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Ein Ausflug in das schicksalhafte Jahr 1990: Der Taumel der großen und kleinen Veränderungen erfasst auch Josephine, die aus ihrem geordneten, aber höchst unglücklichen Alltag ausbricht. Auf dem Weg in ihre Selbstfindung zieht die junge Frau in die Siedlung, eine Ansammlung von Behelfsheimen aus der Nachkriegszeit mit allerlei skurrilen, aber liebenswerten Nachbarn. Ohne es zu ahnen, wohnt sie plötzlich Wand an Wand mit einem verurteilten Sträfling, der frisch aus dem Gefängnis zurückkehrt, wo er zehn Jahre wegen Totschlags und Vergewaltigung zugebracht hat. In der jungen Frau ›aus gutem Haus‹ bewirkt die Nähe des durchaus sympathischen Mannes ein Chaos, das sich erst langsam auflöst. Eine wichtige Rolle spielt die ›Kriminalwitwe‹ Gertrud, ihr guter Geist, die von einer alten Freundin das Gasthaus Männertreu erbt. Das urige Gebäude mit seinen geheimnisvollen Schnitzereien mitten im tiefverschneiten Oberharzer Tannenwald übt eine ungeahnte Faszination auf Josephine aus. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Ist auch der neue Fall einer brutalen Vergewaltigung in der Neujahrsnacht Josephines Nachbarn anzulasten? Und wie könnte die Lösung von Josephines vielschichtigen Problemen aussehen? Eins ist sicher, sie begreift, dass Männertreue Gutes wie Schlechtes bewirken kann.
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Seitenzahl: 271
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Andrea Illgen
HARZKRIMI
Gasthaus Männertreu
ISBN 978-3-96901-052-5
ePub Edition
V1.0 (08/2022)
© 2022 by Andrea Illgen
Abbildungsnachweise:
Umschlag © agaes8080 | #89309364 | depositphotos.com
Porträt des Autors © Ania Schulz | as-fotografie.com
Lektorat:
Sascha Exner
Verlag:
EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH
Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland
Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21
Web: harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Mit allem Nachdruck widme ich diese Geschichte Gertrud K., die mir in einer entscheidenden Phase meines Lebens unermüdlich mit ihren Ratschlägen weiterhalf. Sie soll in Frieden ruhen.
Titelseite
Impressum
Der Mörder erscheint am Bildrand
Der Ex-Sträfling
Geldverdienen ist nicht so einfach
Heimgekehrt
Die Tochter der Kriminalwitwe
Josephine trifft den Mörder
Wie es früher war
Laurie
Ausflug zum Opernchor
Josephine streckt die Hand aus
Queenie schaut vorbei
Und nochmal nach Irland
Die Kripo spricht vor
Ein Polizist
Vano langt zu
Die Nacht des Sturms
Lord Winterbottom
Die Zeugenaussage
Bald ist Weihnachten
Glühwein zu zweit
Das Armband
Der Plan reift
Ein durchnässter Besucher
Die Fahrt nach Buntenbock
Gasthaus Männertreu
Klarschiff
Sternschnuppen
Jahreswechsel
Die ersten Stunden im Neuen Jahr
Noch keine Festnahme
Niemand mag Sexualstraftäter
Versöhnliches
Bischoff gegen Wellbrok
Die Verantwortung der Kriminalwitwe
Drei Fälle
Josephine wird tätig
Auch die Witwe greift ein
Besuch vom Amt
Der Inhalt eines Holzkästchens
Helligkeit am Horizont
Bischoff und Wellbrok noch einmal
Der nennenswerte Vater
Der mühsame Weg zur Rehabilitation
Frühstück bei der Kriminalwitwe
Eine Gästeliste
Finale furioso und noch eine Sturmnacht
Das Tangocafé
Ein paar Worte zum Schluss
Über die Autorin
Mehr von Andrea Illgen
Eine kleine Bitte
TEIL I
1990: Die Siedlung
Josephine ließ sich auf den papierbeklebten Hocker fallen. Sie hatte keine Lust zu diesem Mist. Arme, Rücken und Hände schmerzten, sie mochte den Geruch der Farbe nicht, und überhaupt ‒ die Sache würde, so wie es aussah, nie enden.
Eine Frau tauchte im Türrahmen auf. »Na, wie kommen Sie denn voran?«
Josephine stand auf. »Mir tut alles weh.« Sie bemühte sich, ihre Schmerzen im Kreuz zu verdrängen, verlängertes Stöhnen nützte ja nichts. »Nett, dass Sie vorbeischauen und an meinem Elend teilnehmen.«
»Ich hab Kaffee mitgebracht. Und Kuchen.« Die Besucherin war die Kriminalwitwe. Diesen Titel hatten ihr die Leute aus der Siedlung verpasst, denn ihr Mann, ein Kriminalobermeister, hatte ihr eine kleine Pension und das Häuschen in der Siedlung hinterlassen. Jetzt pellte sie zwei Scheiben goldgelben Topfkuchen aus der Alufolie. »Fragen Sie doch Addi, der kann gut malern.«
»Wer ist Addi?«
»Na ja, der da hinten, bei der Frau Thiel da. Die ist mit dem zusammen.«
»Der müsste doch sicher Geld dafür kriegen.«
»Aber nicht so viel.« Die Kriminalwitwe lachte vergnügt. Sie war immer vergnügt, selbst ein paar Tage nach der Hüftoperation, als sie für ihre depressiven Zimmergenossinnen mit einem Besen als Tanzpartner einen Tango aufs Parkett legte. Silvester auf Station 4 im Krankenhaus. Depression? Nicht mit ihr.
»Wer wohnt eigentlich in diesem Holzhaus hier direkt hinter meiner Schlafzimmerwand?«
»Das ist der Mörder. Aber keine Angst, der sitzt noch.«
»Ehrlich? Ein Mörder?« Mutter hatte Recht, dachte sie, ich habe einen Vogel, in diese Siedlung zu ziehen.
»Er soll eine Frau vergewaltigt haben.«
»Ich denke, er ist ein Mörder?«
»Ja, gemordet hat er wohl auch. Aber man weiß es nicht.« Die Kriminalwitwe zog ein gebügeltes Taschentuch aus der Schürze und wischte sich sorgfältig Finger und Mund ab. »Aber wie gesagt, der sitzt noch lange. Na, hat er Ihnen geschmeckt, der Kuchen? Hatte Aldi im Angebot. Für die Enkel. Ellen hat morgen Mathearbeit, da braucht sie was fürs Gehirnschmalz. Dann will ich mal wieder. Fragen Sie ruhig den Addi. Da hinten, das letzte Haus rechts, bei Frau Thiel.«
Josephines Siedlung, wie sie von der ganzen Stadt genannt wurde, war vor rund 45 Jahren nach dem Krieg gebaut worden, als die Leute ausgebombt waren und kein Geld hatten. Ein paar parallele Wege waren so entstanden. Abgehend von der Straße in feuchtes Gelände lagen sie heute nahe der Autobahn und einer Starkstromtrasse. Rechts und links der Wege wuchsen dann diese sogenannten Behelfsheime aus dem Boden. Die Bauten gehörten den Bewohnern, während sie für das Land eine gewisse Pacht an den Eigentümer zahlten. Ursprünglich gerodetes Gelände war mittlerweile wieder zugewachsen, sodass die Siedlung aus dichtem Baumbewuchs bestand, durchsetzt von Häuschen, Hütten und selbst kleinen schicken Bungalows, je nach Temperament, Geschick und Geldbeutel der unangepassten Bewohner.
Addi strich dann Josephines gesamtes Haus von innen, schweigsam, schwarz und hochgewachsen. Er reparierte Fensterflügel, trug eine neue Schicht Bitumen auf dem Dach auf und montierte einen Riegel an die Haustür.
»Brauchen Sie hier nicht. Solange Sie hier wohnen, keine Angst, da passiert nichts.«
Was meint er damit? Wenn ich nicht mehr hier wohne, werde ich im Schlaf erdolcht? Überfallen, vergewaltigt, das Haus wird angezündet? Und wie macht man das ‒ hier nicht zu wohnen, aber dennoch zu Schaden zu kommen? Dann schloss sie diesen Gedankengang, er führte nur in den Unsinn.
Addi, der am Ende jedes Tages darauf bestand, sofort bar bezahlt zu werden, hatte etwas Anziehendes. Josephine, seit mehreren Monaten in Keuschheit, fühlte die Attraktion. Als sie ihn am vierten Tag wohl einmal zu lange angestarrt hatte, kam er mit drei schnellen Schritten auf sie zu.
»Nein.« Sie wich aus und rannte davon.
Wer weiß, dachte sie, wenn ich das jetzt anfange, ob ich ihn je wieder loswerde. Vorsicht bei der Auswahl ‒ einer der unschätzbaren Ratschläge der Kriminalwitwe. Gut, dass sie ihn in diesem Fall beherzigte. Addi war wider Erwarten mit der 20 Jahre älteren Frau Thiel liiert, und Frau Thiel ließ sich nichts wegnehmen.
Der Nachbar nach Süden war ein alter Mann mit Schirmmütze, vielen Lachfalten, einem nicht unbeträchtlichen Bauch und einem großen schwarz-braunen Schäferhund. Nachdem Josephine an drei aufeinander folgenden Wochenenden drei verschiedene Frauen beobachtet hatte, die Wäsche aufhängten, die Terrasse fegten und Teppiche ausklopften, fasste sie sich ein Herz, ging zum Zaun und fragte ihn.
»Ich gebe Anzeigen auf, weil ich eine Frau suche.« Jetzt sah sie seine listigen Augen über den Bartstoppeln, den abwartenden Gesichtsausdruck. Er sagte: »Komm mir nicht zu nah. Und wer bist du eigentlich?«
»Haben sich viele gemeldet?«
»Ja, mächtig.«
»Und jetzt kommt jedes Wochenende eine andere?«
»Ja.« Er zog eine Pfeife aus der Tasche seiner sehr sauberen grünen Latzhose mit Bügelfalten. »Sie zeigen, was sie können.«
Für einen Moment war Josephine sprachlos. Wie konnte man sich auf so eine Dreistigkeit einlassen?
»Mein Häuschen ist viel wert. Sie wollen es erben.«
Aha, diese Überlegung war nachvollziehbar.
Nachdem Addi die letzte Schraube festgezogen hatte und ihre Habseligkeiten zufriedenstellend über die Zimmer verteilt waren, setzte Josephine sich an ihr Klavier und spielte Schumann. Wer sonst könnte diese Mischung aus Sehnsucht und Glück wohl besser ausdrücken als er. Sehnsucht nach dem großen erfüllten Leben, was immer das sein mochte, im perfekten Glück einer romantischen Gegenwart. Nein, dachte sie, als sie später den Klavierdeckel zuklappte. Das war etwas zu morbide, ich will hier leben und Dinge verstehen lernen, ich will nicht still vergehen.
Denn endlich war sie allein, ohne Wohngemeinschaftsgenossen, ohne Treppenreinigung jede zweite Woche, ohne Musik im Nebenzimmer, die ihr Nasenbluten verursachte, und ohne die stetig wechselnden Bettgenossinnen ihrer Mitbewohner beim Samstagmorgenfrühstück, die als Erstes den kostbaren, genauest zuzumessenden Fleischsalat wegfraßen.
Als hinter Klaus Wolf die letzte Tür der Justizvollzugsanstalt zufiel, sah er weiter rechts auf einem Parkplatz den roten Pick-up seines Bruders Udo stehen. Der hatte sich an die Beifahrertür gelehnt und erwartete ihn.
Klaus zog die Augenbrauen zusammen. »Was willst du denn hier?«
»Ich dachte mir schon, dass du nicht scharf darauf bist, mich zu sehen. Aber irgendwer musste dich doch abholen.«
»Aber nicht du.«
Klaus ging weiter, sein Bruder sah hinter ihm her. Er schien im Knast noch dunkler geworden zu sein. Die dichten schwarzen Brauen, die tiefen Augenhöhlen, das unrasierte Kinn mit den schwarzen Bartstoppeln und die Menge fast blauschwarzer Haare auf dem Kopf. Dazu die dunkle Lederkleidung ‒ irgendwie aus der Art geschlagen, der Junge. Ihre Eltern waren blond, er war blond. Ein Kuckucksei, so viel war sicher.
So plötzlich der Gedanke auftauchte, so schnell war er auch wieder verschwunden. Er musste unbedingt mit Klaus sprechen. Einige Male hatte er versucht, ihn zu besuchen, jedesmal hatte der abgelehnt. Solange er saß, war das ja alles verständlich, wahrscheinlich schämte er sich. Aber auch wenigstens hundert Mal hatte Udos Frau ihm verboten, hinzugehen. »Er hat ein Mädchen ermordet, reicht dir das nicht?« Und dass er ihr nachgegeben hatte ... Na ja, eine friedliche Wohnung war ja schließlich eine Menge wert. Aber jetzt war doch alles wieder in Ordnung, zum Teufel. Schwamm drüber, oder?
Schnell stieg er ins Auto und fuhr im Schritttempo neben seinem Bruder her, der mit langen weichen Schritten die Bushaltestelle ansteuerte. »Sei kein Idiot, ich bringe dich wenigstens zum Troll, da hast du doch sicher dein Moped stehen.«
»Nein danke. Und jetzt verpiss dich.«
Udo überholte seinen Bruder und zog dann mit einer abrupten Bewegung nach rechts auf den Bürgersteig, so dass er ihm den Weg abschnitt. Er sprang aus dem Auto, stellte sich vor Klaus und packte ihn am Kragen der schwarzen Lederjacke.
»Hör mal, du Hornochse, steig jetzt ein und sei nicht so stur. Lass mich dich wenigstens zu deinem Dings fahren. Von da aus kannst du machen, was du willst. Ich lasse dich in Ruhe, ich verspreche es.«
Klaus stieg ein, war aber nicht dazu zu bewegen, sich anzuschnallen. Er sagte kein Wort, und auch Udo schwieg. Vor dem großen Wellblechtor der Troll-Motorradwerkstatt stieg er aus und ging hinein, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Josephine hatte vor ein paar Monaten ihre Lehrerstelle im Status der vereidigten Beamtin gekündigt. Nach einem missglückten Selbstmordversuch schließlich ‒ natürlich missglückt, denn sie wollte eigentlich gar nicht sterben ‒ war ihr die Anzeige aufgefallen: Gartenhaus mit Wohnrecht zu verkaufen.
Frau Przinsky, die Kriminalwitwe, hatte die Annonce für das Haus einer Bekannten aufgegeben, die im Sterben lag und das Geld für ihre Erben wollte. Was anderes kann ich ihnen doch gar nicht hinterlassen.
Josephine kaufte das Haus. Bruder und Vater bauten bereitwillig Fensterläden, während sie aus dem kleinen verwilderten Stück Land, das dazugehörte, versuchte, einen Garten zu zaubern. Sie fand in all dem Unkraut und sprießenden Gras ein paar schöne Rhododendronbüsche, eine kleine Blautanne und mehrere Stauden, die nichts als Luft und ein bisschen Dünger brauchten, um in aller Pracht zu erblühen.
Sie ließ sich nicht davon abschrecken, dass es an dem miesesten der vier Wege lag. Die Häuser hier waren durchweg mit allem gebaut, was nach den Bombardierungen und dem Elend der Nachkriegsjahre zu finden gewesen war, zur Not wurde selbst auf Sofateile zurückgegriffen. Jeder neue Bewohner hatte bei der Inbesitznahme ein Stück angebaut, und so waren die merkwürdigsten Grundrisse entstanden. Denn der Veranda wurde eine weitere verpasst, und das Bad durch eine Speisekammer ergänzt.
Entsprechend bestand die Einwohnerschaft dieses Siedlungsbereiches aus ausgeprägten Individuen: unangepasst, Autoritäten gegenüber misstrauisch bis ablehnend, teils kriminell, alkoholgetränkt, unordentlich, trotzig und weitgehend in Armut lebend. Die Unterhaltung bestand oft in Scharmützeln, an die sich am nächsten Morgen niemand erinnerte oder erinnern wollte.
Auf der anderen Seite des Weges, Josephine gegenüber, wohnte das Ehepaar Wagner. »Das ist ein Suffkopp«, sagte die Kriminalwitwe. »Er schlägt seine Frau und ist die meiste Zeit betrunken. Manchmal wird er aber auch von ihr verprügelt. Es kommt auch vor, dass er morgens irgendwo im Graben gefunden und von den Leuten heimgetragen wird.«
Renate Wagner, eine vierschrötige Frau mit wenigen Haaren, in deren rundem Gesicht die Augen wie zwei Schlitze über den ausgeprägten Tränensäcken saßen, hielt die Bahnhofstoiletten der Stadt sauber. Sie erhöhte ihren Lohn, indem sie reichlich Reinigungsmittel mitgehen ließ. Sie hatten ein Pflegekind aufgenommen, den kleinen Ulli.
Ihr Mann war einen Kopf kleiner als sie und ging mit lang hängenden Armen und krummem Rücken. Später erfuhr Josephine, dass er jahrelang Zentnersäcke voll Koks in die Häuser gebuckelt hatte. Nicht lange nach ihrem Einzug sah sie, wie er den Pflegesohn am Hals gepackt hatte, und überlegte, ob sie einschreiten sollte. Als aber seine Frau aus dem Haus kam und einen Besen schwang, ließ er ihn los. Am nächsten Morgen hing ein Kaninchen am Schuppen; Karl-Heinz Wagner hatte seine Wut auf die Welt und das Dasein anderweitig ausgelassen.
Am nächsten Parallelweg waren die Häuser ebenso klein und niedrig, aber ordentlicher instandgehalten. Schöne Dächer gab es, Gartenzwerge, einen Brunnen, gemähte Rasenflächen, Türklingeln, einen gemauerten Außengrill und einen Jägerzaun. Hier wohnte die Kriminalwitwe mit einem kiesbestreuten kleinen Hof, Sonnenschirm, Gartensesseln und einem Schuppen für ihr Fahrrad. Die Freundschaft zu Josephine, die durch den Kauf begonnen hatte, setzte sich in gemeinsam verbrachten apfelkornseligen Abenden fort, an denen sie viel über das Leben der Leute um sich herum lernte.
»Unsere Häuser waren Behelfsheime, die nach dem Krieg gebaut und geduldet wurden, weil die Leute ausgebombt und heimatlos waren. Jetzt sind wir wieder alle in Gefahr, denn für keins unserer Häuschen ist je eine Baugenehmigung beantragt oder ausgestellt worden. Auf ewig werden wir hier nicht wohnen können.«
Aha, dachte Josephine, also wird eines Tages mein Geld weg sein. »War denn schon mal jemand hier? Vom Bauamt?«
»Nein. Aber wir müssen damit rechnen. Noch nicht, keine Angst. Wollen Sie heute Nacht hier schlafen?«
Und Josephine bekam ein Bett auf dem Sofa gemacht, so liebevoll und fürsorglich aus Decken und Kissen, wie sie es zu Hause nie erlebt hatte. Oder wahrgenommen hatte. Natürlich hätte sie das kurze Stück durch den Wald zu ihrem Häuschen gehen können, aber dies war so viel schöner ...
Josephine brauchte Geld. Nachdem der größte Teil ihrer Ersparnisse aus den Zeiten des Schuldienstes für den Hauskauf draufgegangen war, hatte Addi für seine Malerdienste praktisch den vollen Rest eingestrichen.
»Geben Sie doch Unterricht«, war der Rat der Kriminalwitwe.
Josephine fühlte eine Welle von Übelkeit über sich wegrollen. Genau damit, mit dem Unterrichten, hatte sie gerade aufgehört, weil sie jeden Morgen Magenschmerzen gehabt hatte.
Sie fasste ihre Gefühle vorsichtig zusammen: »Nicht so gern.«
»Nicht wieder in der Schule. Privatunterricht. Sie können sich Ihre Schüler aussuchen. Und fragen Sie den Pastor. In der Kirche hier. Der kennt vielleicht Leute.«
Das Wort Privatschüler machte es nicht besser. Sie musste an die beiden Blockflötenkinder denken, damals, als sie gerade ein Teenager geworden war, die einfach nicht begreifen wollten, wie leicht es war, aus dem Stück Holz Melodien herauszuholen. Andererseits ‒ irgendwie musste Geld her.
Zwei Meldungen gab es auf ihre Zeitungsanzeige fast umgehend. »Unterrichten Sie auch hier bei uns zu Hause?«
Superidee. »Wenn’s nicht zu weit weg ist.«
Bei Aldi kam eine energische Frau mit Diakonissenfrisur auf Josephine zu. Ein leichter Sprachfehler. »Sind Sie nicht die Frau, die Blockflötenunterricht geben will?« Sie hatte eine 7-jährige Tochter, für deren späteres Leben im Wohlklang klassischer Musik der Grundstein gelegt werden sollte in Form von Blockflötenunterricht. »Und ich kenne mehrere Familien mit Kindern, die sicher gern mitmachen würden.«
So zimmerte sich Josephine ein kleines Imperium von Blockflötenkursen, die ihre finanzielle Situation erheblich verbesserten. Sie nahm ihre Gesangsstunden wieder auf.
Ihre Mutter hatte die zündende Idee. »Du könntest doch im professionellen Opernchor singen, die bekommen ein Gehalt.« Das Verhältnis zu ihren Eltern hatte sich entscheidend verbessert. Oft kamen sie am Wochenende und wohnten bei ihr. Das Doppelbett hatte die Kriminalwitwe organisiert.
Und dann kam ein Anruf von Gertrud Przinsky. »Haben Sie schon gehört? Klaus Wolf kommt nach Hause.«
»Wer?«
»Na, da, der da neben Ihnen wohnt, der Klaus.«
»Der Mörder?« Oh Gott, dachte Josephine, musste sie jetzt Angst haben? Er wohnte schließlich fast Wand an Wand mit ihr. Bestenfalls ein Meter lag zwischen seinem und ihrem Häuschen. Schließlich hatte sich damals niemand um Abstände gekümmert. Wenn sie jetzt sein nächstes Opfer war?
Mit Hilfe der Witwe zog sie einen Sichtzaun aus Strohmatten zwischen ihrer kleinen Terrasse und dem Grundstück des Mörders.
Und nach ein paar Tagen hörte sie zum ersten Mal Geräusche aus dem Nachbarhaus.
Eine Art Sensationslust wuchs in Josephine. Die völlig ungewohnte Nähe des Verbrechens, die schaurige Gewissheit, mit einem echten Mörder Tür an Tür zu wohnen. Das Bewusstsein einer latenten Gefahr verbunden mit einer merkwürdigen Romantik. Ging es ihr wie dem Burgfräulein? Allein, schutzlos dem Unhold ausgeliefert, der aber vielleicht in Wirklichkeit ein Ritter war, für sie streitend, wenn sie sich ihm nur richtig unterordnete? Schrieben deshalb Frauen Liebesbriefe an Gefängnisinsassen, je schlimmer die Tat, desto mehr Zuschriften? Verwechselte sie etwa Mord oder Vergewaltigung mit Raubrittertum, mit dem strahlenden kühnen Räuberhauptmann, der sie hoch zu Ross aus dem engen, restriktiven Elternhaus befreite? Bestand die Attraktion etwa in dem ruchlosen Übertreten von substanziellen Gesetzen der Menschlichkeit? Was nur beweisen soll, wie stark der verwegene Herausforderer ist? Also die alte Sache, dass Frauen im Rudel sich an den Stärksten hängen, damit die eigene Nachkommenschaft stark wird, egal, wie der seine Stärke zeigt? Wie unwürdig.
Am nächsten Morgen stand sie seitlich neben dem Fenster des dunklen Badezimmers, das den Blick direkt auf seinen Hauseingang freigab. Da kam er aus der Tür, in Lederkleidung, setzte den Helm auf und fuhr mit seinem kleinen Moped davon. Seine kerzengerade Haltung überdeckte die Lächerlichkeit seines Gefährtes und machte sie unwichtig.
Ein hagerer schwarzhaariger Mann mit tiefliegenden Augen und hohen Wangenknochen unter buschigen Brauen.
Josephine setzte sich auf den Badewannenrand und verstand weder sich noch die Welt. Auf was hatte sie sich eingelassen?
Eine knappe Stunde, nachdem Bruder Udo ihn beim Troll abgesetzt hatte, stellte Klaus Wolf sein Moped an die Wand seines Hauses und zog den primitiven Schlüssel aus der Brusttasche der schwarzen Lederjacke. Von außen sah alles aus wie immer. Er schloss sein Haus auf und öffnete Fensterläden und Fenster. Es roch etwas muffig, aber das ließ sich mit kräftigem Durchzug erledigen. Er schlenderte in die Küche und stellte den Tauchsieder an.
Udo hatte nach seiner Festnahme versprochen, das Haus winterfest zu machen und abzuschließen. Wie es aussah, hatte er das gut gemacht, keine Leitung war eingefroren und auch der Strom funktionierte. Mit dem Becher Tee in der Hand ging Klaus Wolf langsam von Raum zu Raum.
Das hintere der beiden winzigen Zimmer war seins gewesen, das er mit Udo teilte. Jeder hatte seine Etage des Stockbetts nach seinem Geschmack dekoriert. Udos Welt bestand damals aus Damen, die sich barbrüstig an teure Autos in Weltraumoptik lehnten. Klaus hatte speiende Vulkane, Monstertrucks und ein Plakat von Angkor Wat, auf dem ein riesiger Baum aus einem kunstvoll verzierten antiken Bauwerk wuchs und es mit seinen mächtigen Wurzeln zu erdrücken schien.
Der andere Raum war fast völlig von einem Doppelbett eingenommen, kaum passte ein Nachttisch auf eine Seite. Alle Matratzen standen hochkant, um Schimmelbildung zu verhindern. Das kleine Wohnzimmer gegenüber fasste nichts als Sofa, Sessel, einen kleinen Couchtisch, einen windschiefen Schrank und eine Kommode mit einem uralten Fernseher darauf, der höchstwahrscheinlich nicht mehr funktionieren würde. Der Teppich stand aufgerollt in einer Ecke des Zimmers, in dem neben den Möbeln kaum Platz zum Gehen blieb.
Klaus stellte den restlichen Tee ab und stapelte sorgfältig Holz auf Papier in die Brennkammer des Eisenofens neben dem einzigen Fenster. Es brannte gut, also war der Schornstein nicht verstopft.
Offenbar hatte Udo Strom- und Wasserrechnungen bezahlt. Na, darüber müsste er mit ihm reden, denn unter keinen Umständen wollte er seinem kleinen Bruder was schuldig sein. Abgesehen davon würde er aber jeden Kontakt mit ihm vermeiden.
Er schob die Gedanken weg. Nur die Gegenwart zählte; Vergangenheit, das hatte ihm Pater Johann immer wieder gesagt, ist Vergangenheit, und ein Narr, der daran zerbricht oder ‒ als kleinere Version ‒ sein Leben danach ausrichtet. »Du musst so leben, als hättest du alles vor dir, als wärest du sicher, dass deine Anstrengungen dich dahin bringen, wo du hinwillst.«
Er legte seinen Koffer auf das große Bett, ein beigegemustertes Modell mit braunen Lederkanten, abgeschabt mit einigen Beulen, den sein Vater ‒ Vater? ‒ noch aus dem Krieg mitgebracht hatte. Ob der Mann, den er in seiner Kindheit so genannt hatte, wirklich sein Vater war, bezweifelte Klaus, nicht zuletzt angesichts der moralischen Grundsätze seiner Mutter. Er hatte aber nie Gewissheit bekommen, da sie diese Tatsache ihres Lebens immer im Dunkeln gelassen hatte.
Mit größter Sorgfalt hob er als letztes das Zeugnis der Fernuniversität Hagen aus dem Koffer. Ein Diplom in Wirtschaftswissenschaften.
Ganz einfach war das Studium nicht gewesen, vor allem, weil er sich vorher durchs Abitur beißen musste. Im Gefängnis hatte man nur beschränkten Internetzugang, auf dem einzigen Computer konnte man nur die Seiten der Fernuni Hagen erreichen, das erschwerte die Recherche für Hausarbeiten und Klausuren beträchtlich. Man war auf Bücher angewiesen, die von der Uni geschickt wurden. Kameras zeichneten jede Bewegung der Häftlinge auf, Vollzugsbeamte kontrollierten, womit die Studenten sich beschäftigen und lasen deren Briefe.
Aber es gab den sogenannten Hörsaal, den Raum, wo sich die vier Studenten des Gefängnisses weitgehend frei bewegen konnten, wo es möglich war, miteinander zu sprechen und zu diskutieren, wo sie sich gegenseitig halfen und ermunterten, wenn es zu schwierig zu werden drohte. Letztlich, dachte Klaus, hatte er die zehn Jahre Haft nur mit Hilfe dieses Hörsaals geistig gesund überstanden.
Nach einer Weile ging Josephine auf, dass sie den alten Mann mit Latzhose und Hund auf dem Nachbargrundstück eine Weile nicht gesehen hatte. Sie fragte die Kriminalwitwe, die in allem, was die Siedlung anging, bestens informiert schien.
»Er ist gestorben, ganz plötzlich.«
Und tatsächlich, ab sofort erschien hier und da im Garten eine rundliche Frau Holle mit weichen Formen, einem wolkigen Gesicht und einem Busch weißer Haare auf dem Kopf. Josephine grüßte sie.
»Ja, wir haben noch vor seinem Tod geheiratet.«
Die Kriminalwitwe war zufrieden, als sie davon hörte. »Da hat er doch noch ein paar schöne Tage gehabt.«
Josephines berufliche Laufbahn nahm Formen an. Sie hatte ein paar Volkshochschulkurse an Land gezogen, mehrere Blockflötengruppen und Privatschüler, denen sie Nachhilfe in Englisch gab. Das Unterrichten in den jeweiligen Häusern der Kinder hatte den Vorteil, dass sie Kaffee angeboten bekam, oft mit einem Stück Kuchen. Am großzügigsten war die Großmutter eines Sprösslings des größten Waffengeschäftes der Stadt. Josephine und sie unterhielten sich über Gott und die Welt, was den unerfreulichen Teil des Treffens, den Klavierunterricht für das völlig unbegabte und übefaule Mädchen, erfreulich verkürzte.
Die Kriminalwitwe hatte eine Tochter ‒ Gudrun Vargas, eine wunderschöne Frau in den Vierzigern mit zwei Kindern, die die Großmutter mittags bekochte und nachmittags beaufsichtigte, bis ihre Tochter aus dem Rathaus zurückkehrte. Dort wurde sie als Chefsekretärin hochgeschätzt. Aus einem unerfreulichen Vorgang, der ihren spanischen Ex-Mann betraf, stammte ein Berg Schulden, den sie durch einen zweiten Job abtrug. Am Samstagnachmittag tippte sie Sportnachrichten, die ihr der Lokalreporter für die Spätausgabe in die Maschine diktierte.
Gudrun besaß außer dem praktischen Sinn, den die Mutter ihr vererbt hatte, und ihrer Schönheit eine ungeheure Disziplin. Als ihr Ex-Mann eines Tages mit den beiden Kindern nach Spanien durchbrannte, um sie in der heimatlichen Umgebung aufwachsen zu sehen, fuhr Gudrun mit der Mutter und einem fünfstelligen Kredit hinterher. Die beiden Frauen blieben so lange, bis sie mit den Kindern nach Deutschland zurückkehren konnten, zusammen mit der Zusage des Vaters, in Zukunft die Alimentenzahlungen pünktlich einzuhalten.
Gudrun und Josephine wurden Fast-Freundinnen. Die Einschränkung hing auf Gudruns Seite mit einer latenten Eifersucht auf mögliche Abzüge, die mütterliche Zuwendung betreffend, zusammen. Auf Josephines Seite war es die Sorge, Gudrun könne sich ermutigt fühlen, zu nahe zu kommen. Aber man unterhielt sich regelmäßig am Telefon oder in Josephines Wohnzimmer.
»Willst du denn keinen Freund?« Gudrun hatte sich den zweiten Sessel herangezogen und die Füße hochgelegt.
»Ich finde keinen. Vielleicht bin ich zu dick. Oder zu abschreckend.«
»Quatsch, meine Liebe. Gib eine Kontaktannonce auf.«
Josephine hatte schon häufiger daran gedacht. Dieses Vorgehen hätte den Vorteil, dass sie schon im Vorfeld aussortieren könnte. »Vielleicht. Aber nicht in so einem Käseblatt.«
»Nimm die Zeit, da findest du Künstler. Willst du einen Künstler?«
»Das ist mir egal. Nur keinen Lehrer.«
Josephine hatte genug von klugen Reden, egal ob fachwissenschaftlicher oder politischer oder moralischer Art. Leider stand erfolgversprechenden Änderungen in ihrem Liebesleben die Tatsache entgegen, dass sie genau wusste, was sie nicht wollte. Was sie wollte, fiel ihr regelmäßig nicht ein.
»Sie müssen es auf sich zukommen lassen.« Das war der Kommentar der Kriminalwitwe zu dem Thema gewesen. »Sie müssen viel ausprobieren. Gehen Sie aus, amüsieren Sie sich.« Dieser Ratschlag, durchaus wohltuend in seiner latenten Unmoral, tat ihr gut, er stand im Gegensatz zu den strengen Prinzipien ihres Elternhauses.
Josephine prostete Gudrun zu. »Ich mache noch eine Flasche auf, du bist ja mit dem Fahrrad da.« Und über die Schulter dann: »Vielleicht, nur nicht unbedingt einen Maler.«
Als sie wieder saß und der Schraubverschluss geöffnet war: »Erzähl mir ein bisschen von den Leuten in der Siedlung. Kennst du auch Leute von meinem Weg hier?«
»Ich war mal mit Addi zusammen.«
Josephine stand der Mund offen. Sieh an. »Echt? Wie lange, und wie war das?«
»Er kann sehr charmant sein, das sage ich dir.«
»Weißt du, dass er heute mit Frau Thiel ...«
»Klar. Er wohnte ja mit seiner Mutter direkt neben ihr. Und Inge Thiel war schon immer scharf auf ihn gewesen. Eine sehr taffe Frau übrigens.«
»Willst du sagen, dass er dich in die Wüste geschickt hat und anschließend zur Nachbarin zog?«
Gudrun grinste breit. »So etwa, nur, dass ich die Sache beendet habe. Es war einfach fertig, das gibt’s ja.« Josephine nickte, hatte sie auch schon erlebt. »Es war so, dass, als das Haus abbrannte, er zu uns ziehen wollte, in meine Wohnung, zu Ellen, Thorsten und mir.«
»Das Haus brannte ab? Neben mir wohnt nur einen Meter entfernt ein Mörder ‒ wo bin ich denn hingezogen?«
Gudrun schlug das rechte Bein übers linke. »Ja, das hättest du dir überlegen sollen.« Und auf Josephines entsetzten Gesichtsausdruck: »Nein, ich mache Spaß. Es ist hier ganz okay. Die Leute lassen ihresgleichen in Ruhe.«
Na, hoffentlich trifft das auch auf meinen Mörder zu, dachte Josephine.
»Und, meine Liebe, vielleicht hat er ja keinen umgebracht. Du redest doch von Klaus Wolf? Hier nebenan? Nein. Im Rathaus sagten sie, er hätte eine Frau vergewaltigt.«
»Ist nicht viel besser.«
»Aber sicher. Hör mal. Sie sagen auch, die Verhandlung wäre übel verlaufen. Er hatte eine Niete als Anwalt, und er hat die ganze Zeit kein Wort gesagt.«
»Was hat er eigentlich vorher gemacht?«
»Er ist mit einem Fahrgeschäft rumgezogen. Die Tunnelbahn. Von Rummelplatz zu Rummelplatz, du weißt schon.«
»Er war einer von denen, die sich da bei voller Fahrt von Wagen zu Wagen schwingen und die Karten kontrollieren?«
»Soweit ich weiß.«
»Hast du mal mit ihm ...«
»Nee doch. Alles, was ich mit diesem Weg hier zu schaffen hatte, war mit Addi verbunden.«
»Ist Addis Mutter bei dem Brand umgekommen?«
»Nein, das nicht. Es war versichert, du weißt schon. Addi hat sie dann in einem Heim untergebracht. Sie starb bald, Schlaganfall.«
»Das heißt also, er wurde heimatlos, wollte zu dir ziehen, und als das nicht funktionierte, hat er sich bei Frau Thiel einquartiert?«
Gudrun nickte. »So kann man das zusammenfassen, ja. Na, er nahm halt seinen Vorteil wahr. Eigentlich legitim. Man muss ja nicht drauf eingehen.«
Das fand Josephine auch. »Und die Mutter von dem Wolf hier nebenan?«
»Weiß ich nicht. Sie war irgendwann tot. Ich glaube, sie war eine Weile mit dem Schönen Rudi liiert. Später ist sie dement geworden, die Arme, und starb im Heim.«
»Der Schöne Rudi?«
»Ein Witwenschüttler. Der hat ein Haus zwei Stück den Weg runter, das hellgrüne da, das ganz zugewachsene. Er war vor einem Jahr in einer Klinik. Soweit ich weiß, Herzinfarkt.«
»Vielleicht zu viele Witwen geschüttelt. Für jemand, der nichts mit den Leuten an meinem Weg zu tun hat, weißt du viel.«
Gudrun zuckte die Schultern. »Warte eine Weile, dann weißt du auch alles.«
Die Idee mit der Kontaktannonce ging Josephine nicht aus dem Sinn. Während sie überlegte, ob und wie, vor allem mit welchem Wortlaut sie für sich werben sollte, flog sie zum bewährten Badezimmerfenster, wenn sie das bekannte Pöttpöttpött des Mopeds hörte. Immer hielt sie sich seitlich, das Gesicht nur eine Winzigkeit aus dem Schatten heraus, um etwas sehen zu können.
Er sah nie her. Er stellte den Motor aus, nahm den Helm ab und ging mit langen Schritten die beiden Stufen zu seinem Haus hoch. Nichts veränderte sich, bis er eines Tages sauber rasiert war.
Diese Tatsache versetzte Josephine einen Stich, den sie sich irgendwie zu erklären versuchte. Er tat etwas Neues, er veränderte sich. Er entfernte sich äußerlich vom Image des Ausgestoßenen, des verurteilten Gesetzesbrechers, der gesenkten Hauptes herumzugehen hatte auf der Suche nach Vergebung. Er entfernte sich von dem Bild, das sie von ihm gemalt hatte.
Dann traf sie ihn.
Ein Haus weiter den Weg runter wohnte Marlies König, die Mutter des sogenannten Vergasers.
»Frank heißt so, weil er mit Autos macht«, war die Antwort auf ihre Frage gewesen, die sie direkt an seine Mutter gestellt hatte. Diese war eine freundliche Person mit tiefschwarz gefärbten Haaren, blutroten spitzen Fingernägeln, einer vorsichtigen Sprechweise, viel Lippenstift und einer Vorliebe für Bastelarbeiten. Blumen aus gefärbtem Strumpfnylon beispielsweise, das sie über zu Blüten geformte Drahtgestelle zog. Diese saßen dann mittels Heißkleber an kahlen Zweigen und verzauberten ihr Wohnzimmer. Josephine besuchte sie ab und zu zum Schwätzchen.
Marlies König hatte sich lange um die alte Frau Wolf gekümmert, bis es nicht mehr ging.
»Klaus war ja nicht da, und irgendwer musste sich doch um sie kümmern. Sie ist hier nachts in der Siedlung herumgelaufen, halb nackt. Wir mussten sie ins Heim bringen, denn Klaus war ja ...« Ihr Blick wanderte zum Fenster raus.
»Ich weiß, dass er im Gefängnis war.«
»Ja.«
Ich verstehe, dachte Josephine, man redet nicht darüber. »Und was macht dein Sohn mit den Autos? Repariert er?«
»Ja, er arbeitet oft mit einem Kumpel zusammen, mit Berni den Weg runter, hast du bestimmt schon gesehen. Er hat jetzt übrigens eine Freundin, die Birgit.«
Das war wohl die, die da ohne Büstenhalter und weitere störende Kleidung aus dem Wohnwagen gekommen war, als Josephine unlängst vom Zahnarzt zurückkehrte.
»Ist sie nett?«
»Ich habe ja nicht viel mit ihr zu tun.« Was alles sagte und nichts.
Und dann kam der Moment, als Josephine von einem kleinen Spaziergang zurückkehrte, müde und verschwitzt, einen Blumenstrauß aus Margeriten und Kornblumen in der Hand.
Die Tür des Königschen Hauses öffnete sich und Marlies erschien mit Klaus Wolf auf der Türschwelle. Genau gezielt und präzise abgepasst traf er mitten auf dem Weg mit Josephine zusammen.
Er war gut einen Kopf größer als sie, seine langen schwarzen Haare hingen in die Stirn und ließen die Augen im Schatten verschwinden. Sie waren blau, oder? Hagere Längsfalten rechts und links des Mundes. Ausgemergelt, halb verhungert und gespannt wie eine Feder, das war Josephines Eindruck. Nicht resigniert oder demütig.
»Du bist die Lehrerin.« Eine unbestreitbare Feststellung. »Und wohnst da in dem Haus neben mir.«
Josephine nickte, zu mehr war sie nicht fähig. Nie in ihrem Leben hatte sie einem Menschen gegenübergestanden, der gerade nach längerer Strafe aus dem Gefängnis entlassen worden war. Sollte sie ihm liebreich verzeihend die Hand reichen? Oder sich hochmütig abwenden und ihn verurteilen, weil er ja gegen Gesetze und Normen der Gesellschaft verstoßen hatte?
Ein leichter Windstoß wehte kurz seine Haare hoch, und für den Bruchteil eines Moments sah sie in seine Augen. Aber ehe sie weitere Gedanken anschließen konnte, hatte er sich schon abgedreht und ging mit langen elastischen Schritten davon.
Marlies stand noch in der Tür. »Willst du einen Kaffee? Ich habe noch welchen übrig.«
»Bist du ... ich meine, hast du ...« Josephines Blick wehte hinter dem gerade im Gehölz verschwundenen Klaus Wolf her.
»Was, ich? Mit Klaus? Nein, nie. Wie kommst du denn da drauf?«
»Na ja, ich dachte. Er besucht dich ...«
Josephine wusste selber nicht, was sie sagen wollte. Da waren so viele Gedanken in ihrem Kopf. Wie hatte man sich eigentlich ein Verhältnis mit einem vorbestraften Mann vorzustellen? War da nicht immer die Gefahr, dass, sollte man sich trennen, er gewalttätig würde?
»Klaus hatte ein schweres Leben.« Marlies stellte ihre Tasse auf den Tisch mit der gehäkelten Decke. Als ein versprengter Sonnenstrahl seitlich auf ihre Stirn traf, wurde eine Reihe Fältchen sichtbar. »Ich hab ihn hier und da besucht. Manchmal reden wir einfach. Mein Mann war auch im Gefängnis.« Mehr wurde zu diesem Thema nicht gesagt, denn Josephine traute sich nicht, weiter zu fragen.
Ihr war etwas aufgefallen. »Sag mal, diese Frau, die da in das Haus vom toten Rentner neben mir eingezogen ist ...«
»Ich weiß, er hat sie durch eine Annonce hergeholt.«
»Die wohnt da nicht mehr, oder? Ich hab sie länger nicht gesehen. Stattdessen diese Frau, die im rosa Morgenrock auf der Gartenliege liegt und liest.«
»Das ist die Schwester von Renate Wagner.«