, spinnst du?« fragte Pünktchen, ärgerlich über die Störung.

»Bei dir ist wohl eine Sicherung durchgebrannt?« rügte Fabian und vertiefte sich wieder in seine Mathematikaufgaben. Er hatte seine Eltern bei einem Zugunglück verloren, war danach bei seiner Stiefgroßmutter untergebracht worden und hatte eine schlimme Zeit verlebt. Erst in Sophienlust hatte er wieder lachen gelernt, wieder Selbstvertrauen gewonnen.

»Gar nicht. Es ist wahr!« wehrte sich Vicky. Hilfesuchend sah sie auf ihre ältere Schwester.

Angelika wandte sich an Nick, den künftigen Erben von Sophienlust. Nick war ein großer, hübscher Junge mit blauschwarzem Haar und ausdrucksvollen dunklen Augen. Obwohl er noch sehr klein gewesen war, als seine Urgroßmama ihm das ehemalige Gut Sophienlust hinterlassen hatte, interessierte er sich doch lebhaft für alles, was dieses Haus betraf. Nach dem Willen der Erblasserin hatte seine Mutter das Gut in ein Heim für Kinder, die Hilfe brauchten, verwandelt und kümmerte sich mit hohem persönlichem Einsatz darum. Nick wohnte zwar, wie die ganze Familie von Schoenecker, auf dem benachbarten Gut Schoeneich, war aber tagsüber regelmäßig in Sophienlust.

»Im Moment ist eine Reporterin vom Fernsehen bei deiner Mutti. Magda hat gehört, daß Fernsehaufnahmen von Sophienlust gemacht werden sollen.«

»Bei uns?« Nick zog die Stirn in Falten. Er wußte recht gut, daß seine Mutter Publicity nicht schätzte. Sie wollte, daß ihre Schützlinge in Ruhe und Frieden aufwuchsen. Jeden Reklamerummel hielt sie von Sophienlust fern. Natürlichkeit und Ungezwungenheit sollten hier herrschen.

Inzwischen waren alle Kinder aufmerksam geworden.

»Spitze!« kreischte Henrik, Nicks jüngerer Halbbruder, ein lebhafter kleiner Bursche, der für jede Abwechslung dankbar war.

»Wir alle im Fernsehen, das ist zum Verrücktwerden!« Fabian griff sich an den Kopf.

»Wir ziehen unsere neuen Sachen an und benehmen uns unheimlich gut.« Vicky hüpfte vor Aufregung von einem Fuß auf den anderen. »Pünktchen bringen sie bestimmt in Großaufnahme, weil sie die Hübscheste von uns allen ist.«

»Und die kleine Heidi mit dem Puppenwagen und den Adventskerzen, so richtig rührselig«, spottete Fabian.

»Habakuk muß auch aufs Bild«, erklärte Angelika. »Vielleicht ist er gerade gut aufgelegt und spricht sogar etwas. Dann sieht jeder, wie klug ein Papagei sein kann.«

»Die Ponys müssen gefilmt werden und sämtliche Hunde.«

»Die Kaninchen und die Meerschweinchen.«

»Die Katzen!«

Schließlich brüllte alles durcheinander Die Buben waren dafür, daß die Aufnahmen draußen im Park gemacht wurden, natürlich während eines zünftigen Fußballspiels. Die Mädchen waren eher fürs Beschauliche. Sie wünschten sich, daß die Gemütlichkeit, die sie an Sophienlust so sehr schätzten und die ihnen das Gefühl der Geborgenheit gab, in dem geplanten Film zum Ausdruck kam.

»Seid doch mal still«, bat Nick. Er mußte ordentlich schreien, um den allgemeinen Krach zu übertönen. »Es könnten doch Ausschnitte von allem gebracht werden, was Sophienlust bietet. Ponyreiten zum Beispiel. Skilaufen, Rodeln, im Sommer Schwimmen, Tennisspielen und Gymnastik.«

Pünktchens Augen leuchteten auf. Es mußte wundervoll sein, all die Dinge, auf die sie so stolz waren, auf dem Bildschirm betrachten zu können.

*

»Findet hier eine Bundestagsdebatte statt?« fragte in diesem Augenblick eine charmant klingende Stimme. Denise von Schoenecker hatte den Arbeitsraum betreten. Erstaunt sah sie in die erhitzten jungen Gesichter.

Die Frau, die sich seit vielen Jahren selbstlos um das Kinderheim Sophienlust kümmerte, war jugendlich schlank und sehr geschmackvoll gekleidet – eine ausgesprochen angenehme Erscheinung. Nick und Henrik waren stolz auf ihre Mutter. Sie bewunderten nicht nur deren fabelhaftes Aussehen, sondern vor allem ihre Gabe, in allen schwierigen Situationen Rat zu wissen und trotz der vielen Arbeit immer Zeit zu einem Gespräch zu haben.

»Mutti, wann kommen die Leute vom Fernsehen? Wir müssen uns doch vorbereiten.« Nick lief seiner Mutter entgegen.

»Wir studieren einige Musikstücke ein. Und Habakuk lernen wir ein Gedicht. Du wirst sehen, es klappt!« Henrik drängte sich dicht an Denise heran.

Denise von Schoenecker zog bedauernd die Schultern hoch.

»Ich muß euch enttäuschen, Kinder. Das Fernsehen kommt nicht hierher.«

»Aber die blonde Dame mit der schicken Pelzjacke war doch... vom Fernsehen«, stotterte Vicky verwirrt.

»Stimmt. Sie wollte tatsächlich einen Bericht über Sophienlust bringen. Aber ich habe das abgelehnt.«

Das Lachen und die Freude in den erhitzten Kindergesichtern verschwanden.

»Warum denn?« piepste Henrik weinerlich. »Wir haben uns doch schon alle so gefreut.«

Denise von Schoenecker atmete tief durch. Sie hatte sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, aber sie war überzeugt, richtig gehandelt zu haben. Gaby Clausnitzer war eine Gesprächspartnerin gewesen, die es verstanden hatte, ihre Sache ausgezeichnet zu vertreten. Denise hatte Achtung vor dieser tüchtigen jungen Frau, und das um so mehr, als Gaby Clausnitzer ihr erzählt hatte, daß sie selbst ein Kind habe, ein kleines Mädchen.

Sie wollte ihr Kind ganz allein großziehen, wollte dafür sorgen, daß ihre kleine Tochter nichts vermißte.

Die Mütterlichkeit, die bei diesen Worten aus der jungen Reporterin gesprochen hatte, und die eigentlich gar nicht zu der selbständigen, stolzen Frau paßte, hatte Denise sehr imponiert. Obwohl sie sich hinsichtlich der Filmaufnahmen nicht hatten einigen können, waren sie wie Freundinnen auseinandergegangen. Herzlich war der Abschied gewesen, aufrichtig die Bitte um ein Wiedersehen.

»Ich werde es euch erklären.« Denise ging zum Stuhl am Fenster. Die Kinder scharten sich, wie schon so oft, sofort im Halbkreis um sie. Erwartungsvoll schauten sie sie an.

»Ich möchte nicht, daß man mit euch und Sophienlust Reklame macht«, erklärte Denise. »Ich möchte euch vor der Neugierde bewahren, die diese Sendung auslösen würde. Jedes Wochenende, vielleicht sogar an Werktagen, kämen Leute hierher, die den Wunsch hätten, das Kinderheim, das sie im Fernsehen kennengelernt hatten, in Wirklichkeit zu sehen. Wir könnten uns vor Neugierigen, vor sensationslüsternen Gaffern kaum noch retten. Eure Freiheit, die ihr doch so sehr liebt, ginge verloren.« Eindringlich schaute Denise in die Runde. Sie kannte jeden Jungen und jedes Mädchen so gut, als wäre es ihr eigenes Kind. Jeden Schützling liebte sie aber auch genauso aufrichtig, als hätte sie ihn selbst zur Welt gebracht. Sie fühlte sich für jedes Kind verantwortlich, überwachte mit Freude und Interesse jede Phase dessen Entwicklung.

»Was würdet ihr empfinden, wenn draußen am Zaun Leute stehen würden, um euch zu beobachten, wenn ihr im Park spielt, wenn ihr in den Ställen bei den Ponys seid? Was würdet ihr sagen, wenn unser Schulbus am Tag nach der Sendung und auch in den Wochen darauf von Reportern und neugieren Fotografen umlagert sein würde? Wenn man euch von der Schule oder auch hier im Haus nach eurem Schicksal fragen würde? Wenn man euch in den Zeitungen als arme, bedauernswerte Waisen präsentieren würde?«

»Schrecklich«, japste Pünktchen.

»Und noch etwas würde diese Fernsehsendung auslösen: Wir würden eine Unmenge Anfragen von allen Seiten bekommen, ob wir nicht weitere Kinder aufnehmen können. Ihr wißt, daß ich gern allen Kindern helfen möchte, aber ich kann es leider nicht. Sophienlust hat nicht unbeschränkt Platz. Ich muß mich nach den Mitteln richten, die wir zur Verfügung haben.« Echtes Bedauern schwank in Denises Stimme mit. Sie wußte nur zu gut, wie viele Kinder es auf der Welt gab, die Hilfe brauchten. Sie hatte sich über dieses Thema auch mit Gaby Clausnitzer unterhalten. Von sich aus hatte die Reporterin versprochen, ohne Nennung eines Namens, Sophienlust als Beispiel privater Hilfsbereitschaft an die Öffentlichkeit zu bringen und anzuregen, daß mehrere solcher Häuser gegründet wurden.

»Ich möchte«, meinte Denise abschließend, »daß ihr lebt und aufwachst wie ganz normale Kinder, unbeachtet von Fernsehkameras und unbelastet von jeder Eitelkeit, die der Ruhm mit sich bringt. Ich hoffe, ihr seid nicht traurig darüber, daß euch der Spaß entgeht, euch im Fernsehen zu bewundern Denkt daran, daß die Ruhe, die wir hier draußen genießen, viel mehr wert ist als ein halbstündiger Fernsehauftritt.«

Sehr bewußt sprach Denise von Schoenecker mit den größeren Buben und Mädchen stets so vernünftig wie mit Erwachsenen. Sie respektierte ihre Schützlinge, diskutierte gern mit ihnen und hatte gute Erfahrungen damit gemacht. Denn die Jugendlichen gaben das Vertrauen, das man ihnen entgegenbrachte, gern zurück.

»Mutti hat recht«, stellte sich Nick sofort auf Denises Seite. »Der Rummel mit dem Fernsehen würde uns die ganze Vorweihnachtszeit verderben.«

»Finde ich auch«, pflichtete Pünktchen ihm bei. Sie war grundsätzlich Nicks Meinung, denn sie bewunderte den großen, hübschen Jungen sehr.

»Wenn so viele Leute herkommen würden, wäre es überhaupt nicht mehr schön hier«, meinte Fabian ernst.

»Und Habakuk würde sich bestimmt vor den Scheinwerfern und den Kameraleuten fürchten«, überlegte Angelika laut.

»Außerdem wäre es ganz schön schwierig, ihm ein Gedicht beizubringen«, seufzte Henrik.

»Ich bin richtig froh, daß keine Übertragungswagen hierherkommen, keine Techniker und keine Leute, die sich wichtig machen.« Irmela ging zu ihrem Platz zurück, um die unterbrochenen Schularbeiten wieder aufzunehmen.

»Ich auch.« Fabian schloß sich dem Mädchen an.

Denise strich zärtlich über Vickys glänzendes braunes Haar.

»Wir wollen dich noch etwas fragen, Tante Isi«, begann Angelika ein bißchen schüchtern.

»Was gibt’s?« Denise von Schoenecker lächelte ermutigend.

»In meiner Klasse ist ein Türkenjunge«, berichtete Vicky nun eifrig. »Er spricht ganz gut Deutsch und möchte einmal Inen... Ingen...«

»Ingenieur«, half Angelika aus.

»... Ingenieur werden. Das kann er aber nur hier, weil er in der Türkei keine entsprechende Schule besuchen darf. Jetzt ist aber sein Vati arbeitslos, und sie müssen wieder zurück, wenn er keine Arbeit findet. Demir hat noch vier Geschwister, und alle sind arm. Da wollten wir ihm etwas schenken, damit er nicht mehr weint. Dürfen wir, Tante Isi? Wir kaufen es von unserem Taschengeld.«

»Aber natürlich.« Denise nickte zufrieden. Immer wieder zeigte sich, daß die Kinder von Sophienlust einen Blick für die Not der Mitmenschen hatten. Daß sie die Güte, die sie empfingen, freudig an andere weitergaben.

»Es... es ist aber sehr teuer«, piepste Angelika bedrückt.

»Eine Dampfmaschine«, verriet Vicky leise. »Wenn wir zusammenlegen, reicht das Geld. Wir wissen nur nicht, ob es dir recht ist.« Bekümmert sah Vicky hoch.

»Ich habe nichts dagegen, wenn ihr dem Jungen eine Freude machen wollt. Am besten nehmt ihr Nick mit, wenn ihr die Dampfmaschine kauft. Er kennt sich in diesen Dingen aus.«

»Danke, Tante Isi.« Von jeder Seite bekam Denise einen stürmischen Kuß.

*

Es sah aus, als würden sie sich zufällig treffen. In Wirklichkeit wartete Martin seit mehr als einer Stunde auf Gaby. Unruhig war er in dieser Zeit im Flur des Funkhauses auf und ab gegangen. Wenn jemand vorübergekommen war, hatte er sich vor die Anschlagstafel gestellt und so getan, als studiere er fleißig die Dienstanordnungen.

»Hallo, Gaby!« Wie immer, wenn Martin der geliebten Frau begegnete, schlug sein Herz zum Zerspringen, klang seine Stimme rauh und unsicher, fühlte er eine merkwürdige Unruhe in sich.

»Grüß dich, Martin.« Gaby war völlig unbefangen. Selbstbewußt reichte sie dem Freund die Hand. Sie war daran gewöhnt, allein schon durch ihre Erscheinung viele Leute in Verwirrung zu versetzen. Darauf bildete sie sich nichts ein, aber es gab ihr häufig jenen Vorsprung, der in ihrem Beruf wichtig war.

Gaby Clausnitzer hatte Germanistik, Geschichte und Volkswirtschaft studiert. Dank dieser hervorragenden Ausbildung war sie ein As in ihrem Beruf. Nichts und niemand konnte sie in Verlegenheit bringen. Hinzu kam, daß sie ausgesprochen schlagfertig war und so beste Voraussetzungen für den Beruf der Reporterin mitbrachte. Obwohl sie noch sehr jung war, hatten selbst ältere Kollegen großen Respekt vor ihr. Den meisten war sie um die berühmte Nasenlänge voraus. Sie hatte ein sicheres Gefühl dafür, was ankam, wofür Interesse bestand.

»Wie geht es Saskia?« fragte Martin fast schüchtern. Er hatte in seinem Leben nicht so viel Glück gehabt wie Gaby. Seine Eltern hatten ihm kein teures Studium ermöglichen können. Trotzdem hatte er es mit Interesse, Fleiß und Ausdauer zum Funk- und Fernsetechniker gebracht. Er war bei Vorgesetzten und Kollegen gleichermaßen beliebt, denn er war ein ruhiger, zuverlässiger, tüchtiger Mitarbeiter. Sein Hobby war die Leichtathletik. Das Turnen machte ihm nicht nur Spaß und brachte ihm Siegeslorbeeren ein, es formte auch seinen Körper. Groß, schlank und von Kopf bis Fuß durchtrainiert war Martin. An seinem muskulösen Körper war kein Gramm Fett zuviel. Doch an Stärke nahm er es mit jedem Dicken auf.

»Es geht ihr gut. Sie hat schon acht Zähnchen und marschiert in ihrem Laufstall von einer Seite zur anderen. Wenn man ihr einen Finger reicht, stapft sie sogar durch die ganze Wohnung. Neuerdings kreischt sie ›Mami, Mami‹, wenn ich nach Hause komme.«

Gaby lachte glücklich. Das Töchterchen war ihr ganzer Stolz. Für Saskia hätte sie notfalls sogar ihren Beruf aufgegeben. Doch es war nicht nötig. Eine freundliche Nachbarin versorgte die Kleine, wenn sie ins Funkhaus mußte. Meist aber verstand sie es so einzurichten, daß sie Saskia mitnehmen konnte.

»Ich würde sie sehr gern wieder einmal sehen«, seufzte Martin. Er war lange nicht so ruhig und selbstsicher wie Gaby. Als sie ihm vor eineinhalb Jahren gesagt hatte, daß sie schwanger sei, hatte er sich ehrlich gefreut und sofort den Hochzeitstermin festlegen wollen. Aber Gaby hatte davon nichts hören wollen, hatte erklärt, daß sie noch nicht ganz sicher sei, ob sie überhaupt jemals heiraten werde.

Seither war Martins Selbstbewußtsein stark angeknackst. Er war der Vater der kleinen Saskia und sehnte sich danach, wie ein pflichtbewußter Familienvater für die Kleine sorgen zu können, aber das durfte er nicht.

Gaby hatte ihm schon vor der Geburt des Kindes erklärt, daß dies ganz allein ihr Baby sei und daß sie keine Unterstützung wünsche. Martins Beitrag zur Versorgung des kleinen Mädchens blieb auf Geschenke beschränkt.

»Wenn du magst, kannst du später mitkommen. Ich habe etwa eine Stunde zu tun, dann fahre ich wieder nach Hause.«

»Natürlich mag ich. Du weißt doch, daß ich so oft wie nur möglich mit euch zusammen sein möchte.« Wehmütig schaute Martin die geliebte Frau an. Dieser Blick sagte mehr, als er im Moment aussprechen konnte. Schmerzlicher Verzicht, Traurigkeit und Sehnsucht spiegelten sich darin.

»Entschuldige, Martin, ich muß mich beeilen.« Gaby war, wie so oft, auf dem Sprung. Sie ging rasch weiter.

»Ich warte in der Kantine«, rief Martin ihr nach. Langsam setzte er sich in entgegengesetzter Richtung in Bewegung.

In der Kantine saßen einige Kollegen, die bei einer Tasse Kaffee auf ihren Einsatz warteten. Sie riefen Martin zu, sich an ihren Tisch zu setzen. Doch er lehnte ab. Er wollte jetzt allein sein. Allein, um seinen traurigen Gedanken, seinen Wünschen und Hoffnungen nachzuhängen.

Die Kollegen nickten verständnisvoll. Manche grinsten auch. Denn daß Martin Maraun Liebeskummer hatte, wußten sie fast alle.