Gänsehaut in Theorie und Praxis - Susanne Gildehaus - E-Book

Gänsehaut in Theorie und Praxis E-Book

Susanne Gildehaus

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Beschreibung

Das neue Semester hat begonnen, und Nina muss wieder einmal vor ihren Freundinnen bekannt geben, dass es mit dem letzten Freund vorbei ist. So langsam beginnen die Psychologiestudentinnen zu glauben, dass es schwer wird, einen Mann zu finden, der Nina nicht nach ein paar Wochen langweilt. Denn Nina glaubt, dass Beziehungen unweigerlich in Langeweile enden und dass Disneyfilme nicht umsonst dann aufhören, wenn die Beziehung beginnt. Weswegen sie sich genau dann aus dem Staub macht. Ein bisschen Selbsterfahrung würde Männer-ADHS-Nina gut tun, finden ihre Freundinnen und schwatzen ihr ein Seminar zur Psychologie von Emotionen auf. Dieses entpuppt sich zwar als ganz interessant, der Dozent Patrick aber als noch interessanter. Als sie erfährt, dass Patrick eine neue studentische Hilfskraft sucht, ergreift Nina ihre Chance. Dumm nur, dass sie erst mal eine Studie zur Gänsehaut aufgebrummt bekommt und anschließend tagelang in einem abgedunkelten Labor Studenten als Versuchskaninchen verkabelt, um ihnen anschließend mit der 'Titanic'-Sterbeszene Gänsehaut zu verpassen. Als sie schon dabei ist, vor Langeweile den Verstand zu verlieren, taucht der mysteriöse Nik in ihrem kleinen Labor auf. Obwohl er eigentlich überhaupt nicht Ninas Typ ist, fasziniert er sie sofort. Er bekommt zwar keine Gänsehaut bei 'Titanic', behauptet aber, sich damit sehr gut auszukennen, und will Nina unbedingt dazu überreden, mit ihm eine kleine Feldstudie zu machen: mitternächtliche Spaziergänge auf dem Friedhof, Baden im kalten Hafenwasser, Balance-Akte über Dächern. Sie schleichen sich in eine Oper, veranstalten Kratzkonzerte mit Fingernägeln auf der Tafel eines Vorlesungssaals und stoßen an die Grenzen ihrer Geschmacksnerven, immer auf der Suche nach der nächsten Gänsehaut. Ehe sich Nina versieht, hat sie sich Hals über Kopf in Nik verliebt, und kann diesmal fast glauben, dass ihr mit ihm nie langweilig wird. Doch dann ist Nik plötzlich verschwunden und Nina steht vor einem Rätsel.

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Susanne Gildehaus

GÄNSEHAUT IN THEORIE UND PRAXIS

Roman

Für all die wunderbaren Menschen in meinem Leben, mit denen es nie langweilig wird.

KAPITEL 1

Männer-ADHS

Mit Jonas war es schon wieder vorbei. Eigentlich war die Sache bereits seit gut einer Woche gelaufen, aber ich hatte noch nicht die Zeit und den Mut gefunden, es meinen Freundinnen zu beichten. Sie hatten alle ziemlich große Hoffnungen in ihn gesetzt – den Ingenieur und Rugbyspieler, mit dem Lisa, meine Mitbewohnerin, mich vor Kurzem verkuppelt hatte. Eine Weile war es auch ganz amüsant gewesen, aber schließlich schien das Ganze wieder in DVD-Abenden und gemeinsamen Partyauftritten zu enden, und man soll ja immer aufhören, wenn es am besten ist – oder zumindest kurz danach. Was ich dann auch getan habe. Lange würde ich das nicht vor Cornelia, Daria und Lisa geheim halten können, das war mir längst klar. Aber damit ich es nur einmal erzählen musste und auch noch ein wenig Zeit hatte, Krokodilstränen heraufzubeschwören und mir fadenscheinige Begründungen auszudenken, hatte ich mir unseren nächsten DVD-Abend als Erzählanlass ausgesucht.

Diese gemeinsamen Abende vor dem Fernseher waren längst Tradition geworden, und wir versuchten, sie trotz Uni und Unipartys einmal im Monat abzuhalten. Meistens trafen wir uns dafür bei Daria. Sie wohnte zwar ein bisschen außerhalb unserer kleinen Universitätsstadt, hatte dafür aber das schönste und größte Wohnzimmer und die bequemste Couch, denn Daria, eine kreative und sensible Seele, musste sich vor allem wohlfühlen. Zu Beginn unserer Treffen hatten wir das ehrbare Vorhaben gehabt, uns die Klassiker der Filmgeschichte mit Größen wie Gregory Peck und Audrey Hepburn zu Gemüte zu führen, irgendwann aber waren wir bei Adam Sandler gelandet. Es gab auch Zusammenkünfte, bei denen der Fernsehbildschirm schwarz blieb und wir nur redeten, während im Hintergrund die Musik immer obskurer wurde. Der Abend, an dem ich gesenkten Hauptes Jonas’ finales Schicksal verkündete (nämlich von diesem Tage an mein Exfreund zu sein), war dafür prädestiniert, ein solcher Abend zu werden.

Nach meiner kleinen Ansprache (»Ach übrigens, ich habe Jonas abgeschossen«) herrschte erst einmal Stille im Raum, bis sich schließlich Cornelia in Darias rotem IKEA-Sessel kerzengerade aufsetzte und kommentarlos begann, sich Rotwein nachzuschenken. Während Daria und Lisa mit leerem Gesichtsausdruck offensichtlich noch einen Moment Bedenkzeit brauchten, um zu überlegen, wie sie Jonas’ Bühnenabgang finden sollten, legte Cornelia die Stirn in Falten und sah mir unumwunden in die Augen. Sie stellte die Weinflasche ab und sagte: »Soso. Letzte Woche hieß es noch, er sei der Mann, auf den du immer gewartet hast.«

»Letzte Woche war das ja auch noch so«, erwiderte ich unbeeindruckt. »Jetzt warte ich eben auf jemand anders.«

Cornelia bedachte mich kurz mit einem kritischen Blick, und mein Mut begann zu schwinden. Hätte ich Jonas etwa doch noch eine Chance geben sollen? War er vielleicht gar nicht so langweilig, wie mich die paar Wochen mit ihm hatten glauben lassen? Ich seufzte und schob alle Zweifel in die mentale Ablage, die ich in meinem Kopf für solche Fälle eingerichtet hatte. Cornelia hatte diesen Effekt auf Menschen, sie hätte den Papst dazu bringen können, den gesamten Kanon der katholischen Kirche infrage zu stellen. Sie wäre einfach im Vatikan aufgetaucht, mit ihrer Präsenz, die man von Staatsoberhäuptern, CEOs oder Richtern am Obersten Landesgericht erwartete, und hätte ein ernstes Wörtchen mit ihm über Frauenrechte und die Schwulenehe geredet. Sie war groß und blond, sah im klassischen Sinne gut aus, ohne jeglichen Anflug kindlicher Niedlichkeit im Gesicht, wie man ihn bei den meisten Frauen hier und da noch erahnen konnte. Passend dazu trug sie meist einen ernsten Ausdruck zur Schau, aber entgegen der Erwartung hatte sie sehr viel Sinn für Humor und meine Erwiderung rang ihr immerhin ein kleines Grinsen ab. Gastgeberin Daria hatte sich entschlossen, das Geschehen erst mal zu beobachten und Konflikt weitläufig zu vermeiden. Sie war aufgesprungen und hatte begonnen, überfürsorglich um uns herumzuwirbeln und immer wieder neue Knabbereien aus der Küche auf den Couchtisch zu stellen. Kurze Zeit später war der dann so überfüllt, dass ich Mühe hatte, ihn unter all den Schüsseln, Gläsern, Chips- und Gummibärchentüten noch auszumachen. Daria war im Gegensatz zu Cornelia klein und rundlich, mit langem braunen Haar und schmalen Mandelaugen, die aufgrund nächtlicher Bastel- und Malanfälle meist von dunklen Rändern umrahmt waren. Sie hatte ein kleines, spitz zulaufendes Gesicht und die schmalen, feingliedrigen Hände einer Künstlerin. Wie ich war sie sich noch nicht so ganz sicher, was sie von Beziehungen halten sollte, speziell von ihrer eigenen. Seit einer Weile ging ein gewisser Peter bei ihr ein und aus, von dem wir wussten, dass er tagsüber in Anzug und Krawatte Porsches verkaufte und abends versuchte, über Facebook die CDs seiner Gothic & Punk-Band »Burning Butthair« an den Mann zu bringen. Daria hatte ganz offensichtlich einen Narren an dieser merkwürdigen Kombination gefressen, war aber noch nicht bereit, das vor uns zuzugeben.

»Irgendwelche schlauen Analysen, warum es nicht geklappt hat?«, fragte plötzlich Lisa in die Runde und stopfte sich eine Handvoll Chips in den Mund, während sie auf die Antwort wartete. Lisa war meine Mitbewohnerin und ein hübsches, zartes Wesen. Sie war mit Abstand die Kleinste von uns, und mit großen blauen Augen, Stupsnase und sehr geraden Zähnen hinter sehr geschwungenen Lippen geradezu puppenhaft niedlich. Vor einiger Zeit hatte sie sich entschlossen, ihre Haare zu einem Kurzhaarschnitt zusammenzustutzen, damit sie endlich älter wirkte, aber es hatte nur den gegenteiligen Effekt, und nun wirkte sie noch mädchenhafter. Ein Typ in einem Club hatte mal behauptet, würde man Lisa einen Abend lang mit hundert Männern einsperren, so würden ihr danach hundert Männer zu Füßen liegen. Eine Zeit lang hatte ich mir gewünscht, man würde dasselbe über mich sagen, aber mittlerweile war mir klar geworden, dass ich auf hundert Männer gut verzichten konnte, wenn nur eines Tages endlich ein interessanter Typ bei mir vorstellig werden würde.

»Ist doch ganz einfach«, kam Cornelia meiner Antwort zuvor. »Nina ist langweilig geworden.« Ihr gebührte das Recht auf die erste Analyse, denn sie kannte mich am längsten; Cornelia und ich hatten uns im ersten Semester in einer Statistikvorlesung kennengelernt, als sie mich von der Seite anblaffte, weil ich zu laut mit einem Kommilitonen geflirtet hatte, an dessen Namen ich mich heute nicht mehr erinnern kann.

»Also ›langweilig‹ ist jetzt vielleicht ein bisschen übertrieben«, warf ich ein.

Daria war erneut aus der Küche zurückgekehrt und brachte eine Schale mit Schokoladenbananen mit. Sie setzte sich neben mich aufs Sofa und legte die Beine auf die Lehne des Sessels, in dem Lisa mit angewinkelten Beinen hockte. »So? Was war dann das Problem?«, wollte sie mir eine Chance geben.

Ich überlegte. Objektiv gesehen war wenig auszusetzen an Jonas: Er war einigermaßen nett, sah genügend gut aus, war recht schlau und eigentlich auch ganz lustig. Er redete halt ein bisschen viel über sein Rugbyteam. Und »ein bisschen viel« bedeutete, dass er nicht viele andere Themen in seinem Leben hatte.

Meine Freundinnen schauten sich an, dann wandten sie sich mir zu, und mir wurde klar, dass mir nichts anderes übrig blieb, als die Wahrheit zu sagen. »Ja, okay. Ich fand ihn sterbenslangweilig.«

»Oh. Wie unerwartet«, entgegnete Lisa, deren Sarkasmus meist so unterschwellig in ihrer Stimme mitschwang, dass nur eine Handvoll Auserwählte ihn überhaupt wahrnehmen konnten. Sie hatte den Widerstand gegen die Chips aufgegeben und sich nun die ganze Tüte geschnappt und in den Schoß gelegt. Lisa war zwar »gerade nicht in einer Beziehung«, aber niemand machte sich ernsthafte Sorgen darum, dass dieser Zustand allzu lange anhalten würde. Irgendjemand verliebte sich immer unsterblich in die hübsche blonde Lisa, und ab und an war jemand Akzeptables dabei, dem sie dann ein oder zwei Jahre Beziehungszeit widmen konnte. Sie war stets ganz verliebt in den Auserwählten. Bis sie es eines Tages nicht mehr war.

»Was war denn so langweilig an ihm?«, versuchte Daria es noch einmal verständnisvoll.

»Er hat halt echt nur langweiliges Zeug erzählt.« Es hatte einfach keinen Sinn, es zu leugnen.

Erneut erschien ein Schmunzeln auf Cornelias Gesicht, und mir war klar, was jetzt folgte – meine Chroniken der Langeweile, präsentiert von Cornelia Kappler: »Das hast du über den Star-Trek-Fan auch gesagt. Und über den Turniertänzer. Über den DJ auch. Und über den Anwalt. Bei dem Philosophiestudenten bist du direkt eingeschlafen.«

Den Philosophiestudenten hatte ich schon wieder vergessen, wurde mir in diesem Moment bewusst. Wenn ich mich recht erinnerte, war sein richtiger Name Carsten gewesen, da er aber das Konzept der elterlichen Namensgebung ablehnte, hatte er sich von allen Sophos nennen lassen. Weil ich mich mit ihm zu Tode gelangweilt hatte, hatte er mir Heideggers Ausführungen zur Langeweile nahegelegt. Ich hatte ihm nahegelegt zu verschwinden.

Die Liste meiner temporären Lieben war noch weiterführbar, das war mir durchaus bewusst. Ich entgegnete also nichts und erwartete die finale Diagnose durch meine drei Freundinnen, die genau wie ich Psychologie studierten. Auch wenn sie es niemals zugegeben hätten, sie pathologisierten im Gegensatz zu mir recht gerne, und die Frage war eigentlich nur, welche als Erste zum Sprung ansetzen würde. Es zeigte sich, dass Cornelia und Lisa heute Daria den Vortritt ließen. Daria wollte als Einzige von uns später Therapeutin werden. Cornelia würde Rechtspsychologin werden, um so viele Missetäter wie möglich hinter Gitter zu bringen. Lisa wusste noch nicht, was genau sie machen würde, sie wusste nur, dass sie dabei ein Kostüm tragen und gut aussehen würde.

»Nina, weißt du … vielleicht sind die nicht alle langweilig«, sagte Daria vorsichtig. »Vielleicht findest du sie nur langweilig. Vielleicht gibt es die Männer, die du dir vorstellst, nur im Film. Oder … in einer Drogenfantasie.«

Drogenfantasie? Seit wann sprach die stille, zurückhaltende Daria von Drogenfantasien? Ich machte mir eine mentale Notiz, Burning-Butthair-Peter bei der nächsten Gelegenheit genauer unter die Lupe zu nehmen.

»Ich hab’s«, verkündete Cornelia plötzlich schmunzelnd und legte mir dabei schon entschuldigend die Hand aufs Knie. »Männer-ADHS!«, stellte sie dann knapp die Diagnose. Meine Freundinnen glotzten sich mit großen Augen an, als habe Cornelia soeben die Weltformel entdeckt.

»Oh, das ist gut!«, rief Lisa und kicherte. Auch Daria ließ sich zu einem Grinsen auf meine Kosten hinreißen.

Ich starrte beleidigt einen Moment lang in meinen dunkelroten Wein. »Habe ich gar nicht«, murrte ich, aber es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass es mir durchaus schwerfiel, mich allzu lange mit ein und demselben Mann zu beschäftigen. Sobald ich vorhersagen konnte, was mein derzeitiger Liebster als Nächstes tun würde (und ich will nicht angeben, aber das ging wirklich immer sehr schnell), wollte ich am liebsten Reißaus nehmen. Nach kurzer Bedenkzeit seufzte ich versöhnlich: »Na gut. Vielleicht ein bisschen.«

Man sollte das nicht falsch verstehen. Ich mag Männer und ich liebe es, verliebt zu sein. Es gibt nur ein Problem, und Walt Disney und Hollywood haben das schon lange vor mir erkannt: Prinz und Prinzessin sind zusammen, das Böse ist besiegt – was bleibt dann noch außer dem Abspann? Auf den hat nun wirklich niemand Lust, das kann man im Kino immer wieder beobachten, wenn alle am Ende des Films panisch aufspringen und den Saal verlassen. Beziehungen sind der Abspann des Verliebtseins: Man geht am besten schnell, bevor zu viele Leute den Ausgang versperren.

»Normalerweise würde ich sagen, dass du dich nur noch ein bisschen austoben musst …«, begann Cornelia zögerlich, »… aber in deinem Fall ist das, glaube ich, schon zur Genüge passiert.«

»Sehr lustig«, brummte ich. Langsam wurde es mir zu bunt. »Es ist nicht besonders fair, dass ihr alle auf mir herumhackt.«

»Na ja. Ein bisschen genießt du das doch auch«, warf Cornelia mir vor. »Du bist die Prinzessin, die keiner erobern kann. Die wie in einem Märchen auf einem hohen Berg sitzt, sich langweilt und tapfere Prinzen in den Abgrund tritt, sobald sie um ihre Hand anhalten.«

»Was soll das denn für ein Märchen sein?«, fragte ich sie zweifelnd. Ich bemühte mich intensiv darum, meinen Humor bei dem Thema nicht zu verlieren, aber ich spürte, wie ich wütend wurde.

Es stimmte schon, ich hatte mir mit keinem Mann in letzter Zeit besonders viel Mühe gegeben und Beziehungsrekorde hatte ich nun wirklich nicht aufgestellt, aber war das wirklich nur meine Schuld? Ich warf Cornelia einen bösen Blick zu und sagte nichts, denn sie hätte mich ja ohnehin nicht verstanden. Meine chronische Unentschlossenheit in allen Lebenslagen war das genaue Gegenteil von ihrer unumstößlichen Zielstrebigkeit: Immer schon hatte sie gewusst, dass sie Rechtspsychologin werden wollte, und seit ihrem 13. Lebensjahr war ihr klar, dass sie ihren Freund Tom, den netten Bioinformatiker, heiraten würde. Ich wusste meistens nicht mal, was ich zum Mittag essen wollte, wie sollte ich da wissen, mit wem ich den Rest meines Lebens verbringen würde? Was ein Bioinformatiker war, wusste ich, nebenbei bemerkt, auch immer noch nicht.

Lisa war nach wie vor mit ihrer Chipstüte beschäftigt. Als sie die eisige Stille im Raum bemerkte, schluckte sie schnell einen Mundvoll hinunter und stellte dann fachmännisch fest: »Vielleicht hast du einfach einen sehr hohen need for emotion.«

Ich verdrehte die Augen und dachte, dass Lisa diesen Ausdruck bestimmt in einem ihrer letzten Seminare aufgeschnappt hatte. Ein bisschen hatte ich immer die Vermutung gehabt, dass unser Studium vor allem darin bestand, Dingen, die man schon immer irgendwie wusste, raffinierte englische Namen zu geben und so zu tun, als hätte man etwas ganz tolles Neues erfunden. »Ich habe was?«

»Du brauchst Drama«, erklärte Lisa. »Du brauchst jeden Abend deinen eigenen Spielfilm. Mit dir kann man nicht auf der Couch liegen und fernsehen. Um dich muss man jeden Abend kämpfen.«

»Ich mag es einfach, wenn was passiert. Die Jungs, über die ich stolpere, kennen nur Sport, Fernsehen und Saufen. Das ist langweilig.«

Daria kräuselte die Stirn. »Mir würde jetzt aber spontan auch nicht einfallen, was man als Mann sonst noch so tun könnte.« Dann lachte sie ein wenig in sich hinein.

»Peter hat seine Band!«, versuchte ich, ihre Behauptung zu widerlegen, aber es führte nur dazu, dass Daria bei Erwähnung des Namens kurz erschreckt die Augen aufriss, sich dann schnell wieder fing und versuchte, möglichst unbeeindruckt mit den Schultern zu zucken. »Es verliert auch schnell an Faszination, wenn die bei jedem Auftritt die Hosen runterlassen.«

Lisa kicherte, Cornelia schmunzelte, und auch ich ließ mich zu einem Grinsen hinreißen. Ein böser Reporter der hiesigen Zeitung hatte diese Aktion der Band einmal als Highlight der ganzen Vorführung bezeichnet. Es wurde Wein nachgeschenkt, Daria überprüfte schnell den Füllstand diverser Schalen und entspannte sich wieder, als sie sah, dass noch keine gastgeberische Intervention nötig war. Lisa war derweil aufgestanden, um an Darias Laptop herumzufummeln. Um jeden Preis musste sie verhindern, dass die Musik zu chartlastig wurde. Wieder einmal bot sie an, von ihrem USB-Stick »richtig coolen Alternative-Indie-Rock« auf den Rechner zu ziehen, aber als keiner von uns reagierte (wir sind alle musiktechnisch ein bisschen zu Mainstream für Lisa), resignierte sie, setzte sich wieder hin und befasste sich mit ihrer Chipstüte. Ich hatte schon gehofft, das Männer-ADHS-Thema sei vom Tisch, als Cornelia mir sachlich-kühl vorschlug: »Wie wäre es denn mit einer Therapie?«

Ich hatte gerade einen Schluck Wein genommen, der mir vor Schreck sehr schmerzhaft in die Luftröhre floss und sich den ganzen Weg hinabbrannte. Ich hustete. »Was?!«, quetschte ich mit einiger Mühe entsetzt heraus.

»Eine Therapie«, wiederholte sie völlig unbeeindruckt. Lisa guckte betreten in ihr Weinglas, und auch Daria, unsere Therapeutin in spe, war plötzlich ganz fasziniert von ihren braunen Haarspitzen.

»Cornelia«, sagte ich betont ruhig, obwohl ich innerlich zu kochen begann. »Wenn ich mit einem Jungen Schluss mache, dann behalte ich keine Körperteile von ihm zurück, auch wenn du das jetzt vielleicht denkst.«

Um vollständig ehrlich zu sein, muss ich allerdings zugeben: Etwas behielt ich doch stets zurück. Nichts Serienmördermäßiges, nur einfach irgendetwas, einen Gegenstand oder vielleicht auch eine Idee oder eine Aussage. Eine Weltanschauung. Irgendetwas. Gar nicht so richtig, um mich an den Typ zu erinnern, sondern damit die durchschnittlich zwei Wochen Beziehungszeit nicht jedes Mal völlig vergebens waren. Man denke nur an all die vergeudete Lebenszeit. Hätte ich mich stattdessen mit den Werken mittelalterlicher Maler beschäftigt, hätte ich mittlerweile einen verdammt guten Wer-wird-Millionär-Telefonjoker abgegeben. Ich sammelte also Mini-Beziehungs-Souvenirs. Sophos, dem Philosophiestudenten, hatte ich zum Beispiel den grünen Haarreif mit Shrek-Ohren abgenommen, den er wegen einer verlorenen Wette im Club getragen hatte und wegen dem wir ursprünglich ins Gespräch gekommen waren. Er schmückte nun Lisas und meinen WG-Spiegel im Flur.

Cornelia blieb unbeeindruckt, ließ sich aber ein kleines Lächeln abringen. Mit ihrer faszinierenden Präsenz, der man sich nur schwer entziehen konnte, begann sie, mir ruhig zu erklären: »Wie du als Psychologiestudentin am besten wissen solltest, sind Therapien nicht nur etwas für leichenschändende Serienmörder. Sie können dir auch einfach helfen, dich in einem Bereich deines Lebens weiterzuentwickeln. Du würdest vielleicht etwas über dich und deine Emotionen lernen und erfahren, warum dir immer so langweilig ist.«

Ich war wütend in diesem Moment, auch wenn Cornelia es eigentlich nur gut mit mir meinte. Mir wurde ganz flau im Magen und ich hätte am liebsten mein Glas Wein melodramatisch an die Wand geschmissen, aber das hätte wohl nur dazu geführt, dass Daria ohnmächtig geworden wäre. Einen Moment lang überlegte ich, wie ich Cornelia beleidigen konnte, aber ich riss mich zusammen und sagte und tat mit etwas Mühe rein gar nichts. Nach einem kurzen Moment der Wut wurde mir klar: Ein bisschen hatte Cornelia recht. Mir war ständig langweilig. Mir war in der Uni langweilig, mir war zu Hause langweilig, mir war im Club langweilig, mir war mit Männern langweilig. Ich sah nacheinander meine drei besten Freundinnen an und wünschte mir, ich wäre ein bisschen wie Cornelia, hochintelligent und zielstrebig, nur halb so kreativ und warmherzig wie Daria und hätte wenigstens einen Funken von Lisas Charme und Fröhlichkeit. Aber ich war nur Nina. Nina, die gelangweilt auf ihr Leben schaute und nicht so recht wusste, was sie damit anfangen sollte, beruflich oder privat. Ich überlegte, wie meine Freundinnen wohl mich beschreiben würden. Hoffentlich nicht nur mit »Nina hat schwarze Haare, ist von durchschnittlicher Größe und ein Opfer chronischer Langeweile«.

»Emotionen … oh, hey – ich weiß!«, rief Daria mit leicht schriller Stimme, und ich sah ihr an, dass sie fürchtete, dass der Abend jenseits von Wohlfühlen enden würde. »Geh doch in das Seminar von Herrn Weber – das Emotionsseminar! Das ist bestimmt total spannend – also nicht nur für dich, sondern … allgemein für jeden!«

Es war ziemlich offensichtlich, dass ihr dieser Gedanke nur gekommen war, um die Situation zu retten, aber ich fand, der Versuch ehrte sie. Ich schaute Lisa an, die für Darias Einwand ebenfalls sehr dankbar schien, und entschied mich, die Sache dabei zu belassen. »Mal sehen«, sagte ich großzügig. »Ich sollte ja noch ein weiteres Seminar belegen. Vielleicht schaue ich da mal vorbei.«

»Ich fände eine Therapie besser«, murmelte Cornelia und erntete einen bösen Blick von Daria, die dann schnell meinte: »Seine Seminare sollen auch ganz toll sein, habe ich mir sagen lassen.«

Ich zuckte mit den Schultern und beschloss, versöhnlich zu sein, um den Abend nicht zu ruinieren. »Ich glaube zwar nicht, dass ich ein Problem habe, und selbst wenn ich eines hätte, würde ein Seminar in Grundlagenpsychologie da nicht helfen, aber wenn ihr versprecht, mich danach mit euren guten Ratschlägen in Ruhe zu lassen, dann gehe ich da hin.«

»Super!«, befanden Daria und Lisa gleichzeitig. »Macht dir bestimmt Spaß!«, fügte Daria hinzu. »Dann wäre das ja jetzt geklärt«, und dann ein bisschen schärfer in Richtung Cornelia: »Oder?«

Cornelia zuckte voll Resignation mit den Achseln, dann nickte sie, und auch wenn sie nicht ganz überzeugt wirkte, sagte sie nichts mehr.

»Spitze«, fuhr Daria fort. »Dann bestellen wir jetzt endlich Pizza!«

»Mir ist aber schon ganz schlecht!«, warf Lisa leidend ein und legte schuldbewusst die fast leere Chipstüte zurück auf den Tisch.

Daria seufzte. »Na gut, dann also nur drei Pizzen.«

Es wurde doch noch einer von Darias Wohlfühlabenden. Meine »Diagnose« kam nicht mehr auf, und am Ende war ich auch mit Cornelia wieder versöhnt. Lange konnte ich ihr sowieso nie böse sein. Wir schauten uns noch einen Film aus Darias DVD-Sammlung an, und nachdem der Wein leer getrunken und die Pizza aufgegessen waren, fuhren wir nach Hause. Mein Versprechen, in das Emotionsseminar zu gehen, fiel mir erst wieder ein, als ich neben Lisa im Bus nach Hause saß und aus dem Fenster in die Nacht guckte. Ein Emotionsseminar gegen die Langeweile. Klang irgendwie nicht so vielversprechend. Und bei meinem Glück war das eine dieser unmöglichen Veranstaltungen, die um acht Uhr morgens begannen.

KAPITEL 2

Liebe auf den ersten Blick

Normalerweise gehe ich aus Prinzip in kein Seminar, das vor zehn Uhr morgens abgehalten wird. Es sagt nichts Gutes über Dozent und Teilnehmer aus, wenn sie morgens so früh aus dem Bett fallen. Aber für das Emotionsseminar von Patrick Weber quälte ich mich dann doch in aller Herrgottsfrühe aus meinem warmen, weichen Bett. Ich kramte eine alte Jeans, einen Kapuzenpullover und warme Socken hervor und warf mich im Flur in Fellstiefel und Jacke. Dabei versuchte ich, einigermaßen leise zu sein, um Lisa nicht zu wecken, denn die war schlau genug, zu einer solchen Stunde das Studentendasein im Tiefschlaf zu genießen. Ein Teil meines Gehirns befand sich noch im Tiefschlaf, als ich die Wohnungstür hinter mir ins Schloss zog und die Stufen unseres schmuddeligen Treppenhauses hinuntertaumelte.

Lisa und ich wohnten in der Nähe des Bahnhofs; das war billig und die öffentlichen Verkehrsmittel waren gut zu erreichen, aber die Häuser waren alle alt und in desaströsem Zustand. Außer Lisa und mir lebten hier zwar nur finstere Gestalten, aber wenigstens fuhr der Bus zur Uni quasi direkt vor unserer Haustür ab, sodass ich im Wachkoma hineintorkeln konnte. Ich setzte mich auf den Einzelplatz hinter dem Busfahrer (das schützt vor unangenehmen Sitznachbarn) und steckte mir die Kopfhörer meines MP3-Players in die Ohren.

Eine Viertelstunde später, berieselt von der Alternative-Indie-Rock-Collection, die Lisa mir auf meinen iPod gespielt hatte, stieg ich auf dem Campus aus. Der lag noch im winterlichen Halbdunkel, wurde aber bereits von den fleißigeren Studenten bevölkert. Mit einem Blick auf die Uhr beschloss ich, mir vor dem Seminar noch einen Kaffee zu holen. Der Coffeeshop auf dem Campus war voll strebsamer Mediziner, die vor der ersten Vorlesung noch schnell einen Cappuccino to go bis zu ihrer Fakultät mitnahmen. Ich schnappte mir zum Aufwachen meinen schwarzen Kaffee fürs Seminar und machte mich auf den Weg. Das Psychologische Institut war in einem hässlichen Plattenbau beheimatet, ein wenig abgeschlagen vom Hauptgebäude und dem Audimax, vermutlich, damit es die Broschüren für Studienanfänger nicht verunstaltete. Vor einem Jahr war es die gesamten Semesterferien geschlossen gewesen, weil man den Asbest aus Wänden und Decken entfernen musste. Es war immer noch kein Ort, an dem man sich besonders gern aufhielt, aber das wäre es wohl auch mit weißem Marmor und riesiger Fensterfront nicht gewesen.

Ich schleppte mich die Treppen hoch in den vierten Stock und konnte das Geschnatter von Weitem hören: Vor Seminarraum 411 standen bereits fünf meiner Kommilitoninnen und unterhielten sich lautstark darüber, wie unglaublich spannend sie das Thema das Seminars fanden. Ich nahm mir vor, mir noch einmal den genauen Seminartitel anzusehen, bevor der Dozent auftauchte, und ging grußlos an ihnen vorbei in den Raum. Die pädagogisch wertvolle U-förmige Tischaufstellung war voll besetzt, sodass mir nur noch ein Stuhl in der hintersten Ecke blieb. Mir nur recht, dachte ich und quetschte mich zwischen Wand und Stühlen entlang bis zu meinem Platz. Von dort sah ich mich um. Der Raum war voller Mädchen, kein einziger Junge war anwesend, aber das war etwas, womit man als Psychologiestudentin immer rechnen musste. Viel mehr wunderte mich, wie beliebt das Seminar zu solch einer unchristlichen Zeit war. Ich zog den Ringblock, in dem ich mir einige Notizen aus dem Internet aufgeschrieben hatte, aus meinem Rucksack und schaute den Titel nach. »Die Psychologie der menschlichen Emotionen: Theorien und Messmethoden«.Na ja, dachte ich, so spannend klingt das jetzt wirklich nicht. Plötzlich wurden die Gespräche leiser. Ich blickte auf.

Oh.

Der Dozent hatte den Raum betreten, und ich musste einen kurzen Realitätscheck einlegen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht in einen Tagtraum abgedriftet war. Am Tisch vor der Tafel stand ein hübscher junger Mann und zog seine Unterlagen aus einer abgegriffenen braunen Ledertasche. Ich rutschte auf meinem Stuhl weiter nach vorne, um ihn zwischen all den bezopften Mädchenköpfen besser sehen zu können. Er sah ein bisschen aus, als hätte ich ihn mir für meine persönliche Liebesgeschichte ausgedacht: ein James-Dean des 21. Jahrhunderts, mit treuen braunen Augen, die in einem spannenden Kontrast zu seinem verwegenen Dreitagebart standen. Mein Puls wurde schneller bei seinem Anblick, und ich spürte, wie das Blut in meine Wangen schoss. So schnell und so sehr war ich bisher noch nie von jemandem angetan gewesen, und ich fragte mich kurz, ob das wohl die ominöse Liebe auf den ersten Blick war. Der Fall des mysteriösen Mädchenauflaufs im Seminarraum war jedenfalls aufgeklärt: Patrick Weber war ein Exemplar der durchaus raren Spezies »scharfer Dozent«! Denn auch wenn die Filmindustrie mir das immer vorgegaukelt hatte, an meiner Uni sah wirklich niemand aus wie Harrison Ford in Indiana Jones, nicht einmal wie Heiner Lauterbach in Der Campus.

Der hübsche Herr Weber blickte mit nur einem Hauch von Panik in den östrogenvernebelten Seminarraum und räusperte sich. »Vielen Dank, dass Sie alle zu dem Seminar erschienen sind. Wie Sie vielleicht dem Seminarplan entnommen haben, setzt dieses Seminar die Teilnahme an der Vorlesung Allgemeine Psychologie I voraus …«

Er war wirklich extrem gut aussehend, dachte ich, und als ich mich umsah, konnte ich an den dümmlich grinsenden Studentinnen im Raum ziemlich schnell erkennen, dass ich mit meiner Meinung nicht allein war. Gut zu wissen, dachte ich, vielleicht war mein Männergeschmack doch nicht so schräg.

Herr Weber erzählte weiter und begann dabei, an die Tafel zu schreiben. »… sicher kennen Sie Plutchiks Emotionskreis bereits aus der Vorlesung …«

Allgemeines Nicken breitete sich im Plenum aus. Ich kannte ihn nicht, aber man musste fairerweise sagen, dass ich auch nie in der Vorlesung gewesen war. Herr Weber unterteilte den Kreis wie einen Kuchen in gleich große Abschnitte, dann wandte er sich an die Seminarteilnehmerinnen. Mit der Kreide in der Hand sagte er: »In Ordnung, nennen Sie mir als Aufwärmübung eine der acht Basisemotionen aus Plutchiks Kreis.«

Er sah eine Blondine mit Sommersprossen in der Nähe der Tür an, die eine Hand mit schlammbraun lackierten Fingernägeln in die Luft gereckt hatte. »Ja?«

»Freude!«, antwortete diese enthusiastisch. Ich musste mich zwingen, nicht mit den Augen zu rollen. Wieso hatte sie nicht gleich »Liebe« gesagt? Andererseits, war das überhaupt eine von Plutchiks Basisemotionen? Ich beschloss, das nächste Mal vielleicht doch in die Vorlesung zu gehen.

»Richtig.«

Er suchte sich ein Kreiskuchenstück an der Tafel aus und schrieb Freude hinein. »In Ordnung«, sagte er. »Und was liegt dann auf der entgegengesetzten Seite des Kreises? Was ist das Gegenteil von Freude?«

»Traurigkeit«, antwortete eine weitere Blondine mit einer ungewöhnlich tiefen Stimme, die ich schon einmal in einem Biopsychologieseminar gesehen hatte.

»Genau!«, erwiderte Herr Weber und schrieb Traurigkeit in das Kuchenstück gegenüber von Freude. »Und was, würden Sie sagen, grenzt im Kreis an Traurigkeit? Welche Emotion ähnelt Traurigkeit?«

Neben Traurigkeit lag nach Plutchik die Überraschung, deren Gegenemotion Erwartung war, wie ich erfuhr. Ich hörte weiter aufmerksam zu, während die fleißigeren Teilnehmerinnen noch die übrigen Emotionen aufzählten: Ekel und Vertrauen, Wut und Furcht. Ich saß nur da und fragte mich, wieso ich eigentlich nie in dieser Vorlesung gewesen war. Als der Kreis vollständig war, kam mir eine Idee und ich streckte impulsartig die Hand empor. Er sah mich an. »Ja?«

»Was ist mit Langeweile?«

Das Plenum raunte, aber Herr Weber ließ sich zu einem Grinsen hinreißen. »Nun, ich hoffe natürlich, dass es nicht das ist, was Sie gerade empfinden.« Vereinzelt wurde gekichert. Er fuhr ernst fort: »Nach Plutchik ist Langeweile keine der Basisemotionen. Aber Sie sprechen da einen sehr interessanten Punkt an. Langeweile lässt sich tatsächlich in Plutchiks Darstellung integrieren, wenn man den Kreis zu einem Kegel erweitert, indem man die Intensität der Emotion miteinbezieht. Dort ist Langeweile eine weniger intensive Form von Ekel.« Er zeigte auf das Kreidekuchenstück Ekel. »Ekel hatten wir ja bereits in den Basisemotionskreis eingeordnet.«

Ich schaute an die Tafel und sah, dass Ekel gegenüber von Vertrauen lag. Ich musste an meinen Exfreund Gregor denken und hörte mich plötzlich sagen: »Ich kenne jemanden, der meint, Liebe sei das Gegenteil von Ekel.«

Zugegebenermaßen zeugte meine erste Wortmeldung in Patrick Webers Seminar nicht gerade von wahnsinniger Intelligenz oder wissenschaftlicher Erkenntnis, aber ich hatte schon immer eine gewisse Freude daran, andere zu schockieren. Ich hatte Erfolg, denn um mich herum wurde plötzlich heftig getuschelt und ich erntete ein paar entsetzte Blicke von der anderen Seite des Raumes für meine völlig unromantische Äußerung über Liebe und Ekel. Offensichtlich war die Mehrheit der Psychologiestudentinnen in diesem Raum nicht so zynisch und gefühlslegasthenisch veranlagt wie mein Exfreund Gregor, von dem ich diese Weisheit hatte. Er studierte Chemie, weil er so gern in sauberen Laboren stand und Latexhandschuhe trug. Sein Lieblingsduft war der Geruch von Desinfektionsmitteln. Wir hatten uns im Coffeeshop kennengelernt, als ich aus Versehen nach seinem Kaffeebecher gegriffen hatte, den er danach nicht mehr haben wollte. Also hatte ich ihm einen (noch unberührten) Kaffee angeboten und beide bezahlt. Als ich mich danach noch opferte, ihm die Tür aufzuhalten, und ihm so die Berührung der Türklinke ersparte, war er verliebt und ich war fasziniert von so viel Seltsamkeit. »Ich ekle mich gar nicht vor dir«, hatte er im Laufe unserer zweieinhalbwöchigen Beziehung strahlend verkündet, als könne er es kaum fassen. Und: »Irgendwie ist Liebe doch das Gegenteil von Ekel, findest du nicht?« Ich hatte ihn damals verwirrt angesehen und mich gefragt, ob er womöglich gerade »Ich liebe dich« gesagt hatte. Wobei er seine Meinung schnell revidierte, als er zum ersten Mal mein länger nicht mehr geputztes Zimmer betrat. Ungefähr zur selben Zeit wurde mir klar, dass auch seltsame Marotten ziemlich schnell langweilig werden können, und wir trennten uns einvernehmlich. Die Aussage über Liebe und Ekel war das, was ich von der Bekanntschaft mit Gregor zurückbehielt. Nun konnte ich mich darüber amüsieren, welch ratlose Gesichter sie in meinem Seminar hervorrief.

Einzig Patrick Weber schmunzelte und machte den Eindruck, als habe er nur auf eine provozierende Aussage wie meine gewartet. Er verschränkte die Arme, setzte sich auf die Kante des Seminarleitertisches und wandte sich an mich: »Interessante Theorie, die Sie da haben. Wenn Ihnen als forschende Psychologin jetzt so eine Aussage über den Weg liefe, und Sie würden das gerne mit einem Experiment untersuchen, wie würden Sie das dann machen?«

Ich dachte kurz nach. Emotionen waren vielleicht nicht so ganz mein Ding, aber in Versuchsplanung war ich letztes Semester gar nicht so schlecht gewesen. »Also … ich würde meine Versuchsteilnehmer zufällig zwei Gruppen zuteilen: Eine Gruppe bekommt vorher ein paar eklige Bilder gezeigt und die andere irgendwie – ich weiß nicht – Landschaftsbilder oder so was, irgendwas Neutrales. Anschließend lasse ich sie die Attraktivität verschiedener Gesichter bewerten. Und wenn die Gruppe, die sich vorher die ekligen Bilder angesehen hat, die Personen weniger attraktiv findet, dann weiß ich, dass die These nicht ganz abwegig ist.«

Stille im Raum. Herr Weber sah mich einen Moment lang ausdruckslos an, dann kehrte das Lächeln in sein Gesicht zurück. »Gefällt mir ganz gut. Wobei Sie theoretisch subjektiv empfundene Attraktivität und nicht Liebe untersuchen, aber das lasse ich Ihnen jetzt mal so durchgehen. Ist ja auch spannend.«

Oh ja.

Patrick Weber monologisierte ein bisschen über die Basisemotionen und die Messmethoden in der Emotionspsychologie, dann ging das übliche Gezanke um die Verteilung der Referate los. Ich meldete mich für »Ekel«, denn das wollte sonst niemand, und ich war immer am liebsten meine eigene Referatsgruppe. Als alle Seminartermine mit Referaten verplant waren, wandte Patrick Weber sich ans Plenum: »In Ordnung, das war’s für unseren ersten Termin. Da wir das nächste Mal noch keine Referenten haben, machen Sie es bitte wie Ihre Kommilitonin und denken Sie sich einen Versuch zu einer Emotion Ihrer Wahl aus; wir werden dann darüber sprechen. Bis zur nächsten Woche.«

Das große Gewusel begann, alle Teilnehmerinnen sprangen auf, griffen nach ihren Taschen, packten Block und Stift ein und rückten Stühle hin und her. Dazu wurde wie immer viel geschnattert. Um mir das Gedränge und Gequetsche zu ersparen, blieb ich noch einen Moment sitzen und starrte auf das Gekritzel in meinem Block, während ich langsam den Rest meines mittlerweile kalten Kaffees aus dem Pappbecher trank. Plötzlich bemerkte ich, dass jemand vor mir stand und auch dort verharrte. Ich blickte auf und sah direkt in das Gesicht des hübschen Herrn Weber. Aus nächster Nähe sah er sogar noch ein bisschen besser aus, fand ich, mit seinen feinen Filmstar-Gesichtszügen.

»Spannende These, die Sie da haben.«

»Oh … die ist von … ähm … einem Bekannten«, korrigierte ich mühsam.

»Ah ja.« Er lächelte. »Hier, ich dachte, ich gebe Ihnen das mal.«

Er reichte mir ein DIN-A4-Blatt, das wohl ursprünglich als Aushang für das schwarze Brett gedacht gewesen war. Darauf stand in großen schwarzen Lettern: Studentische Aushilfskraft für Versuchsleitung bei Gänsehautversuch gesucht. Darunter war in Farbe ein Arm abgebildet, auf dem sich Gänsehaut gebildet hatte. Ganz unten stand: Bewerbungsunterlagen bis zum 31. Oktober an Dr. Patrick Weber.

»Falls Sie Interesse haben, würde ich mich freuen, wenn Sie sich bei mir melden würden.«

»Klar, cool, danke«, wollte ich betont lässig sagen, stattdessen hörte ich mich schrill und aufgeregt an. Ich nahm das Blatt, sah ihm dabei nur kurz in die hübschen braunen Augen und begann dann, schnell meine Sachen in meine Tasche zu stopfen. Er ging zurück zum Seminarleitertisch und schaute noch einmal seine Unterlagen durch. Da ich die Letzte war, die den Raum verließ, drehte ich mich noch einmal zu ihm um und sagte: »Tschüss!«

Er sah auf, lächelte und sagte: »Ciao.«

Als ich mich umdrehte und den Gang entlangging, brauchte ich einen Moment, um mich zu sammeln. Ich starrte das Blatt in meinen Händen an und stellte mir vor, wie sich comicartige kleine Herzen in meinen Augen formten, und ich sah mich und den hübschen Patrick Weber schon als Hauptcharaktere einer zum tragischen Scheitern verurteilten Lovestory zwischen Dozent und Studentin. Das war doch wirklich ganz und gar nicht langweilig! Plötzlich war ich ganz aufgeregt. Wenn ich das Lisa erzählte!

KAPITEL 3

Gänsehaut, theoretisch

Lisa war wider Erwarten mäßig begeistert, als ich ihr einige Tage später bei Currywurst und Cola light in der Mensa endlich mein neustes Männerprojekt gestand.

»Das willst du doch nicht echt machen, oder?«

»Wieso, ein bisschen Geld dazuzuverdienen ist doch nichts Schlechtes?«

»Darum geht es doch gar nicht«, echauffierte sie sich mit vollem Mund. »Willst du jetzt auch noch verbrannte Erde in der Fakultät hinterlassen? Reicht dir nicht die Stadt?«

Lisa hatte mich mühelos und sofort durchschaut. Ich verspeiste nachdenklich meine Pommes, während um uns herum Studenten mit vollen Tabletts durch die Mensa schwirrten und sich lautstark unterhielten.

Die Mensa war mein Lieblingsort auf dem Campus, wenn auch nicht wegen des Essens, das eher zu wünschen übrig ließ. Ich mochte die Größe des Saals, das Glasdach und die kleinen Geschäfte, die den Saal zu allen Seiten einrahmten.

»Du glaubst mir nicht, wenn ich dir sage, dass ich das Thema des Versuchs wirklich interessant finde?«, fragte ich schließlich.

Sie sah mich lange an, dann schüttelte sie langsam den Kopf. Mit einem kleinen Seufzer sagte sie: »Du bist erwachsen, Nina. Tu, was du nicht lassen kannst.« Dann schlich sich ein Lächeln auf das hübsche, mädchenhafte Gesicht meiner Freundin und zeichnete ihr ihre magischen Grübchen auf die Wangen: »Aber was immer du tust, erzähl mir davon.«

Das brauchte ich mir nicht zu merken – vor Lisa ließ sich ohnehin wenig geheim halten. Ich schwebte gedanklich schon ein bisschen auf Wolke sieben des wissenschaftlichen Forscherhimmels, als sich am anderen Ende der geschäftigen Mensa ein bekanntes Gesicht aus der Menge hob.

»Shit«, sagte ich. »Da ist Philli …«

Bevor ich Lisa sagen konnte, dass sie sich nicht umdrehen sollte, hatte sie genau das getan und starrte sehr auffällig in Richtung meines einzigen längerfristigen Freundes: Philli.

Mit Philli, wie ich ihn nannte, oder Philip, wie ihn seine Eltern genannt hatten, war ich anderthalb Jahre zusammen gewesen, bevor ich eines schönen Abends beim Zigarettenholen verschwunden war. Na ja, das stimmt nicht ganz, es hatte ohne die Zigaretten stattgefunden, aber es ist dennoch eine treffende Metapher für das, was passiert war: Ich hatte seine Wohnung kurz vor dem gemeinsamen Abendprogramm verlassen, um für uns ein Sixpack und Chips beim Supermarkt zu kaufen, und vor dem Regal mit den Knabbersachen wurde mir klar, dass ich so nicht weitermachen konnte. Ich ließ Chips und Sixpack stehen, stellte mich in den Regen vor den Supermarkt und telefonierte heulend meine Freundinnen zusammen. Kurze Zeit später kamen von drei verschiedenen Seiten drei farbige Regenschirme (blau, gelb und Hello Kitty) durch den grauen Nieselregen angelaufen und sammelten das heulende Elend auf, in das ich mich verwandelt hatte.

Drei Tage dauerte es, bis ich mich traute, Philli endlich unter die Augen zu treten und gebührend Schluss zu machen. Meinen seltsamen Anfall vor dem Chipsregal versuchte ich gar nicht erst zu erklären, stattdessen erfand ich einen anderen. So ersparte ich ihm die unangenehme Wahrheit, dass mir bei EDEKA im Gang klar geworden war, dass ich ihn doch nicht so sehr mochte, wie ich es noch am Tag zuvor behauptet hatte, und dass das Leben mit ihm schlicht und ergreifend nicht so war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Beim Gedanken an diese Zeit spürte ich, wie meine Wangen heiß wurden, und ich begann, immer weiter in meinem Mensastuhl zusammenzusinken, als könne mich das vor seinem Blick schützen. Irgendwann wird es schwierig, durch die Stadt zu geben, wenn die Kurzzeitbekanntschaften sich häufen. Man tapst durch Pfützen von Verflossenen, bis sie irgendwann zu einem See werden, dem man nicht mehr entkommen kann. Ein bisschen hatte ich mich daran gewöhnt, ständig abgelegten Liebschaften zu begegnen und hier und da einen kleinen Umweg zu machen, aber Philli zu begegnen war immer noch besonders lästig.

»Reiß dich mal zusammen«, bemerkte Lisa trocken und tunkte einen ihrer Pommes in den Majoberg, den sie auf ihrem Teller angehäuft hatte. »Da gilt der alte Spruch für Hunde und Exfreunde: Der hat mehr Angst vor dir als du vor ihm.«

Stimmte vermutlich, denn als ich es einen Moment lang wagte, erneut nach Philli zu sehen, hatte er abrupt den Kurs geändert und war plötzlich in Richtung Mensabuchhandlung abgebogen. In der war er nun hinter den medizinischen Fachbüchern verschwunden. Im Speisesaal wurde es unterdessen immer voller und lauter. Currywurst war nach wie vor der einfachste Weg, Menschenmassen in die Mensa zu locken. Ich setzte mich wieder auf und war noch einen Moment lang damit beschäftigt, mich zu schämen. Das mit Philli war eine echt miese Nummer gewesen.

»Irgendwie glaube ich, das hier sollte dir eine Lehre sein. Stell dir mal vor, das mit Patrick Weber läuft schief …« Lisa machte eine dramatische Pause, dann fuhr sie bedeutungsschwer fort: »… und das wird es … dann hängst du den Rest des Semesters peinlich berührt in seinem Seminar unterm Tisch …!«

Ich hätte gerne behauptet, dass ihre Worte nicht auf völlig taube Ohren stießen, aber in meinem Kopf malte ich mir bereits wieder aus, wie ich an die Tafel gedrückt und in wilder Leidenschaft von Patrick Weber geküsst wurde, bis mir die Luft wegblieb. Meine Augen mussten mich bei diesem Gedanken verraten haben, denn Lisa zuckte mit den Schultern und sagte: »Tu, was du nicht lassen kannst.« Dann leerte sie weiter gedankenverloren ihren Teller.

Ich schob meine halbe Currywurst und die restlichen Pommes von mir, lehnte mich zurück und blickte durch das Glasdach der Mensa eine Weile in den grauen Winterhimmel. Um uns herum wuselten, quatschten und schmatzten die Studenten, sodass ich das Klingeln meines Handys fast nicht gehört hätte. Panisch begann ich, meinen Rucksack mit dem Erdbeerprint zu durchwühlen, bis ich unter Ordnern, losen Blättern, verirrten Kugelschreibern, Kaugummipackungen und Lipgloss mein läutendes Handy bergen konnte. Das Display zeigte eine unbekannte lokale Festnetznummer. Mein Herz klopfte und ich drückte auf »Annehmen«. Lisa beobachtete mich aufmerksam.

»Nina Krug?«, sagte ich mit schneller werdendem Herzschlag.

»Hallo, hier ist Patrick Weber, vom Seminar. Ich hab Ihre Unterlagen erhalten, vielen Dank. Ich wollte fragen, ob Sie nicht Lust hätten, zu einem Gespräch in mein Büro zu kommen.«

Die kleinen Herzchen kehrten in meine Augen zurück und ich schnappte einmal kurz lautlos nach Luft, bevor ich mit meiner besten Telefonstimme säuselte: »Natürlich! Wann passt es Ihnen?« Dann ging es mit mir durch und ich fügte hastig hinzu: »Ich kann auch gleich vorbeikommen!« Im nächsten Moment war mir mein Enthusiasmus schon unangenehm, und ich hoffte inständig, ihn nicht verschreckt zu haben.

Ich hörte ihn durchs Telefon lachen. »In Ordnung. Ein paar Minuten brauche ich noch, sehen wir uns in einer Viertelstunde?«

»Okay, klar, gern …«

»Super, bis gleich.«

Ein Klicken in der Leitung war zu vernehmen und ich schnappte hörbar nach Luft. Lisa beäugte mich nun, als hätte ich den Verstand verloren.

»Hey Nina, der ist kein Popstar. Der ist Dozent«, erinnerte sie mich schnodderig.

»Popstar sowieso nicht«, sagte ich, denn ich hatte beschlossen, sie ein bisschen zu ärgern. »Eher so eine Art Indie-Rock-Star vielleicht, ich habe doch schließlich keinen Mainstreamgeschmack.«