Seinem Schicksal überlassen - Marisa Frank - E-Book

Seinem Schicksal überlassen E-Book

Marisa Frank

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Andrea von Lehn setzte sich schlaftrunken in ihrem Bett auf. Ein Geräusch hatte sie geweckt. Sie dehnte sich und gähnte herzhaft. Da war es wieder, das kratzende, splitternde Geräusch. Es schien vom Eingang zu kommen. Andrea horchte in die Dunkelheit hinein. Sie versuchte das Gesicht ihres Mannes zu erkennen, aber sie sah nur einen schattenhaften Umriss auf dem weißen Kissen. Vorsichtig setzte sie ihre Füße auf den Boden. Sie wollte Hans-Joachim nicht wecken, hinter ihm lag ein anstrengender Tag. Die Tierarztpraxis hatte heute einen besonders regen Zuspruch gehabt. Selbst das Mittagessen hatte er nur hinunterschlingen können, von einem gemütlichen Kaffee am Nachmittag war keine Rede gewesen. Andrea seufzte. Oft war es nicht leicht, die Frau eines guten Tierarztes zu sein. Sie fand, dass Hans-Joachim in letzter Zeit eigentlich wenig Zeit für sie und Peterle hatte. Selbst am Sonntag war er zu einem entfernten Bauernhof gerufen worden. Ihre Gedanken wurden plötzlich unterbrochen. Ein Klirren klang durch die Stille. Andrea hielt den Atem an, dann wurde ihr klar, dass jemand an der Eingangstür sein musste. Ein Einbrecher? Ihr Herz krampfte sich zusammen. Peterle. Er schlief allein im Kinderzimmer. »Hans-Joachim.« Sacht strich sie ihrem Mann über das Haar. Im Schlaf lächelte er und drehte sich auf die andere Seite. »Liebling!« Andrea beugte sich über ihn. Als er noch immer nicht reagierte, rüttelte sie ihn an den Schultern. »Wach auf, bitte!« Jetzt richtete sich Hans-Joachim auf. »Was ist los?« Weitere Fragen unterbrach Munkos wütendes Bellen. »Siehst du«, flüsterte Andrea, »irgendetwas ist nicht in Ordnung. Hör nur, wie wild Munko

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Seitenzahl: 147

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Sophienlust – 189 –Seinem Schicksal überlassen

Mutter und Vater – nur noch ein Traum für Stefan?

Marisa Frank

Andrea von Lehn setzte sich schlaftrunken in ihrem Bett auf. Ein Geräusch hatte sie geweckt. Sie dehnte sich und gähnte herzhaft. Da war es wieder, das kratzende, splitternde Geräusch. Es schien vom Eingang zu kommen.

Andrea horchte in die Dunkelheit hinein. Sie versuchte das Gesicht ihres Mannes zu erkennen, aber sie sah nur einen schattenhaften Umriss auf dem weißen Kissen. Vorsichtig setzte sie ihre Füße auf den Boden. Sie wollte Hans-Joachim nicht wecken, hinter ihm lag ein anstrengender Tag. Die Tierarztpraxis hatte heute einen besonders regen Zuspruch gehabt. Selbst das Mittagessen hatte er nur hinunterschlingen können, von einem gemütlichen Kaffee am Nachmittag war keine Rede gewesen. Andrea seufzte. Oft war es nicht leicht, die Frau eines guten Tierarztes zu sein. Sie fand, dass Hans-Joachim in letzter Zeit eigentlich wenig Zeit für sie und Peterle hatte. Selbst am Sonntag war er zu einem entfernten Bauernhof gerufen worden.

Ihre Gedanken wurden plötzlich unterbrochen. Ein Klirren klang durch die Stille. Andrea hielt den Atem an, dann wurde ihr klar, dass jemand an der Eingangstür sein musste. Ein Einbrecher? Ihr Herz krampfte sich zusammen. Peterle. Er schlief allein im Kinderzimmer.

»Hans-Joachim.« Sacht strich sie ihrem Mann über das Haar. Im Schlaf lächelte er und drehte sich auf die andere Seite. »Liebling!« Andrea beugte sich über ihn. Als er noch immer nicht reagierte, rüttelte sie ihn an den Schultern. »Wach auf, bitte!«

Jetzt richtete sich Hans-Joachim auf. »Was ist los?« Weitere Fragen unterbrach Munkos wütendes Bellen.

»Siehst du«, flüsterte Andrea, »irgendetwas ist nicht in Ordnung. Hör nur, wie wild Munko sich aufführt.«

Hans-Joachim war jetzt ganz wach, zustimmend nickte er. Seine Frau hatte recht. Der ehemalige Polizeihund benahm sich wirklich merkwürdig.

»Glaubst du, dass jemand im Haus ist?«, flüsterte Andrea und war froh, als Hans-Joachim beschützend den Arm um ihre Schultern legte.

»Du kennst doch unseren Munko.« Unwillkürlich flüsterte auch er. »Nie hätte er einem Fremden den Zutritt gestattet. Du weißt doch, welch vortreffliche Dienste der Schäferhund der Polizei geleistet hat. Wenn er jetzt auch im Ruhestand ist, so hat er seine Ausbildung sicher nicht vergessen.«

Er unterbrach sich und lauschte. Munkos Bellen entfernte sich. »Ich gehe nachsehen.« Entschlossen sprang der junge Tierarzt aus dem Bett.

Während er in eine Hose stieg, bellte vor dem Fenster dreimal kurz ein anderer Hund.

»Das ist Waldi. Wahrscheinlich will er uns melden, dass alles in Ordnung ist. Als Chef des Tierheims fühlt er sich dazu berechtigt.« Er lächelte seiner Frau zu, er wollte ihr die Angst nehmen.

Andrea, die durch das Fenster geblickt hatte, wandte sich um. »Ich kann nichts erkennen. Der Mond hat sich gerade hinter einer Wolke versteckt.«

»Ich nehme eine Taschenlampe mit. Bald werden wir wissen, was Munko so auf die Palme gebracht hat.«

»Sei vorsichtig«, mahnte Andrea. »Ich bin sicher nicht durch Munko, sondern durch ein Geräusch aufgewacht.«

»Keine Angst, Waldi und Munko haben den Einbrecher sicher bereits gefasst«, scherzte Hans-Joachim. Unbekümmert betätigte er den Lichtschalter. Andrea saß am Ende des Bettes, und er fand, dass sie mit ihrem zerzausten Haar besonders reizvoll aussah. Schnell war er bei ihr und küsste sie auf den Mund.

»Du bist unmöglich«, tadelte sie, aber sie lächelte glücklich. Sie führten eine sehr harmonische Ehe.

Andrea versetzte ihrem Mann spielerisch einen zärtlichen Nasenstüber, dann bat sie: »Sieh doch nach, ob alles in Ordnung ist. Ich sehe inzwischen nach Peterle.«

»Ich komme gleich zurück«, versprach Hans-Joachim und ging hinaus.

Im Kinderzimmer war alles in Ordnung. Liebevoll sah Andrea auf ihren einjährigen Sohn. Sein blondes Lockenköpfchen war in Kissen vergraben. Seine rechte Hand hielt einen Stoffhund fest. Es war Peterles Lieblingsstofftier. Hinter seinem Gitterbett stand ein Regal mit vielen Stofftieren, den kleinen Hund hatte er aber besonders ins Herz geschlossen. Er war nicht dazu zu bewegen, ohne ihn ins Bett zu gehen. Bittere Tränen hatte es schon gegeben, wenn der Hund nicht aufzufinden war.

Zärtlich schob Andrea die Decke höher, dann verließ sie auf Zehenspitzen das Zimmer. Im Schlafrock, den sie sich schnell übergeworfen hatte, trat sie an die Haustür. Dort stand Hans-Joachim mit nachdenklich gerunzelter Stirn.

»Hast du die Einbrecher schon gefasst …« Der Scherz erstarb auf ihren Lippen. Sie war Hans-Joachims Blick gefolgt, und im Schein der Flurbeleuchtung sah sie das zerkratzte Türschloss.

»Alles in Ordnung, Liebling.« Der Tierarzt wandte sich ihr zu. »Es war nur ein Versuch. Ins Haus eingedrungen ist niemand.«

Andrea wurde blass. Auch sie hatte nicht im Ernst daran gedacht, dass sie vielleicht in Gefahr gewesen waren. »Du meinst, es hat wirklich jemand bei uns einsteigen wollen?«

»Es sieht so aus, aber Munko scheint ihn vertrieben zu haben«, sagte Hans-Joachim. »Auf jeden Fall war es ein Anfänger. Auch ohne Munko wäre es ihm kaum gelungen, einzudringen.«

Freudig bellend kam Waldi, der braune Kurzhaardackel, aus der Dunkelheit herangesprungen. Schwanzwedelnd blieb er vor dem Ehepaar stehen. Hans-Joachim beugte sich zu ihm hinunter und kraulte ihm das Fell.

»Nun erzähl schon, was du auf dem Herzen hast.«

»Wau, wau«, antwortete Waldi, sprang auf seinen kurzen Beinen aus dem Lichtkreis, um bellend stehen zu bleiben. Als Hans-Joachim ihm nicht folgte, kam er zurück.

»Er scheint etwas entdeckt zu haben«, meinte der Tierarzt.

»Moment, ich schalte die Hofbeleuchtung ein«, sagte Andrea. Sekunden später lag der Hof im Schein einiger Laternen. Selbst der langgestreckte Flachbau des Tierheims lag nicht mehr im Dunkeln.

Waldi bellte erneut kurz, aber energisch. Entfernt ertönte Munkos Antwort. »Ich sehe einmal nach«, sagte Hans-Joachim entschlossen, und ehe Andrea es verhindern konnte, ging er über den Hof, begleitet von Waldi.

Munko hatte anscheinend beim Zaun auf ihn gewartet. Andrea sah, wie der ehemalige Polizeihund ihrem Mann entgegengesprungen kam. Sie zögerte. Sollte sie ihm nachgehen oder hier im Haus bleiben? Da hörte sie Hans-Joachims erstaunten Ausruf.

»Andrea, sieh mal!« Neugierig trat sie in den Hof. Kinderweinen klang an ihr Ohr. Sie blieb stehen, blickte zum Haus zurück. Nein, das Weinen kam nicht von dort. Jetzt konnte sie ihren Mann erkennen. Er bückte sich.

Andrea traute ihren Augen nicht, als sie endlich erkannte, was Hans-Joachim gefunden hatte. Es war ein Kind. Ängstlich presste es sich an den Zaun, dabei weinte es leise vor sich hin.

Voller Mitleid ging Andrea auf die kleine Gestalt zu. Der Mond trat hinter der Wolke hervor, und sie sah, dass das Kind noch keine zwei Jahre alt war.

»Du brauchst keine Angst zu haben.« Andrea holte ein Taschentuch hervor. Sorgfältig tupfte sie dem Kleinen die Tränenspuren aus dem Gesicht. Kurze Zeit ließ er es geschehen, blickte sie nur aus seinen großen dunklen Augen ängstlich an. Dann wandte er sich plötzlich ab und presste sein Gesichtchen gegen den Zaun.

Fragend sah Andrea ihren Mann an.

Hans-Joachim zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn so gefunden, besser gesagt, Munko hat ihn gefunden.« Waldi bellte, und der Tierarzt meinte: »Na gut. Vielleicht warst auch du es, der ihn gefunden hat.«

Andrea versuchte den Kleinen hochzunehmen, aber mit beiden Fäusten klammerte er sich an eine Zaunlatte. »Mami, Mami!« Er schluchzte herzerweichend.

»Nicht weinen. Du musst nicht weinen.« Sanft sprach Andrea auf den Kleinen ein. »Bald bist du wieder bei deiner Mami.«

»Mami!« Der Junge hörte auf zu schluchzen. »Mami!« Sehnsüchtig streckte er die Ärmchen aus.

»Bald, wir werden deine Mami schon finden.« Andrea fuhr dem Jungen zärtlich über das Köpfchen. Dann versuchte sie ihn erneut auf die Arme zu nehmen, und diesmal wehrte er sich nicht.

»Was willst du mit ihm tun?«, erkundigte sich Hans-Joachim.

»Ihn mit ins Haus nehmen.« Andrea warf ihrem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu. »Siehst du nicht, dass er vor Kälte zittert?«

»Wie heißt du denn?«, fragte sie.

»Mami!«, stieß er schluchzend hervor. Mit den zu Fäusten geballten Händen schlug er Andrea auf die Brust. »Mami, nicht, will Mami.«

Andrea hatte alle Mühe, den wie wild um sich schlagenden Kleinen zu halten, und schließlich kam ihr Hans-Joachim zu Hilfe. Er nahm ihr das Kind ab. »Du bist doch ein großer Junge, größer als mein Sohn. Weißt du, ich habe auch einen kleinen Jungen, aber der schläft schon lange. Wenn du lieb bist, dann darfst du morgen mit ihm spielen.«

Sekundenlang hatte das fremde Kind Hans-Joachims Stimme gelauscht, dann fing es zu schreien an. »Mami, Mami!«

Unbeirrt trug Hans-Joachim das schreiende Kind ins Haus. Als sie den Flur betraten, schlug Andrea entsetzt die Hände zusammen. »Der ist aber schmutzig.«

Ihr Mann sah dem Kleinen ebenfalls ins Gesicht, er konnte seiner Frau nur recht geben. Aber nicht nur das Gesicht, auch das T-Shirt und die kurze Hose starrten vor Schmutz.

»Am besten stecke ich ihn in die Badewanne«, sagte Andrea fürsorglich.

»Ich werde die Polizei verständigen«, meinte Hans-Joachim.

»Die Polizei!« Andrea fiel erst jetzt wieder ein, wie ungewöhnlich dieser Fund mitten in der Nacht war. »Du glaubst, der Junge hat etwas mit dem Eindringling zu tun?«

»Ziemlich sicher. Es steht fest, dass jemand versucht hat, einzudringen. Die Spuren an der Eingangstür zeigen es deutlich. Von den Hunden wurde der Unbekannte in die Flucht geschlagen, und dabei blieb der Kleine zurück.«

»Unmöglich«, widersprach Andrea gefühlvoll, »sieh dir das Kind nur an. Es hat so ein feines, liebes Gesichtchen – und dann die hellblonden Haare. So ein liebes Kind lässt man doch nicht einfach so zurück!«

Hans-Joachim hatte bereits eine Entgegnung auf den Lippen. Die quirlige, temperamentvolle Art seiner Frau amüsierte ihn, forderte ihn aber stets zum Widerspruch heraus. Doch jetzt kam er nicht dazu. Peterle war erwacht, sein lauter, protestierender Ruf war nicht zu überhören. Gleichzeitig erschien Marianne Weber, das Hausmädchen, auf der Treppe. Sie schlief in dem geräumigen Landhaus im oberen Stockwerk und war durch das Geschrei des Findlings erwacht. Im ersten Augenblick hatte sie geglaubt, Peterle, den sie betreute und sehr liebte, hätte geschrien. Erstaunt sah sie nun auf den fremden Jungen.

»Stellen Sie sich vor, wen wir gefunden haben.« Andrea hielt den Kleinen hoch. »Selbst unter dem Schmutz sieht man, was für ein entzückendes Kerlchen er ist. Ich werde ihn in die Badewanne stecken, bitte kümmern Sie sich inzwischen um Peterle. Er scheint durch den Lärm erwacht zu sein.«

»Gefunden?« Marianne, sonst ein intelligentes Mädchen, sah in diesem Moment nicht gerade geistreich aus.

»Sie haben richtig gehört.« Andrea konnte bereits wieder lachen. »Ich erzähle Ihnen alles später. Aber ich warne Sie, es wird eine wahre Räubergeschichte.«

Nur gut, dass Hans-Joachim ihre letzten Worte nicht mehr gehört hatte, er hätte ihr sonst sicher widersprochen. So war er aber bereits ins Wohnzimmer gegangen, um mit dem zuständigen Polizeirevier Kontakt aufzunehmen.

*

Polizeimeister Kirsch stand von seinem harten Lager auf. Er hatte Nachtdienst, und da es bisher eine sehr ruhige Nacht war, hatte er sie zu einem kleinen Nickerchen genutzt. Schlaftrunken griff er zum Telefonhörer.

»Polizeirevier Wildmoos, Kirsch«, meldete er sich vorschriftsmäßig, während er mit der linken Hand sein zerzaustes Haar glättete. »Was? Das soll wohl ein Witz sein!«

»Nein, Herr Polizeimeister«, entgegnete Hans-Joachim am anderen Ende der Leitung. »Es stand am Zaun. Ist ungefähr zwei Jahre alt und ein Junge.«

»Mitten in der Nacht! Herr Doktor, wenn Sie das nicht sagen würden, ich würde kein Wort glauben.«

»Es ist aber so.«

Herr Kirsch räusperte sich. Was er da eben gehört hatte, war wirklich eine unglaubwürdige Geschichte. Ließ ein Einbrecher sein Kind zurück? Nahm man zum Stehlen überhaupt ein so kleines Kind mit? Er kratzte sich hinter dem Ohr.

»Ich werde sofort persönlich vorbeikommen. Vielleicht können wir anhand der Spuren etwas feststellen.«

»Selbstverständlich, die Hunde sind aber bereits herumgerannt und haben die Spuren wahrscheinlich verwischt. Sie waren es ja auch, die den Eindringling vertrieben haben. Aber sie haben unser Grundstück nicht verlassen. Übrigens steckt meine Frau das Kind gerade in die Badewanne, es sah nicht sehr sauber aus.«

»Ist es ein verkommenes Kind?«

»Lassen Sie diesen Ausdruck nicht meine Frau hören, sie ist von dem kleinen Kerlchen begeistert. Aber ich glaube auch, wenn er in frischen Kleidern steckt, wird er sehr manierlich aussehen.«

Polizeimeister Kirsch warf einen Blick auf die Uhr. Zwei Uhr früh. Mühsam unterdrückte er ein Gähnen. Er war ein korrekter Beamter, der Gedanke, bis zum Morgengrauen zu warten, kam ihm nicht einmal in den Sinn. »Wir werden der Sache auf den Grund gehen«, versprach er und legte den Hörer auf die Gabel. Er schlüpfte in seine Uniformjacke, gab eine kurze Meldung an den Polizeiposten der Kreisstadt Maibach, und schon bestieg er seinen kleinen Dienstwagen.

Das moderne Landhaus war hell erleuchtet, selbst im angrenzenden Tierheim brannte Licht. Der ungewohnte Lärm in der Nacht hatte die Tiere unruhig gemacht, und so war auch der alte Janosch erwacht. Er war schon siebzig Jahre alt und nun als Tierpfleger tätig. Als gebürtiger Ungar und ehemaliger Pferdehirt der Pußta konnte er mit allen Tieren ausgezeichnet umgehen. Er bewohnte zwei kleine Zimmer im Anbau des Tierheims, und für ihn war es eine Selbstverständlichkeit gewesen, nach den Tieren zu sehen, als sie unruhig wurden.

Besonders wild hatte sich der junge Schimpanse Mogli aufgeführt. Er war noch sehr jung und erst kurze Zeit im Tierheim. Andrea und die Kinder von Sophienlust hatten ihn mit der Flasche großgezogen, und so hatte er sich zu einem recht eigensinnigen Burschen entwickelt. Alles gute Zureden half nichts, Janosch musste ihn auf die Arme nehmen und wie ein Baby schaukeln. Sofort legte der Schimpanse das Köpfchen an die Schulter des Alten und schloss zufrieden die Augen.

»So, jetzt wird weitergeschlafen.« Mit einem zärtlichen Klaps wollte Janosch den Affen in seine Behausung zurückstecken, aber da kam er schlecht bei Mogli an. Dieser klammerte sich an Janosch’ weißem Leinenhemd fest und stieß gellende Protestschreie aus.

»Dir gehört eins hinter die Ohren«, sagte der Alte seufzend. Dabei liebkoste er aber das schwarze Köpfchen, und schließlich nahm er den jungen Affen mit hinüber ins Haus.

So traf der Polizeimeister Kirsch eine recht bunt gemischte Gesellschaft an. Da ihm aber das Ehepaar von Lehn keine Fremden waren, wunderte er sich darüber nicht. Marianne trug ein langes weißes Nachthemd, und da ihr das Haar ungekämmt über die Schultern fiel, sah sie aus wie ein Gespenst. Auf dem Arm hielt sie Peterle. Er war nicht mehr dazu zu bewegen, im Bett zu bleiben. Sein Mündchen stand keine Sekunde still. Alles versuchte er nachzuplappern, und das Weinen des Findlings beeindruckte ihn sehr. Nicht einmal Mogli, dem sonst sein kleines Herz gehörte, konnte ihn ablenken.

Mogli hingegen war quietschvergnügt. Er war Janosch entwischt und turnte munter über Stühle und Tische. Hin und wieder hielt er inne und klatschte begeistert in die Hände. Ihm wurde aber kaum Beachtung geschenkt. Nach wie vor drehte sich alles um den fremden Kleinen. In einen Bademantel gehüllt, saß er auf der Couch. Weder Dr. Lehn noch Andrea oder Marianne war es gelungen, ihn zu beruhigen. Er weinte still vor sich hin. Bisher hatte er auf keine Frage geantwortet. Weder Mogli noch Janosch, der mit seinem weißen Haar, den buschigen Brauen, den ­Koteletten und dem hängenden Schnurrbart recht fremdländisch wirkte, hatte die Aufmerksamkeit des Jungen erregen können.

»Er weint nach seiner Mami«, meinte Andrea erklärend, nachdem sie Herrn Kirsch begrüßt hatte.

Eingehend betrachtete der Polizeimeister das Kind. »Mami?« Fragend sah es ihn an, und sein verzweifelter Blick schnitt Herrn Kirsch ins Herz.

»Er kann nicht sprechen«, stellte Hans-Joachim fest.

»Woher willst du das wissen? Er ist nur verschüchtert. Wer weiß, was der kleine Kerl schon alles hinter sich hat. Sehen Sie, was ich gefunden habe.« Sie schlug den Bademantel zurück und deutete auf das Amulett, das der Junge um den Hals trug.

Interessiert beugte sich der Polizeimeister darüber. »Ein Mariatheresientaler«, sagte er erstaunt.

Andrea nickte. »Ein eigenartiges Schmuckstück für einen kleinen Jungen.«

Inzwischen hatte Herr Kirsch eingehend die Haustür untersucht. »Das war kein Profi«, stellte er kopfschüttelnd fest. »Ich werde mir einmal die Spuren am Zaun ansehen. Kann Janosch mich begleiten?«

»Ich hole die Laterne«, sagte der Alte. Er wollte Mogli mitnehmen, aber der Affe schlüpfte durch seine Hände hindurch, turnte über den Kopf des Polizeimeisters hinweg und verschwand hinter der Couch.

»Der Satansbraten.« Der alte Janosch machte Anstalten, hinter ihm herzujagen.

»Dadada«, krähte Peterle, begeistert stolperte er zur Couch.

Alle lachten, nur der fremde Junge wich erschrocken zur Wand zurück. »Mami, Mami.« Verzweifelt verbarg er sein Gesicht in den Händen.

»Aber mein Kleiner, du musst doch nicht weinen. Sieh nur, wie lustig der Affe ist.« Andrea nahm ihn hoch.

»Mami, ich will Mami«, forderte der Junge.

Andrea atmete auf. »Das waren die ersten zusammenhängenden Worte, die er gesprochen hat.« Dann wandte sie sich an Janosch. »Du kannst Mogli hierlassen. Es ist ja nicht das erste Mal, dass er unser Wohnzimmer als Kletterstube benutzt. An Schlafen ist jetzt sowieso nicht mehr zu denken, wir sind alle zu aufgeregt. Marianne wird uns einen Kaffee kochen, und wenn ihr zurück seid, wird gefrühstückt.«

Hans-Joachim schloss sich Janosch und dem Polizeimeister an. Gründlich suchten sie das ganze Grundstück ab. Munko, der neben dem Polizeimeister herlief, hatte schon längst Witterung aufgenommen und führte die Männer an dem Bau des Tierheims vorbei. Dahinter lag das eingezäunte Freigehege, dann kam die ebenfalls eingezäunte Pferdekoppel. Im Schein der Laterne war deutlich zu sehen, dass jemand diesen Weg benutzt hatte.

»Durch Munko und Waldi getrieben, hat der Unbekannte dann die Flucht nach vorn angetreten und ist direkt über den Zaun entwichen«, bemerkte Herr Kirsch.

»Aber das Kind! Man lässt doch nicht einfach ein Kind zurück.« Hans-Joachim fand noch immer keine Erklärung.

Schweigend stapfte der alte Janosch neben den beiden Männern her. »Aber nichts gestohlen«, sagte er plötzlich und wies auf einige Geräte, die neben dem Schuppen standen. »Auch im Anbau des Tierheims viele wertvolle Sachen. Warum wollte der Dieb ins Haus?«