Gebrauchsanweisung für Deutschland - Wolfgang Koydl - E-Book

Gebrauchsanweisung für Deutschland E-Book

Wolfgang Koydl

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Beschreibung

Seit Jahren blickt Wolfgang Koydl aus der Ferne auf Deutschland. Mit feiner Ironie lotet er die Untiefen der deutschen Seele aus; er bietet unentbehrliche Tipps für den richtigen Umgang mit dieser eigentümlichen Nation von Bausparern, ADAC-Mitgliedern und Schnäppchenjägern. Ob als Heimat oder Reiseziel, für Einheimische oder Fremde – dieser Band enträtselt urdeutsche Geheimnisse: die Ordnungsliebe und den typisch deutschen Humor, die Dialekte, den Lokalpatriotismus und das scharfe »ß«, Karnevalsprunksitzungen, Verkehrsregeln und Paragrafenreiterei, die Fußgängerzonen mit ihrem nicht tot zu kriegenden Sommerschlussverkauf und die deutsche Küche zwischen Döner Kebab und Sushi, Toast Hawaii und handgekneteter sardischer Fischpaste.

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www.piper.de
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen vollständig überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe 2010
ISBN 978-3-492-95450-1
© Piper Verlag GmbH, München 2010
Umschlagkonzept: Büro Hamburg
Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling
Umschlagabbildung: Enver Hirsch / laif
Redaktion: Verena C. Harksen
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Prolog: Eine Beichte

Was ist schon exotisch an Deutschland? Ja, die Fezzan-Ebene in Libyen vielleicht, oder die Vulkane von Kamtschatka, die sind exotisch. Sogar entlegeneren Teilen der Schweiz oder Österreichs wird ein mysteriöser Zauber zugeschrieben. Dem Waldviertel etwa oder auch dem Kanton Zug. Das eine ist undurchdringlich wie ein jungfräulicher Regenwald für Hochdeutschsprecher, der andere für Steuerfahnder. Und für Hochdeutsche natürlich ebenso.

Aber die eigene Heimat? Sie ist so fremd wie das eigene Gesicht im Spiegel – jedenfalls an normalen Tagen, denen keine durchzechte Nacht voranging. Jedes Haar kennt man, jede Pore und – vor allem – jede Falte. Ob fröhlich, traurig, verschlafen oder verkatert – letzten Endes guckt einem immer derselbe alte Typ aus dem Spiegel entgegen.

Genauso verhält es sich mit Deutschland. Wer hier geboren und aufgewachsen ist, dem kann man nichts mehr vormachen, den kann man nicht mehr überraschen. Rheinischer Karneval? Entweder ist man so begeistert davon, dass alle Sinne und das Denken ohnehin vorübergehend heruntergefahren werden wie ein Laptop im Hibernation-Modus. Oder man ist von dem merkwürdigen närrischen Treiben derart angewidert, dass sich alle Sinne und das Denken sowieso attackiert fühlen wie von einem trojanischen Pferd, einem Wurm oder einem anderen Computervirus.

Ähnliche Reaktionen lösen (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge und ohne Anspruch auf Vollständigkeit) aus: das Oktoberfest, Berlin und die Berliner, der Muttertag, Oberlehrer in der Schule und im Alltag, Christkindlmärkte, Blasmusik, »Wetten dass« und andere flockig-lockere Fernsehunterhaltung, und nicht zuletzt Glasvitrinen und Kaffeebars in Fußgängerzonen.

In all diesen Fällen hat man als Deutscher eine klare Meinung, oder besser gesagt eine dezidierte Vorliebe oder Abneigung. Eines aber wird sich nicht einstellen: Ein Aha-Erlebnis, eine Überraschung, eine Erkenntnis, etwas Neues kennengelernt zu haben wie dies der Fall wäre, wenn man zum ersten Mal von Rodeo-Ritualen in Arizona, der Teezeremonie in Japan, oder Initiationsriten in Papua-Neuguinea erfährt.

Amerikaner, Japaner oder Papuaner freilich dürften Deutschland, die Deutschen und alles Deutsche wahrscheinlich höchst interessant, neu, amüsant und mitunter wohl auch reichlich befremdlich finden. Aber wie wäre es, wenn man sein eigenes Land auch einmal mit fremden Augen sehen könnte, gleichsam in einer Art von out of body experience. So beschreibt man im Englischen jenen Zustand eines Menschen, der nach einem Herzinfarkt oder einem Unfall gleichsam halb gestorben aus seiner sterblichen, wenn auch noch nicht ganz gestorbenen Hülle geschlüpft ist und bis zu einer Wiederbelebung von einer Warte gleich unter den Halogenlampen in der Klinikdecke aus einen guten Blick auf den eigenen Korpus unten auf dem Operationstisch erhaschen konnte.

Ein frischer Blick auf die eigene Heimat wäre freilich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so erbaulich wie die Möglichkeit, klammheimlich hinter einem Grabstein versteckt seiner eigenen Beerdigung beiwohnen zu können. Denn bei dieser Gelegenheit würde man wohl kaum ein ehrliches Urteil über sich hören. Nirgends wird mit mehr Überzeugung gelogen als bei Beerdigungen. Und bei Hochzeiten natürlich. Nein, ein Blick durch fremde Augen müsste unweigerlich unangenehme Wahrheiten einschließen.

Mein Gefühl, als ich nach mehr als fünfzehn Auslandsjahren zum ersten Mal wieder für mehr als einen kurzen Urlaub nach Deutschland zurückkehrte, war jedenfalls mit out of body experience nur sehr unzureichend umschrieben. Mir schien es, als ob ich nicht einen Airbus der Lufthansa nach Frankfurt bestiegen hätte, sondern irgendein intergalaktisches Geschoss mit dem Kranich der deutschen Airline, das mich auf einem fernen Stern deponiert hatte.

War das wirklich mein Land? Waren die Deutschen schon immer so steif, so mürrisch, so humorlos gewesen? Und zugleich so rührselig (zur rechten Zeit, versteht sich, an Weihnachten zum Beispiel), so effizient, so hilfsbereit? Schlimmer noch: War etwa auch ich so wie sie? In all den Jahren im Ausland hatte ich es mir angewöhnt, ein wenig spöttisch auf die vermeintlich tumben Deutschen herabzublicken, und die meisten meiner ebenfalls vorübergehend ausgelagerten Landsleute sahen das genauso.

Doch mit dem Hochmut war es nach der Heimkehr vorbei. Was war geschehen? Hatten sich die Leute daheim verändert, oder war ich ein anderer geworden? Und weshalb sahen sie mich so scheel an, wenn ich arglos fragte, in welcher Tonne ich den Joghurtbecher entsorgen müsse, wie ich einen neuen Personalausweis beantragen könne, und weshalb ich nach zwei Uhr mittags keine warme Mahlzeit mehr im Wirtshaus bekäme. Man schien mich zu verdächtigen, dass ich mich über die Deutschen lustig mache – und damit über meinesgleichen. Denn ich gehörte ja dazu.

Zuvor hatte ich in England, in Österreich, in Ägypten und zuletzt in der Sowjetunion gelebt. In Moskau hatte ich meine Frau kennengelernt, die noch nie in ihrem Leben in Deutschland gewesen, ja, die nie zuvor in einem anderen Land als der UdSSR gewesen war. Einen frischeren Blick als ihren konnte man sich nicht wünschen. Wenn ich mich nur ein wenig wunderte, dann kam sie gar nicht mehr heraus aus dem Kopfschütteln. Es gab Tage, da erinnerte sie an einen jener Hunde mit Wackelkopf, den überraschend viele Menschen in Deutschland auf der Hutablage ihres Autos sitzen haben. Wieso, nebenbei bemerkt, heißt diese Fläche im Fond auf Deutsch überhaupt Hutablage, wo doch niemand einen Hut dort ablegt? Wer in Deutschland Hut trägt, der legt ihn auch hinterm Steuer nicht ab, und solche Fahrer sollte man unter allen Umständen weiträumig umfahren.

Doch weil das Erlebnis, gleichsam als Fremder im eigenen Land zu leben, nicht nur befremdend war, sondern auch stimulierend, entschloss ich mich, all diese Abenteuer aufzuschreiben und möglichst viele Landsleute an ihnen teilhaben zu lassen. Und weil es russische Augen waren, durch die sich dieses vertraut-verfremdete Land darbot, lag es nahe, den Berichterstatter in die Figur eines Russen schlüpfen zu lassen.

So wurde Maxim Gorski geboren, nachdem viele andere Pseudonyme verworfen worden waren. Aber Gorski war gut. Es klang echt genug nach einem authentischen (und berühmten) Namen, aber zugleich konnte man sich nach kurzer Überlegung denken, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Umso erstaunter war ich, als ich später eine echte Familie Gorski kennenlernte. Sie waren meine Nachbarn in Amerika. Die Vorfahren waren irgendwann einmal von der Krim in die USA ausgewandert und hießen Piatigorski. Das war dem amerikanischen Einwanderungsbeamten zu kompliziert, und deshalb hackte er den ersten Namensteil ab. Als ich John Gorski von meinem Buch erzählte, hielt er mich zunächst für einen Verwandten, auf den er ungemein stolz sein konnte. Später schlug er in der Stadtbibliothek von Rockville, Maryland, den Namen nach und wurde an Maxim Gorki verwiesen. Von da an beäugte er mich mit unverhohlenem Misstrauen. Er halte mich für einen Erzkommunisten übelster Sorte, hörte ich von einem anderen Nachbarn. Schließlich hätte ich noch Lenin persönlich gekannt.

Aber noch ein anderer Grund sprach für ein russisches Pseudonym. Ich bin nicht der erste Deutsche, der festgestellt hat, dass uns kaum ein zweites Volk so viele Sympathien entgegenbringt wie das russische. Das ist beschämend angesichts des Unheils, das wir über dieses Land gebracht haben, und gleichzeitig so anrührend, dass nur zwei Völker imstande sind, sich darüber tränenüberströmt in die Arme zu sinken: Russen und Deutsche eben, die letzten unverbesserlichen Romantiker dieser Welt, auch wenn uns andere Völker das nicht immer gleich abnehmen. Sie wollen überzeugt werden, was uns leider nicht immer reibungslos gelingt.

Beispiele für diese Seelenverwandtschaft finden sich überall. Ich hatte das Glück, in Moskau zu sein, als in Berlin die Mauer fiel. Die erste Überraschung war, dass das sowjetische Fernsehen das Ereignis fast live zeigte – nur um fünfzehn, zwanzig Minuten zeitversetzt. Die weitaus größere Überraschung aber erlebte ich, als ich am nächsten Morgen Passanten auf der Straße nach ihrer Reaktion auf die Bilder aus Berlin befragte. Zu diesem Zeitpunkt war schon klar, dass weder Franzosen noch Briten über den Verlauf der Dinge jenseits des Rheins besonders entzückt waren, und dass lediglich die lästige Mitgliedschaft der Deutschen im selben Verteidigungsbündnis sie daran hinderte, den aufmüpfigen Hunnen mit härteren Maßnahmen zu drohen. Um wie viel mehr müssten die Russen, die ja von der deutschen Wehrmacht angegriffen und besetzt worden waren, in Panik geraten angesichts eines wiedervereinigten, wieder erstarkten, wieder triumphierenden Deutschland? So dachte ich es mir wenigstens, als ich mit Block und Bleistift loszog.

»Ach Söhnchen, ich freue mich für euch, ich habe geweint, als ich das gestern im Fernsehen sah«, sagte mir die Babuschka am Kiewer Bahnhof. »Das war ja kein natürlicher Zustand, diese Trennung, nicht wahr«, nickte der Kriegsveteran zustimmend, den man an den Ordensspangen am abgewetzten Wintermantel erkannte. »Ein Volk gehört zusammen«, fügte er hinzu und nahm damit schon fast Willy Brandt mit seinem historischen Ausspruch vorweg, wonach zusammenwachse, was zusammengehöre. So sehr ich mich auch bemühte, ich fand bei meiner – zugegeben gänzlich unwissenschaftlichen – Untersuchung keinen einzigen Menschen, der auch nur ansatzweise Vorbehalte gezeigt hätte gegen die Ereignisse in Deutschland.

Aber auch schon früher war ich immer wieder über dieses besondere Verhältnis zwischen Russen und Deutschen gestolpert, das bei misstrauischen westlichen Freunden Deutschlands unter dem stenografischen Begriff »Rapallo« läuft. Dahinter verbirgt sich keine Schweizer Kräuterbrause, sondern ein Ort in Italien, an dem Deutsche und Russen, die Verlierer des Ersten Weltkrieges, sich 1922 über alle politisch-ideologischen Gegensätze hinweg auf eine enge Zusammenarbeit verständigten.

Wenn sich ein Bundeskanzler Adoptionskinder in Russland besorgt, und wenn sich seine Nachfolgerin auf Russisch mit ihrem Amtskollegen im Kreml unterhalten kann, dann lebt darin dieser Geist von Rapallo fort. Ich selbst fand ihn einmal auf dem Flughafen von Baku, der Hauptstadt der zu diesem Zeitpunkt schon unabhängigen Republik Aserbaidschan. Ich war auf dem Rückflug nach Istanbul, hatte meine Tasche zwecks Zollkontrolle in die Röntgenröhre geschoben und war mit Pass, Ticket und Zolldeklaration vor eine wasserstoffsuperoxidblonde ältere Dame in grüner Uniform getreten.

»Ah, Sie sind Deutscher«, stellte die Grenzbeamtin nach einem Blick auf meinen Pass erfreut fest. Sie war Russin, wie sich schnell herausstellte, verheiratet mit einem Aserbaidschaner, und nach der Unabhängigkeit (des Landes, nicht ihrer persönlichen) in Baku hängen geblieben.

»Wissen Sie«, fuhr sie fort, »mein Vater war im Krieg in Deutschland, und er war dort auch als Kriegsgefangener im Lager.«

Mir sank das Herz in die Hose. Der arme Mann. Etwas Schlimmeres hätte ihm kaum passieren können, als in einem deutschen Lager zu landen, noch dazu als Russe. Ich erwartete, dass mein Gegenüber gleich zu einer moralischen Standpauke ansetzen würde. Aber zu meiner grenzenlosen Überraschung lächelte sie weiter.

»Was Sie nicht sagen«, brachte ich schließlich hervor. »Mein Vater war im Krieg in Russland, und bis 1949 war er in einem sowjetischen Lager interniert. In Karelien, glaube ich.«

»Ihr armer, armer Herr Papa«, seufzte sie. »Das muss ja schrecklich für ihn gewesen sein.«

Nein, konnte ich ihr ehrlich versichern, soweit ich das rekonstruieren konnte, hat er sich nie über seine Erlebnisse in Gefangenschaft beklagt. Ich kann mich erinnern, dass er mich als Kind zu Treffen ehemaliger Kriegsgefangener mitnahm. Da saßen dickbäuchige Wirtschaftswundermänner beisammen, tranken viel Wodka, pafften grässlich stinkende Machorka-Zigaretten, und erzählten einander schenkelklopfend Schwänke aus dem Lagerleben. Falls sie schlechte Erinnerungen gehabt haben sollten, so waren sie vergessen oder verdrängt.

Was meinen Vater betraf, so waren Russen außerdem das einzige Volk der Erde, auf das er kein schlechtes Wort kommen ließ. Alle anderen Nationen belegte er routinemäßig mit Schimpfwörtern. Hätte man ein Lexikon der gängigen und der ausgefalleneren deutschen Klischees über andere Völker schreiben wollen, so hätte man sich nur ein paar Stunden lang mit meinem Vater unterhalten müssen.

Das alles erzählte ich der russischen Grenzfrau in aserbaidschanischer Uniform. Wir versicherten uns, dass es am besten sei, die Vergangenheit ruhen zu lassen, dass es nie wieder Krieg geben dürfe, und schieden als dicke Freunde. Doch als ich zum Röntgengerät hinüberging, um meine Tasche wieder in Empfang zu nehmen, stoppte mich der aserbaidschanische Beamte. Was denn in den beiden Gläsern sei, die sich auf dem Bild deutlich abgezeichnet hätten, wollte er wissen. Kaviar, antwortete ich arglos. Dumme Frage, dachte ich mir. Wo sonst kann man ein Kilo schwarzen Kaviars auf dem Basar für sechzig Dollar kaufen? Und ich wäre ja dumm gewesen, von einem solchen Angebot nicht Gebrauch zu machen.

Ob ich denn nicht wisse, fragte er, dass man nur 16, in Worten: sechzehn, Gramm der wertvollen Leckerei ausführen dürfe? Den Rest müsse er mithin, Vorschrift sei Vorschrift, beschlagnahmen. Leider, log er, und leckte sich die Lippen.

Derweil ich fieberhaft nach einem Ausweg suchte, der es mir erlaubt hätte, wenigstens eines meiner beiden 500-Gramm-Gläser auszuführen, war schon meine neue Freundin herübergeeilt.

»Was machen Sie denn da«, zischte sie ihren Kollegen an, der offensichtlich ihr Untergebener war. »Wissen Sie nicht, dass der Vater dieses Herren im Krieg in Russland gekämpft hat? Dass er in einem sowjetischen Lager gesessen hat? Und Sie machen ihm Probleme?«

An mich gewandt fügte sie hinzu: »Das nächste Mal wissen Sie Bescheid, da kaufen Sie einfach weniger. Jetzt packen Sie Ihre Gläser und machen zu, damit Sie Ihren Flug nicht verpassen.«

Mit anderen Worten: Weil sich mein Vater vor sechzig Jahren eine Wehrmachtsuniform angezogen und versucht hatte, ihren Vater umzubringen, gestattete sie es mir jetzt, die Gesetze der Republik Aserbaidschan zu brechen. Das ist der Geist von Rapallo.

Das ist auch der Grund, weshalb sich dieses Buch vorgeblich an russische Deutschland-Touristen wendet. Denn sie sind uns nicht nur gewogen, sie interessieren sich auch ehrlich für ihre westlichen Nachbarn. Und von niemandem kann man mehr über sich selbst erfahren, als von einem guten Freund, der es ehrlich mit einem meint. Sie als Deutscher haben also die Möglichkeit, diesem russischen Leser gleichsam beim Lesen über die Schulter sehen.

Inzwischen ist es nicht mehr nötig, die Fiktion des Herrn Maxim Gorski aufrechtzuerhalten. Er hat seine Schuldigkeit getan und verdient den Ruhestand, wo immer er ihn verbringen will. Viel hat er in letzter Zeit sowieso nicht mehr geschrieben.

Seinen Blickwinkel allerdings habe ich weitgehend beibehalten. Er hat so etwas erfrischend Subjektives und Nichtdeutsches.

Immer im Weg – Deutschland, ein Stolperstein

Über Deutschland muss man förmlich stolpern. Allein schon geografisch kommt man – zumindest als Europäer – schlechterdings an ihm nicht vorbei, liegt es doch dick und rund mitten auf dem Kontinent. Wer auf dem Landweg von Moskau nach Paris, von Rom nach Stockholm oder von Amsterdam nach Budapest reisen will, der kommt um Deutschland und die Deutschen buchstäblich nicht herum. Deutschland liegt immer auf dem Weg. Und manchmal, das soll nicht verheimlicht werden, ist es auch ganz einfach im Weg.

Kein zweites Land in Europa grenzt an so viele Nachbarstaaten – größere und kleinere, ärmere und reichere, romanische, germanische und slawische. Sie alle werden – ob sie es nun wollen oder nicht – mehr oder weniger stark von Deutschland beeinflusst: wirtschaftlich sowieso, politisch wieder nachhaltiger als früher, aber auch kulturell (obschon das traditionell meist eine Straße in zwei Richtungen war).

Außerdem ist es ja nicht so, dass sich die Deutschen verschämt daheim verstecken würden. Ich denke dabei weniger an jene beiden Gelegenheiten im vergangenen Jahrhundert, als sie ungefragt bei ihren europäischen Nachbarn eindrangen und dort einen unauslöschlichen Eindruck hinterließen. Sondern vielmehr an die friedlichen deutschen Invasionen der Nachkriegszeit, nämlich an ihre Reiselust (irgendwie scheint bei diesen Germanen noch ein Gen aus den Zeiten der Völkerwanderung aktiv zu sein). Ob zum Tanken nach Luxemburg, zum Schlemmen ins Elsass, zum Shopping nach Polen oder zum Urlaub überallhin – die Deutschen sind immer unterwegs. Das geht so weit, dass bestimmte deutsche Regionen deshalb als bevorzugte Wohnorte gelten, weil man von dort schnell ins Ausland kommt.

Unter diesen Umständen ist es umso erstaunlicher, wie wenig die Deutschen bei ihren näheren und ferneren Nachbarn wirklich bekannt sind. Man nennt sie krauts und moffen, boches und Piefkes oder seinerzeit in Russland frizi. Die Polen machten aus ihrem, vermeintlich so harmlosen Spottbegriff für Deutsche – szwab, der Schwabe, – ein deutlich weniger freundliches Verb, das so viel bedeutet wie betrügen. Ganz zu schweigen davon, dass ein anderes Schimpfwort der Polen, prusaki, die Preußen, noch immer das Synonym für Kakerlaken ist.

Das alles war und ist nicht gerade liebevoll gemeint, sondern spiegelt – leider oft gerechtfertigte – Vorurteile wider. Zugegeben, Deutschland und die Deutschen gehören nicht zu jenen Ländern und Völkern, die auf den ersten Blick sympathisch sind. Dafür sind sie zu kompliziert, zu widersprüchlich und auch zu spröde. Obwohl: Geliebt werden wollen sie schon, vielleicht sogar mehr als andere. Aber ist Liebe auf den zweiten, dritten oder gar vierten Blick nicht meist dauerhafter?

Leute mit dünnen Beinchen und dünnen Seelchen – so pflegte man die Deutschen in Russland einst halb mitleidig, halb spöttisch zu charakterisieren. Als Menschen, die unerhört kleinkariert und engstirnig sind, also quasi – um einen technischen Vergleich zu wagen – die deutsche Schmalspurbahn im Gegensatz zur extrabreiten russischen Spurweite. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass selbst sehr skeptische Russen in Deutschland auch Menschen mit recht stämmigen Beinen getroffen haben.

Eine Gebrauchsanweisung für eine derart vertrackte Apparatur wie Deutschland ist deshalb einerseits dringend notwendig, andererseits scheint sie ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Denn Deutschland und Deutsche sind nicht immer, nicht überall und nicht gegenüber jedermann immer gleich. Der italienische Gelehrte Luigi Barzini hat sie mit dem alten griechischen Meeresgott Proteus verglichen, der ständig Aussehen und Figur verwandelt und sich so erfolgreich jedem Zugriff entzieht. Seit den Tagen des Römischen Reiches, so schrieb Barzini, hätten die anderen Europäer das Problem herausfinden zu müssen, »wer die Deutschen sind, für wen sie sich selbst halten, was sie tun, und welchen Weg sie als Nächstes einschlagen werden – und ob sie das bewusst tun oder unbewusst«.

Denn die Deutschen neigen bei all ihrer Liebe zur Disziplin, Ordnung und Korrektheit auch zur Sprunghaftigkeit, zur Unberechenbarkeit. Hinter ihrem oft rüden Äußeren verbirgt sich eine butterweiche, abgrundtiefe und blutende, weil immer wieder missverstandene Seele – und mit wachsweichen Seelen sollten Russen sich eigentlich gut auskennen.

Winston Churchill wird der Satz zugesprochen, dass man nie wisse, woran man mit den bloody Germans sei: entweder gingen sie einem an die Kehle, oder sie lägen einem zu Füßen – einen gesellschaftlich und international mehr oder minder akzeptierten Mittelweg schienen sie nicht zu kennen. Es ist der typische Ausspruch eines Mannes, der keine Gebrauchsanweisung für Deutschland zur Hand hatte.

Eine narrensichere Bedienungsanleitung für die Deutschen kann auch ich Ihnen nicht bieten, eher Hinweise auf den pfleglichen Umgang mit ihnen. Überraschungen – positive wie negative – werden Ihnen auch nach der Lektüre dieses Büchleins nicht erspart bleiben. Aber ein bisschen besser als Churchill sollten Sie für diese unheimliche Begegnung schon gerüstet sein.

Quadratisch, praktisch, abwaschbar: Die Tupper-Republik

Sie haben sich also entschlossen, nach Deutschland zu reisen. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Mut, zu Ihrem Abenteuergeist und zu Ihrer Geduld. All diese Eigenschaften werden Sie brauchen, und Sie können von Glück sagen, dass Erfahrung, Geschichte und vielleicht auch Gene Russen damit reichlicher als andere Völker ausgestattet haben.

Sobald Sie mit Ihren Reisevorbereitungen begonnen haben, werden Sie, wenn Sie Russe sind, nämlich feststellen, dass es offenkundig einfacher ist, ins Himmelreich zu gelangen als nach Berlin, München oder Hamburg. In ersterem Fall genügt ein gottgefälliges Leben, und dies ist augenscheinlich leichter nachzuweisen als die für eine Fahrt nach Deutschland erforderlichen Papiere und Dokumente. Man kann nur hoffen, dass die Tore zum Paradies wirklich vom heiligen Petrus und nicht von deutschen Konsularbeamten bewacht werden. In diesem Fall wäre es ziemlich leer im Himmel.

Für Deutschland brauchen Sie zunächst einmal ein Visum – daran haben weder der Fall des Eisernen Vorhangs noch der Vormarsch von Europäischer Union und Nato in den Osten Europas etwas geändert. Da dieses Visum von deutschen Konsulaten ausgestellt wird, empfiehlt es sich, die Reise nur dann ernsthaft ins Auge zu fassen, wenn Sie in einer Stadt leben, in der es eine solche Einrichtung gibt – also Moskau, St. Petersburg und neuerdings auch Nowosibirsk, Jekaterinburg und Kaliningrad, das ja sowieso einmal unter dem Namen Königsberg deutsch war.

Vor das Visum haben die Behörden den wysow gesetzt, die Anforderung. Weil das ein bisschen grob klingt, sprechen die Deutschen lieber von einer Einladung. Aber auch die hat es in sich: Sie ist mit so vielen Bedingungen, Formularen, Stempeln und anderen Voraussetzungen gespickt, dass Sie sich bald wirklich vorkommen werden wie ein zollpflichtiges Stück Exportgut, das verschnürt, verpackt, versiegelt und expediert wird.

Die Älteren werden noch die frommen Wünsche der Deutschen (aber auch der anderen Westeuropäer) im Ohr haben, die sowjetischen Machthaber sollten ihrem geknechteten Volk Reisefreiheit gewähren. Doch als dann die Innenministerien in Moskau und anderswo tatsächlich die Türen öffneten, da schloss der Westen flugs die seinen. Plötzlich erinnerte man sich daran, was der frühere chinesische Führer Deng Xiaoping dem damaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand auf dessen Aufforderung hin erwiderte, den Chinesen Freizügigkeit zu gewähren: »Gerne«, sagte Deng mit feinem Lächeln. »Wie viele hätten Sie denn gern? Zehn Millionen? Zwanzig? Fünfzig?«

Auch die Aussicht auf einen Ansturm von Millionen Russen, Polen oder Ukrainern ließ die Westeuropäer erschauern, und daher machten sie die Schotten dicht. Öffnen lassen sie sich eigentlich nur mit einer Kreditkarte oder einem Bündel Bargeld, denn die reichen Länder im Westen sehen es noch immer lieber, wenn die Gäste bei ihnen Geld ausgeben und es dort nicht verdienen wollen. Es gibt Gerüchte, wonach vor allem am nördlichen Alpenkamm siedelnde Bergvölker (Österreicher, Schweizer, Bayern) am liebsten ein Sammelkonto bei einer international operierenden Bank einrichten würden, auf das Touristen ihre gesamte Urlaubskasse überweisen könnten, ohne sich der Mühsal einer Reise unterziehen zu müssen.

Noch nicht einmal für die Polen, die Rumänen oder die Bulgaren, die mittlerweile Volleuropäer mit einer Mitgliedschaft im noblen EU-Club sind, haben sich diese Tore geöffnet: Die Regierungen in Berlin und anderswo scheinen im polnischen Klempner oder im lettischen Bauarbeiter nur die vorläufig letzten Manifestationen einer urzeitlichen Gefahr aus dem Osten zu sehen – quasi in einer direkten Linie von Attilas Hunnenhorden bis zu den Stoßtrupps der Roten Armee.

Aber Sie wollen ja sicherlich keine verstopften Ausgüsse in Goslar oder Germering freilegen, sondern zum Vergnügen nach Deutschland reisen. Sie brauchen also eine Einladung, und streng genommen müssen Sie dafür einen Verwandten, einen Freund, eine Behörde, eine Institution oder eine Firma in der Bundesrepublik kennen, oder – was wichtiger ist – irgendjemand in Deutschland muss Sie kennen. Denn der Gastgeber (wenn wir bei der irreführend freundlichen Wortwahl bleiben wollen) muss für Sie gleichsam mit Leib und Seele bürgen.

Die Verpflichtungserklärung, die Ihr Freund von seiner heimischen Behörde abstempeln lassen muss, weist in der Tat gewisse Ähnlichkeiten mit jenen Schandverträgen auf, mit denen ein indischer Unberührbarer in die Schuldknechtschaft gezwungen wird: »Unwiderruflich«, nach »§84 Abs. 1 Ausländergesetz« und »ohne dass sich die Ausländerbehörde zu irgendeiner Gegenleistung verpflichtet oder eine solche auch nur in Aussicht stellt«, verpflichtet sich der Gastgeber für Sie, Iwan Iwanowitsch, zu sorgen und zu zahlen, in guten und in schlechten Zeiten, bei Gesundheit und bei Krankheit. Gott sei Dank gilt das nicht, bis dass der Tod Sie scheidet, sondern nur für die Dauer Ihres Aufenthaltes in Deutschland. Sterben sollten Sie sowieso lieber daheim, wenn Sie sich weiteren Papierkram ersparen wollen. Und weil der Konsularbeamte anders als der Standesbeamte Ihrem neuen Vormund nicht unbedingt aufs Wort glaubt, dass er Sie sich auch wirklich leisten kann, muss dieser einen Lohnzettel beilegen.

Mittlerweile freilich werden die Lasten einer Deutschlandreise ein wenig gleichmäßiger verteilt. Bevor Sie überhaupt ein Visum bekommen, müssen Sie unter anderem nachweisen, dass Sie eine Krankenversicherung abgeschlossen haben, damit Sie im Ernstfall nicht dem überlasteten deutschen Gesundheitssystem auf der Tasche liegen. Oder anders ausgedrückt: Niemand hat etwas dagegen, wenn Sie Ihr Herz in Deutschland verlieren. Falls Sie jedoch ein neues Herz in Form einer Organtransplantation als Souvenir mit nach Hause nehmen wollten, dann sollten Sie schon selbst dafür zahlen.

So wie übrigens auch für alles andere – von der Wurstsemmel über die Straßenbahnkarte bis zum Hotelzimmer. Wundern Sie sich nicht, wenn der Bundesgrenzschutzbeamte, der ein wenig muffig in seinem Glasverschlag am Berliner Flughafen Schönefeld lauert, Sie nach Ihren Finanzverhältnissen fragt. Ich weiß, solche indiskreten Fragen schicken sich nicht in Russland. Übrigens auch nicht in Deutschland. Aber der Mann in Uniform tut nur seine Pflicht: Er muss überprüfen, ob Sie sich Deutschland überhaupt leisten können. Am besten ist es, wenn Sie zu diesem Zweck mit einem Bündel Euro vor seinen Augen wedeln können. (Zur Not tun es auch Dollar, und seitdem russische Oligarchen Milliardensummen in Deutschland investieren, hat auch der Rubel seinen Ruch verloren.) Kreditkarten sind fragwürdig, weil man ihnen gemeinhin nicht ansieht, wie viel Geld sich hinter ihnen verbirgt. Sollten Sie jedoch selbst Oligarch sein, vergessen Sie alles soeben Gelesene: Ihnen gehört nicht nur die Kreditkarte, sondern auch die Bank, welche sie ausgestellt hat. Im Zweifel reisen Sie mit Ihrer Privatmaschine an, und das bedeutet, dass Sie auch Ihren eigenen privaten Grenzübergang ganz alleine für sich haben werden.

Dass Sie nicht zu wenig Geld haben sollten, versteht sich von selbst. Leider ist es aber so, dass Sie auch nicht zu viel Bares einstecken sollten – auch nicht als neurussischer Neureicher. Russische Bestimmungen schreiben vor, dass Sie höchstens 5000 Dollar ausführen dürfen. Jeder Cent mehr muss eigens beim Zoll deklariert werden – was abermals Formulare und Fragen bedeutet. Nach Deutschland wiederum dürfen Sie höchstens 10 000 Dollar bar importieren. Bei jedem Cent, der darüber liegt, müssen Sie nachweisen, woher Sie ihn haben. Denn Sie könnten ja ein Rauschgifthändler oder ein Waffenschmuggler sein, der sein schmutziges Geld zum Waschen nach Deutschland bringt. Diese Regel gilt auch dann für Sie, wenn Sie als Eigner eines englischen Fußballclubs einreisen, um sich einen Bundesliga-Stürmer zu kaufen. Den Deal müssen Sie schon bargeldlos abwickeln. Der silberfarbene Samsonite kann zu Hause in Chelsea bleiben.

Die Differenz zwischen russischen Ausfuhr- und deutschen Einfuhrregeln bedeutet freilich, dass es Ihnen unbenommen ist, sich irgendwo unterwegs zwischen dem Abflug in Scheremetjewo und der Ankunft in Schönefeld 5000 Dollar zu beschaffen. Vielleicht hilft Ihnen ja die Stewardess aus. Dieser Widerspruch erinnert an eine uralte Anekdote, in der sich der amerikanische Präsident John Kennedy und der russische Parteichef Nikita Chruschtschow darüber unterhalten, wie viel ein Durchschnittsbürger im jeweiligen Land verdient. »So an die 1500 Dollar«, sagt Kennedy. »Und zum Leben braucht er nicht mehr als 1000.« – »Und was macht er mit den 500 Dollar?«, fragt Chruschtschow neugierig. »Das geht uns nichts an«, erwidert Kennedy. »Die Vereinigten Staaten sind ein freies Land. Aber sagen Sie mal, wie ist das denn in der Sowjetunion?« – »Nicht viel anders«, antwortet Nikita Sergejewitsch. »Ein Werktätiger verdient ungefähr 500 Rubel im Monat. Zum Leben braucht er, ähnlich wie in den USA, auch nur 1000.« – »Aber da fehlt ihm doch was«, wirft Kennedy ein. »Woher nimmt er denn den Rest?« – »Das«, grinst Chruschtschow, »geht uns nichts an. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ist ein freies Land.«

Aber noch einmal zurück zu den Einladungen: Der Fairness halber muss gesagt werden, dass sie (Sie werden es sich schon gedacht haben) seinerzeit den chronisch misstrauischen Hirnen unserer Sowjetbürokratie entsprangen. Denn der Verwaltungswahnsinn funktioniert auch in die andere Richtung: Auch Deutsche, die Moskau, Petersburg oder – von mir aus – Neftejugansk (vor allem Neftejugansk) – besuchen wollen, brauchten eine Einladung.

Das gilt noch heute, denn das Misstrauen gegenüber Ausländern ist nie eine Spezialität lediglich sowjetischer Bürokraten gewesen. Sie setzten nur eine unrühmliche Tradition russischer Zaren fort, und auch unter Wladimir Putin und Dmitri Medwedjew hat sich daran kaum etwas geändert.

Die hohen Hürden, die vor Besuchern aufgebaut werden, verfolgen stets dasselbe Ziel: möglichst viele Menschen vor einem Besuch abzuschrecken. Das hat allerdings damals genauso wenig gefruchtet wie heute. Inzwischen hat man zumindest auf der deutschen Seite die Dinge vereinfacht und beschleunigt: Wer bereit ist, einen kleinen Extraobolus zu entrichten, der kann sich telefonisch vom Konsulat einen festen Termin geben lassen und erspart sich damit die endlos langen Schlangen, an denen man noch immer die diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik und anderer westlicher Staaten erkennt. Und wenn es ganz rasch und unkompliziert gehen soll, dann buchen Sie den ganzen Trip einfach pauschal bei einem Reisebüro. Das kümmert sich um alles – einschließlich Visum, Versicherung und Ticket. Nur das Bargeld, das müssen Sie schon selbst aufbringen.

Welchen Weg Sie auch wählen, früher oder später sind Sie stolzer Besitzer eines deutschen Visums, das mit unlösbarem Spezialleim in den Pass gepappt wird. Nach dem erzkapitalistischen Motto Buy one, get one free gibt es auch beim Visum eine Draufgabe: Die Erlaubnis gilt fürs ganze sogenannte Schengen-Land. Hinter dem Namen dieses luxemburgischen Dorfes versteckt sich die Mehrzahl der EU-Staaten, die ihre Visa gegenseitig anerkennen. Sie können also von Deutschland aus beliebig über die Grenzen spazieren – nach Österreich und nach Frankreich, nach Portugal und nach Griechenland. Doch Vorsicht: Wenn Sie ein deutsches Visum im Pass haben, aber von Russland aus eigentlich nach Spanien wollen, dann müssen Sie trotzdem zuerst nach Deutschland – ob Sie wollen oder nicht.

Aber Sie wollen ja nach Deutschland, sonst würden Sie dieses Buch nicht lesen. Sie haben also Ihr Visum, und auch eine Flug- oder Bahnkarte haben Sie sich besorgt. Achten Sie bitte darauf, dass es sich um ein Rückflugticket handelt, denn das wird bei der Einreise zuweilen kontrolliert. Ein wesentliches Element deutscher Gastfreundschaft liegt darin, dass man gerne von Anfang an wissen will, wie lange der Gast bleiben möchte und ob er überhaupt die Absicht und die Möglichkeit hat, wieder heimzureisen. »Onkel und Tante, ja das sind Verwandte, die man am liebsten nur von hinten sieht«, schrieb der Komponist Eduard Künneke in seiner Operette »Der Vetter aus Dingsda« schon in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Sie können davon ausgehen, dass dieses Sentiment auch für ausländische Gäste in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts gilt. Ich habe einmal in Seoul einen jungen Koreaner getroffen, der in Hamburg studierte und die Bundesrepublik hingebungsvoll per Anhalter bereiste. Mitgenommen würde er so gut wie immer, erzählte er mir. Aber die Fragen, die man ihm stellte, seien immer dieselben. Nummer eins: Woher kommen Sie? Nummer zwei: Wie lange wollen Sie denn bleiben? Erst dann gehe man zum Wetter über und manchmal sogar zu der Frage, ob es ihm gefalle in Deutschland. Die stelle man freilich sehr, sehr selten. Seine Vermutung: Der Fragesteller wäre weder über ein Ja noch über ein Nein wirklich erbaut. Im ersten Fall würde der Ausländer womöglich bleiben wollen, im zweiten erdreistete er sich, Kritik zu üben.

Sie sehen, ich habe Ihnen nicht zu viel versprochen, als ich Ihnen Mut, Abenteuergeist und Geduld wünschte. Ich kann Ihnen aber versichern, dass Sie nichts mehr davon brauchen werden, sobald Sie die Passkontrolle überwunden haben und mit Ihrem Koffer in der Hand auf die Straße vor dem Terminal oder dem Bahnhof getreten sind. Im Gegenteil: Auf den ersten Blick wird Ihnen das Land fast schon langweilig vorkommen, so geordnet, sauber und diszipliniert wirkt alles. Es hat fast den Anschein, als ob die Deutschen alle positiven Vorurteile über sich fleißig gesammelt und penibel in die Realität umgesetzt hätten.

Das beginnt gleich im Flughafen (und wenn Sie auf einem Bahnhof ankommen, sieht es nicht viel anders aus): So, meinen Sie, sollte eigentlich eher eine Klinik aussehen – sauber bis zur Sterilität, ruhig, übersichtlich, geordnet. Immer und überall wird gewienert, gebohnert und geputzt. Am auffälligsten sind vielleicht die kleinen Traktoren gleichenden Putzfahrzeuge, die unaufhaltsam durch die Hallen schnurren.

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