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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Diese vielen Lastzüge«, schimpfte Dominik von Wellentin-Schoenecker und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.Wolfgang Rennert, der Sohn der Heimleiterin des Kinderheims Sophienlust, lächelte leicht. »Warum bist du so ungeduldig?«, fragte er den Jungen, der von allen Nick genannt wurde.Der Sechzehnjährige errötete. »Wir sind bereits eine halbe Stunde länger unterwegs, als wir vorgehabt hatten«, sagte er dann.»Wartet jemand auf dich?«, neckte Herr Rennert ihn. Er war bester Laune. Zwar hatte er einige Geschäfte aufsuchen müssen, um das zu finden, was er gewollt hatte, aber schließlich hatte er doch die gesuchten Noten bekommen.Wolfgang Rennert war Musik- und Zeichenlehrer. Er unterrichtete die Kinder von Sophienlust und hatte vor, mit ihnen demnächst ein Singspiel einzustudieren.»Ich hab etwas für Pünktchen gekauft«, antwortete Nick kurz. Seine Hand griff dabei in die Hosentasche und umschloss fest das kleine Päckchen, das ein goldenes Kreuzchen enthielt. Nick wusste, dass Pünktchen sich schon lange ein solches Kreuzchen wünschte.»Natürlich, Pünktchen! Dann müssen wir uns selbstverständlich beeilen.Wolfgang Rennert trat stärker auf das Gaspedal. Wie alle Bewohner von Sophienlust wusste auch er, dass Nick mit Angelina Dommin besonders innig befreundet war. Zwar war Angelina, die von allen wegen ihrer unzähligen niedlichen Sommersprossen nur Pünktchen genannt wurde, erst dreizehn Jahre alt, aber sie hing ebenfalls ganz besonders an Nick.
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Seitenzahl: 139
Veröffentlichungsjahr: 2018
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»Diese vielen Lastzüge«, schimpfte Dominik von Wellentin-Schoenecker und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
Wolfgang Rennert, der Sohn der Heimleiterin des Kinderheims Sophienlust, lächelte leicht. »Warum bist du so ungeduldig?«, fragte er den Jungen, der von allen Nick genannt wurde.
Der Sechzehnjährige errötete. »Wir sind bereits eine halbe Stunde länger unterwegs, als wir vorgehabt hatten«, sagte er dann.
»Wartet jemand auf dich?«, neckte Herr Rennert ihn. Er war bester Laune. Zwar hatte er einige Geschäfte aufsuchen müssen, um das zu finden, was er gewollt hatte, aber schließlich hatte er doch die gesuchten Noten bekommen.
Wolfgang Rennert war Musik- und Zeichenlehrer. Er unterrichtete die Kinder von Sophienlust und hatte vor, mit ihnen demnächst ein Singspiel einzustudieren.
»Ich hab etwas für Pünktchen gekauft«, antwortete Nick kurz. Seine Hand griff dabei in die Hosentasche und umschloss fest das kleine Päckchen, das ein goldenes Kreuzchen enthielt. Nick wusste, dass Pünktchen sich schon lange ein solches Kreuzchen wünschte.
»Natürlich, Pünktchen! Dann müssen wir uns selbstverständlich beeilen.«
Wolfgang Rennert trat stärker auf das Gaspedal. Wie alle Bewohner von Sophienlust wusste auch er, dass Nick mit Angelina Dommin besonders innig befreundet war. Zwar war Angelina, die von allen wegen ihrer unzähligen niedlichen Sommersprossen nur Pünktchen genannt wurde, erst dreizehn Jahre alt, aber sie hing ebenfalls ganz besonders an Nick.
Das ist eigentlich kein Wunder, dachte Wolfgang Rennert. Pünktchen ist eines der Dauerkinder von Sophienlust und lebt schon seit vielen Jahren in dem Heim. Hinter ihr liegt ein trauriges Schicksal, das sie aber überwunden hat.
Pünktchen hatte bei einem Zirkusbrand ihre Eltern verloren. Danach war sie von den Verwandten, die sie schlecht behandelt hatten, ausgerissen und von Nick gefunden worden. Dieser hatte das damals noch kleine Mädchen zu seiner Mutter, Denise von Schoenecker, gebracht, die das Kinderheim Sophienlust verwaltete.
Auch Nick dachte an Pünktchen. Er lächelte, als er sich Pünktchens Freude über das Geschenk ausmalte. Es war ein Versöhnungsgeschenk. Pünktchen war beleidigt gewesen, als er darauf bestanden hatte, Herrn Rennert in die Stadt zu begleiten.
In Nicks Gedanken hinein rief Wolfgang Rennert plötzlich: »Nick, halte dich fest!«
Nur der Haltegurt verhinderte, dass Nick nach vorn flog. Wolfgang Rennert war mit aller Kraft auf die Bremse getreten. Rechtzeitig kam sein Auto zum Stehen.
»Um Gottes willen«, stammelte Nick. Er war bleich geworden. Der Unfall hatte sich direkt vor seinen Augen ereignet.
Das Auto, von dem sie soeben überholt worden waren, war ins Schleudern geraten und gegen die Leitplanke geprallt.
»Wir müssen helfen!« Nick schüttelte seine Lähmung ab und riss die Autotür auf. Er konnte seinen Blick aber nicht von dem beschädigten Wagen lösen. Die Fahrerseite war aufgerissen, die Fahrerin hing leblos aus dem Wagen. Ihre linke Hand berührte den Asphalt der Straße.
»Dort vorn ist ein Notruf«, rief Wolfgang Rennert dem Sechzehnjährigen zu. »Ich kümmere mich um die Frau.«
Nick konnte nicht antworten. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er wusste aber, was er zu tun hatte. Er achtete nicht weiter auf den Verkehr, sondern lief in riesigen Sprüngen zur Notrufsäule. Mit heiserer Stimme meldete er den Unfall. Er war sehr erregt, aber es gelang ihm, sachliche Angaben zu machen.
Als Nick zur Unfallstelle zurückkam, musste er sich zuerst durch die Schaulustigen drängen. Wolfgang Rennert hatte sich über die Frau gebeugt. Jetzt sah er hoch, und Nick las in seinen Augen, dass für diese Frau jede Hilfe zu spät kam.
Nick wollte sich abwenden, da hörte er leises Wimmern. »Ein Kind!«, rief er. Jetzt gab es für ihn kein Halten mehr. Er schubste einen Mann beiseite und versuchte schon die hintere Tür zu öffnen.
In einem Kindersitz saß ein Kleinkind. Es hatte seine großen Augen weit aufgerissen und zitterte. Jetzt öffnete es den Mund, dann ging das Wimmern in einen schrillen Schrei über.
»Es ist ja schon gut«, sagte Nick. Vorsichtig streckte er die Hand aus.
Die Kleine zuckte zurück. Sekundenlang hörte sie auf zu schreien, dann begann sie wieder zu wimmern.
»Das Kind hat sicher einen Schock«, sagte Wolfgang Rennert, der neben Nick getreten war.
»Die arme Kleine!« Nick traten Tränen in die Augen. Ehe Wolfgang Rennert ihn zurückhalten konnte, kletterte er ins Auto. Er liebte Kinder und hatte schon öfters auf Spiel und Freizeit verzichtet, wenn es darum gegangen war, einem Kind zu helfen. Daher war er auch sehr stolz auf das Kinderheim Sophienlust, dessen Erbe er war. Denn dieses Kinderheim hob sich von den üblichen Heimen ab. Hier sorgten Frau Rennert und Schwester Regine dafür, dass die Kinder Liebe und Geborgenheit erhielten. Daher wurde Sophienlust auch das Heim der glücklichen Kinder genannt.
Nick hatte seine Umwelt vergessen. Er sah nur noch das kleine Kind, das ihn mit weit aufgerissenen Augen, in denen die Angst stand, anstarrte. Sicher war die Kleine noch kein Jahr alt.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Jetzt passiert dir nichts mehr.« Nick sprach beruhigend auf das Kind ein. Es waren nicht die Worte, sondern der Klang seiner Stimme, der die Kleine aufhorchen ließ. Das tierhafte Wimmern verstummte. Die Kleine schluchzte nur noch hin und wieder auf.
»Du bist sicher ein Mädchen«, sagte Nick. Er ließ sich von den Stimmen und Ratschlägen der Umstehenden nicht irritieren. »Ein ganz liebes Mädchen. Es war sehr gut, dass du so brav in deinem Sitz geblieben bist. So ist dir nichts passiert.«
»Bav«, wiederholte die Kleine, die aufmerksam zugehört hatte. Ihre bisher zu Fäusten geballten Hände entspannten sich.
Unwillkürlich lächelte Nick diesem entzückenden Kind, dessen Gesichtchen von blonden Löckchen umrahmt wurde, zu.
Um die Mundwinkel der Kleinen zuckte es. Wollte sie wieder zu weinen beginnen? Einen Moment lang sah es so aus, doch dann wurde ein Lachen daraus. Die Kleine öffnete den Mund. Zwei kleine spitze Zähnchen wurden sichtbar.
»Da, dada«, plapperte sie. Ihr Lächeln galt nur Nick. Als sie an ihm vorbeisah, erlosch ihr Lächeln sofort. Die Leute, die sich um das Auto drängten, machten ihr Angst. Wieder begann sie zu schreien und streckte dabei abwehrend ihre Händchen aus.
Ärgerlich sah Nick sich um. »Können Sie nicht etwas zurücktreten? Sie sehen doch, das Kind hat Angst.«
Die Menge dachte gar nicht daran, seiner Aufforderung nachzukommen. »Ein süßes Kind … Es schien unverletzt zu sein … Wie gut, dass es noch nicht begreift, dass es seine Mutter verloren hat …« So schwirrten die Stimmen durcheinander.
»Nicht weinen«, bat Nick. Er streckte seine Hand aus, fuhr liebevoll über das Lockenköpfchen. Dann holte er ein Taschentuch hervor und putzte der Kleinen das Näschen.
Wieder wechselte das Weinen zu einem Lächeln. Der Junge war glücklich darüber.
Da die Kleine zu strampeln begann und ihm ihre Händchen vertrauensvoll entgegenstreckte, löste er den Gurt und hob die Kleine aus ihrem Sitz.
Es war wie ein Wunder. Während die junge Frau tot am Straßenrand lag, war die Kleine völlig unverletzt. Willig ließ sie sich von Nick in die Arme nehmen. Dieser zögerte jedoch, mit ihr auszusteigen. Da begann das Kind nach ihrer Mama zu rufen. Nick zuckte zusammen. Erst jetzt fiel ihm die Tote wieder ein. Es war wie ein Albtraum, aber der schrille Ton des Martinshorn erinnerte ihn daran, dass alles Wirklichkeit war.
Während Nick das kleine Mädchen in seinen Armen hin und her wiegte, bemerkte er, dass die Menge zurückgedrängt wurde. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Herr Rennert mit einem Polizisten sprach. Dann wurde die Autotür weiter aufgeschoben, ein Uniformierter sah in den Wagen. Bei seinem Anblick brüllte die Kleine wieder los.
»Fehlt dem Kind etwas? Geben Sie es her.«
Der Beamte wollte nach dem Baby greifen, doch Nick schüttelte abwehrend den Kopf.
»Sie hat Angst. Ich kann sie sicher wieder beruhigen.«
Wie zur Bestätigung schlang die Kleine ihre Ärmchen um Nicks Hals und schmiegte ihr Köpfchen an seine Schulter. Diese Vertrautheit veranlasste den Polizisten zu der Frage: »Kennen Sie das Kind?«
»Nein, aber ich bin den Umgang mit Kindern gewohnt«, sagte Nick. »Meine Mutti ist Denise von Schoenecker. Sie leitet das Kinderheim Sophienlust.«
Der Polizist nickte. Ihm war dieser Name nicht unbekannt. Er hatte schon viel von Denise von Schoenecker gehört, auch wenn er ihr selbst noch nie persönlich begegnet war. Er wusste, sie war dafür bekannt, dass sie das Kinderheim Sophienlust vorbildlich verwaltete und keine Strapazen scheute, wenn es darum ging, ein verlassenes oder gefährdetes Kind nach Sophienlust zu holen.
Mit dem Kind im Arm stieg Nick aus. Da er nicht wollte, dass die Kleine sah, wie die Tote auf die Bahre gelegt wurde, ging er mit ihr über die Straße und setzte sich auf die Wiese am Straßenrand.
»Sieh nur die vielen Blumen«, sagte er und deutete auf die Vergissmeinnicht und Margeriten, die auf der Wiese wuchsen. »Sollen wir welche pflücken?«
Die Kleine nickte heftig. Sie ließ sich nach vorn fallen und lachte dabei laut auf. Auf den Knien robbte sie nun durch das Gras. Hin und wieder hielt sie inne und rupfte die Köpfe der Blumen ab.
»Halt«, rief Nick, »so geht es nicht. Du machst die Blumen ja kaputt.«
»Putt«, wiederholte das kleine Mädchen. Es öffnete sein Händchen und hielt es Nick entgegen. Auf der Handfläche lag eine völlig zusammengedrückte Vergissmeinnichtblüte.
»So musst du das machen«, sagte Nick ernsthaft. Er nahm die Kleine an der Hand und führte sie zum Stängel einer Blume. Dann half er beim Abbrechen der Blume.
Die Kleine nickte, aber schon in der nächsten Sekunde patschte ihr
Händchen wieder von oben auf einen Blumenkelch und drückte ihn zusammen.
Nick musste lachen. »Dazu bist du zu klein.« Er hob die Kleine hoch und schwang sie über seinen Kopf. Die Kleine krähte vor Vergnügen.
Nicks Lippen wurden schmal. Wie ahnungslos sie ist, dachte er. Die ausgestandene Angst scheint bereits vergessen.
Vergnügt griff die Kleine jetzt nach Nicks Nase.
»Du hast recht«, sagte der Junge, »wir wollen spielen. Wer weiß, was das Schicksal mit dir noch vorhat.« Erneut drehte er das Kind im Kreis.
»Schade, dass du mir noch nicht verraten kannst, wie du heißt. Wie soll ich dich nennen? Was hältst du von Mädi? Nein, ich weiß einen viel besseren Namen. Du siehst wie eine Puppe aus. Ich werde dich Puppi nennen.«
»Sie heißt Silke Walser und ist zehn Monate alt. Das geht aus dem Kinderausweis, den wir im Auto gefunden haben, hervor.« Unbemerkt war Wolfgang Rennert herangekommen.
»War es ihre Mutter?«, fragte Nick rau. Mitleid erfüllte ihn.
Wolfgang Rennert nickte. »Jedenfalls lauten der Führerschein und die Autopapiere auf den Namen Heidrun Walser. Komm!« Er legte Nick den Arm um die Schultern. »Wir haben getan, was wir konnten.«
»Aber was wird aus der Kleinen?« Unwillkürlich zog Nick das Kind enger in die Arme.
»Wir werden uns darum kümmern«, sagte einer der Polizisten. »Aus den Papieren geht hervor, dass Heidrun Walser verheiratet war. Die Kleine bringen wir am besten zunächst ins Krankenhaus. Eine gründliche Untersuchung kann auf keinen Fall schaden.«
»Sie ist nicht verletzt«, protestierte Nick. »Sie saß festgeschnallt in ihrem Kindersitz.«
»Ja, sie hat Glück gehabt«, stimmte der Beamte ihm zu. Er wollte nach Silke greifen, doch diese dachte gar nicht daran, Nick freiwillig loszulassen. Fest klammerte sie sich an ihn.
»Ich tue dir doch nichts.« Etwas hilflos beugte der Beamte sich über das Kind. »Sei brav und komm mit dem Onkel mit.«
Silke begann aus Leibeskräften zu schreien, wobei Nick Schwierigkeiten hatte, sie festzuhalten. Sie bäumte sich in seinen Armen auf, stieß mit den Füßen nach dem Polizeibeamten.
»So geht es nicht«, sagte Nick ruhig. Er drehte sich zu Herrn Rennert um. »Wir nehmen das Kind mit nach Sophienlust.«
»Du hast recht«, stimmte der Zeichen- und Musiklehrer ihm sofort zu. »Es wird sicher eine Zeit lang dauern, bis man ihren Vater ausfindig gemacht hat.«
»Ich weiß nicht …« Unsicher sah der Polizist auf seinen Kollegen. »Das Kind muss untersucht werden.«
»Ich werde dafür sorgen, dass das sofort nach unserem Eintreffen in Sophienlust geschieht«, warf Nick ein. In diesem Moment wirkte er viel reifer und älter, als er war. »Sicher sagt Ihnen der Name Dr. Frey etwas. Frau Dr. Frey und ihr Mann haben eine Arztpraxis in Wildmoos. Frau Dr. Frey ist die ärztliche Betreuerin der Kinder von Sophienlust. Sie wird Silke sofort untersuchen.«
MitHilfe von Herrn Rennert gelang es Nick schließlich doch, die Bedenken der Polizisten zu zerstreuen.
*
Nick wagte es kaum, sich zu rühren. Vorsichtig hob er die Hand und strich dem Kind eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Sie ist eingeschlafen«, sagte er leise.
»Das ist dein Verdienst. Du hast ihr die Angst genommen.« Wolfgang Rennert warf einen Blick in den Rückspiegel. Bewunderung lag darin. Wie selbstständig der Junge schon handelte. In dieser Hinsicht war er ganz seine Mutter. Nie würde er dulden, dass ein Kind falsch behandelt wurde.
»Ich bin froh«, sagte Nick. Sorgfältig bettete er Silkes Köpfchen weicher. »Schock scheint sie keinen erlitten zu haben.« Er sah auf das Kind. Lange seidige Wimpern bedeckten nun die großen Augen. Der kleine Brustkorb hob und senkte sich. Das Kind schlief friedlich. Es hatte sich entspannt. Die Angst war aus seinem Gesichtchen gewichen.
»Mutti wird staunen.« Nick sah hoch. »Sie hätte Silke doch auch mitgenommen.«
»Ganz sicher hätte sie das«, bestätigte Wolfgang Rennert. Er fuhr bereits durch Wildmoos, einen kleinen idyllisch gelegenen Ort. Gleich darauf tauchten die holzgeschnitzten Wegweiser auf. Sie zeigten lustige Figuren von Kindern und Tieren und führten den Besucher direkt nach Sophienlust.
»Nun wird meine Frau aber auch schon unruhig sein. Wir haben über zwei Stunden Verspätung«, stellte Wolfgang Rennert fest und fuhr durch das schmiedeeiserne Tor, das den Besitz abschloss.
Der Hauslehrer irrte sich nicht. Kaum hielt er vor der Freitreppe, die zu dem ehemaligen Herrenhaus emporführte, öffnete sich das Portal und eine junge Frau kam heraus. Erleichterung stand in ihrem Gesicht.
»Na, ihr Herumtreiber! Ich dachte schon, ihr wolltet überhaupt nicht mehr nach Hause kommen.« Grüßend hob sie die Hand.
Hinter Carola Rennert erschien ein junges Mädchen. Es blieb auf der obersten Stufe der Treppe stehen, reckte seine Stupsnase mit den unzähligen Sommersprossen in die Luft und versuchte an Nick vorbeizusehen.
Nick bemerkte das wohl. Er hätte Pünktchen gern etwas zugerufen, aber er musste Rücksicht auf das schlafende Kind nehmen. Vorsichtig nahm er eine Hand von Silkes Körper und öffnete die Autotür. Kaum hatte er aber einen Fuß auf den Boden gesetzt, fuhr Silkes Köpfchen auch schon in die Höhe. Zuerst gähnte sie herzhaft, dann rieb sie sich die Äuglein.
Das blondhaarige Mädchen hatte es nicht länger ausgehalten. Verstohlen hatte es in Nicks Richtung geblickt. Jetzt stieß es einen Schrei der Überraschung aus. Vergessen war, dass es die Beleidigte hatte spielen wollen. Mit großen Sprüngen eilte es die Freitreppe hinab.
»Das ist Silke«, sagte Nick. Dabei weidete er sich an Pünktchens Erstaunen. »Silke«, Nick drehte die Kleine in Pünktchens Richtung, »das ist Pünktchen. Mit der musst du dich gutstellen. Sie ist meine Freundin.«
Ein Strahlen ging über das Gesicht der Dreizehnjährigen. Vergessen war, dass sie sich soeben noch geschworen hatte, mit Nick an diesem Tag kein Wort mehr zu wechseln.
»Ein süßes Kind.« Pünktchen, die sich stets liebevoll um die kleineren Kinder kümmerte, war begeistert. »Darf ich es nehmen?« Sie streckte ihre Hände aus.
»Wenn Silke will …« Nick hielt die Kleine etwas von sich ab. Eigentlich erwartete er, dass sich diese wieder an ihn klammern würde, aber das Gegenteil trat ein. Lachend hob die Kleine Pünktchen ihre Händchen entgegen. Wieder einmal hatte das junge Mädchen das Herz eines Kindes im Sturm erobert.
»Mama«, rief Silke und fuhr Pünktchen ziemlich unsanft ins Haar.
Fragend sah diese Nick an.
»Es ist etwas sehr Trauriges geschehen«, sagte der Junge ernst. »Ich erzähle es euch gleich. Zuerst muss ich aber Frau Dr. Frey anrufen. Ich habe versprochen, dafür zu sorgen, dass Silke sofort untersucht wird.«
»Ist sie krank?«, fragte Pünktchen. Sie konnte ihr Erschrecken nicht verbergen. Sie hatte die Kleine bereits lieb gewonnen.
»Ich hoffe, nicht. Ist Mutti noch da?« Nick wartete keine Antwort ab, sondern eilte die Treppe empor und betrat die Halle, die der Mittelpunkt des Kinderheims war.
Heidi, ein fünfjähriges Mädchen, das bäuchlings auf einem Bärenfell vor dem offenen Kamin gelegen hatte, sprang bei seinem Anblick auf. »Du«, rief sie Nick entgegen, »du musst vorsichtig sein. Pünktchen ist ganz schön sauer auf dich. Du hast sie aber auch irre lange warten lassen.«
Da Nick von ihrer Warnung nicht beeindruckt schien, zog Heidi ihren bekannten Schmollmund. »Du glaubst mir nicht! Pünktchen hat recht. Auf euch Männer ist kein Verlass.«
»Hat Pünktchen das gesagt?«, fragte Nick und drehte sich zu seiner Freundin um, die ihm mit Silke auf dem Arm gefolgt war.
»Es war nicht so gemeint«, versicherte Pünktchen. Sie konnte aber nicht verhindern, dass ihr dabei das Blut in die Wangen stieg.