Gears of War - Jason M. Hough - E-Book

Gears of War E-Book

Jason M. Hough

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Beschreibung

Dieser Roman setzt die Story von Gears of War 4 fort und schlägt als offizielle Vorgeschichte des allerneusten Gears-Games eine Brücke vom vierten zum fünften virtuellen Abenteuer der Reihe. Nach Reyna Diaz' Tod durch den Schwarm, versiegelt Kait das Grab ihrer Mutter und schwört Rache! Mit ihren Verbündeten, darunter JD Fenix und Del Walker, kehrt sie nach New Ephyr zurück, um zu warnen: "Der Schwarm kommt!"

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Die offizielle Vorgeschichte zum Blockbuster-Game Gears of War 5

ROMAN von JASON M. HOUGH

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Titel der Amerikanischen Originalausgabe: „GEARS OF WAR: ASCENDANCE“ by Jason M. Hough, published by Titan Books, UK, Juli 2019

© 2020 Microsoft Corporation. All Rights Reserved. Microsoft, The Coalition, the Crimson Omen logo, Gears of War, Marcus Fenix, Xbox, and the Xbox logo are trademarks of the Microsoft group of companies.

Deutsche Ausgabe 2020 by Panini Verlags GmbH, Schlossstraße 76, 70176 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Andreas Kasprzak & Tobias Toneguzzo

Lektorat: Thomas Gießl, Tom Grimm

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDGEAR006E

ISBN 978-3-7367-9906-6

Gedruckte Ausgabe:

1. Auflage, Februar 2020, ISBN 978-3-8332-3895-6

Findet uns im Netz:

www.paninibooks.de

PaniniComicsDE

Für all die hart arbeitenden und talentierten Leute, die das Gears-Universum zum Leben erwecken, und für die leidenschaftlichen Fans, die sie dabei unterstützen und inspirieren.

Erster Akt

1. Kapitel

Eine Einladung

Der Stein in ihrer Hand war kaum mehr als ein Kiesel, trotzdem fühlte er sich an, als würde er das Gewicht der ganzen Welt in sich bergen.

Kait Diaz hielt ihn in ihrer Handfläche, fühlte seine Kanten und seine Poren. Irgendwann war er zerbrochen – wann oder wo, konnte sie nicht sagen. Vielleicht während der gestrigen Schlacht, vielleicht aber auch schon vor einer Million Jahre, als sich ein Felsbrocken auf diesem gottverlassenen Hang gelöst hatte und heruntergerollt war. In jedem Fall war er einmal Teil von etwas Größerem gewesen und jetzt war er ein einzelner Stein.

„Allein. Wie ich.“

Kait flüsterte die Worte nur, damit die anderen sie nicht hören konnten.

Sie blickte auf und studierte den Steinhaufen, der den Höhleneingang blockierte. Selbst mit der Hilfe der anderen hatte es fast einen ganzen Tag gedauert, diese Mauer aufzutürmen und die Höhle zu versiegeln – die Gruft ihrer Mutter. Nur ein winziger Spalt war noch übrig, ein kleines Fenster in die Dunkelheit. Sobald sie diese Lücke mit dem Stein in ihrer Hand geschlossen hätte, wären sie fertig. Dann wäre Reyna Diaz für immer fort. Nie wieder würde Licht auf ihr Gesicht scheinen.

Erinnerungen an ihre Kindheit trieben in der Peripherie von Kaits Bewusstsein dahin, doch fürs Erste gelang es ihr, sie dort zurückzuhalten, an den verschwommenen Rändern ihrer Wahrnehmung. Später wäre sie vielleicht bereit dafür. Aber nicht jetzt.

Sie hob den kleinen Stein und schob ihn in die Lücke. Ihre Hand verharrte über der Stelle.

Es ist vorbei, dachte sie, auch wenn sie wusste, dass es nicht wirklich vorbei war. Reyna würde immer ein Teil von ihr bleiben, und vermutlich hätte sie den Rest ihres Lebens Trost in diesem Wissen gefunden – wäre da nicht das Amulett um ihren Hals. Das Erbstück, das ihre Mutter ihr vor ihrem Tod gegeben hatte …

Das machte die Sache plötzlich verdammt kompliziert.

JD und Del traten neben Kait, einer links von ihr, der andere auf der rechten Seite, und sie legten ebenfalls eine Hand auf die Felsmauer, wie um ihre Haltung nachzuahmen.

„Sie wird vermisst werden“, sagte JD.

„Teufel, ja“, fügte Del an. „Sie und Oscar. Und all die anderen, die diese Kreaturen auf dem Gewissen haben.“

„Aufhören, bitte“, murmelte Kait. Sie nahm die Hand von der Felsmauer und wandte sich von der Grabstätte ab. „Ich kann nicht … Ich möchte im Moment einfach nicht darüber reden. Lasst uns von hier verschwinden, in Ordnung?“

Die beiden Soldaten wechselten einen Blick, dann nickten sie einstimmig. Als Kait losging, blieben sie hinter ihr zurück, um ihr ein wenig Freiraum zu geben.

Ein kleines Stück entfernt saßen JDs Vater Marcus Fenix, Damon Baird, Sam Byrne und Augustus Cole. Keiner von ihnen hatte Reyna je kennengelernt, aber jetzt, wo Kait sich von der Mauer entfernte – einer Mauer, die sie gemeinsam die ganze Nacht hindurch aufgetürmt hatten –, gingen sie einer nach dem anderen hinüber, um eine Hand auf die Felsen zu legen und wortlos Abschied zu nehmen.

Kait hinderte sie nicht daran. Bei jedem anderen hätte sie an der Aufrichtigkeit einer solchen Geste gezweifelt, aber nicht bei dieser Gruppe. Ob nun Freunde von Reyna oder nicht, sie hatten Seite an Seite mit Kait gegen den Schwarm gekämpft, und sie hatten ihr geholfen, rechtzeitig hierherzugelangen, um sich zu verabschieden. Immerhin hatte sie das, diesen letzten Abschied. Und diese Leute hatten es möglich gemacht. Dafür würde sie ewig in ihrer Schuld stehen.

Die Gruppe schien zu einer wortlosen Übereinkunft zu gelangen, von der Sorte, wie es sie nur zwischen Menschen gab, die gemeinsam gekämpft hatten. Sam schob mit dem Fuß Sand über die Asche ihres kleinen Lagerfeuers. Sie überprüften ihre Ausrüstung und packten. Die Ersatzmagazine, die sie noch hatten, wurden gleichmäßig verteilt, und jemand ließ eine Feldflasche herumgehen. Es war nicht mehr viel übrig, weder Munition noch Vorräte. Niemand hatte erwartet, dass sie so lange hier draußen festsitzen würden.

Cole blickte Marcus an. „Wohin jetzt?“

„Ich habe hier nicht das Kommando“, erwiderte Marcus nur.

Cole zog die Schultern hoch. „Du hast immer das Kommando. Selbst, wenn andere einen höheren Rang haben.“

Der alte Soldat schüttelte den Kopf. „Wir haben getan, weswegen wir hergekommen sind. Eigentlich hatte ich vor, jetzt nach Hause zu gehen.“

Del konnte nicht anders. „Dein Zuhause ist eine brennende Ruine.“

„Vielleicht, aber es ist mein Zuhause“, grollte Marcus.

„Ich wäre überrascht, wenn auch nur eine Mauer stehen geblieben ist.“

Marcus musterte den jungen Mann durchdringend. „Und wem verdanke ich das?“

„He, ganz ruhig.“ JD trat zwischen sie. „Es gibt keinen Grund für Schuldzuweisungen.“

„War ja klar, dass du so was sagen würdest“, entgegnete Del. „Schließlich war es in Wirklichkeit deine Schuld.“

Marcus brummte. Einen Moment betrachtete er Del und seinen Sohn noch, dann wandte er sich wieder der größeren Gruppe zu. „Baird soll entscheiden.“

„Ich?“, fragte Baird. „Das ist, als würde ein Blinder die Sehenden führen. Ich kenne mich in dieser Gegend nicht aus. Lasst uns einen funktionstüchtigen Funkturm finden, dann übernehme ich meinetwegen das Kommando und rufe einen Vogel, der uns abholt.“

Kait entschied, das Wort zu ergreifen. „Ich kenne da vielleicht einen Ort.“

Alle Augen richteten sich auf sie.

„Es ist ein Stück entfernt, und ich bin nicht sicher, was die Funk-Situation angeht, aber es gibt dort Wasser. Vielleicht auch Nahrung.“

„Nahrung, hm?“ Cole musterte sie. „Das klingt doch nach was. Und liegt dieser Ort auf einem abgelegenen Hang, umgeben von hässlichen, blutrünstigen Monstern?“

„Nein, es …“

„Mehr muss der Cole Train gar nicht wissen“, grinste er. „Zeig uns den Weg.“

Jeder Schritt brachte ein wenig Erleichterung. Vermutlich war es immer so, wenn man mehr Distanz zwischen sich und eine Sache brachte.

Kait hatte kaum geschlafen. Letzte Nacht hatte sie ein Albtraum voller Zähne und Klauen und Tentakel und einem glühenden Maul senkrecht und schweißgebadet in die Höhe schrecken lassen. Danach hatte sie sich sofort wieder an die Arbeit gemacht und vor der Höhle Felsen auf Felsen gewuchtet, um die Gruft ihrer Mutter zu verschließen. Der Lärm hatte die anderen aufgeweckt, und innerhalb weniger Minuten waren sie bei ihr gewesen und hatten ihr geholfen. Niemand hatte ein Wort gesagt, und sie hatten weitergearbeitet, bis die Mauer fertig war.

Nun, gegen Mittag, hatten sie das Hügelland hinter sich gelassen und marschierten über eine weite, grasbewachsene Ebene, während ihnen die Sonne den Nacken verbrannte. Die Luft vibrierte von den Lauten der Tiere: dem Summen, dem Zirpen und hin und wieder auch einem Rascheln, wenn eine Kreatur vor ihnen Reißaus nahm. Das hohe Gras reichte Kait bis zu den Schultern, und es fühlte sich an wie tausend Finger, die versuchten, sie mit zärtlicher Gewalt nach unten auf den Boden zu drücken, damit sie endlich ein wenig Schlaf nachholte. Sie fand es zunehmend schwieriger, sich zu konzentrieren. Die Ränder ihres Blickfeldes verschwammen bereits vor Erschöpfung.

„Alles in Ordnung?“

Sie wandte sich um und verscheuchte den Nebel aus ihrem Kopf. JD und Del hatten zu ihr aufgeschlossen. Del war derjenige, der gesprochen hatte, aber sie trugen beide den gleichen Ausdruck im Gesicht. Sorge. Anteilnahme.

„Soll ich wirklich darauf antworten?“, fragte Kait, nur um ihren harschen Ton sofort wieder zu bereuen. Genau so, wie sie es bereute, die beiden vorhin so grob zurückgewiesen zu haben. Sie meinten es gut, das wusste sie.

Ihr Freund schnitt eine Grimasse und wandte den Blick ab. „Vermutlich nicht. Ich … Du sollst nur wissen, dass wir für dich da sind, in Ordnung?“

„Was immer du brauchst“, fügte JD hinzu.

Kait konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, aber es war nur ein halbes Lächeln. Das Gewicht der Trauer war noch immer zu schwer. „Danke, Jungs. Im Ernst. Aber ich brauche ein wenig Zeit für mich allein. Ist das in Ordnung für euch?“

Die beiden Männer nickten und ließen sich wieder hinter ihr zurückfallen. Zuerst nur ein paar Schritte, aber dann weiter und weiter, je länger sie marschierten.

Kait war beinahe erleichtert, als vor ihnen der Sumpf in Sicht kam.

„Äh, gehen wir da lang?“, fragte Cole. „In dem Fall nehme ich meine Bemerkung über abgelegene Hänge zurück.“

„Hast du etwa Angst, Cole?“, stichelte Marcus.

„Nein, Mann. Aber nach den jüngsten Unannehmlichkeiten hatte ich auf ein wenig Ruhe und Entspannung gehofft. Das da … sieht nicht gerade entspannend aus.“

„Da hat er nicht unrecht“, warf Samantha ein.

Plötzlich legte sich tiefe Stille über das Feld ringsum, nur der Wind war noch zu hören, während er das hohe Gras wie die Wellen eines grünen Sees kräuselte. Vögel, Insekten … alles war verstummt. Ein kalter Schauder rann über Kaits Rücken und ihre Arme.

Dann erklang irgendwo hinter ihnen ein hohes Jaulen.

„Irgendetwas sagt mir, dass es nichts wird mit Ruhe und Entspannung“, murmelte JD. Sie drehten sich im Kreis und verteilten sich dabei instinktiv, um eine Verteidigungslinie zu bilden.

Mit einem Mal wieder hellwach, ließ Kait ihren Blick über den Horizont schweifen; nur einmal senkte sie die Augen, gerade lang genug, um die Munitionsanzeige ihres Lancers zu überprüfen. Die Waffe war ein umgebautes Modell aus Marcus Fenix’ Sammlung, das Kait an sich genommen hatte, bevor das Anwesen rings um sie herum eingestürzt war. Das Magazin fasste sechzig Schuss, war aber nicht einmal mehr halb voll. Als sie den Blick wieder auf das wogende Feld richtete, entdeckte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung.

Das Gras teilte sich, als würde etwas Unsichtbares über den Boden auf sie zurasen. Kurz hüpfte etwas Graues, Fleckiges zwischen den Halmen hoch, und einen schrecklichen Moment schien es Kait direkt anzustarren, bevor es wieder außer Sicht verschwand. Seine Augen waren weiß gewesen – wie blind.

„Larven!“, schrie sie. „Von links!“

„Und von rechts!“, fügte JD hinzu, während er bereits in diese Richtung losrannte. Del folgte ihm, und Kait verspürte den unwillkürlichen Drang, mit ihnen zu gehen. An ihrer Seite zu kämpfen, fühlte sich irgendwie natürlich an, mehr wie ein Instinkt als eine bewusste Entscheidung. Wie hatte Del doch einmal gesagt? Sie waren eben einfach auf derselben Wellenlänge.

Doch sie war auf der anderen Seite, näher bei Cole und Marcus, und die beiden Veteranen bewegten sich geduckt nach links. Da sie hier über keinerlei Deckung verfügten, war ihre einzige Option, sich aufzufächern. Kait fand sich in einer Situation wieder, in der sie entweder mit den beiden nach links gehen oder einfach hier in der Mitte der Formation bleiben konnte, gemeinsam mit Baird und seiner „speziellen Freundin“ Sam. Die beiden standen da wie Windfarmer, die ihre letzte Mühle verteidigen mussten. Sam hatte ihre zerkratzte, alte Gnasher-Schrotflinte gehoben, den Lauf auf ihren Unterarm gestützt. Was auch immer Baird in den Händen hielt, war deutlich größer, aber noch hielt er die Arme gesenkt. Kait wusste, dass keiner von ihnen viel Munition übrig haben konnte.

Nun hob Baird seine Waffe, und Kait erkannte, dass es eine Buzzkill war.

„Hab schon die ganze Zeit auf eine Gelegenheit gewartet, sie mal auszuprobieren“, erklärte er an niemanden im Speziellen gerichtet. „Zeit, den Rasenmäher anzuwerfen.“

„Halt die Klappe und mach einfach“, schnappte Sam.

Kait zog sich ein paar Schritte zurück, und ein Grinsen zupfte an ihren Mundwinkeln, als Damon Baird in Aktion trat.

Mit einem surrenden Whuuuschhhhh schoss das erste Sägeblatt aus der Buzzkill. Es schnitt durch das hohe Gras und schlug eine schmale, gerade Schneise in die grüne Wand, die an dieser Stelle plötzlich nur noch halb so hoch war. Irgendwo in größerer Entfernung jaulte eine Larve, und eine der v-förmigen Bugwellen, die über das Feld wanderten, löste sich raschelnd auf.

Zufrieden feuerte Baird das nächste Sägeblatt ab. Schnell begann sich ein Muster zu formen – Linie um Linie niedergemähten Grases, jede so breit wie die Geschosse der Buzzkill und ungefähr hundert Meter lang. Es sah aus wie ein aufgeklappter Fächer. Zwei weitere Larven fielen unter dem Beschuss, aber Kait wusste, dass es Baird nicht wirklich darum ging. Vielmehr wollte er Schneisen niedrigen Grases in die Ebene schneiden, durch die die Larven heranstürmen mussten, um ihre Beute zu erreichen. Es war leichter, auf einen Feind zu zielen, wenn man ihn auch sehen konnte.

Sie legte an und eröffnete das Feuer. Bei jeder kurzen, knatternden Salve drückte die Waffe gegen ihre Achselhöhle. Eine der dürren Kreaturen wurde getroffen und überschlug sich mit wirbelnden Gliedmaßen, eine zweite stürzte leblos mit dem Schädel voran zu Boden und verschwand im Gras.

Links und rechts von ihr ertönte das Grollen und Bellen von Gewehrfeuer. Alle nutzten die von Baird geschaffenen Schneisen, um den Feind aus der Distanz zu erledigen. Ein paar der Kreaturen schafften es, nahe heranzukommen, aber die bekamen Sams Gnasher zu spüren. Kait drehte den Kopf und schirmte die Augen ab, um zu sehen, wie sich JD und Del schlugen. Ihre Freunde standen Schulter an Schulter, ihre Mienen ruhig und konzentriert.

„Da kommen noch mehr!“, rief Marcus. „Sie folgen den Pfaden der anderen, damit wir ihre Zahl nicht einschätzen können.“

Er hatte recht. Das zeugte von mehr Intelligenz, als die kleinen Monster bislang an den Tag gelegt hatten, aber andererseits hatte Kait es auch noch nie auf so weitem, offenem Raum mit ihnen zu tun bekommen. Die zweite Welle rannte geduckt auf sie zu, nicht weit hinter der ersten, und sie nutzten das bereits niedergetrampelte Gras, um ihre Stärke zu verschleiern.

Die Buzzkill gab ein seltsames Geräusch von sich, und Kait wusste, dass die Waffe leer war. Baird warf sie zu Boden und zog eine Boltok-Pistole, die er in beide Hände nahm.

„Wir haben nicht genug Munition für so eine Scheiße“, wandte sich Sam an ihren Partner. „Wir brauchen einen Plan B.“

„Nahkampf?“, schlug Baird vor. „Schlagen wir ihnen mit allem, was wir haben, die Schädel ein.“

Links von Kait stieß Cole ein gepresstes Lachen aus. Dann hängte er sich den Lancer über die Schulter und zog ein langes Jagdmesser.

„Mir persönlich wäre eine Kettensäge lieber als ein Messer“, bemerkte Kait.

„Im Nahkampf mit mehreren Gegnern? Nein, da ist Schnelligkeit wichtiger“, konterte Cole. „Sie wollen tanzen, also tanzen wir. Es sei denn, jemand hat eine bessere Idee. Meine Munition ist jedenfalls alle.“

Kait hatte noch fünf Kugeln.

Noch vier.

Drei.

Für jede Larve, die sie erlegte, schienen drei weitere im Gras aufzutauchen, und allmählich begann die Anspannung sie auszulaugen. Vorhin hatte sie geschwitzt, jetzt war sie vollkommen durchnässt.

„Leute? Das sind ziemliche viele von denen“, sagte JD.

„In den Sumpf“, rief Kait. „Los!“

Ein Teil von ihr erwartete, dass die anderen gegen den Vorschlag protestieren würden. Vielleicht nicht JD und Del, aber Cole und Baird, die sie kaum kannten. Kait hatte die Erfahrung gemacht, dass Rückzug – selbst wenn er nur vorübergehend war – nicht zum Vokabular von Soldaten gehörte. Aber diese Gruppe war erfahren. Pragmatisch. Sie taten, was immer zum Erfolg führte, und in dieser Hinsicht erinnerten sie Kait an ihre Mutter.

Anstatt zu streiten, begannen sie also zurückzuweichen. Die, die noch Munition hatten, gingen erst nur langsam rückwärts, dann wirbelten sie herum und die gesamte Gruppe sprintete auf den Sumpf zu.

Kait erreichte die Bäume als Erste. Sie boten einen erbärmlichen Anblick, mit herabhängenden Ästen, bar jeglichen Laubes, dafür über und über mit grauen Pilzen bedeckt. Das Gras der Ebene machte welligem Terrain Platz, dessen Senken mit stehendem trübem Wasser gefüllt waren. Aber immerhin konnten sich die Larven hier nicht vor ihnen verstecken, während die Bäume der Gruppe notdürftig Deckung boten. Kait ging hinter dem ersten Baum in Stellung, der einen ausreichend dicken Stamm hatte, und legte mit ihrem Gewehr an.

JD und Del waren dicht hinter ihr. Eine Sekunde sah es aus, als würden sie einen Wettlauf austragen, und es hätte Kait nicht überrascht, falls sie es wirklich taten. Dann waren die beiden auch schon an ihr vorbeigestürmt und suchten sich ihre eigenen Baumstämme, hinter denen sie in Deckung gehen konnten.

Zehn Meter hinter ihnen folgte Sam. Sie war eine schnellere Läuferin als Baird, der bereits ein wenig außer Atem zu sein schien. Aber auch er schaffte es. Das Pärchen zog sich noch tiefer zwischen die Bäume zurück und ihre Schritte ließen das Wasser platschen.

Kait drehte sich wieder nach vorn und wartete mit zusammengekniffenen Augen auf Marcus und Cole. Doch keiner der beiden tauchte aus dem Gras auf. Stattdessen wurde ein neues Geräusch hörbar.

„Komm schon, Dad!“, rief JD.

Kait bedeutete ihm mit einem Handzeichen, still zu sein, dann lauschte sie wieder. Sie vernahm das Jaulen von Larven, und halb vom Chor ihrer Schmerzensschreie übertönt, das Grollen zweier miteinander wetteifernder Kettensägen.

Jetzt brach Marcus aus dem hohen Gras hervor, noch immer mit dem Gesicht zum Feind. Er schwang seinen Lancer zur Seite, gerade als eine Larve auf ihn zusprang. Sie war eine nackte, groteske Parodie des Menschen, der gestorben war, um dieses Geschöpf hervorzubringen. Blut und Eingeweide spritzten in einem Bogen durch die Luft, als die Säge durch den dürren Leib schnitt. Dann fiel die Larve zu Boden, eine Hälfte links von Marcus, die andere rechts von ihm. Der Veteran machte einen Schritt zurück, dann musste er die Waffe auch schon in die andere Richtung herumreißen, als sich die nächste Larve auf ihn stürzte.

Ein Fehler, für den die Kreatur mit einem Arm und der oberen Hälfte ihres Schädels bezahlte.

Durch den Schwung der Bewegung war Marcus’ Oberkörper nach rechts verdreht. Er sah nicht einmal, wie eine dritte Larve links aus dem Gras auftauchte. Anstatt zum Kopf des Menschen hochzuspringen, blieb das Biest geduckt und rollte sich gegen seine Knie. Marcus kippte nach hinten und landete im Blut seiner getöteten Angreifer.

Kait hob ihr Gewehr und zielte, aber sie sah nur ein Durcheinander von tretenden und schlagenden Gliedmaßen. Also warf sie ihre Waffe beiseite und rannte los, wobei sie Reynas Machete mit der abgebrochenen Spitze zückte. Drei weitere Schritte und sie war bei Marcus. Er sah sie aus den Augenwinkeln und rammte beide Beine nach oben, sodass die Larve in die Luft hochgeschleudert wurde. Einen Herzschlag später schlitterte Kait auch schon heran, ihre Klinge erhoben, und schlitzte dem Biest den Bauch auf, während es sich noch über ihr krümmte. Heißes Blut spritzte ihr ins Gesicht, und sie würgte, während sie ihre schlitternde Vorwärtsbewegung mit einer unbeholfenen Rolle abbremste.

Sie wischte sich mit dem Arm über das Gesicht, stemmte sich auf die Beine hoch und ging sofort wieder in Kampfhaltung. Marcus rollte sich inzwischen unter der Larve hervor, die sie gerade ausgeweidet hatte. Ringsum ertönte lautes Gejaule.

Dann stand plötzlich Cole vor ihr, und die Kettensäge seines Lancers brüllte, während sie auf Kaits Gesicht zuraste. Sie zuckte zusammen und spürte den Lufthauch, als die Waffe dicht an ihrer Wange vorbeisauste … und die Larve erwischte, die gerade von der Seite auf sie zugesprungen war. Ihr jaulender Schrei endete mit dem Knirschen zermalmter Knochen und Zähne.

Gemeinsam rannten die drei auf die Bäume zu. JD und Del entfesselten eine ohrenbetäubende Salve auf den nun vollkommen ungeschützten Feind. Kait blickte nicht zurück, während die Kugeln an ihr vorbeisirrten. Dem schrillen Gekreische nach zu urteilen, das selbst über das donnernde Gewehrfeuer zu vernehmen war, musste ihr Feind aber in überwältigender Zahl hinter ihnen herstürmen. Und Kait war sicher, dass sie den Larven nicht einfach davonrennen konnten.

Sie sah einen festgetretenen Schlammpfad und führte die anderen darauf zu. Irgendwo vor ihnen lag das Versteck, von dem sie gesprochen hatte, aber sie konnte sich nicht genau erinnern, wie weit sie in den Sumpf vorstoßen mussten, um es zu erreichen. Sie war nur einmal dort gewesen und das war schon mehrere Monate her. Damals hatte Oscar sie begleitet, und sie hatte den Großteil des Marschs damit verbracht, ihrem Onkel mit seinem Pferd Chuzz zu helfen, damit es nicht vom Weg abkam …

„Chuzz“, wisperte sie.

„Was?“, rief JD, der nicht weit hinter ihr rannte.

„Ich habe eine Idee!“ Kait suchte den Pfad voraus nach etwas Vertrautem ab. Ein Baum, eine Biegung, ein Buckel, der aus dem Sumpf aufragte.

„Was immer es ist“, schrie Del, „beeil dich damit!“

Da! Kait erkannte einen geschwungenen Ast wieder, von dessen Mittelteil ein Seil herabhing. Sie rannte darauf zu und zwang ihre Beine zu einem Sprint. Dann drehte sie kurz den Kopf und rief den anderen zu: „Folgt genau meiner Spur!“

Kurz vor dem herabhängenden Ast scherte sie nach links aus und machte einen weiten Bogen um eine dunkle Stelle auf dem Boden, die von knochigem weißem Schilf überwuchert war. Sobald der Ast mit dem Seil hinter ihr lag, kehrte sie wieder auf ihren ursprünglichen Kurs zurück, und nach ein paar weiteren Metern blieb sie auf einer kleinen Erhebung stehen.

Die anderen folgten ihren Schritten mit entschlossener Präzision, aber ihre Mienen veränderten sich schlagartig, als sie sahen, dass Kait angehalten hatte.

Hinter ihnen stürmte das Rudel Larven heran.

„Wir kämpfen?“, fragte Marcus, als er sie erreichte. „Ist das dein großer Plan?“

Kait schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich.“ Ihre Augen blieben weiter fest auf ihre Verfolger gerichtet. Die Larven erinnerten sie an Insekten, so, wie sie über alles hinwegkrabbelten, selbst über ihre langsameren Vordermänner, um schnellstmöglich ihre Beute einzuholen.

Dann erreichten sie die Stelle vor dem Baum und sie ereilte dasselbe Schicksal wie den guten, alten Chuzz.

Die erste Larve, die in das vom Schilf verborgene Sumpfloch trat, verschwand, als wäre sie von einer Klippe gefallen – was gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt war. Kait hörte das Platschen, konnte wegen des wogenden Schilfs aber nichts sehen. Erst als die anderen ebenfalls in das Loch stürzten, begannen Wasser und Schlamm aus dem verborgenen Tümpel in die Höhe zu spritzen. Einige der Kreaturen schienen die Gefahr zu erkennen, aber sie wurden von der Masse der nach vorne drängenden Larven mitgerissen und versanken mit ihnen in der bodenlosen Tiefe.

„Hoffentlich können sie nicht schwimmen“, brummte Baird.

Kait gönnte sich ein zufriedenes Grinsen. „Ich habe nicht vor hierzubleiben, um es herauszufinden.“

Eine Stunde rannten, joggten und wateten sie durch den schnell dunkler werdenden Sumpf, und allein Kaits Erinnerungen an einige hervorstechende Landschaftsmerkmale bewahrten sie davor, in eine der zahlreichen Fallgruben zu stürzen. Als sie schließlich den Hof vor sich sehen konnten, waren sie alle durchnässt, mit blauen Flecken und Kratzern übersät und vollkommen erschöpft.

Wenigstens sind wir die Larven los, dachte Kait. Irgendwann nach der zweiten Wasserfalle war ihr Gejaule leiser geworden und dann schließlich ganz verstummt. Entweder sie konnten wirklich nicht schwimmen oder die kleinen Mistkerle waren schlauer, als sie aussahen, und hatten aufgegeben.

„Sind wir da?“, wollte Marcus wissen, während er zu ihr trat. Nach der letzten Senke tropfte noch immer braunes Wasser von seiner Rüstung, aber irgendwie hatte er es geschafft, sein schwarzes Durag sauber zu halten. Mehr oder weniger zumindest.

„Ja“, antwortete sie.

„Wer baut eine Farm mitten in einem Sumpf?“

Kait hob die Stimme, damit alle sie hören konnten. „Es war mal ein Pferdehof, bis eine Sturmfront das Wasser aus einem nahen See über die gesamte Ebene verteilt hat. Der Hof war nicht mehr zu retten. Mein Onkel kannte die Besitzer, hat hin und wieder mit ihnen Handel getrieben.“

„Hat er da den Hübschen her?“, fragte JD.

„Wer ist das?“, fragte Marcus.

„Das Pferd.“

„Sein richtiger Name ist Chuzz, und ja, er stammt von hier“, erklärte Kait. Einen Moment lang verlor sie sich in der Erinnerung an Oscar. Hätte ich ihn nur auch begraben können, so wie Reyna. Sie fragte sich, was wohl mit ihm geschehen war, nachdem der Häscher ihn mitgenommen hatte. Jede der Larven, die sie vorhin bekämpft hatten, hätte ihr Onkel sein können. Vermutlich wäre er selbst als Monster noch betrunken, überlegte Kait. „Die Besitzer sind vor ein paar Jahren weggezogen“, fuhr sie laut fort. „Sie wollten sich in höheren Lagen niederlassen. Seitdem benutzen wir den Hof als Vorratslager und als Unterschlupf, wenn wieder einmal eine Sturmfront aufzieht.“

„Was für Vorräte?“, hakte Marcus nach. „Du hast ein Funkgerät erwähnt.“

Kait senkte mit einem Schulterzucken den Kopf. „Da ist nur … Zeug, das wir … du weißt schon … KOR-Vorräte, die wir gestohlen haben.“

Zu ihrer Überraschung lachte Marcus. „Wie viel Zeug?“ Ein Funke von Bewunderung schien seinen ewig grimmigen Blick aufzuhellen.

„Finden wir’s heraus.“

Sie betrat das Gebäude als Erste. Einst war es ein warmes Zuhause von rustikalem Charme gewesen, umgeben von welligem Grasland, aber jetzt erinnerte nichts mehr daran. Alles, was noch übrig war, war eine leere Hülle mit grauen Wänden, von denen hie und da noch verblasste Farbe abblätterte. Helle Flecken auf dem staubbedeckten Boden zeigten, wo einst dicke Teppiche gelegen hatten, und der große Kamin hatte sich in einen hässlichen schwarzen Schlund verwandelt, in dessen Schacht der Wind heulte.

Kaits Stiefel knirschten auf zerbrochenem Glas, als sie das Wohnzimmer durchquerte. Was immer die anderen dachten, sie behielten ihre Meinung für sich und folgten ihr schweigend.

„Da drüben.“ Kaits Stimme zog ein hohles Echo nach sich. Sie trat vor einen leeren Durchgang im hinteren Teil des Wohnzimmers, der in einen kleinen Raum voller windschiefer Holzregale führte.

„Nett“, kommentierte Del. „Ein lebenslanger Vorrat an Spinnweben und Staub.“

Sie warf ihm einen strengen Blick zu. „Nicht das. Das.“ Sie deutete auf ein verblasstes Rechteck im Boden, drei Schritte lang, zwei breit, mit einem Metallring an einer Seite. Kait kniete sich hin und griff nach dem Metallring. „Möchte mir vielleicht jemand helfen?“

JD trat vor, und gemeinsam schafften sie es, die Falltür aufzustemmen, begleitet vom Quietschen verrosteter Scharniere und einer dicken Wolke aufgewirbelten Staubs. Sie lehnten die schwere Holzklappe gegen die Wand und blickten durch die dunkle Öffnung. Eine hölzerne Leiter führte in die Tiefe, aber nur die ersten drei Sprossen waren sichtbar.

Einmal mehr übernahm Kait die Führung. Unten angekommen, tastete sie die Wände nach einem Lichtschalter ab. Als sie ihn gefunden hatte und eine einsame, nackte Glühbirne aufleuchtete, deren gelber Schein kaum die Ränder des Kellers erreichte, waren Marcus und JD bereits hinter ihr auf den steinernen Boden hinabgesprungen.

JD stieß einen Pfiff aus.

Marcus rieb sich mit einem leichten Nicken das Kinn. „Das sollte reichen“, brummte er.

Ursprünglich war es einmal ein Weinkeller gewesen, aber die meisten der alten Flaschenregale waren zur Seite geschoben oder zerlegt worden, um mehr Raum zu schaffen. Was diesen Raum nun füllte, waren mehrere halbherzig organisierte Reihen KOR-Ausrüstung mit gerade genug Platz dazwischen, dass man alles erreichen konnte.

Kait ging einen dieser schmalen Pfade entlang, vorbei an Munitionskisten und ein paar Schachteln voller Granaten. Doch nichts davon interessierte sie im Moment; Was sie wollte, befand sich am Ende der Reihe.

„Rationen“, verkündete sie, als sie ihr Ziel erreicht hatte. „Verzehrfertig.“

„Und genug für eine ganze Armee“, rief Del aus. Er und JD waren ein paar Schritte hinter ihr, und als Kait zur Seite trat, belud jeder von ihnen seine Arme mit Riegeln und Konserven, auf denen das KOR-Symbol prangte. Als sie damit zur Leiter zurückkehrten, klemmte Del sich im Vorbeigehen auch noch eine verstaubte Weinflasche unter den Arm, wie Kait bemerkte.

Sie nahm einen der verbliebenen Proteinriegel, riss die Verpackung auf und stopfte das ganze Ding mit drei großen Bissen in ihren Mund.

„Hier drüben“, sagte Marcus, der links von ihr in die Hocke gegangen war. „Ein Funkgerät.“

„Cch hil Ber“, sagte Kait mit vollem Mund.

„Hm?“

Sie schluckte. „Ich hole Baird.“

„Nicht nötig. Hilf mir einfach mit der Kiste, dann tragen wir sie hoch. Da ist es wenigstens hell. Liegen hier auch irgendwo Energiezellen herum?“

Kait klopfte sich die Brösel von den Händen und suchte mit den Augen die Ausrüstungsstapel ab. Es dauerte nicht lange, bis sie eine ganze Schachtel voller Energiezellen entdeckte. Sie stopfte sich die Taschen damit voll und klemmte sich sicherheitshalber noch ein paar weitere unter den Gürtel. Erst da fiel ihr auf, dass sie noch immer Anya Strouds Rüstung trug. Anya … Marcus’ Frau war vor langer Zeit gestorben, und er hatte ihr die Rüstung nur gegeben, weil Jinn und ihre DeeBees sein Anwesen zu Klump geschossen hatten und sie eine Rüstung gebraucht hatte. Während der letzten paar Tage war sie fast so etwas wie eine zweite Haut für Kait geworden, aber jetzt fragte sie sich plötzlich, ob es Marcus vielleicht störte, dass sie sie noch immer trug. Diese Rüstung hatte schließlich eine lange Geschichte, wenn auch vermutlich keinen allzu großen sentimentalen Wert.

Sie blickte zu ihm hinüber. Er stand mit dem Rücken zu ihr, während er die Kiste mit dem Funkgerät unter einem Turm aus Heizdecken hervorzerrte. Vollkommen gefasst, ganz der Profi. Aber wie sah es in ihm aus? Stiegen vielleicht jedes Mal schmerzhafte Erinnerungen in ihm hoch, wenn er in Kaits Richtung blickte?

Sie beschloss, ihn danach zu fragen. Aber erst, wenn sie keine unmittelbare Gefahr mehr zu befürchten hatten. Wann immer das auch sein mochte.

Zwanzig Minuten später hatten sie das tragbare Funkgerät auf dem Boden des Wohnzimmers aufgebaut. Während Baird und Sam weiter daran herumbastelten, setzte sich Kait zu Del und JD.

Del holte daraufhin einen weiteren Becher und schenkte ihr ein wenig Wein aus der alten Flasche ein. „Versuch mal. Ist verdammt gut.“

„Wundert mich nicht“, erwiderte sie. „Oscar hat die Vorräte hier aufgefüllt.“ Sie nippte an dem Becher, wohl wissend, dass Del und JD sie beobachteten. Die Erwähnung ihres Onkels hatte die beiden nervös gemacht, und keiner von ihnen schien zu wissen, was er sagen sollte. Soweit es Kait anging, mussten sie gar nichts sagen. Sie blickte ihnen in die Augen, hob den Becher und nahm einen großen Schluck.

Die beiden folgten ihrem Beispiel und tranken ebenfalls.

„Du hast recht“, sagte Kait. „Der Wein ist wirklich gut.“ Zwei Schlucke später senkte sich bereits ein leichter Dunst über ihre Gedanken und die hartnäckigen Erinnerungen an ihren Albtraum von letzter Nacht verblassten endlich.

Auf der anderen Seite des Raumes ging Cole von Fenster zu Fenster, um den Sumpf draußen nach Anzeichen des Schwarms abzusuchen.

„Musst du so hin und her tigern?“, fragte Baird, ohne vom Display des Funkgeräts aufzublicken. „Warum bist du so nervös?“

„Der Cole Train ist nicht nervös, Mann“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Im Gegenteil, ich hoffe, die kleinen Mistkerle kommen für eine zweite Runde zurück.“ Er lehnte sich aus dem zerstörten Fenster und rief: „Wir sind hier, ihr Scheißer! Kommt und holt uns!“

Samantha lachte. „Du brauchst wirklich mal Urlaub, Augustus. Zu viel aufgestaute Energie.“

„Das hier ist wie Urlaub für mich.“ Der Veteran seufzte. „Ich komme kaum mehr aus dem Haus, weißt du? Ich vermisse die gute alte Zeit. Zumindest ein kleines bisschen.“

Das Funkgerät stieß eine Reihe von zwitschernden Piepslauten aus.

„Scheiße! Wer sagt’s denn!“ Baird zog die Hände zurück, als hätte er Angst, das Gerät würde bei jeder weiteren Berührung den Geist aufgeben. Erst als das Piepsen schließlich endete, beugte er sich wieder vor und tippte die Kontrollen an. Vermutlich gab er einen ID-Code ein. „Könnte eine Weile dauern, bis das System meine Daten erkennt und einen Vogel herschickt …“

Statisches Knistern ertönte, gefolgt von einer vertrauten Stimme. „Damon, sind Sie das? Wo zur Hölle stecken Sie? Melden Sie sich!“

Es war Ministerpräsidentin Jinn. Um ein Haar hätte Kait gelacht.

Sam hatte sich nicht so gut im Griff; sie prustete laut los. „Was zum Teufel …? Hat sie etwa die ganze Zeit neben der Konsole gewartet? Die ist ja noch viel anhänglicher, als ich dachte.“

Ihr Partner lehnte sich zurück, das Kinn auf die Hand gestützt. „Vermutlich hat sie unsere Position bereits trianguliert“, murmelte er, während er mit dem Zeigefinger gegen seinen Mundwinkel tippte. „Sollen wir antworten?“

JD stand auf. „Wenn sie schon reden will und uns nicht gleich Raketen um die Ohren haut … warum nicht? Ist vermutlich besser, als zu warten, bis ihr Kommandobot mit einer bewaffneten Eskorte aufkreuzt.“

„Finde ich auch“, stimmte Marcus zu. „Und ich möchte hören, was sie zu sagen hat.“ Als niemand widersprach, beugte Baird sich erneut vor, um die Sendeeinheit in die Hand zu nehmen. Gleichzeitig aktivierte er die Videoübertragung und Jinns Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Sie starrte irgendetwas außerhalb des Erfassungsbereichs an.

„Ministerpräsidentin!“, sagte er. „Äh … schön, von Ihnen zu hören.“

„Sparen Sie sich das, Damon, und geben Sie mir einen Lagebericht.“ Ihre Stimme hatte einen leicht näselnden Klang, der Kait reflexartig die Fäuste ballen ließ, fest genug, dass sich ihre Fingernägel tief in ihre Handflächen gruben.

Baird blickte seine Begleiter an, die sich rings um ihn versammelt hatten. Dann begann er mit einer Zusammenfassung der jüngsten Ereignisse, angefangen beim Tollendamm. Er berichtete von den Kreaturen, die aus den alten Locust-Massengräbern auftauchten – dem Schwarm, wie sie ihn genannt hatten. Doch bevor er ins Detail gehen konnte, schnitt Jinn ihm das Wort ab. Sie hatte die ganze Zeit auf eine Stelle abseits des Schirms gestarrt, aber jetzt fixierte sie Baird mit ihrem Blick.

„Wurde die Bedrohung neutralisiert?“

„Soweit ich das sagen kann, nein“, antwortete er. „Falls überhaupt, scheint die Sache nur noch schlimmer zu werden.“

Jinn presste die Lippen zusammen, dann beugte sie sich mit schmalen Augen vor, die Stirn gefurcht. „Sie haben da ja einen interessanten Trupp um sich geschart. So sieht man sich wieder, Fenix.“

„Hallo …“, begann JD.

„Es ist …“, sagte Marcus im selben Moment.

Vater und Sohn wechselten einen kurzen Blick, und es war Marcus, der danach weitersprach. „Jinn“, setzte er von Neuem an. „Hier draußen herrscht gottverdammtes Chaos, und dass Sie die ganze Zeit den Nonkons und uns die Schuld zugeschoben haben, hat nicht gerade geholfen. Ganz zu schweigen davon, was Sie mit meinem Haus angestellt haben.“

Kait musste ein Schmunzeln unterdrücken. Mehrere Sekunden herrschte Schweigen, und Jinn schien ihr während dieser Stille direkt in die Augen zu starren – vermutlich war es nur eine Illusion wegen des Bildschirms, überlegte Kait. Vermutlich. Dennoch wartete sie angespannt darauf, dass die Ministerpräsidentin etwas erwiderte.

„Eine Fehleinschätzung unsererseits“, räumte Jinn schließlich mit einem zerknirschten Lächeln ein. „Aber eine verständliche Fehleinschätzung, wenn man die Informationen bedenkt, die uns zur Verfügung standen.“

Kait machte einen Schritt nach vorn. „Verständlich …“

Eine Hand auf ihrem Arm hielt sie zurück. Del schüttelte den Kopf. Warte einfach, sagten seine Augen. Also schluckte Kait ihren Zorn hinunter – etwas, was sie in letzter Zeit schon viel zu oft getan hatte.

„Ich habe ein Kontingent DeeBees losgeschickt, um den Tollendamm zu untersuchen“, erklärte Jinn weiter. „Und Sie möchte ich einmal mehr bitten, nach New Ephyra zu kommen, damit wir diese Sache persönlich besprechen können. Der Mangel an Kommunikation und Kooperation hat bereits genug Probleme verursacht …“

„Das soll wohl ein Scherz sein“, presste Kait zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Ruhig“, wisperte JD. „Bleib ruhig.“

Falls Jinn sie gehört hatte, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. „Wir müssen zusammenarbeiten, um dieser Situation Herr zu werden“, fuhr sie ohne jede Unterbrechung fort. „Was immer diese Situation auch sein mag.“

„Wir haben die Situation doch gerade erklärt“, brummte Marcus.

Jinn zog eine Augenbraue hoch. „Ich bin sicher, Sie verstehen, dass ich meine Militärstrategie nicht nur auf eine einzelne Aussage stützen kann – ganz gleich, wie vertrauenswürdig diese Quelle auch sein mag.“ Sie breitete die Arme aus. „Ich werde auch lieb ‚Bitte‘ sagen, falls das hilft. Also, bitte kommen Sie für eine Nachbesprechung nach New Ephyra.“

„Vor ein paar Tagen haben Sie noch versucht, uns umzubringen“, warf Kait ein. Sie konnte sich einfach nicht länger zurückhalten.

„Ich habe versucht, Sie unter Arrest zu stellen“, konterte Jinn. „Bis wir keine andere Wahl mehr hatten, als zu härteren Maßnahmen zu greifen.“

Baird verlagerte sein Gewicht. „Sicherheitsrobotern tödliche Waffen in die Hand zu drücken, war eine wirklich schlechte Idee, Jinn.“

Die Ministerpräsidentin hob abwehrend die Hände. „Wir machen alle Fehler. Ich gebe zu, es war nicht optimal. Falls wir diesen Punkt dann abhaken und uns wieder auf das eigentliche Problem konzentrieren könnten – diesen … ‚Schwarm‘, anstatt weiter mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Ich garantiere Ihnen während Ihres Besuchs auch sicheres Geleit.“

„Ist das ihr Ernst?“, fragte Kait Del.

„Jap.“

Sie schmunzelte. „Wow.“

Jinn versuchte weiter, sie zu überzeugen, aber Kait hörte nicht länger hin. Während die anderen debattierten, ging sie zum Fenster hinüber und blickte in den Sumpf hinaus. Sie widerstand dem Drang, den Anhänger hervorzuziehen, der unter ihrer Rüstung verborgen war – dieses Abschiedsgeschenk, das ihre Mutter ihr ohne jede Erklärung gegeben hatte.

Was zur Hölle hatte es damit auf sich?

Sie schnappte Bairds letzte Worte auf.

„Wir werden darüber nachdenken.“

„Beeilen Sie sich bitte mit Ihrer Entscheidung. Mein Raven wird vor Sonnenaufgang an Ihrer Position eintreffen.“

Die Verbindung wurde beendet, der Schirm verdunkelte sich und einen Moment lang herrschte tiefes Schweigen.

„Also, was denkt ihr?“, fragte Baird in die Runde.

„Ich denke, es stinkt“, sagte Marcus. „Aber wir reden hier ja auch über Jinn. Es wäre ein Fehler, ihr zu vertrauen.“

Del schüttelte den Kopf. „Aber wollen wir wirklich, dass sie sich allein um den Schwarm kümmert? Für mich ist das keine Option.“

„Er hat recht“, meinte JD. „Wir müssen es versuchen. Der Schwarm darf nicht noch mehr Schaden anrichten. Wir müssen ihr klarmachen, womit sie es hier zu tun hat. Vorausgesetzt natürlich, sie legt uns nicht sofort Handschellen an, sobald wir durch das Stadttor marschieren.“

Sam zuckte mit den Schultern. „Damon und ich haben gelernt, mit ihr zu arbeiten. Und Jinn ist auf DBi angewiesen, wir haben also ein Druckmittel. Solange wir bei euch sind, wird euch nichts passieren.“

„Kait?“, fragte JD. „Du hast noch gar nichts gesagt. Was schlägst du vor?“

Sie spürte die erwartungsvollen Blicke der anderen auf sich und atmete tief ein, während sie ihre Gedanken ordnete. Was würde Reyna jetzt wohl tun? Jinn die Zähne einschlagen, vermutlich. Und dann würde sie den anderen für ihre Hilfe danken, ins Dorf zurückkehren und mit dem Wiederaufbau beginnen.

Aber Reyna war tot. Sie musste diese Tatsache endlich akzeptieren – oder es zumindest versuchen.

„Ich möchte dafür sorgen, dass das, was meiner Mutter passiert ist und auch meinem ganzen Dorf, niemandem sonst zustößt. Ihr Tod darf nicht umsonst gewesen sein.“

Bevor jemand etwas erwidern konnte, nickte sie JDs Vater zu. „Ich glaube, Marcus hat recht. Wir können ihr nicht trauen. Und jeder Nonkon-Knochen in meinem Leib sagt, dass wir dem Problem hier den Rücken kehren, wenn wir nach New Ephyra gehen.“ JD setzte zu einer Entgegnung an, aber sie hielt ihn mit erhobener Hand zurück. „Aber du und JD, ihr habt ebenfalls recht. Allein würde Jinn diesen Schlamassel nur noch größer machen.“ Jetzt wandte sie sich Sam und Baird zu. „Man kann ihr nicht trauen – aber euch beiden schon, denke ich. Wenn ihr sagt, dass ihr Jinn zwingen könnt, ihr Wort zu halten, dann glaube ich euch das.“

Cole trat vor. „Dann ist es also entschieden. Marcus?“

Nachdem der Veteran Kait einen Moment lang gemustert hatte, nickte er langsam. „Es ist entschieden.“

Ihre kleine Abstimmung war damit beendet, und sie beschlossen, sich ein wenig auszuruhen, während Cole die erste Wache übernahm. Kait lag im Dunkeln auf dem Boden und beobachtete ihn, wie er laut- und bewegungslos am vorderen Fenster stand. Vom Kamin drang das Stöhnen des Windes an ihre Ohren.

Sie kämpfte gegen den Schlaf an, solange sie konnte, denn sie wusste, was sie erwartete. Aber schließlich gab ihr Körper nach.

Sie döste ein …

… Ihre Arme und Beine hatten sich in krustigen, schleimigen Netzen verheddert, die sich wie Adern um ihre Glieder schlangen, während alter, kalter Fels gegen ihren Rücken drückte. Sie wand sich, versuchte zu schreien, aber ihr Mund konnte sich nicht bewegen; der Kiefer hing schlaff, ausgehängt auf ihre Brust herab und Blut rann aus ihren Mundwinkeln, ihrer Nase und ihren Ohren.

Kait stemmte sich gegen die Tentakelfesseln. Zwecklos.

Sie drehte den Kopf, suchte nach etwas, irgendetwas. Sie musste fliehen, musste verschwinden, musste …

Oscar. Er saß ein Dutzend Schritte entfernt mit dem Rücken zu ihr, in den Händen einen Fisch, und er benutzte ein Messer, um ihn aufzuschlitzen. Als die Eingeweide aus dem Tier herausquollen, lachte Oscar.

Sie wollte ihn rufen, konnte es aber nicht. Und dann war er auch schon wieder verschwunden. Der Fisch fiel zu Boden und wand und krümmte sich, nun wieder ganz, aber mit hilflos aufklappendem Maul. Das hier war nicht sein Element.

Plötzlich war da ein Glühen, Wärme auf ihrer Wange. Erlösung. Sie drehte den Kopf in die Richtung des Lichts und erblickte zwei Gestalten, die auf sie zu rannten. Sie schienen vor etwas in den Schatten hinter ihnen zu fliehen.

Kait erkannte sie sofort. Es waren Gabe und Reyna.

Vater.

Mutter.

Sie rannten. Rannten auf sie zu. Aber sie flohen nicht wirklich. Nein, sie stürmten vor, ihre zu Klauen verkrümmten Hände vorgereckt …

Irgendwo tief in ihrem Inneren hörte Kait Gelächter.

Dröhnendes, schreckliches Gelächter.

Sie hörte …

KAITHÖRTE.

„KAIT!“

2. Kapitel

Ein neuer Horizont

„Kait!“

Keuchend schreckte sie aus dem Schlaf hoch. „Was ist? Häscher? Larven?“

„Ein Raven“, sagte JD. „Unsere Mitfahrgelegenheit.“ Er kniete sich neben sie und reichte ihr eine Trinkflasche. Kait nahm einen tiefen Schluck … dann drehte sie den Kopf und spie die Flüssigkeit gegen die Wand.

„Was ist das?“

„Kaffee“, antwortete er.

„Wohl kaum.“

„He, ich habe nicht gesagt, dass er gut ist.“

Sie spuckte den Rest auf den Boden und drückte ihm die Feldflasche wieder in die Hand.

„Alles in Ordnung?“, fragte er. „Schlecht geträumt?“

„Nein“, log sie instinktiv. „Ich … vergiss es einfach, in Ordnung?“ Sie wartete nicht auf eine Antwort, stattdessen stand sie auf und streckte sich. Bis vor ein paar Tagen hatte sie noch nie in einer Rüstung geschlafen und es war noch immer schrecklich unbequem. Die anderen schienen kein Problem damit zu haben, aber sie hatten ja auch viel mehr Erfahrung in solchen Dingen.

Kait ging in die Küche, nahm einen Kanister voll Wasser und spülte sich erst den widerlichen „Kaffee“-Geschmack aus dem Mund, bevor sie mehrere tiefe Schlucke nahm. Ihr Albtraum ließ sich auf diese Weise zwar nicht ertränken, aber immerhin konnte sie ihren Durst stillen. Anschließend rieb sie sich den Nasenrücken, um ihre Kopfschmerzen wegzumassieren. Schlafmangel zwei Nächte in Folge – das würde sie garantiert noch einholen.

Marcus klopfte an den Türrahmen. „Kommst du?“, fragte er, aber es klang nicht rhetorisch. Er wollte wissen, ob sie bei ihnen bleiben würde.

„Ja, ich komme mit“, erwiderte Kait. „Fürs Erste.“ Danach musterte sie ihn ein paar Sekunden lang. „Wirst du Jinn von diesem Haus erzählen? Von der KOR-Ausrüstung?“

Er lachte schnaubend und schüttelte den Kopf. „Teufel, nein. Soweit es mich angeht, könnt ihr Nonkons das Zeug gern haben.“

Kait nickte. „Danke.“

Der Flug mit dem Raven dauerte zwei Stunden.

Es schien, als würden die anderen das alles für vollkommen normal halten. Die meisten von ihnen waren wenige Minuten nach dem Start bereits eingeschlafen, und eine Weile saß auch Kait mit geschlossenen Augen da, den Kopf gegen die Wand gepresst, und tat so, als würde sie ebenfalls schlafen. Als wäre das alles ganz normal. Nur ein kleiner Abstecher in die große Stadt, um ein Schwätzchen mit der Ministerpräsidentin zu halten.

Keine große Sache.

Eine Turbulenz schüttelte den Raven durch und ließ Kaits Herz einen Schlag aussetzen. Cole und Marcus wurden ebenfalls aus ihrem Schlummer gerissen. Die beiden alten Freunde saßen nebeneinander, und sie begannen, sich mit gesenkter Stimme zu unterhalten. Das heißt, die meiste Zeit über sprach eigentlich nur Cole, aber hin und wieder konnte auch Marcus ein paar Worte einfügen. Einmal sah Kait ihn sogar über etwas grinsen, was sein Kamerad zum Besten gab.

Schließlich dösten die beiden wieder ein.

Kait hatte ihr ganzes Leben bei den Nonkons verbracht. Sie war dort geboren und aufgewachsen, als Teil einer Gruppe, einer Familie. Das war die Welt, die sie kannte. Einsam hatte sie sich höchstens gefühlt, wenn sie auf der Jagd im Wald war oder eine der Höhlen hinter den Windrädern erforschte. Dass sie nun gleichzeitig Teil einer Gruppe und doch auch einsam war, war zutiefst verwirrend für sie.

Leise löste sie ihren Sicherheitsgurt und ging mit vorsichtigen Schritten nach vorn zum Cockpit, wobei sie sich mit einer Hand von Halteschlaufe zu Halteschlaufe hangelte. Es dauerte mehrere Minuten, bis die Pilotin bemerkte, dass sie hinter ihr stand. Die Kopilotin brauchte noch ein paar Sekunden länger.

„Alles in Ordnung, Ma’am?“, fragte sie dann.

„Ja“, sagte Kait. „Ich kann nur nicht schlafen, darum wollte ich ein wenig die Aussicht genießen.“

Die beiden Frauen wechselten einen Blick und zuckten mit den Schultern. Vermutlich war das für sie ganz normal. Kait widerstand dem Drang, sie nach dem Namen der Region zu fragen, über die sie gerade hinwegflogen. Ein Bildschirm auf der Konsole zeigte eine Karte, die langsam von oben nach unten scrollte, während der Raven dahinbrauste, aber anstelle von Namen bestand die einzige Beschriftung aus unverständlichen Zahlenkombinationen.

Durch das Cockpitfenster hatte Kait einen 180°-Ausblick, aber der war nicht wirklich viel beeindruckender als die Aussicht, die sie von ihren Wanderungen mit Reyna und Oscar gewöhnt war: endlose wogende Hügel, Berge in der Ferne, ein See hier, ein Wald dort und irgendwo in der Ferne die Andeutung von Wüsten, Ozeanen und mehr.

Der Raven neigte sich auf die Seite und das Heulen der Turbinen wurde lauter. Die Pilotin murmelte in ihr Headset – eine Reihe von Codewörtern, die keinerlei Sinn für Kait ergaben. Das Einzige, was sie heraushörte, war, dass sie sich dem Jacinto-Plateau näherten.

„Sie schnallen sich jetzt besser wieder an“, sagte die Frau anschließend. „Wir landen bald.“

Kait runzelte die Stirn. „Kann ich nicht bleiben? Ich würde es gern sehen.“

„Waren Sie noch nie in New Ephyra?“

„Ich war noch nie in irgendeiner Stadt.“

Das ließ beide Frauen den Kopf drehen und Kait von Kopf bis Fuß mustern. Einen Moment später wandten sie sich wieder ihren Instrumenten zu – als hätten sie bereits alles gesehen, was sie sehen mussten.

„Wie Sie wollen“, sagte die Pilotin. „Aber halten Sie sich gut …“

„Fest, ich weiß“, unterbrach Kait sie. Sie wurde es allmählich leid, wie ein unwissender Neuling behandelt zu werden, und sie war fest entschlossen, von jetzt an ganz cool zu bleiben wie ein erfahrener Soldat, ganz ruhig und …

„Heilige Scheiße!“, stieß sie hervor.

Die Pilotin grinste.

„Heilige …“, wiederholte Kait, aber dann versagte ihr die Stimme.

Jeder einzelne Teil des Panoramas hätte schon gereicht, um sie sprachlos zu machen, aber alles zusammen … das war absolut überwältigend. Sie schloss die Finger fester um die Halteschlaufe und beugte sich vor, während sie ihr Gehirn zwang, sich immer nur auf ein Element zu konzentrieren, ehe sie sich dem nächsten zuwandte.

In der Ferne erhoben sich gewaltige steile Felswände hoch zu kantigen Gipfeln, die halb in den goldenen Wolken verborgen lagen, während die Täler in tiefen Schatten gebadet wurden. Weiße Flecken tanzten und kreisten in der Luft wie Staubkörnchen in einem Sonnenstrahl, und Kait erkannte, dass es Vögel waren. Tausende Vögel, von denen die eine Hälfte in den Himmel aufstieg und die andere zum Boden flog.

Davor, ein Stück näher, ragten die Ruinen des alten Ephyra auf. Sie erstreckten sich über das gesamte Plateau und standen so dicht gedrängt, dass sie wie ein Wald halb eingestürzter Steinmauern und -säulen wirkten, durchsetzt mit verbrannten Holzkonstruktionen und geteerten Straßen, in denen tiefe Krater prangten. Die Schäden waren selbst aus der Ferne unübersehbar, von gewaltigen Rissen im Boden bis hin zu gezackten Granitbrocken, unter denen ganze Häuser begraben lagen. Die Locust-Horde hatte keine Gnade gezeigt, als sie aus dem Boden hervorgebrochen war und die Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte.

Doch auf jeden Krater, den die Locust erschaffen hatten, kam ein Krater, der durch einen Bombenabwurf entstanden war. Zudem zogen sich gewaltige Streifen verbrannten Bodens über das Plateau, auf denen nichts mehr stand oder wuchs. Kait erblickte mehrere Gruppen von Robotern, die mit dem Abriss alter Ruinen beschäftigt waren.

Doch all das – die majestätischen Granitklippen und die scheinbar endlose Ruinenlandschaft – verblasste im Vergleich mit der neuen Stadt, die aus der Asche der alten emporgewachsen war. Die Mauern erinnerten Kait an die, die sie aus Siedlung 5 kannte: eine gewaltige Barriere, die im Licht der Nachmittagssonne schimmerte, als wollte sie jeden Feind herausfordern, ihre Stärke auf die Probe zu stellen. In gewisser Weise waren sie selbst wie Klippen, nur eben von Menschenhand erschaffen. Oder genauer, durch die Hand der Bauroboter von Damon Bairds – DB Industries.

Als der Raven höher stieg, um über diese mächtige Barriere hinwegzufliegen, sah Kait weitere Mauern, die die Stadt wie die Speichen eines Rades in mehrere keilförmige Sektionen unterteilten. Neugierig beugte sie sich vor, um besser sehen zu können. Der Kontrast zu den Ruinen draußen hätte extremer nicht sein können. In vielerlei Hinsicht war New Ephyra eine überdimensionierte Version der Siedlungen, die Kait aus ihrer Heimat kannte, was angesichts der automatisierten Bautechniken eigentlich nur logisch war. Doch es war die Größe der Stadt, die ihre Vorstellungskraft sprengte. Hunderte Gebäude, Tausende Einwohner, die wie Ameisen durch makellose, saubere Straßen wuselten und sich auf großen Plätzen versammelten. Viele von ihnen – schockierend viele sogar – schoben Kinderwagen vor sich her.

Sie flogen über einem Park dahin, wo elegant gekleidete Leute in ordentlichen Reihen saßen und in stiller Bewunderung einer Aufführung beiwohnten. Dann, nur ein paar Sekunden später, glitt eine riesige Arena unter ihnen vorbei, auf deren Rängen Tausende triumphierend auf und ab sprangen, während Roboter vor ihnen Thrashball spielten. Banner in den Farben der Teams wurden hin und her geschwenkt, und die Menge reagierte auf das Spiel, als wäre sie ein einziger riesiger, vielgliedriger Organismus.

„Und, wie findest du es?“, fragte JD.

Kait zuckte zusammen. Wie lange hatte er schon hinter ihr gestanden? Sie versuchte, möglichst gleichgültig zu wirken.

„Ziemlich groß.“

JD lachte. „Du bist eine erbärmliche Lügnerin.“

Sie boxte ihn gegen die Schulter. „Es ist ziemlich groß, du Idiot.“

„Du meinst wohl eher riesig.“

„Wenn du drauf bestehst.“

„Im Vergleich zu Fort Umson, auf jeden Fall.“ Das war der Name ihres Dorfes. Der historische Name. Sie warf ihm einen Seitenblick zu.

„Ich glaube nicht, dass das etwas Gutes ist.“

Das Geräusch der Antriebe veränderte sich in Vorbereitung auf die baldige Landung. Hinter ihnen begannen die anderen, sich zu regen und ihre Sachen zusammenzuklauben.

Kait nickte nach vorn. „Was ist das für ein Gebäude in der Stadtmitte?“

JD blickte in die angezeigte Richtung und blinzelte gegen die tief stehende Sonne an. „Das ist Jinns Palast.“ Als sie die Augenbraue hochzog, fügte er hastig hinzu: „Der Regierungspalast, meine ich. Da drin ist unter anderem auch das zentrale KOR-Hauptquartier untergebracht. Ihr eigentliches Zuhause ist … nun, um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, wo sie wohnt. Würde mich aber nicht überraschen, wenn sie unter ihrem Schreibtisch schläft.“

Das Gebäude ließ alles andere ringsum winzig erscheinen. Das spätnachmittägliche Licht schillerte auf den blauen und goldenen Kuppeldächern, unter denen sich weiße Balkone und Terrassen vorwölbten. Alle Straßen schienen bei dem Palast zusammenzulaufen, was ganz sicher kein Zufall war. Irgendeine verquere Metapher für Macht und Wohlstand, vermutete Kait.

Der Raven legte sich unvermittelt auf die Seite und flog an dem zentralen Palastgebäude vorbei. Von diesem Teil der Stadt aus hatte man einen großartigen Blick auf die Berge, und die Häuser hier waren ein wenig erhöht gebaut, damit man die Aussicht auch richtig genießen konnte. Es handelte sich dabei um große, elegante Anwesen, und je weiter sie flogen, desto größer und eleganter wurden sie. Kait hatte fast den Ausdruck, als wollten ihre Eigentümer sich gegenseitig ausstechen. Viele dieser Villen waren so groß wie das gesamte Dorf, das sie ihr Zuhause nannte.

Der Kontrast war extrem. Sie musste an die schlichte Funktionalität der Nonkon-Dörfer denken, mit ihren zweckdienlichen Gebäuden und gewundenen Pfaden. Sicher, dort hatten die Leute in unmittelbarer Nähe zueinander gewohnt, damit man das Dorf besser verteidigen konnte – aber trotzdem hatte es genug Raum für Privatsphäre gegeben. Die Siedlung war im Verlauf von Kaits Lebens größer geworden, aber dabei hatte es stets ein Gleichgewicht zwischen dem Wachstum des Dorfes und dem Wachstum des Individuums gegeben. Hier hingegen schien das genaue Gegenteil der Fall zu sein, so, als würde es den Leuten allein darum gehen, diesem Ort ihren eigenen, individuellen Stempel aufzudrücken. Vielleicht war das eine natürliche Reaktion; vielleicht wollte man einfach aus der Masse herausstechen, wenn die Häuser so dicht an dicht standen. Für Kait sah es aus wie ein riesiges goldenes Gefängnis.

Und da, unter ihr, lag das größte der großen Anwesen.

„Bairds Haus“, erklärte JD. „Dort sind wir auf jeden Fall sicher.“

Kait dachte an die Zerstörung direkt hinter der großen Mauer, und kurz war sie versucht, JD auf die Naivität seiner Aussage anzusprechen. Aber dann erkannte sie, dass er nicht den Schwarm meinte, sondern Jinn. Während der letzten Woche hatten sie fast ebenso oft gegen die Ministerpräsidentin kämpfen müssen wie gegen den Schwarm. Kait war eine Nonkon, was sie in den Augen der KOR zu einer Gesetzlosen machte. Zugegeben, lange hatte die Ministerpräsidentin die Nonkonformisten einfach ignoriert – aber dann hatte jemand angefangen, ihre Leute zu entführen, und ihre erste Reaktion hatte darin bestanden, die Nonkons zu beschuldigen und sie mit einer Machtdemonstration einzuschüchtern, die beinahe Kaits gesamtes Dorf verwüstet hatte. Zwar hatten sie den Angriff mit großer Mühe zurückschlagen können, aber die Schäden waren gewaltig gewesen. Weswegen die Siedlung umso verwundbarer gewesen war, als der Schwarm zugeschlagen hatte.

JD und Del hatten inzwischen ebenfalls den Status von „Kriminellen“, aber für sie war das vermutlich noch das kleinste ihrer Probleme, denn sie waren von der Koalition desertiert, nachdem Jinn an Siedlung 2 ein Exempel statuiert hatte. Nach dem Gesetz der Regierung könnten sie dafür lange, lange Zeit in einer Zelle verbringen. Und sogar Marcus hatte sich inzwischen der Mittäterschaft schuldig gemacht. JD hatte recht. Im Moment war es definitiv von Vorteil, dass sie Damon Bairds Gäste waren.

„Nicht übel, hm?“, fragte Baird, der hinter sie getreten war und sich nun zwischen Kait und JD nach vorn beugte. „Ziemlich klein, ich weiß, aber mir und Sam reicht es.“

Sam lachte auf ihrem Platz. „Das halbe Haus steht leer. Vielleicht sollten mehr als nur zwei Leute dort wohnen.“

Baird grinste und schüttelte den Kopf, erwiderte aber nichts. Was vermutlich ziemlich schlau war, wie Kait befand.

„Deine DeeBees“, begann sie.

„Sie gehören Jinn, nicht mir“, korrigierte er.

„Wir sind vielleicht über die halbe Stadt geflogen und ich habe mehr von diesen Dingern gesehen als echte Menschen.“

Er nickte und auf seinem Gesicht mischten sich Stolz und Sorge. „Jinn ist ein wenig zwanghaft. Anfangs sollten sie nur die gefährlichen Aufgaben übernehmen. Polizeieinsätze, die Verteidigung der Stadt, solche Sachen. Aber dann wurden sie für jede Aufgabe eingesetzt, bei der auch nur das geringste Risiko bestand. Bauarbeiten. Wartungsarbeiten. Sogar Thrashball … auch wenn das nicht sonderlich anspruchsvoll ist.“

„Das habe ich gehört, Bursche“, knurrte Cole. Er sah also nur so aus, als würde er schlafen.

Unter ihnen patrouillierten Einheiten von DeeBees auf den Straßen und über ihren Köpfen zogen ihre fliegenden Drohnenverwandten, die Beobachter, ihre Kreise.

Baird ignorierte Cole und fuhr fort: „Inzwischen ist die Regierung jedenfalls vollkommen auf die Bots angewiesen. Und wir menschlichen Einwohner können unsere freie Zeit genießen, frei von jeglicher Form von Gefahr oder körperlicher Anstrengung.“

Das erklärte, warum Baird so gewaltigen Einfluss hatte. Er baute die Roboter, die die Drecksarbeit für die Regierung erledigten. Würde Jinn ihn hintergehen, würde das all ihre Pläne in Gefahr bringen.

Der Raven flog über die Mauer von Bairds Anwesen hinweg, sodass Kait nun den weitläufigen Garten sehen konnte. Gewundene Fußwege führten zwischen makellos getrimmten Bäumen und Büschen hindurch. Da waren auch mehrere Teiche, in denen bunte Fische träge im Kreis schwammen. Jenseits dieses Gartens liefen sämtliche Wege auf einem weiten, ebenen Rasen zusammen, und dahinter erhob sich das Haupthaus: vier Stockwerke aus sandfarbenen Mauern mit weiß umrahmten Fenstern und mindestens einem Dutzend Balkone.

„Das ist komisch“, sagte Baird.

„Was?“, fragte JD.

„Ich hatte nicht um eine Willkommensparty gebeten.“ Baird nickte auf den Rasen hinab.

Der Platz, auf dem sie landen sollten, wurde auf drei Seiten von mechanischen Wächtern flankiert, ihre Gesichter nach innen gewandt, ihre Schockgewehre vor die Brust gehoben. Kait hatte diese Roboter während der letzten Tage viele Male gesehen und nicht wenige von ihnen in Schrottmetall verwandelt. Man nannte sie Hirten, und sie waren ursprünglich als Friedenswächter konzipiert worden, nicht als Kampfeinheiten. Das bedeutete, dass sie zwar blind angreifen konnten, aber nicht in der Lage waren, auf die Gegenwehr eines Gegners zu reagieren.

Trotzdem zog sich Kaits Magen zu einem harten Klumpen zusammen, als sie so viele Hirten auf einem Haufen erblickte, und Bairds Tonfall machte die Sache nicht gerade besser. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Der Raven setzte auf dem Rasen auf und sofort klang das Heulen seiner Turbinen ab. Marcus schob die Seitentür auf und blickte den Robotern mit zusammengezogenen Brauen entgegen. Es waren mehrere Dutzend Hirten, alle in ordentlichen Reihen aufgestellt, alle dem Helikopter zugewandt und alle identisch … bis auf die Maschine in der Mitte der Formation.

Diese Art von DeeBee hatte Kait auch schon gesehen.

Der Roboter trat vor, und der Bildschirm, der seinen Schädel ersetzte, leuchtete auf, um das Gesicht von Ministerpräsidentin Jinn darzustellen.

„Willkommen zurück, Damon“, sagte die Frau durch ihren metallisch blauen Kommandobot.

Baird breitete die Arme aus. „Wozu das Begrüßungskomitee. Sagten Sie nicht etwas von ‚sicherem Geleit‘?“

„Exakt. Diese Bots sind hier, um Sie sicher zu meinem Büro zu geleiten.“

Marcus Fenix verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich glaube, wir finden den Weg auch allein.“

Zu Kaits Überraschung nickte Jinn. Sie verbeugte sich sogar ein wenig, um die Wahrheit von Marcus’ Worten anzuerkennen. Anschließend richtete sich die Maschine wieder auf und die Darstellung von Jinns Gesicht blickte sie einen nach dem anderen an.

„Ich halte es aber für wichtig, dass wir uns unterhalten, bevor Sie Kontakt mit der Zivilbevölkerung der Stadt haben“, fuhr sie fort. „Während der letzten Tage ist viel geschehen, aber noch ist nicht alles nach New Ephyra vorgedrungen. Ich möchte …“

„… dass niemand davon erfährt?“, beendete Marcus den Satz an ihrer Stelle. „Die Sache begraben. Ist das Ihr Plan?“

„Nein“, erwiderte Jinn geduldig, wobei sie auf dem Bildschirm den Kopf schüttelte. „Ich möchte nur sichergehen, dass wir einander verstehen, bevor die Sache publik wird. Ob es nun stimmt oder nicht, Geschichten über Locust-Gräber, die nach fünfundzwanzig Jahren wieder zum Leben erwacht sind, würden sich verbreiten wie ein Lauffeuer. Solche Gerüchte kann man nicht kontrollieren. Und wenn sie eine Massenpanik auslösen, hier, innerhalb einer ummauerten Stadt … Nun, das wäre ganz sicher kein wünschenswertes Szenario.“

Marcus blickte Baird an.

Baird blickte Marcus an.

JD seufzte. „Stehen wir unter Arrest oder nicht?“, fragte er.

„Oh, nein, natürlich nicht“, antwortete der Kommandobot vielleicht ein wenig zu übereifrig. „Ich bitte Sie lediglich, nicht mit der Zivilbevölkerung zu interagieren, bis wir besprechen können, was während der letzten Tage geschehen ist.“

„Es geschieht immer noch“, warf Marcus ein.

„Wie dem auch sei. Die Bevölkerung sollte erst informiert werden, wenn wir genau wissen, womit wir es zu tun haben. Geben Sie mir nur ein paar Stunden, mehr verlange ich gar nicht. Die Hirten werden sie zu meinem Büro eskortieren.“

„Können wir vorher vielleicht kurz duschen?“, fragte Cole.

„Ich fürchte, nein.“

„Gibt es in Ihrem Büro wenigstens etwas zu essen?“

Kait sah einen Schatten von Verärgerung über Jinns Gesicht huschen, aber die Politikerin verscheuchte ihn mit einstudierter Schnelligkeit.

„Natürlich.“

3. Kapitel

Schlechte Erinnerungen