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Leandra von Brocke freut sich eigentlich auf die Hochzeit mit ihrem Verlobten Clemens von Steinbach. Nur eines hätte sie vorher noch gerne geklärt: Ihr bester Freund seit Kindertagen, Michael Baron zu Kanten, mit dem man so tiefe, vertraute Gespräche führen, aber auch sehr viel Spaß haben kann, hat sich nicht mehr bei ihr gemeldet, seit sie ihm vor einem halben Jahr ihre Verlobung verkündet hat. Dabei gab es nie ein Anzeichen dafür, dass er vielleicht tiefere Gefühle als Freundschaft für Lea entwickelt hätte - was dieser wiederum gar nicht so unrecht gewesen wäre. Doch nun gibt es Clemens, und Lea braucht vor der wichtigsten Entscheidung ihres Lebens endlich Klarheit. Spontan lädt sie Michael zu einem Winterurlaub wie in alten Zeiten ein: nur sie beide, eine einsame Hütte, Spaziergänge im Schnee und traute Abende am Kamin ...
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Seitenzahl: 127
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhalt
Winter der Entscheidung
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Impressum
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
Impressum
Im Schneesturm finden zwei Herzen endlich zusammen
Von Tilda von Wolfenberg
Leandra von Brocke freut sich eigentlich auf die Hochzeit mit ihrem Verlobten Clemens von Steinbach. Nur eines hätte sie vorher noch gerne geklärt: Ihr bester Freund seit Kindertagen, Michael Baron zu Kanten, mit dem man so tiefe, vertraute Gespräche führen, aber auch sehr viel Spaß haben kann, hat sich nicht mehr bei ihr gemeldet, seit sie ihm vor einem halben Jahr ihre Verlobung verkündet hat. Dabei gab es nie ein Anzeichen dafür, dass er vielleicht tiefere Gefühle als Freundschaft für Lea entwickelt hätte – was dieser wiederum gar nicht so unrecht gewesen wäre. Doch nun gibt es Clemens, und Lea braucht vor der wichtigsten Entscheidung ihres Lebens endlich Klarheit. Spontan lädt sie Michael zu einem Winterurlaub wie in alten Zeiten ein: nur sie beide, eine einsame Hütte, Spaziergänge im Schnee und traute Abende am Kamin ...
Puccinis Nessun dorma erklang dezent im Hintergrund, zusätzlich verlieh der Schein unzähliger Kerzen dem Raum einen unwirklichen Glanz. Das Flackern der kleinen Flämmchen spiegelte sich in dem polierten Silber der Kerzenhalter und Kandelaber. Strenge Porträts in goldenen Rahmen blickten auf das Geschehen herab, als begutachteten sie die Gäste aufs Genaueste.
»Ich muss deiner Köchin ein Lob aussprechen«, säuselte Edith von Brocke, nachdem sie einen Bissen hinuntergeschluckt hatte. »Das Lammkarree ist ausgezeichnet.«
»Mathilda bereitet es immer in Schnittlauchöl zu«, erklärte Caroline von Steinbach. »Dadurch erhält es seinen außergewöhnlichen Geschmack.«
Harald von Brocke räusperte sich.
»Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie Frauen zueinanderfinden. Entweder ist es das Hervorheben des Essens oder aber die Herabsetzung der Angetrauten.«
Ein leises Lachen raunte durch den Speisesaal der von Steinbachs.
Die sechsundzwanzigjährige Leandra beobachtete das Geschehen aus ihrem Augenwinkel, während sie speiste. Natürlich hatte sie keine Bedenken, was die Harmonie der Tischgesellschaft anging. Dafür hatten sie dieses Spektakel schon allzu oft veranstaltet, häufig auch in ihrem Zuhause, dem Anwesen der von Brockes. Dabei hatte sich gleich zu Beginn gezeigt, wie sehr sich ihre und die Eltern ihres Verlobten mochten und wertschätzten.
Eine Hand legte sich verstohlen auf ihren unteren Rücken.
»Du siehst wunderschön aus«, flüsterte besagter Verlobter nun in ihr Ohr.
Leandra lächelte. Dabei genoss sie das leise Kitzeln an ihrem Ohrläppchen, das von der Nähe des Mannes, den sie bald heiraten würde, herrührte.
Clemens von Steinbach war nicht nur ihr Verlobter, sondern der klassische Traummann einer jeden Frau. Trotz seiner erst neunundzwanzig Jahre strahlte er bereits eine große Reife, Lebenserfahrung und nicht zuletzt Selbstsicherheit im positiven Sinne aus und wirkte mit seiner äußerlichen Erscheinung auch noch wie einem klassischen Gemälde entsprungen. Leandras Bruder Theobald hatte ihn einmal als Prinz Charming bezeichnet. Vermutlich wegen der blonden gewellten Kurzhaarfrisur und der meeresblauen Augen. An seinen Körper wollte Leandra gar nicht erst denken, sollte ihre Schwärmerei für den gut aussehenden Mann heute Abend im Verborgenen bleiben.
Leandra beugte sich ein Stück weit zu Clemens, der neben ihr saß, hinüber. Unauffällig legte sie ihre Hand auf seinen Oberschenkel. Ihr Blick fiel dabei automatisch auf den Diamanten im Trillion-Schliff an ihrem Ringfinger.
»Meinetwegen können sie sich so lange über das Essen unterhalten, wie sie möchten. Hauptsache, ich muss nicht auf das Dessert verzichten«, flüsterte sie leise zurück.
Clemens' Wangen röteten sich leicht. Seine Lippen verzogen sich zu einem verstohlenen Lächeln, was zur Folge hatte, dass niedliche kleine Fältchen in seinen Augenwinkeln entstanden.
Leandra genoss es, diese Wirkung auf ihren Verlobten zu haben. Immer wieder neckte sie ihn mit winzigen Andeutungen, leichten Verlockungen. Nie offensichtlich, stets verdeckt. Sie wusste, dass Clemens dann damit zu kämpfen hatte, seine Erregung zu verstecken. Doch nie hatte er dabei die Beherrschung verloren. Für sie war es wie ein Spiel. Ein Vorspiel, bevor es ernst wurde.
Eberhard von Steinbach, Oberhaupt der Familie und Clemens' Vater, tupfte sich den Mund mit einer Serviette ab, die er dann auf den benutzten Teller legte, genau in den Rest des Schnittlauchöls. Irgendetwas gefiel Leandra an dieser Geste nicht. Vielleicht, weil er sich keine Gedanken darüber machte, wie diese Serviette zu reinigen war.
»Nun ja, liebe Edith, lieber Harald, ...«, begann er nun und erhob sein Glas, »... liebes Brautpaar, wie ihr wisst, freuen wir von Steinbachs uns alle sehr, dass sich unsere Nachfahren – wie sagt man so schön – gesucht und gefunden haben. Vier Monate sind es nun noch bis zur Hochzeit. Und ich denke, ich spreche für alle, wenn ich sage, dass ich es kaum erwarten kann, meinen Sohn als stolzen Mann vor dem Traualtar zu sehen. Auf das, was noch kommen mag.«
»Auf das, was noch kommen mag«, stimmten alle Anwesenden mit ein, hoben ihr Glas, lächelten sich zu und nippten.
Dass Eberhard von Steinbach das gesamte Glas leerte, gefiel Leandra ebenfalls nicht. Es wirkte, als wollte er etwas Bitteres hinunterspülen. Ein flüchtiger Blickwechsel mit ihrem Vater bestätigte ihr, dass ihm dieser Fauxpas ebenfalls aufgefallen war.
»Wir sollten diesen Abend so schnell wie möglich beenden«, raunte Clemens in ihr Ohr.
Leandra zuckte kurz zusammen, da sie in Gedanken noch bei ihrem zukünftigen Schwiegervater war. Dann jedoch schüttelte sie den Kopf und gleichzeitig den grauen Gedanken ab.
»Das würden uns unsere Eltern nie verzeihen«, meinte sie und kicherte hinter vorgehaltener Hand.
»Aber, aber, Leandra Gräfin von Brocke.« Clemens zog eine Augenbraue hoch und ließ seinen Blick an ihr hinabgleiten, bis er auf ihrem Schoß zum Liegen kam. »Sollten Sie sich etwa jetzt schon ihrem zukünftigen Gemahl widersetzen?«
Nun war Leandra es, deren Wangen sich röteten. Sie erkannte es an der Hitze, die in ihr aufstieg.
»Niemals«, versicherte sie schmunzelnd.
Jeder Schritt hinterließ ein Knirschen und Knacken, das den Frieden des Forstes aufstörte. Kleine Tropfen fielen immer wieder von den Bäumen, rollten sich über die Blätter, um sich dann spritzend auf dem Boden zu verteilen, wo sie unsichtbar versickerten. Kleine Pfützen hatten sich gebildet. Ringe verliefen zum Rand hin, wenn ein Tropfen ihre Oberfläche durchbrach.
»Und du bist dir sicher, dass es kein Unfall war?«
Michael dachte seit einer halben Stunde darüber nach, was Rainer ihm vorhin erzählt hatte. Noch immer wollte er nicht glauben, dass so etwas auf seinen Ländereien passieren konnte.
»Ich arbeite seit fünfunddreißig Jahren für deine Familie, Junge. Wie oft hast du erlebt, dass ich mich geirrt habe?«, erwiderte der raue Mittfünfziger vor ihm.
Rainers Schritte blieben gleichmäßig und ruhig, egal, wie sich das Gelände veränderte. Als Wildhüter eines weitläufigen Forstes war er es gewohnt, querfeldein zu gehen und auf mögliche Stolperfallen zu achten. Michael fragte sich manchmal, welches Leben Rainer wohl führen würde, wäre er nicht im Schwarzwald geboren, wo er sich vor Jahrzehnten seinen Eltern vorgestellt hatte.
Michaels Eltern waren nun schon lange tot. Rainer war ihnen stets ein guter und loyaler Angestellter gewesen. Einige Jahre nach seiner Anstellung waren sie einem Flugzeugunglück zum Opfer gefallen. Der Wildhüter war im Dienst der Familie geblieben. Dabei konnte sich Michael, der einzige Sohn seiner Eltern, nicht erinnern, ob Rainer je anders oder jünger ausgesehen hatte als heute. Schon immer war der Blick des Wildhüters finster unter den buschigen Augenbrauen, sein halbes Gesicht verdeckt unter dem vollen Bart gewesen.
»Hier ist es«, sagte Rainer nun und hielt eine Hand ausgestreckt, was Michael zum Zeichen nahm, anzuhalten.
Ernst folgte er Rainers Blick zu Boden und fand das traurige Zeugnis eines grausamen Verbrechens.
»Wer tut so etwas?«, fragte er so leise, dass es klang, als stellte er sich diese Frage selbst.
Michael zu Kanten ging in die Hocke und legte seine flache Hand auf die Flanke des toten Rehs. Sein Wildhüter tat es ihm gleich.
»Nicht nur, dass die Mistkerle gewildert haben. Sie haben vor allem die Gesetze der Natur missachtet und die Ricke gequält.«
Michaels Hand fuhr über den Körper des Tiers und blieb auf dem Bauch liegen. Der Kadaver war bereits kalt, was bei dem Wetter nicht verwunderte. Obwohl es mehr Herbst denn Winter war, hielten sich die Temperaturen im niedrigen Plusbereich auf.
»Wir wissen nicht, ob es Wilderer waren, die das Reh getötet haben«, ermahnte er Rainer zu mehr Vorsicht in Hinblick auf Verurteilungen.
Er wusste, wie hitzköpfig der Ältere manchmal sein konnte. Vor allem, wenn es um den Wald und die darin lebenden Geschöpfe ging, kannte der Wildhüter nur wenig Gnade. Oftmals kam es Michael so vor, als wäre der Mann den Tieren näher als den Menschen. Vielleicht war er deshalb alleinstehend.
»Das sollen keine Wilderer gewesen sein?«, fuhr Rainer auf, zügelte sich aber sofort wieder und fuhr sich mit einer Hand über den Bart. Es war eine Gewohnheit, die er stets wiederholte, wenn er nachdachte. »Wer zerschießt einem Tier erst das Knie und hetzt es dann noch durch den Wald?«
Verwundert sah Michael auf.
Rainer nickte in die Richtung, aus der die Ricke gekommen war. Tatsächlich: Trotz der Regentropfen waren noch immer Blutspuren zu sehen.
»Kannst du in etwa sagen, wann das Tier getötet wurde?«, wollte Michael erfahren.
Die Vorstellung, dass sich diejenigen, die zu solcher Grausamkeit imstande waren, noch immer in seinem Forst aufhielten, gefiel ihm nicht.
Rainer zuckte kapitulierend die Schulter.
»Vermutlich vor wenigen Stunden. Auf jeden Fall, nachdem der Regen einsetzte.« Er stand auf und straffte sich. Dabei fuhr seine Hand wie automatisch an sein Jagdmesser in der Gürtelhalterung. »Was tun wir jetzt?«
Seufzend stand sein Arbeitgeber vom Boden auf.
»Lass uns erst mal abwarten und die Lage weiter beobachten. Niemandem ist damit geholfen, wenn wir vorschnell handeln.«
Michael neigte zu Besonnenheit. Es war eine Eigenschaft, die er von seinem Vater geerbt hatte. Obwohl er annahm, dass Rainer dieser Entschluss nicht gefallen würde, wusste er doch, dass er sich auf seinen Wildhüter verlassen konnte. Nie war es je zu einem Vorfall gekommen, wo Rainer seiner Anweisung zuwidergehandelt hatte.
»Du weißt, was ich davon halte«, brummte dieser.
Michael nickte. »Sollten wirklich Wilderer dahinterstecken, werden wir Vorsicht walten lassen müssen. Und die Polizei hat zu viel zu tun, um sich um ein geschossenes Tier zu kümmern.«
»Na gut, du hast entschieden, Michael«, stimmte Rainer zu. »Aber lass uns hoffen, dass diese Mistkerle kein Blut geleckt haben.«
Leandra von Brocke führte das Leben, von dem Mädchen im Kindesalter träumten. Das wurde ihr in diesem Moment bewusst, als sie auf dem gepolsterten Hocker vor dem mit goldenen Intarsien verzierten Spiegel saß und sich das blonde Haar bürstete. In sanften glänzenden Wellen legten sich die breiten Strähnen über ihre Schulter. Dabei strich sie zuerst mit der weichen Bürste über das Haar und folgte dann mit der flachen Hand. Sie mochte, dass es sich wie Seide anfühlte.
Wieder blieb ihr Blick an ihrem Verlobungsring hängen. Die Form war ungewöhnlich. Genauso wie ihr Verlobter. Clemens von Steinbach war so perfekt, wie Prinzessinnen es sich nur wünschen konnten. Zwar war sie keine Prinzessin, sondern lediglich Gräfin, doch den Traumprinzen hatte sie trotzdem bekommen. Wieso konnte sie sich dann nicht freuen?
Leandra legte die Haarbürste zurück auf die Kommode und drehte sich auf dem Hocker herum, sodass sie ins Zimmer hineinblicken konnte. Es war ein klassisches Damenzimmer. Ihre Mutter hatte es vornehmlich mit altrosa Stoffen auskleiden lassen. Lediglich der dicke Teppich bildete einen hellen Kontrast zu der warmen Farbe, die sich in den Tapeten, den Polstern und den Vorhängen wiederfand.
Bedrückt stand Leandra auf und ging hinüber zu dem zierlichen Sekretär, dessen Tischplatte aufgeklappt war. Briefpapier und ein Tintenfass hätten das Bild abgerundet. Stattdessen stand ein Laptop darauf und bewies, dass sie in der Gegenwart lebte und nicht im neunzehnten Jahrhundert.
Doch was die junge Gräfin interessierte, war nicht der Inhalt ihres Laptops, sondern der ihrer Schublade. Vorsichtig zog sie die Lade heraus und brachte damit ein kleines Chaos aus Papier zum Vorschein. Es war das einzige Chaos, das sie sich gönnte. Genauso wie ihre extravagant designten Nägel das einzig Ungewöhnliche waren, das sie sich zu ihrem ansonsten gehobenen, aber legeren Kleidungsstil gönnte.
Ihre Mutter hatte sie schon früh darauf hingewiesen, dass es kein Verbrechen war, viel Geld zu besitzen, aber eine Beleidigung, Reichtum zu demonstrieren. Die von Brockes genierten sich nicht wegen ihres Geldes. Jedoch sahen sie sich in der Pflicht, ihr Geld zu teilen. Aus diesem Grund unterstützten sie nicht nur gemeinnützige Organisationen, sondern auch Institutionen vor Ort.
Mit ihren Fingern tastete Leandra den hinteren Teil der Schublade ab, bis sie fühlte, wonach sie gesucht hatte. Mit einem leichten Kribbeln zog sie das alte Tagebuch heraus. Das Kribbeln verstärkte sich, als sie die Klappe des Buchs aufschlug. Sofort fielen etliche Fotos heraus und landeten auf ihrem Schoß.
»Huch«, machte sie und las die Bilder auf, legte sie ordentlich zusammen und betrachtete das oberste. Ein Paar war darauf zu sehen. Zumindest sahen die junge Frau und der etwa gleichaltrige Mann wie ein Paar aus, wie sie die Arme umeinander gelegt hatten. Beide Gesichter strahlten. Im Hintergrund war ein Chalet zu sehen. Warmes Holz im Reinweiß des umliegenden Schnees.
Leandra erinnerte sich an diesen Tag. Ihr bester Freund Michael zu Kanten und sie waren mit ihrer Familie und seinem Onkel und seiner Tante in den Winterurlaub in die Schweiz gefahren. Sie waren Ski gefahren und hatten vorgehabt, sich nachts aus der Unterkunft zu schleichen, da sie von einer Party im Dorf gehört hatten. Damals waren sie gerade erst volljährig geworden. Trotzdem kam es ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen.
Leandra steckte das Foto unter die anderen und besah sich nun das nächste. Hierauf war nur Michael zu sehen. Sie hatte das Bild heimlich aus dem Fenster ihres Schlafzimmers im Sommerurlaub gemacht. Michael war schon immer verschlossen gewesen. Manchmal erweckte er den Eindruck, als wollte er unsichtbar sein. Umso wertvoller erschien Leandra deshalb dieses Bild – denn ihr bester Freund hatte keine Ahnung gehabt, dass er beobachtet worden war.
In Jeans und T-Shirt saß er auf dem Boden unter einem Baum und hatte die Augen geschlossen, während sein Kopf gegen den Stamm lehnte. So entspannt hatte sie ihn nur selten gesehen. Obwohl sich Michael in ihrer Gegenwart freier verhielt als bei allen anderen Menschen, die sie kannte, bewegte er sich nie ohne Bedacht. Nicht zum ersten Mal fragte Leandra sich, welches Wesen in dem ruhigen Menschen schlummerte. Und ob sie fähig wäre, es zu erwecken. Bei dem Gedanken surrte es unter ihrer Haut. Ihr Bauch zog sich zusammen.
Michael. Wie lange hatte er sich jetzt nicht mehr gemeldet? Hatten sie nicht vor einem halben Jahr zuletzt miteinander gesprochen, als sie ihm von dem Heiratsantrag erzählt hatte? Sie vermisste ihn. Die Zeit mit ihrem besten Freund fehlte ihr mehr, als sie vor anderen zugeben würde. Die gemütlichen Abende, an denen sie zusammen auf dem Sofa gesessen und gelesen hatten. Die tiefen Gespräche mitten in der Nacht, zu Himbeereis und Rotwein. Seine samtweiche Stimme, die sich in der Dunkelheit verlor.
Da kam Leandra eine Idee.
Aufregung durchflutete Leandra. Obwohl sie nur schlecht hatte schlafen können, fühlte sie sich energiegeladen, was nicht zuletzt davon herrührte, dass sie ihre Idee immer und immer wieder im Kopf hatte durchspielen lassen. Während sie die geschwungene Treppe hinunter ins Erdgeschoss lief, legte sie sich schon die Worte zurecht, die sie anbringen wollte, um ihre Eltern zu überzeugen.
»Guten Morgen«, rief sie vergnügt, als sie in das Frühstückszimmer trat, wo ihre Eltern bereits zu Tisch saßen.
