7,80 €
Ist es möglich, einen psychologischen Roman zu schreiben, amüsant, erotisch, intellektuell, kriminell, spirituell, verstörend, ohne belehrend daherzukommen? Dieses Buch versucht, Fachwissen vielseitig und in packender Form zu vermitteln. Die Geschichte beginnt 2016 in Zürich und endet 2019 gleichzeitig in Caracas, auf Bonnaire und in Stockholm. Im Zentrum stehen dabei drei Mittvierziger: der introvertierte Architekt Serafin, ein sexistischer Physiker namens Randy und der eigensinnige Psychologe Erich. Auf einer Datingplattform begegnen sie der religiösen Topinformatikerin Lisa sowie Modedesignerin Simona, einer an Borderline-Persönlichkeitsstörung erkrankten Schönheit. In den sich überschlagenden Ereignissen klärt Erichs besonnene Ehefrau Brigitte - Scheidungsanwältin, Mediatorin und Psychotherapeutin - einen Mordfall auf und bewahrt dabei den gemeinsamen Sohn Elias vor dem Gefängnis.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 322
Veröffentlichungsjahr: 2022
„Die Romanfigur Erich, ein hochkarätiger Psychologie-Professor und zugleich sehr erfahrener Therapeut, surft im Fließbewusstsein über die hochbrisanten, äußerst tückischen Wellen von Männerfreundschaften und brüchigen Liebesbeziehungen.
Die von Erich gehaltene Vorlesung (Transkript mitten im Buch) gibt uns einen eminenten Einblick in die hyperkomplexen Brechungen des sogenannten Über- oder transpersonalen Bewusstseins. In beiden Teilen des Romans (1. Teil: 144 Stunden; 2. Teil: Spiegelmomente) erfährt die Leserin / der Leser eine evidente, hautnahe und quicklebendige Demonstration des Vorlesungsinhaltes mittels hochturbulenter Lebensereignisse.
Ganz anders: ein tiefschürfender Psycho-Essay, der uns zum Surfen oder vielmehr zum Eintauchen in das ozeanische Bewusstsein verführerisch und ohne Unterlass ruft.“
Renaud van Quekelberghe – Professor Dr. Dr. emeritus, Universität Koblenz-Landau, Klinischer Psychologe, Ethno-Psychotherapeut undTheologe
„Schnelle Motorräder, Windsurf-Feeling und eine fette Prise Erotik. Aufgepeppt mit psychoanalytischen Eskapaden, wird das Buch zum Psychogramm der Nach-68er-Generation in der Lebenskrise.“
Marc Baumann – CEO Swiss Casinos Holding AG
Über den Autor
Michael Baumann, Jahrgang 1962, ist Master of Science in Psychology und Master of Advanced Studies in Psychotherapy and Analytical Psychology. Der Urenkel des Schweizer Psychiaters und Tiefenpsychologen Carl Gustav Jung engagiert sich seit 2008 für eine Stiftung, die universitäre Lehre und Forschung zu Grenzgebieten der akademischen Psychologie fördert. Überdies werden humanitäre Projekte sowie Tierschutz unterstützt. (Da sich bereits zu viele Bittsteller an die Stiftung wenden, möchte diese nicht namentlich genannt werden.)
Der Autor verfügt im Wesentlichen über je vierzehn Jahre Berufserfahrung als Gymnasiallehrer für Pädagogik und Psychologie sowie als Psychotherapeut.
Ferner war er 2010 bis 2011 Vorsitzender der Firma Personal Resources GmbH und 2012 Gründungsmitglied der Mind-Matter-Society (International Interdisciplinary Mind-Matter Research). Michael Baumann ist verheiratet und lebt in Flüelen, Schweiz.
Michael Baumann
Ganz anders
Ein psychologischer Roman
2. überarbeitete Auflage November 2021
© 2020 Michael Baumann
www.psychologieroman.ch
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg
ISBN
Softcover:
978-3-347-47962-3
Hardcover:
978-3-347-47967-8
e-Book:
978-3-347-47969-2
Sämtliche Romanfiguren sind – mit Ausnahme eindeutig im öffentlichen Leben stehender Personen – frei erfunden. Allfällige Übereinstimmungen mit tatsächlich lebenden oder toten Personen wären unbeabsichtigt und rein zufällig.
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Als Ort der Gerichtsbarkeit gilt die Schweiz.
„Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.“
Werner Heisenberg
(angeblich; gemäß Carl Friedrich von Weizsäcker: sicher)
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Erster Teil: 144 Stunden
1 Erotisches Internet-Dating
2 Exerzierfeld: Simona Mach
3 Erstmals am Pier
4 Ernte: dreierlei Glück
5 Er kam, sah und – auch du, Erich!
6 Elias: Phobharmoniker pur?
Werbepause: Erichs Vorlesung zu Glück, Gewalt und Überbewusstsein
Zweiter Teil: Spiegelmomente
7 Baumeister
8 Don Juan
9 Jesus Christus
10 Fa-Tsang
11 Joseph Beuys
12 Ent-Täuschung
Literatur
Vorwort
„You cannot be everybody’s darling“, musste der Autor während seiner Tätigkeit als Psychotherapeut ab und zu einem Patienten sagen. Das hätte er vielleicht – nur vielleicht – auch früher zu sich selbst sagen sollen. Jedenfalls geht er heute das belustigende Wagnis einer Buchveröffentlichung ein, nachdem er längst zwei umfangreiche – streng wissenschaftliche – Arbeiten zurückbehalten hat, weil sie ihm nach dem Abschluss doch allzu einseitig erschienen. Einseitigkeit ist lebensfern und es scheint mir schade, vitale Bäume zu fällen, um solche Schriften auf Papier zu verbreiten. Allerdings gibt es gute Gründe, dieses Buch nun nicht zurückzuhalten: Wenn einem Perfektionisten Mitte fünfzig nach bereits zweimaliger existenzieller Bedrohung klar wird, dass das Leben tatsächlich endlich ist, hält er sichvorzugsweise an das Sprichwort: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Und: Das Buch zielt auf Vielschichtigkeit ab.
Danken möchte ich an dieser Stelle meiner Ehefrau Gabriele Baumann und meiner Mutter Stefanie Baumann für ihre wertvolle Unterstützung und Ermutigung. Ebenso meinem leider viel zu früh verstorbenen – außerordentlich gütigen – Vater Dr. Wolfgang Baumann, der mir logisches Denken beibrachte und Humor vermittelte. Ferner meinem Freund Arie Nordemann, der mir, als versierter Romanleser, konstruktive Kritik vermeldete, sowie meinem IT- und Marketingspezialisten Natanael Berger.
Auf keinen Fall möchte ich schließlich versäumen, meinem genialen und originellen Lehrmeister Prof. Dr. Dr. Renaud van Quekelberghe für sein inspirierendes Gedankengut zu danken.
Ich schließe dieses Vorwort mit dem Versprechen, dass die Hälfte des (möglichen) Nettoerlöses finanziell schwer Hilfsbedürftigen zukommen wird (am meisten den Ärmsten in der Dritten Welt) – vorwiegend über profunde und profilierte Hilfsorganisationen mit geringen Overhead-Kosten.
Einleitung
Muss frau oder man wissen, wie ein Oldtimer-Motorrad mitunter zu den Beinamen „goldener Schuss“, „purple Killer“, „kultivierter Wahnsinn“ und „Witwenmacher“ gekommen ist? Oder warum der erfolgreichste Profisportler aller Zeiten – zumal mit Schweizer Wohnsitz – nicht Roger Federer heißt und insbesondere, wie sich seine Tätigkeit genau anfühlt? Obendrein noch – wenngleich kurze – Ausführungen hinnehmen über sogenannte Akategorialität (ein außergewöhnlicher Bewusstseinszustand, benannt von dem Schweizer Kulturphilosophen Jean Gebser) bis zu Zappeligkeit – der Psychologe Erich hat ein ADHS (Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts-Syndrom) –, ja zwischendurch gar pubertär anmutende Dialoge? Niemand muss müssen oder lesen, aber vielleicht ist es interessant, zu erfahren, was dieses Motorrad mit Betroffenen einer schweren Persönlichkeitsstörung gemeinsam hat oder weshalb ausgerechnet ein Kokainabhängiger dem Sportidol nacheifert. Erübrigt sich beinahe, zu erwähnen, dass – wie zuweilen in anderen Romanen auch – nicht gefällige Abschnitte getrost übersprungen werden können, obzwar manches in dieser Geschichte einer psychologisch-didaktischen Zielsetzung verpflichtet ist. Dieses „Angebot“ für Auslassungen soll beispielsweise die seitenlangen Flirt-E-Mails einschließen – zwischen dem Psychologen Erich alias Jack Bauer und einer Unbekannten alias Renee Walker. Diese Textabschnitte werden durch Kursivschrift gekennzeichnet.
Gewisse Konventionen, die üblicherweise für niveauvolle Romane gelten, werden im vorliegenden Buch absichtlich unterlaufen – etwa indem gelegentlich Obszönität als Stilmittel zum Einsatz kommt. Obermacho Randy wird da und dort Ärger auslösen, aber sein Verhalten hat Gründe, und die ungeschminkte Wiedergabe seines Benehmens geschieht – wie sich später zeigen wird – nicht ohne Ziel. Er wünscht sich, eine integre Führungspersönlichkeit zu sein, sucht jedoch – völlig unreflektiert – die Konfrontation wie Donald Trump.
Generell geht es in dieser Geschichte um das Spiel mit dem Unabsehbaren, dem schnellen Wechsel von bodenständig zu skurril, ernst zu witzig, harmonisch zu verstörend – ähnlich einem leidenschaftlich geführten Kartenspiel, in dem der Joker jederzeit alles über den Haufen werfen kann. Denn funktioniert das Leben nicht oft so, ob wir uns daran erfreuen oder nicht? Die Protagonisten, spezielle Charaktere und wie solche im richtigen Leben bisweilen in innere Widersprüche verstrickt, werden in eine Geschichte eingebunden, in der verschiedene Bäche dahinplätschern, um schließlich in einen Fluss zu münden.
Psychologische Romane sind eine Herausforderung. Es gab sie schon lange bevor die an den Universitäten gelehrte Psychologie ihren Namen überhaupt verdiente, insbesondere natürlich in Dostojewskis Ära. Ihre Blütezeit erlebten sie somit im neunzehnten Jahrhundert. Ungefähr zeitgleich mit der Etablierung von Sigmund Freuds Psychoanalyse im Kreise der Literaten – vielleicht erstmals ansatzweise durch Arthur Schnitzlers Traumnovelle, die später Stanley Kubrick als Vorlage zu seinem letzten Film Eyes wide shut mit Nicole Kidman und Tom Cruise dienen sollte – entwickelte sich die akademische Psychologie langsam, aber sicher zu einer gleichsam von Geistes-, Sozial-und Naturwissenschaften geprägten Disziplin, die zusehends ernster genommen werden durfte. Nicht nur hinsichtlich Wissenschaftlichkeit, sondern auch bezüglich Relevanz. Und in den letzten Jahrzehnten gewann nun die Psychologie eindeutig so viel fruchtbares Land, dass seelenrelevante Deutungshoheit auch in Romanen nicht mehr ausschließlich Freud-inspirierten Literaten überlassen werden kann. Denn das würde bedeuten, mannigfaltige – mit wissenschaftlicher Akribie errungene – Kenntnisse vom Erleben und Verhalten in einer einzigen Bucht der ganzen vielseitigen Insel versanden zu lassen. Vielleicht ist das der Grund, warum er praktisch ausgestorben ist, der explizit„psychologische“ Roman. Natürlich gibt es auch heute ein paar löbliche Ausnahmen – frau oder man denke hier etwa an Und Nietzsche weinte von Irvin D. Yalom.
War das vorhin ein Seitenhieb gegen die Literaturwissenschaft oder gar generell gegen Romanautorinnen und -autoren? Nein, keineswegs, einige hartgesottene Alt-Freudianer ausgenommen. Es ist nur so, wie ich persönlich finde, dass Psychologinnen und Psychologen beginnen sollten, Romane zu schreiben, die der Leserschaft fundiertes Fachwissen attraktiv präsentieren – quasi in Ergänzung zu populärwissenschaftlichen Büchern einerseits und exakten, aber dem Laien oft unverständlichen Schriften andererseits. Mal sehen, ob diese Herausforderung gelingt.
Eines noch, bevor gleich Alphatier Randy dem hyperaktiven Psychologen Erich in der Sporthalle aufs Dach gibt und dessen Sohn eine Dummheit mit der vom Vater konfiszierten Pistole eines gemeingefährlichen Patienten begeht: Im Juli 2005 – der introvertierte Architekt Serafin sang gerade frisch verliebt den damaligen Sommerhit„Simona“ – forderten Hermann Haken, Nobelpreisträger für Physik, und Günter Schiepek, Ordinarius für Psychologie an der Universität Graz, in ihrem Buch Synergetik in der Psychologie dazu auf, ihr Gedankengut künstlerisch umzusetzen. Ein zentraler Baustein der Synergetik ist die Theorie dynamischer Systeme. Sie ist es ebenfalls im sogenannten fraktalsystemischen Forschungsparadigma des emeritierten Professors für Klinische Psychologie (Universität Koblenz-Landau), Theologen und Ethnopsychotherapeuten Renaud van Quekelberghe, und überhaupt weisen diese beiden Ansätze einige Gemeinsamkeiten auf. Eine Art Nebenschauplatz stellt nun in diesem Buch der Versuch dar, das fraktalsystemische Paradigma vorzustellen, um es fortan künstlerisch, wenngleich knapp, in diesen Roman einfließen zu lassen. Zu diesem Zweck werden in der „Werbepause“ – im Zusammenhang mit einer Einführung zu den Themenkreisen „Glück, Überbewusstsein und Gewalt“ – Gedankengut von Renaud van Quekelberghe (eine Pionierleistung!) und ein paar eigene Überlegungen eingeführt, um sie sodann gelegentlich in diesem Roman praktisch zu verwenden.
Die besagte Abhandlung erfolgt in Form einer Vorlesung des Psychologen Erich. Es ist jedoch problemlos möglich, den Rest dieser Werbepause zu überspringen oder zu überfliegen und dem weiteren Verlauf der Geschichte zu folgen. Sie wird (wie bereits das Flirten zwischen Renee Walker und Jack Bauer) in Kursivschrift dargestellt. Im Sinne der Transparenz: Die Vorlesung ist vorwiegend wissenschaftlich ausgerichtet – dies allerdings für universitäre Verhältnisse in moderater Ausprägung und zumindest zwischendurch wohl auch für Laien spannend.
Wer die Vorlesung bei der Lektüre auslässt, könnte sich einzig ab und zu wundern über das Auftauchen von ein paar sonderbaren Begriffen: Ich probiere, mit dem Ansatz von Renaud van Quekelberghe, die Freude am Windsurfen sowie beim Motorradfahren aufzuzeigen und ferner einen Nachttraum zu verstehen, bei dem der Spieler an einem Flipperkasten plötzlich in himmlische Sphären mit wunderbaren Klängen hinaufgleitet. Ebenso wird versucht, die Lust an einem brachialen Geschlechtsakt voller Gewalt in ihrer Bedeutung darzulegen sowie das schönste Gegenteil wissenschaftlich auszuleuchten, namentlich unmittelbares Erleben bei der intensiven Vereinigung eines Liebespaares. Dabei kommt es, wie erwähnt, zur Verwendungungewohnter Begrifflichkeiten. Die „quekelberghianischen“ Erläuterungen zu diesen Beispielen heben sich in ihrer Darstellung vom Rest des Textes ab, indem wiederum Kursivschrift gewählt wird, und können ebenfalls – bei Nichtgefallen – ausgelassen werden, ohne dass es zu einem Informationsverlust in diesem Roman kommt.
Wissenschaftsmuffeln sei hier versichert, dass keiner dieser Interpretationen mehr als eine halbe Buchseite gewidmet wird. Im Übrigen ist hier nochmals festzuhalten: Die Lektüre der Vorlesung kann jederzeit abgebrochen oder ganz ausgelassen werden, ohne dass Verständnisprobleme auftauchen. Es handelt sich eben buchstäblich um eine Werbepause.
Höre ich da jemanden reklamieren „Nur fünf kurze Beispiele, um den fraktalsystemischen Ansatz künstlerisch zu veranschaulichen!“?
Ich entgegne: „Ja, aber es ist ein Anfang in einer Kultur, in der die Kluft zwischen den Domänen Wissenschaft und Kunst nicht größer sein könnte. Vielleicht ist es einzig die Anthroposophie Rudolf Steiners, die (in großem Stil) versuchte, diese Kluft zu überwinden“ – allerdings mit wohl teilweise fragwürdigen Ergebnissen.
Erster Teil: 144 Stunden
1 Erotisches Internet-Dating
Die folgenden Ereignisse finden zwischen Mittwoch, 21.00 Uhr und Donnerstag, 21.00 Uhr statt.
Randy verlässt nach dem Badmintonspiel als Erster die Sporthalle, nachdem er seinen beiden geschlagenen Gegnern befohlen hat, die Netze abzubauen: „Tut noch was für eure Fitness, ihr Mumien!“ Die Dusche verlässt er als Letzter und betritt den Umkleideraum, ohne sich vorherabzutrocknen. Übrigens duscht Randy nur einmal pro Woche, weil er Körperhygiene für Zeitverschwendung hält. Ebenso hält er es mit dem Rasieren. Dafür desodoriert sich Randy täglich und schmiert sich – buchstäblich stinkbilliges – Aftershave ins Gesicht und gelegentlich in die Leistengegend. Sein blendend aussehender Architektenfreund Serafin – wir werden ihn später kennenlernen – duftet stets am ganzen Körper außerordentlich gut, rasiert sich meist zweimal täglich und trägt nur selten einen kurzen, aber sehr gepflegten Bart. Der tropfnasse Koloss mit grünen Augen, schulterlangen Haaren und nahtlos gebräunter Haut stellt sich nun nackt neben Erich, der gerade in die Jeans gestiegen ist. Randy wendet das Haupt in Erichs Richtung, als würde er den Blickkontakt suchen, starrt aber demonstrativ über den Kopf des viel kleineren Freundes hinweg an die Wand. Dann versetzt er Erich mit seitlich gestrecktem Bein einen deftigen Tritt in den Hintern. „Beeil dich gefälligst, damit der Hauswart endlich Feierabend machen kann!“ Danach dreht er seinen Kopf in die andere Richtung und zwinkert keck Erichs Sohn zu.
Der Pubertierende lacht über seinen Vater, der zunächst etwas erschrocken aussieht. Theoretisch hätte Erich auf den Fußtritt gefasst gewesen sein können. Einen Augenblick später gibt er sich gelassen und fragt Randy mit einem amüsierten und gleichsam etwas mitleidigen Lächeln, ob das die aktuelle Version seines vorsintflutlichen Gags sei. Drei Jahrzehnte zuvor gingen die beiden in die gleiche Schulklasse. Die Jeanswerbung der Achtzigerjahre pries damals eine angeblich besonders robuste Hose an, und Randy nahm dies immer wieder zum Anlass, einen Kumpel mit den Worten „Das ist doch die zum Reintreten!“ zu Fall zu bringen, wenn dieser sich gerade in eine enge Jeans zwängte.
In der Schulzeit – anno 1985 – gab sich der damals Fünfzehnjährige selbst den Namen Random, um zum Ausdruck zu bringen, dass er als überzeugter Atheist ausschließlich an das Zufallsprinzip glaubte. Dieser Beiname wird von seinen beiden ehemaligen Schulfreunden Erich und Serafin seit jeher akzeptiert – nicht nur, weil Randy ein dominierender Aggro ist, sondern auch infolge der zweiten Bedeutung des Begriffes „Random“: ein Zugpferd im Dreiergespann. Getauft worden war er entweder auf den Namen Ramon oder Roman. Atheist ist er geblieben – in jungen Jahren ließ er sich auch von Charles Darwin inspirieren –, Vulgärdarwinist ist er geworden. Obwohl Random Naturwissenschaften am Gymnasium unterrichtet, scheint ihm entgangen zu sein, dass das Mutationsprinzip in Fachkreisen schon seit Jahren mehrheitlich als überholt gilt. Vielleicht ist ihm auch nur der Gedanke unsympathisch, dass Darwin nicht alles wissen konnte. Denn sollte nebst dem Zufallsprinzip eines Tages auch das Recht des Stärkeren fragwürdig werden, was wäre Randy dann noch? Seit seiner schrecklichen Kindheit boxt er sich erfolgreich durch ein Leben, dem er aber letztlich keinen Sinn abgewinnen kann. Vulgär, ja respektlos obszön ist – nebenbei bemerkt – auch oft Randoms Sprache, und zwar nicht zu knapp!
Nach dem Verlassen des Schulareals – Random arbeitet hier als Physik- und Chemielehrer und benutzt bei schlechtem Wetter gelegentlich abends mit Freunden die Sporthalle – steigen die drei in Erichs Wagen. Der Frühsommerabend ist kühl, aber noch recht hell. Jeder ist mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Der 17-jährige Elias überlegt, wie er seinen Vater Erich davon überzeugen soll, dass er die Gymnasialzeit baldmöglichst abbrechen kann, um in die Fremdenlegion einzutreten. (Und der Vater soll es dann der Mutter beibringen.) Random hängt schräg im Rücksitz, und auch seine Gedanken kreisen um einen möglichen Abgang von dieser Schule, allerdings um einen unfreiwilligen. Er sieht sich erneut mit der Frage konfrontiert, die sich während der Dusch-Monotonie vorhin schon nicht mehr aus dem Bewusstsein drängen ließ: Wie er in den verbleibenden 36 Stunden das außerordentlich unerquickliche Nachspiel einer „erotischen“ Internetbegegnung verhindern soll. Vor ein paar Tagen ließ sich Random dazu verleiten, nach angebandelter Bekanntschaft mit einer verkappten Prostituierten, vor seiner Webcam zu masturbieren. Nachdem heute Mittag ein Erpressungsversuch begann, fragt er sich, wie den Hintermännern dieses vermutlich organisierten Verbrechens der Garaus zu machen ist, bevor sie – wie angedroht – die erpresserische Videoaufnahme in das angeblich gehackte Intranet seiner Schule stellen werden.
Erich sitzt am Steuer und lässt den Tag Revue passieren. Dabei hat er seine Ruhe, zumindest vorläufig, denn eine wesentliche Gemeinsamkeit seines Kumpels und seines eigenen Sohns besteht darin, dass sich beide gerne wortkarg zeigen – auch wenn sie, anders als jetzt, gedanklich nicht gerade bei einer kniffligen Problemstellung sind. Betont pragmatisch führt Randy oft sowohl Unterhaltungen als auch eigene Schilderungen abrupt mit der Formulierung„der langen Rede kurzer Sinn“ zu einem vorschnellen Ende und Elias, der Random bewundert, hat diese kleine Unsitte kürzlich von diesem übernommen.
Als Psychologe und praktizierender Psychotherapeut hat Erich morgens eine Vorlesung an der Universität Zürich gehalten. Der Mittwoch bedeutet für ihn seit wenigen Monaten jeweils das Highlight der Woche, denn endlich darf der Mittvierziger seine Theorie über das Bewusstsein im akademischen Kreis vortragen, ohne jemals mit seiner Habilitationsschrift zu einem Ende gekommen zu sein. Die Vorlesung ist gut besucht, und er liebt es, anschließend ausgiebig mit interessierten Studierenden zu diskutieren. Ein paar von ihnen haben sich bereits Anregungen für Bachelor- und Masterarbeiten bei Erich geholt, und er sieht in seinen Gesprächspartnern – vielleicht zu optimistisch – Multiplikatoren bei der Verbreitung seiner Ideen.
Dennoch etwas in der Midlife-Crisis steckend – falls eine solche überhaupt mehr als ein Etikettenschwindel ist –, tummelt sich der verheiratete Vater neuerdings auf der gleichen Seitensprung-Datingplattform wie Random, um unverbindliche prickelnde Erotik-Dates mit gleichgesinnten Frauen zu genießen. Erich tritt auf der Plattform mit dem Nicknamen Jack Bauer auf und versucht damit, seine sportliche und initiative Seite durch die angebliche Ähnlichkeit mit dem Helden der amerikanischen Action-Fernsehserie 24 hervorzuheben. Die zehn Staffeln dieser Serie wurden bereits in den Nullerjahren ausgestrahlt, doch Erich und seine Freunde finden es kultig, sich ihre Nicknamen von dort zu leihen. Damit erreichen sie auch Frauen, die dasselbe tun. Ganz absprechen kann man Erich eine Ähnlichkeit mit diesem Jack (Kiefer Sutherland) nicht. Trotz unterdurchschnittlicher Körpergröße – etwa ein Meter siebzig – und mit halbwegs sportlicher Figur kommt er fast an Jack Bauer ran. In seinem Profil gibt Erich eine Körperlänge von 175 Zentimetern an. So viel maß er vielleicht im vorletzten Frühling, allerdings höchstens für zwei Stunden, nachdem er mit den Skiern in eine Gletscherspalte gefallen war und kopfüber ausharren musste, bis Random ihn rettete.
Erichs Haare sind weniger hell als die des Fernsehhelden – braun statt dunkelblond – und leicht gelockt statt glatt. Die Gesichtszüge wiederum passen einigermaßen, auch wenn Erichs Kinn weniger markant ist. Bisher ist er auf seiner Pirsch durch das Dickicht der scheinbaren Fülle an Seitensprungoptionen allerdings nicht über die Textkommunikation hinausgelangt. In diesem Moment denkt er gerade an die Dreißigjährige (auf dem Foto sehr hübsch), der er mittags – hastig ein Sandwich verschlingend – kurz, bündig und etwas zotig gemailt hat, in der Hoffnung, dass sich seine Favoritin auf ein Date mit ihm einlassen würde.
Erich handelte sich nämlich am Vorabend einen Korb ein, möglicherweise infolge seiner vielleicht fragwürdigen Standardbewerbung:
Lebensmitte erfolgreich Gemeisterter, charmant, initiativ, einfühlsam, gebildet, gepflegt, tageslichttauglich und fit wie ein Apfel sucht niveau- und humorvolle Sie mit Stil (30- bis 45-jährig) zum Anbeißen. Ist bei seiner Ausschau auf dein ansprechendes Profil gestoßen und – mit ersten Anzeichen von Appetit – neugierig geworden.
Jäger- und Sammlerinstinkt (fast) überwunden, regelmäßige Treffen mit ein und derselben Frau somit erwünscht, gemeinsame Wohltaten für Leib, Geist und Seele zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten möglich.
Sinnliche Grüße Jack Bauer
Umgehende Antwort:
Obwohl amüsiert-angetan von der Anfrage des freundlichen, unbekannten Herrn, muss ich ihm leider mitteilen, dass es sich beim Apfel der Gegenseite um einen biologischen handelt, wenngleich mit dem Vorteil, dass auch von der Schale bedenkenlos gekostet werden kann. Die Dame legt ferner – deutlich mehr als auf Äußeres – Wert auf ein gesundes, authentisches, feinsinniges Inneres eines Mannes und würde somit bevorzugen, das Konterfei desselben erst bei einer etwaigen Begegnung in natura zu betrachten – wozu es allerdings aufgrund unterschiedlicher Wertvorstellungen nicht kommen dürfte. Diese äußern sich auch darin, dass es mir persönlich nicht in den Sinn käme, alsDatingpseudonym einen Fernsehstar zu verwenden. (Diese amerikanische Fernsehserie ist mir flüchtig bekannt.)
Natürliche Grüße
Ab dem frühen Nachmittag sah Erich in der Praxis, die er zusammen mit seiner Frau führt, hintereinander fünf Patienten. Das klingt nicht nach viel, kann aber ziemlich nahrhaft sein, je nachdem, wer vorstellig wird. Heute fing es unbeschwert an, mit einer fünfzigjährigen Patientin, die in ihrer Ehe in eine Entwicklungskrise geraten ist, deren Mann aber Paartherapie ablehnt. Erich versteht die meisten seiner Patienten gut in ihren Verstrickungen, verborgenen Motiven und Sehnsüchten, bisweilen auch in ihren seelischen Abgründen, und er begreift oft, wie unvorteilhafte, manchmal absurde Realitätskonstruktionen zustande gekommen sind. Doch Verstehen ist eine Sache, Geduld eine andere. In diese erste Patientin von heute kann er sich nicht nur besonders gut einfühlen, weil er selbst in einer vergleichbaren Ehesituation steckt, er wird in Gesprächen mit ihr auch kaum je innerlich unruhig, da sie reflektiert ist und sich offen zeigt für konstruktive Veränderungen.
Der zweite Patient kostet jedes Mal ein bisschen Nerven: ein vergeistigter Germanistik-Doktorand, kaum jünger als Erich, der unter seinem eigenen Perfektionismus leidet, sich vordergründig sehr bescheiden gibt und an und für sich ein sympathischer Mensch ist. Er entwertet seine Mitmenschen, indem er sich moralisch über sie stellt oder bei anderen Männern vorschnell Angeberei zu identifizieren glaubt. Seit vielen Therapiestunden legt er beharrlich Widerstand an den Tag, wenn es darum geht, seine unbewusste Motivdynamik zu entdecken – oder zielt Herabsetzung des Gegenübers nicht auf einen ungeschickten Selbstaufwertungsversuch ab? Natürlich versucht er, auch Erich wiederholt zu entwerten, etwa mit der Behauptung, dass diese Therapie ihm nichts bringe, weil sie auf unzulänglichen Erkenntnismethoden beruhe. Ein Vorwurf, den kein Psychotherapeut gerne hört. Sei es, weil der Einwand den Heilungsprozess sabotieren kann, oder aber, weil er bei gewissen Vertretern dieser Zunft tatsächlich etwas antrifft …
Danach ist die depressive Patientin erschienen, deren suizidale Krise sich verschärft hatte und ein sorgfältiges Abwägen erforderte, ob sie in die Klinik müsse oder ob die Abmachung reichen würde, dass sie ihn bei einer weiteren Verschlechterung umgehend auf dem Handy kontaktiere – was eine Erreichbarkeit von Erich rund um die Uhr voraussetzt, versteht sich.
Gestorben war dann – nach überzogener Zeit dieser Therapiestunde – die ersehnte Kaffeepause, und Erich saß einem Patienten gegenüber, der seit einiger Zeit nicht Selbstmord-, sondern Mordgedanken hegte und neuerdings im Besitz einer Schusswaffe war. Erich hatte mit ihm kürzlich vereinbart, dass die Waffe entsorgt werden müsse. Könnte der Patient ihm heute nicht glaubhaft darlegen, wann, wo und wie die Pistole entsorgt worden sei – so Erichs Vorhaben –, würde er den Schutz des potenziellen Opfers über das Berufsgeheimnis stellen und die Polizei kontaktieren. Doch sein Patient legte ihm heute die Waffe provokativ auf den Beistelltisch mit der Bemerkung: „Bewahren Sie die Pistole doch hier auf. Wenn mein Chefmich noch mal vorführt, hole ich sie wieder ab.“ Der Therapeut nahm sie überrascht entgegen – ein klarer Fehler – und schloss sie im Aktenschrank ein.
In der letzten Stunde an diesem Mittwochnachmittag sah Erich eine junge Patientin mit Borderline-Persönlichkeitsstörung. Um ihre innere Anspannung zu reduzieren, schneidet sie sich regelmäßig in die Unterarme oder trinkt exzessiv und die oft wechselnden Liebesbeziehungen verlaufen dramatisch: In ihren intensiven Verschmelzungswünschen idealisiert sie den Mann jeweils zu Beginn einer Beziehung extrem, um kurz darauf an dem hohen Thron zu sägen, auf den sie ihn gesetzt hat. Meistens hat sie wohl narzisstische Männer, die sich besonders gerne schmeicheln lassen oder sich als Retter der kranken Partnerin sehen wollen. Regelmäßig fallen diese sehr plötzlich vom Thron (und sehr tief), indem sie von der Patientin völlig unerwartet massive Zurückweisung, oft auch Verachtung erfahren. Manchmal kippt die Stimmung wieder zurück, oft bedeutet der Sturz vom Thron aber das Ende der Beziehung. Damit beweist sich die junge Frau schmerzlich (der berühmte Freud’sche unbewusste Wiederholungszwang), was sie schon früh noch schmerzlicher erfahren musste: Männer sind Schweine – oder Versager. Ihr Vater hatte sie lange sexuell ausgebeutet und sie befindet sich bei Erich seit zwei Jahren in Folgetherapie, nachdem sein verbrecherischer Vorgänger das Gleiche mit ihr getan hatt wie der Vater. Auf ihrer Suche nach dem Mann, der sie ganz versteht und annimmt, tritt sie auch Erich gegenüber immer wieder verführerisch auf und kann mit Grenzen schlecht umgehen. Nach Stundenende fragte sie Erich heute noch im Türrahmen mit einem neckischen Lächeln, ob er auf Oralverkehr stehe.
Diese Patientin steht – nebenbei bemerkt – für den„Prototypen“ der an Borderline-Störung Erkrankten. Doch nicht jeder Betroffene schneidet sich oder hat ein Nähe-Distanz-Problem, und oft wird die tiefere Motivdynamik den Therapierenden erst verzögert oder zuweilen gar nicht augenscheinlich, etwa wenn eine uneinsichtige, aber manipulativ geschickte Patientin von ihrer eigentlichen Problematik ablenkt.
Jedenfalls war der Arbeitstag danach für Erich richtig bündig. Die Pistole wollte er nicht in der Praxis lassen – seine Frau hatte abends noch Patienten, und die Eingangstür zum Haus ließ sich deshalb nach dem Klingeln noch öffnen. Denn was würde geschehen, wenn der potenzielle Mörder heute nochmals aufkreuzte, um seine Waffe wieder abzuholen? Das Schloss des Aktenschranks ließe sich jedenfalls im Handumdrehen knacken.
Erich schaute nach dem knappen Führen der Krankengeschichten per Hand noch kurz im PC nach, ob auf der Dating-Site eine Antwort von der hübschen Dreißigjährigen eingegangen war – und musste zur Kenntnis nehmen: „Hi Jack, tut mir leid, aber das mit dem Date wird nichts. Hab’s mir noch mal überlegt. Der richtige Jack Bauer war mir eigentlich schon in den Nullerjahren zu alt, und du siehst auf dem Bild in deinem Profil nicht jünger aus. Wünsche dir auf dieser Plattform viel Glück mit deiner Actionheld-Nummer. Gruß, Hibiscus.“
Dafür hatte ihn zwischenzeitlich eine Frau angeschrieben, die laut ihrem Profil den gleichen Jahrgang hat wie seine Ehefrau: „Hello Mister Bauer, instead of being killed by the Russians after having great sex with you, I would prefer to make love a second, third, fourth time … Please show me your picture and write something about you. Then you will immediately get my own pic. Curious, Renee Walker.“ Das verblüffte Erich, denn normalerweise macht auf dieser Plattform nicht die Frau den ersten Schritt bei der Kontaktaufnahme. Die Dame mit dem Nicknamen Renee Walker spielte offensichtlich auf eine der selten angedeuteten Sexszenen in 24 an, bei der Jack Bauer nach vollendeten Heldentaten endlich mit seiner Geliebten Renee geschlafen hatte und sie unmittelbar danach von einem russischen Killer erschossen wurde. Erich beantwortete dann die E-Mail etwas ausführlicher, als er zunächst wollte – kam deswegen zu spät zum Badmintonspiel –, und schaltete sein Foto für diese Renee frei.
Random, Erich und Sohnemann Elias fahren jetzt auf der Überlandstraße, und hinter ihnen drängelt ein großer schwarzer Offroader, ohne Anstalten zum Überholen zu machen. Erich bemerkt ihn, ist aber gedanklich immer noch mit der Borderline-Patientin beschäftigt. Wie tragisch sind doch ihre Geschichte und ihr Wiederholungszwang bei der krankhaften Beziehungsgestaltung. Gleichzeitig erlebt er sie immer wieder als Vampir, denn die Sitzungen mit ihr sind extrem energieraubend. Und sie erinnert ihn an jene Frau, von der sich sein Freund Serafin – der Dritte im alten Männerbund und jungen WhatsApp-Grüppchen mit Random und Erich – seit vielen Jahren immer wieder unglücklich machen lässt. Wie oft hat sich Erich schon darüber aufgeregt (er pflegt mit Serafin seit der Schulzeit eine zuweilen innige Freundschaft), was dieser sich regelmäßig bieten lässt. Erich nennt diese unglückliche Liaison notorisch „langweilig“: Als Psychologe glaubt er, das vorhersehbar unglückliche Beziehungsmuster erkannt zu haben. Aber er spürt mehr als Langeweile – Ärger über diese Unbekannte (Erich hat sie in all den Jahren noch nie zu Gesicht bekommen, sondern nur vernommen, dass sie sehr feingliedrig sei und zerbrechlich aussehe) und Ärger über Serafin, der das ungesunde Spiel nicht durchschaut. Sehr wohl weiß Erich eben, dass Partner von Borderlinern zur meist unseligen Beziehungsgestaltung beitragen, und umso mehr widert es ihn beinahe an, wie tief (und lange!) sein Freund Serafin in diesem Nixenteich versunken ist. Serafin lernte nämlich seine Simona bereits 2005 auf der Datingplattform kennen – beide mit Nicknamen aus den damals aktuellen 24-Staffeln – und abgesehen davon, dass seine beiden Freunde klar sahen, dass ihm diese spezielle Frau nicht gut tat, hielten sie damals ein 24-Nicknamen-System für wenig originell und vielversprechend. Dass allerdings Erich eines Tages selbst einmal so etwas Unglückliches und „Langweiliges“ passieren könnte, hielt der Psychologe für ausgeschlossen. Wobei hier ausdrücklich vermerkt sein soll, dass er Borderlinerinnen nicht diskriminieren will und er sich dem vielseitigen Leidensdruck von Betroffenen klar bewusst ist.
Erich spürt, dass er immer noch etwas genervt ist. Die Badmintonmatches hatten ihn nicht wirklich runtergebracht. Außerdem ist er ein bisschen frustriert über die Tatsache, dass er verloren hat. Nicht nur gegen seinen Freund Randy – das ist keine Überraschung, denn dieser ist seit jeher eine Sportskanone und immer noch topfit –, sondern auch gegen seinen eigenen Sohn Elias, der heute erstmals mitgekommen ist. Und dann noch mal im Doppel mit Elias zusammen gegen Random alleine.
Der schwarze Riesen-Offroader klebt immer noch praktisch am Wagen – im Rückspiegel beträgt der Abstand für Erich gefühlte eineinhalb Meter. Das macht ihn immer gereizter. Was muss nur für ein gehetzter Idiot darinsitzen? Er zeigt ihm zweimal kurz die Bremslichter, was umgehend mit einem Lichthupenfeuerwerk beantwortet wird. Jetzt stellt Erich die Scheibenwischeranlage an, um die lästige Schleudertrauma-Bedrohung hinter sich wegzuspritzen. Doch statt dass sich der Abstand vergrößert, kommt jetzt vom Hintermann ein Hupkonzert.
„Was geht ab, Pa?“, fragt Elias.
„Wir werden von einem Drängler genötigt.“
„Na und, flippst du jetzt mal wieder aus?“
„Junge, der hirnlose Typ sitzt in einem drei Tonnen schweren Offroader. Wenn ich bremsen muss, sind wir platt.“
„Und der Psychologe glaubt jetzt, die Eskalationsspirale mit dem Scheibenwischer aufzulösen?“
„Elias, du bist altklug, und jetzt halt die Kiemen, diese Karre nervt schon genug.“
Erich mag es nicht, wenn ihn sein eigener Sohn mit Psychologenvokabular belehren will. Und dann sagt der genervte Psychologe etwas, für das er sich gleich die Zunge abbeißen könnte: „Wenn ich ein Gewehr hätte, würde ichden Typen sofort erschießen.“
Jetzt schaltet sich Random – von der Rücksitzbank aus nach vorne gebeugt – ins Gespräch ein: „Du hast doch eine Kanone.“
„Halt die Klappe, Randy!“
Hätte er doch Random nichts von der Pistole erzählt, die er aus der Praxis mitgenommen hat. Doch dieser lässt sich von niemandem etwas sagen, sondern schiebt nach: „Brauchst nur ins Handschuhfach zu greifen, wenn du Eier hast.“
„Wie, du hast hier eine …?“ Elias beendet den Satz nicht, sondern öffnet das Handschuhfach und kurzentschlossen auch das Schiebedach. Das ist seine Gelegenheit, dem Haudegen Random, den er bewundert, zu imponieren. Er steht mit der Pistole auf, dreht sich um, stützt sich mit den Ellbogen aufs Autodach und zielt im Halbdunkeln auf die Fahrerseite des Offroaders.
„Elias!“, schreit Erich. Doch dieser zielt unbeirrt weiter, auch nachdem der Hintermann Dutzende Meter auf Abstand gegangen ist (was allerdings blitzschnell geschah), um sich danach – verkehrt rum auf dem Beifahrersitz kauernd – mit einem triumphierenden Lächeln Randy zuzuwenden. Random ist nicht leicht zu verblüffen, aber das ringt ihm jetzt ein Kompliment ab: Mit brachialem Handgriff drückt er Elias die Schulter und lässt, nach kurzem Blickkontakt über den Rückspiegel mit Erich, mit sonorer Stimme verlauten: „Cooler Mann. Endlich mal einer in eurer Familie, der Konflikte pragmatisch löst!“
Dann schaut er Elias in die Augen – einen glasklaren Blick hat Random, wie meistens. „Und jetzt gib mir die Kanone, dein Vater hat nämlich ein Problem mit dem Ding.“
Erich schweigt. Eigentlich passt das Verhalten von Elias zu Erichs unkonventioneller Anschauung über das Bewusstsein. Aber deswegen ist er nicht weniger besorgt darüber, wie sich sein Sohn im letzten Jahr entwickelt hat. Und er möchte ihn jetzt mit seinem Benehmen konfrontieren. Doch Erich spürt, dass er im Moment zu wütend ist, um angemessen zu reagieren. Außerdem soll Randy bei der anstehenden Konfrontation nicht dabei sein.
Random will noch in die Kneipe mit den beiden, Erich lehnt ab und befiehlt Elias: „Du bleibst sitzen, wir fahren nach Hause und reden unter vier Augen miteinander!“
Es kommt zu einer kurzen Diskussion zwischen den dreien, Erich pocht auf seinen Status als Erziehungsberechtigter – setzt sich allerdings erst durch, als er laut wird – und fährt mit Elias nach Hause. An den Verbleib der Waffe denkt er nicht mehr, als Random damit aussteigt.
Randy sitzt an der Bar und bestellt alle zehn Minuten ein Bier. Um 22.51 Uhr tritt er den Fußmarsch nach Hause an. Der Countdown läuft weiter: Zwei Nächte und ein Tag bleiben ihm, um nach seinem überhasteten Sinkflug in ein ziemlich finsteres Tal erotischer Internetbekanntschaften den Absturz zu verhindern. In der Aviatik ein großer Zeitraum, in seinem Fall eher die Zeitspanne eines Wimpernschlags. Denn wie soll ausgerechnet er, der kaum einen Tausender auf der hohen Kante halten kann, bis übermorgen früh die verlangten dreißigtausend Franken auftreiben? Möglicherweise ohnehin nur die erste Anzahlung in einer Erpressungsspirale. Besser gesagt, oder noch besser gefragt: Wie kann er seine Erpresserin enttarnen und den Spieß umdrehen? Erwürgen möchte er sie und falls – wie Random vermutet – Hintermänner existieren, einem nach dem anderen eigenhändig das Genick brechen. (Random weiß, wie man das anstellt.) Doch das Einzige, was er über seine Widersacher weiß, ist, wie seine „Gespielin“ aussieht. Mittags hatte er letztmals per Skype mit ihr Kontakt, und dabei hielt sie ihm plötzlich ein Blatt Papier vor die Kamera: Seine verschiedenen E-Mail-Adressen waren aufgelistet – er hatte aber nur über eine mit ihr kommuniziert – und der Link zur Website der Schule, an der Random unterrichtet. Ferner die Aufforderung, sofort in seine Mailbox zu schauen. Das tat er und fand das Erpresserschreiben in seinen jeweiligen Posteingängen. Und dabei hatte er die Situation vielleicht realistisch eingeschätzt: Es scheint nicht unwahrscheinlich, dass die Erpresser in der Lage sind, das Intranet seines Arbeitsplatzes zu hacken.
Ein paar Schritte weiter auf dem Heimweg versucht sich Random einzureden, dass die verfänglichen Videoaufzeichnungen gar nicht schlimm seien. Schließlich leben wir in einem pornografischen Zeitalter, und vielleicht drei Viertel aller Männer konsumieren Internetpornografie. Dann sollen die Leute halt sehen, wie er sich einen von der Palme wedelt – so what?
Allerdings sieht Random seinen drohenden Absturz bald wieder ein, trotz der gar schnell hinuntergestürzten zwei Liter Bier: Zwar kennt er kaum Schamgefühle – auch in ganz nüchternem Zustand nicht –, aber er kann sich an fünf Fingern abzählen, wie Schulleitung und Aufsichtsrat des Gymnasiums reagieren würden. Seine Schützlinge behandelt er stets anständig (vor Kindern und Jugendlichen hat Random sehr viel mehr Achtung als vor Erwachsenen), doch im Kollegium gibt er nicht nur sexistische, sondern auch sexualisierte Sprüche zum Besten. Erst kürzlich hat er im Lehrerzimmer eine Kollegin, die Englisch unterrichtet, als „overminded and underfucked“ bezeichnet – nachdem diese in der Zehn-Uhr-Pause etwas ausführlich über Shakespeare gesprochen hatte und nicht gleich auf Randoms Frage „Der langen Rede kurzer Sinn?“ eingegangen war.
Das damalige Nachspiel seiner abschätzigen Bemerkung war, dass er bei einem Gremium vorstellig werden musste, das sich zusammengesetzt hatte aus Vertretern von Aufsichtsrat, Schulleitung und einer schulinternen Arbeitsgruppe zu Genderfragen. Er erhielt eine schriftliche Verwarnung. Die letzte Verwarnung, denn selbst ein unbefristetes Beamtenverhältnis ist nicht erst kündbar, wenn einer Amok läuft. Die zweitletzte bekam Random, nachdem er eine Mathematiklehrerin unaufgefordert darauf hingewiesen hatte, dass er nicht auf Achselhaare stehe und dass ein solch „retrosexueller“ Look statistisch signifikant mit einer anachronistischen Schamhaarfrisur zusammenhänge.
Der potenzielle Verlust seiner Arbeitsstelle erscheint nun dem Alleinstehenden so fatal wie einem Familienvater, denn er ist völlig besessen von Geld und schon jahrelang mit überaus unproduktiven Gedanken beschäftigt, wie er mit möglichst geringem Aufwand viel mehr verdienen könnte. „Kohle gleich Energie“, pflegt er zu sagen, und er ist fast überzeugt, dass ein hoher Quotient von Geld zu Arbeit ihn vollkommen glücklich machen würde. Denn Random liebt es nicht nur, Geld zu besitzen und auszugeben, noch wichtiger ist dem Teilzeitarbeitenden sehr viel aktive Freizeit, in der er meist intensiv Sport betreibt. Stets auf weitaus höherem Niveau als alle gleichaltrigen Freunde – trotz Rauchen, übermäßiger Tendenz, den Durst mit Gerstensaft zu löschen und häufig illegale Substanzen zu konsumieren. Außerdem steckt er in Schwierigkeiten wegen – in von Rauch komplett vernebelten Rotlichtbezirk-Hinterzimmern – entstandener Spielschulden. Random hat einen unstillbaren Erlebnishunger!
Randy stuft sich auch nicht als ganz alleinstehend ein. Eine Lebenspartnerin oder einen Lebenspartner hat er zwar nicht – dafür unzählige sexuelle Abenteuer mit jeweils ihm fast oder ganz unbekannten Frauen. (Zur Abwechslung darf es zwischendurch auch mal ein Mann sein.) Kinder hat Random ebenfalls nicht. Er wollte nie welche, denn er spürte früh instinktiv, dass sie ihn zu sehr an die eigene schreckliche Kindheit erinnern könnten, und er sieht seine Erziehungsaufgabe darin, sich gut um seine jugendlichen Schüler zu kümmern. Aber einen geliebten Zwillingsbruder hat er, schwer verwahrlost, polytoxikoman (er gibt sich so ziemlich alles von Heroin bis Flunis) und auf Randoms regelmäßige Unterstützung angewiesen.
Zu Hause angekommen, legt sich Random gleich aufs Bett. Ohne Zähneputzen und noch in den Kleidern steckend. Für heute hat er genug an seinem Problem herumgegrübelt. Soll ihm doch die Lösung im Traum erscheinen – wie einst Kekulé der Benzolring. Denkt er sich und schläft kurz danach ein.
Auch Erich verschiebt heute Abend, was ihm unangenehm ist: ein ernstes Vater-Sohn-Gespräch. Seiner Frau Brigitte mag er im Moment nichts von dem Vorfall auf der Überlandstraße erzählen. Sie soll sich nicht noch mehr Sorgen machen wegen Elias, als sie es in der letzten Zeit ohnehin schon tut. Zumindest nicht heute Abend, so kurz vor dem Zubettgehen. Vielleicht schiebt Erich die beiden Gespräche auch hinaus, weil er unter einem Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts-Syndrom leidet. Sein ADHS hat sich in der Jugendzeit nicht ausgewachsen. Als er ein Jugendlicher war, hieß dieses noch POS und die Fachleute gingen davon aus, dass es beim Übergang ins Erwachsenenalter verschwinden würde. Allerdings hat sich die Aufmerksamkeit gegenüber früher ein bisschen gebessert. Er selbst bezeichnet sein ADHS als „sehr moderat ausgeprägt“. Seine unmittelbare Umgebung erlebt das etwas anders. Zumindest Brigitte entgeht nicht, dass ihr Mann sich immer wieder verzettelt mit seinen vielen Projekten, und sie leidet oft unter seiner Ungeduld. Auch wird sie immer wieder in Mitleidenschaft gezogen von Erichs symptomatischer Tendenz zur Prokrastination (unangenehme Aufgaben hinauszuschieben).
Im Anschluss an das späte Abendessen setzt sich Erich in seinem Arbeitszimmer zu Hause an den PC, um nachzuschauen, ob sich nach der bedauerlichen Absage der jungen Favoritin auf der Dating-Site nun jene Frau nochmals gemeldet hat, deren englische Nachricht er am frühen Abend in der Praxis gelesen hatte, und die mit „Curious, Renee Walker“ endete. Kann sein, dass seine eigene Neugier der eigentliche Grund ist, weshalb er vor dem Essen beschlossen hat, kein familiäres Gespräch anzufangen, das länger dauern könnte.
Ein Klick auf sein Postfach des Onlineportals und Erich findet drei Nachrichten vor. Zunächst: „Hallo, ich bin neu hier und würde gerne etwas über dich erfahren.“ – ein Standardsätzchen, das die Datingagentur im Namen von unwissenden Abonnentinnen an Männer verschickt, um diese zum Schreiben zu ermutigen. Zack, gelöscht. Die zweite Mitteilung bezieht sich auf eine frühere Nachricht von Erich an eine Unbekannte, deren Angaben im Profil ihn angesprochen haben. Aber Fehlanzeige: „Wer bist du uberhaupt mit deine Werbung??? Sicher ein Faki. Lasse mich nicht veaäschen!!!“ Ein bisschen irritiert über die Unterstellung einer gefakten Identität ist Erich für einen Augenblick schon. Dann ist er einen Moment lang geneigt, der Dame zu schreiben, dass dies keine indische Plattform sei und sie deshalb hier kaum einen Fakir finden werde. Dann drückt er aber die Delete-Taste, ohne geantwortet zu haben.
