Gebrauchsanweisung für Kalifornien - Heinrich Wefing - E-Book

Gebrauchsanweisung für Kalifornien E-Book

Heinrich Wefing

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Beschreibung

Selbst wer zum ersten Mal in Kalifornien landet, kommt in ein Land, dessen Bilder ihm längst vertraut sind. Er erkennt die Highways und die Golden Gate Bridge wieder, den Hollywood-Schriftzug über L.A., die Palmen und die Sonnenuntergänge. Doch hinter der rosa schillernden Fassade gibt es viel mehr zu entdecken: Heinrich Wefing verrät, warum man sich San Francisco vom Wasser her nähern muss, er lüftet das Geheimnis des Nebels und erklärt, wie ampelfreie Kreuzungen funktionieren. Er lädt zu einer Parade am Unabhängigkeitstag in Sausalito und zur Fahrt durch das Central Valley ein. Und gibt preis, warum hellblaue Frotteeanzüge hier das ganze Jahr über Konjunktur haben.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Für Wiebke, Insa und Konrad
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
5. Auflage 2012
ISBN 978-3-492-95556-0
© Piper Verlag GmbH, München 2005
Karte: cartomedia, Karlsruhe
Umschlagkonzept: Büro Hamburg
Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling
Umschlagabbildung: Mark Hanauer / Corbis
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Karte

Der erste Augenblick

Versuchen Sie bitte, liebe Leser, sich den ersten Blick einzuprägen, den Sie auf Kalifornien werfen. Merken Sie sich, wo Sie sitzen, wie spät es ist, wie hoch die Sonne steht. Versuchen Sie nicht zu vergessen, wie die Luft riecht, woher der Wind weht und was sie sehen. Das vor allem: Behalten Sie die Aussicht im Gedächtnis. Egal welche – die auf das Gitternetz der Straßen, auf das Küstengebirge und die helle Sichel des Ufers, die Sie durch die Kabinenfenster erkennen, wenn Sie mit dem Direktflug aus Frankfurt in »Los Angeles International« landen. Oder auf das Durcheinander von grünen Hügeln, glitzerndem Wasser, Nebelfetzen und Wolkenkratzern beim Anflug auf San Francisco. Reservieren Sie diesen Eindrücken einen Platz in Ihrer Erinnerung. Nicht nur als Reiseandenken, als banale Begebenheit, die Sie später daheim Ihren Freunden erzählen können. Nein, daß Sie diesen Moment bewußt wahrnehmen, hilft Ihnen, etwas Grundlegendes zu verstehen: Ankommen ist das kalifornische Urerlebnis. Eine kollektive Erfahrung, die beinahe jeder hier teilt. Neu zu sein ist in Kalifornien der Normalzustand. Eine selbstverständliche Daseinsform. Für die meisten, die zwischen San Diego und Eureka leben, ist es noch gar nicht lange her, daß sie vom Fremden zum Einheimischen geworden sind. Der Staat im Westen ist Zuwandererland von alters her, eine Gesellschaft von Menschen, die gerade erst ihre Umzugskisten ausgepackt haben (wenn sie denn überhaupt Gepäck dabeihatten). Von den fünfzehn Millionen Menschen zum Beispiel, die im Großraum Los Angeles leben, einem fragilen Gebilde, das in abertausend ethnische Splitter zerfällt, je genauer man hinsieht, sind fast vierzig Prozent außerhalb der Vereinigten Staaten geboren, und fast zwei Drittel von ihnen sprechen beim Abendessen mit ihrer Familie kein Englisch, sondern ihre eigene, importierte Sprache; vorzugsweise Spanisch. Sie alle sind Experten der Eingewöhnung, Fachleute für das Gefühl der Fremdheit. Sie wissen, wie beschwerlich es ist, fern der Heimat zu sein, und doch würden sie die Reise vermutlich gleich noch einmal antreten, wenn sie müßten.

Menschen kommen auf Schiffen nach Kalifornien, in Flugzeugen, mit der Eisenbahn oder dem eigenen Auto. Zu Fuß über die grüne Grenze, legal oder illegal, aus Amerika und aus aller Welt. Es sind wahre Menschenfluten, die da heranrollen, Welle um Welle, und sie kommen so zuverlässig wie die Gezeiten. Eine menschliche Brandung, die unablässig über Kaliforniens Küsten und Grenzen schwappt, Tag und Nacht, sommers wie winters. Mitunter steigt die Flut ein wenig höher, mal ebbt sie ab, doch sie versiegt nie. All die Neuen, die Fremden, die Abenteurer und Heimatlosen haben das Land, das so groß ist wie Schweden, in den letzten hundertfünfzig Jahren überhaupt erst bevölkert. Niemand weiß genau, wie viele Indianer im sechzehnten Jahrhundert auf dem Gebiet des heutigen Kalifornien lebten, als die ersten Missionare von Mexiko her nach Norden vorstießen. Wahrscheinlich waren es nur zwei- oder dreihunderttausend Angehörige verschiedener Stämme, die sich in der Weite fast verloren haben müssen. So menschenleer blieb Kalifornien lange. 1848, kurz vor Ausbruch des Goldrauschs, hatte San Francisco erst achthundert Einwohner, Santa Barbara tausend, Los Angeles zwölfhundert. Dann aber explodierte die Gier, und mit ihr die Zahlen; was zuvor ein Rinnsal gewesen war, wurde zur Springflut. In den vier Jahren bis 1852, als längst schon keine Goldklumpen mehr mit der bloßen Hand aus den Bächen der Sierra Nevada geholt werden konnten, fielen rund zweihunderttausend Glückssucher in das Land ein, und seither hat der Zustrom nicht mehr nachgelassen. Heute leben in Kalifornien mehr Menschen als in jedem anderen Bundesstaat Amerikas: gut achtunddreißig Millionen. Und in zwanzig bis dreißig Jahren, spätestens 2050, wird Kalifornien mehr Einwohner zählen als das vergreisende Deutschland.

Manche der Zuwanderer kamen, um Gold und Silber zu suchen. Um Eisenbahnen zu bauen, das Christentum zu verbreiten oder mit Grundstücken zu spekulieren. Heute kommen viele, um in Stanford und Berkeley zu studieren, um reich zu werden im Silicon Valley oder berühmt in Hollywood. Die meisten aber wurden – und werden – von bescheideneren Träumen hierher gezogen. Von der Hoffnung vor allem, nur irgendwie ein Auskommen zu finden. Ein Leben in Freiheit und ohne Not. Deshalb sind die chinesischen Wanderarbeiter gekommen, die verschuldeten Farmer aus der Dust Bowl während der großen amerikanischen Depression in den dreißiger Jahren, farbige Amerikaner aus Texas und Louisiana, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs Arbeit in den Rüstungsfabriken von Los Angeles fanden; deshalb kommen heute die Obstpflücker aus Mexiko, die philippinischen Großfamilien, die Flüchtlinge aus dem Iran. Menschen von überall her. Versuchen Sie, liebe Leser, sich diese ewige Völkerwanderung nach Westen klarzumachen, wenn Sie am Flughafen in der Schlange vor der Paßkontrolle stehen oder am Gepäckband nach Ihrem Koffer Ausschau halten. So wie Sie jetzt – müde, neugierig, verwirrt – sind Millionen vor Ihnen nach Kalifornien gekommen.

Denken Sie an die Tausenden, die jedes Jahr durch die Wüste geschmuggelt werden und irgendwie den mexikanisch-amerikanischen Grenzzaun überwinden. Denken Sie an die Immigranten aus El Salvador, Nicaragua und Mexiko, wenn Sie in Tijuana an den Kontrollpunkten der »U. S. Border Patrol« stehen und auf die Einreise in die Vereinigten Staaten warten. Oder malen Sie sich aus, während Ihr Kreuzfahrtdampfer unter der Golden Gate Bridge hindurchgleitet und Sie die Augen kaum lassen können vom Weiß und Silber und Funkeln San Franciscos, wie hier im Sommer 1775 die »San Carlos« vor Anker ging: das erste europäische Schiff, das je durch das Goldene Tor segelte, während an der anderen Küste, im Osten Amerikas, gerade die britischen Kolonien von der Krone abfielen. Oder versuchen Sie, wenn Sie im Mietauto über die Paßstraßen der Sierra Nevada fahren, sich in die Lage der Familien zu versetzen, die denselben Weg vor hundertfünfzig Jahren genommen haben, in Planwagen, Ochsenkarren oder auf dem Rücken von Pferden. Gedenken Sie einen Moment lang der Kinder, die den Hunger, die Hitze, das Fieber nicht überstanden haben; gedenken Sie der Alten und Kranken, die bisweilen unterwegs ausgesetzt wurden, um in den Wäldern zu sterben, wenn der Proviant zur Neige ging oder die Kraft der Siedler nicht mehr reichte, alle durchzuschleppen. Die Geschichten dieser Trecks sind die Legenden Kaliforniens. Jedes Kind hier kennt das grausige Schicksal der Donner-Reed-Party, einer achtzigköpfigen Gruppe von Einwanderern auf dem Weg von Salt Lake City nach Sacramento, die im November 1846 mit zwanzig Planwagen und einer Ochsenherde bei Truckee, unweit des Lake Tahoe, von frühem Schnee überrascht wurde. Monatelang saßen die Pioniere in der Sierra Nevada fest, mehr als die Hälfte starb, und einige der Verzweifelten sollen Menschenfleisch verzehrt haben, ehe schließlich im Februar Hilfe eintraf. Wer aber kann sich die Erleichterung, die Dankbarkeit, die Tränen der Überlebenden vorstellen, als sie, endlich aus ihrer weißen Hölle befreit, aus den Bergen hinabstiegen nach Kalifornien? Jeder Siedler, der nach dem langen Treck ankam, hat die Schriftstellerin Joan Didion einmal bemerkt, sei »wiedergeboren worden in der Wildnis. Ein neues Geschöpf, in nichts dem Mann oder der Frau gleich, die sich viele Monate zuvor auf den Weg gemacht hatte: Schon die Entscheidung selbst, die Reise anzutreten, war eine Art Tod, erforderte sie doch die völlige Aufgabe des bisherigen Lebens, den Abschied von Vater und Mutter und Brüdern und Schwestern, die man niemals wieder sehen würde«, die Unterdrückung aller Gefühle und den Verzicht auf den elementarsten Komfort. Wer hier ankommt, hat einiges hinter sich.

Bewahren Sie also Ihren ersten kalifornischen Augenblick im Gedächtnis. Es ist ein beinahe magischer Moment. Ein Erlebnis, das fast so häufig beschrieben worden ist wie das Einlaufen im Hafen von New York, wenn sich nach wochenlanger Schiffspassage die Freiheitsstatue langsam aus dem Dunst herausschält. Der Unterschied liegt natürlich darin, daß Kalifornien mehr als nur einen Eingang besitzt und kein weithin sichtbares Wahrzeichen wie die Statue of Liberty. Die Ankunft im Westen hat deshalb häufig etwas Gleitendes, Beiläufiges. Es braucht mitunter eine Weile, bis der Ankommende realisiert, daß er sein Ziel tatsächlich erreicht hat – so wie man manchmal nur mühsam aus dem Schlaf erwacht und nicht recht weiß, was noch Traum ist und was schon der neue Tag. »Plötzlich wurde mir klar: ich war in Kalifornien. Warme, palmenwedelnde Luft – eine Luft zum Küssen«, heißt es in Jack Kerouacs »Unterwegs«, und weiter: »Am Sacramento River entlang auf einen Superhighway; wieder in die Hügel, aufwärts, abwärts, und plötzlich die unermeßliche Weite der Bay, jenseits mit den schläfrigen Lichtern von San Francisco bekränzt.«

Lauter bekannte Bilder stecken in diesen paar Sätzen, die komplette Inneneinrichtung des kalifornischen Traums. Die Palmen und die Wärme, Bewegung und Weite, die Lichter, die Straße – und ein euphorisches Staunen darüber, es wirklich ins gelobte Land geschafft zu haben. Auch das gehört zum Ritual der Ankunft: die schier fassungslose Freude der Ankömmlinge, Hunger, Armut, Verfolgung hinter sich gelassen zu haben und endlich in Kalifornien zu sein. Niemand hat dieses erste Erlebnis des Westens eindringlicher beschrieben als John Steinbeck. Es gibt eine Szene in »Früchte des Zorns«, da die Familie Joad in ihrem klapprigen Lastwagen nach tagelanger Reise die Paßhöhe der Tehachapi-Berge erreicht und hinunterschaut in das verheißene Land. »Die Pfirsichbäume und die Walnußwäldchen und die dunkelgrünen Orangenhecken. Und rote Dächer zwischen den Bäumen und Scheunen – volle Scheunen. Ruthie und Winfield rutschten vom Wagen herunter, und dann standen sie da, schweigend und ehrfürchtig, und betrachteten das große Tal. In der Ferne lag dünner Nebelhauch, und das Land wurde weich und samten in der Ferne. Ruthie und Winfield sahen es, sie erfaßten das alles mit ihren Augen, und Ruthie flüsterte: ›Das ist Kalifornien.‹« Einen zauberhaften Moment lang kann die geplagte Familie, von Traktoren und Staubstürmen um Haus und Hof in Oklahoma gebracht, innehalten und sich eine bessere Zukunft ausmalen. Natürlich finden die Joads nicht, was sie erhoffen: nicht genug Arbeit, nicht einmal ein halbwegs menschenwürdiges Auskommen, und schon gar nicht das kleine weiße Häuschen unter einem Orangenbaum, von dem Ma Joad träumt. Aber es gehört zum eigentümlichen Wesen von Kalifornien, daß Rückschläge die Faszination kaum mindern.

Nichts, so scheint es, vermag die Menschen davon abzuhalten, hierherzukommen. Nicht die schlechte Wirtschaftslage, nicht die Aussicht auf verstopfte Straßen, überfüllte Schulen, verdreckte Luft oder Erdbeben; nicht einmal die Aussicht, ein paar Jahre lang von Arnold Schwarzenegger regiert zu werden. Kalifornien ist für Amerika, was Amerika von jeher für die Welt war: Traumland. Sehnsuchtsort. Zuflucht. Ein Magnet, der die Menschen unwiderstehlich anzieht. Ein Sammelbecken der Ehrgeizigen und Heimatlosen, Exil für die Gescheiterten und alle, die eine zweite Chance suchen, oder eine dritte, vierte, fünfte. Ein Flecken Erde, wo nur die Zukunft zählt, oder, genauer: wo niemand nach der Vergangenheit fragt. Wo sich alle auf die Illusion verständigt haben, ein jeder, der nur wolle, könne sich neu erfinden. Das ist das große Versprechen des Westens, die in tausenderlei Geschichten variierte Verheißung vom Aufbruch, vom neuen Anfang, vom Abschütteln aller Bindungen, vom Abwerfen des Ballasts unterwegs. Raymond Chandlers düstere Bücher sind bevölkert von Gedächtnislosen, die vor ihren Erlebnissen davonlaufen und doch immer wieder davon eingeholt werden. »They came from everywhere/To the Great Divide/Seeking a place to stand/Or a place to hide«, singen die »Eagles« im neunten, letzten Song ihres Albums »Hotel California«. Das Lied heißt nicht zufällig »The Last Resort«. Man kann das mit »Die letzte Zuflucht« übersetzen, und selbst im Deutschen schwingt darin etwas von der untergründigen Verzweiflung, der existentiellen Unsicherheit mit, die eben auch zum Lebensgefühl Kaliforniens zählt. Was man als Paradies betritt, kann sich auch als Sackgasse erweisen: Am Pazifik ist der Weg nach Westen zu Ende. Mehr Amerika geht nicht. Wer es hier nicht schafft, dem bleibt nur noch die Umkehr. »There is no more new frontier/We have got to make it here«, geht der Text von »The Last Resort« weiter. Und es klingt durchaus ein wenig bedrohlich.

Aber das, liebe Leser, muß Sie nicht schrecken. Sie sind angekommen. Kalifornien liegt vor Ihnen.

Have a nice day

Daß es sich leichter lebe in Kalifornien, irgendwie unkomplizierter und entspannter, ist natürlich auch nur ein Klischee. Wer Sorgen hat, krank ist oder arm, wer allein ein paar Kinder durchzubringen versucht, saftige Schulgebühren oder horrende Arztrechnungen bezahlen muß, dem kann das Leben auch in Kalifornien reichlich sauer werden. Und doch ist etwas Wahres dran an dem Vorurteil. Es atmet sich tatsächlich freier am Pazifik, kein Zweifel, und selbst als Deutscher legt man nach einer Weile etwas von der gewohnten Steifheit ab. Woher diese angenehme Leichtigkeit rührt, läßt sich nur schwer sagen. Womöglich liegt es am milden Wetter, dem vielen Sonnenschein, der die Seele entspannt und das dicke Fell wegbrennt, das man sich in nördlicheren und östlicheren Gegenden zulegen muß. Vielleicht spielt auch die demonstrative Heiterkeit vieler Kalifornier eine Rolle, die einander schon einmal unverbindlich anlächeln, selbst wenn sie sich gar nicht kennen, die sich ausdauernd einen schönen Tag wünschen (was nicht schwerfällt angesichts des Wetters), und die, wenn sie sich doch einmal in die Quere kommen, immerhin ein rasches »Excuse me!« murmeln, statt nur wortlos weiterzurauschen. Wer den alltäglichen Grobianismus in deutschen Städten gewohnt ist, wo die Passanten den Blickkontakt wie einen Virus meiden und mit gesenkten Köpfen herumrennen, in ihre Mäntel vergraben wie in Rüstungen, der braucht eine Weile, diese lässige Höflichkeit schätzen zu lernen. So unvertraut ist die Kultur der Rücksichtnahme und die allgemeine Eloquenz der Kalifornier, daß Deutsche dahinter zuerst immer Berechnung und Verrat wittern. Das permanente Lächeln sei antrainiert, raunen sie einander wissend zu, mechanisch, falsch. Die Freundlichkeit erlösche, sobald die Rechnung auf dem Tisch liege, heißt es abschätzig, nichts von all den Floskeln, die die Kalifornier so routiniert abspulen, sei ernst gemeint, niemand sage wirklich, was er denke. Wehe dem, der auf die Begrüßungsfrage »How are you?« nicht bloß, wie erwartet und üblich, »Fine, thanks« antworte, sondern ausführlich Auskunft über sein Befinden gebe – Unverständnis, Befremden allerorten. Und noch ärger die Irritation, die Peinlichkeit, wenn man nach einem rasch dahingeplauderten »See you soon« tatsächlich auf ein baldiges Wiedersehen beharre.

Das Kommunikationsverhalten der Kalifornier, ja der Amerikaner insgesamt, so besagt die aus derlei Mißverständnissen abgeleitete These, gleiche einem Pfirsich – schön anzusehen, äußerlich geschmeidig und saftig, im Innern aber, wo es ans Persönliche gehe, undurchdringlich und hart wie Stein. Die Deutschen dagegen, so geht das Bild weiter, seien nach außen rauh und abweisend wie eine Kokosnuß; wer aber einmal ihre Schale geknackt habe, der finde etwas Süßes und Besonderes dahinter verborgen. Natürlich ist das ein hübsches Erklärungsmodell, nur neigen leider viele Deutsche dazu, ihr Kokosnußdasein gleichsam für moralisch überlegen zu halten. Wer im Gespräch freundlich und offen ist, aber nicht über seine intimsten Gefühle reden mag, gilt hierzulande rasch als oberflächlich und verlogen, und eben diese Eigenschaften – Oberflächlichkeit und Verlogenheit – werden gern auch den Amerikanern insgesamt attestiert. Was dieses deutsche Ehrlichkeitspathos völlig übersieht, sind die Folgen für den Alltag. Vielleicht ist es ja wirklich so, daß sich in Deutschland Freundschaften schneller anbahnen lassen, wenn man sich zuerst nur laut genug anschnauzt, wiewohl ich das bezweifle; für den raschen Umgang miteinander, für das Zusammenleben in Massen jedenfalls ziehe ich entschieden all die sozialen Schmiermittel vor, die früher einmal als Ausweis von Urbanität galten und das Leben tatsächlich reibungsloser und, ja: leichter machen – Höflichkeit, Humor, Rücksichtnahme, Charme. Ich werde zum Beispiel nie vergessen, wie gut es mir tat, als mir an meinem ersten oder zweiten Tag in San Francisco ein junger Mann auf der Chestnut Street begegnete, meiner kleinen Familie im Vorbeigehen zunickte und uns lächelnd »Take care!« zurief. Es war, als hätten diese beiden Worte, dieses »Laßt es euch gutgehen«, die ersten Löcher in den Panzer unserer Isolation gebohrt, als wären wir nach dieser sekundenkurzen Begegnung nicht mehr ganz so fremd in der großen, unbekannten Stadt.

Womöglich ist das überhaupt der eigentliche Beweggrund für die kalifornische Umgänglichkeit, jedenfalls deren historische Ursache: die schlichte Notwendigkeit, sich in der Fremde zurechtzufinden, mit unbekannten Nachbarn möglichst friedlich auszukommen, vielleicht gar deren Wohlergehen als Voraussetzung des eigenen zu erkennen. In ihrem Buch »Where I Was From« erzählt Joan Didion, die große Dame der kalifornischen Literatur, wie ihr Großvater ihr immer wieder eingeschärft habe, jede Klapperschlange, die sie am Straßenrand entdecke, sofort zu töten: »Nicht zuzuschlagen, erklärte er mir wieder und wieder, hieße den nächsten Menschen, der vorbeikomme, in Gefahr zu bringen, und das wäre ein Verstoß gegen das ›Grundgesetz des Westens‹, wie er es nannte, eine Mißachtung der Erkenntnis, daß Kalifornien dauerhaft nur besiedelt werden könne, wenn seine Bewohner zusammenstünden und die Verantwortung für das Land gemeinsam schulterten.« Solch handgreiflicher Pioniergeist ist heute selbstverständlich selten geworden; auch Joan Didion hat spätestens in den achtziger Jahren die Schlangenjagd aufgegeben. Längst ist das Land zu bevölkert, längst sind die Tage zu hektisch geworden, als daß sich noch eigenhändig jede rattlesnake am Wegesrand erschlagen ließe. Aber gerade das neue Tempo, der ständige Zustrom von Immigranten erzwingen nur um so gebieterischer ein Minimum an Rücksichtnahme und Umgänglichkeit. Es mag ja sein, daß das Kokosnußmodell in Deutschland, wo die Gesellschaft immer noch relativ statisch ist, wo nur drei Prozent der Bevölkerung pro Jahr den Wohnort wechseln und jeder Umzug wie ein Unglück erlebt wird, ganz gut funktioniert. Man hat, wenn man lange auf einem Fleck zusammenlebt, genügend Zeit, an den Schalen der anderen herumzubohren und, wenn das nicht klappt, wenn der Nachbar partout nervt, braucht man wohl einen stabilen Panzer, um das Nebeneinander auszuhalten. In Amerika aber sind die Menschen ständig unterwegs, on the road, über fünfzehn Prozent von ihnen ziehen alljährlich um, unablässig kommen Einwanderer aus fernen Ländern hinzu, und in einer solch hochmobilen Gesellschaft braucht es andere Mechanismen, die helfen, rasch und unkompliziert in den Alltag zu rutschen, keine Zeit mit langwierigen Ritualen und einem vorsichtigen Abtasten des neuen Nachbarn zu vertun. Und tatsächlich: In Kalifornien anzukommen, gleicht der Fahrt über eine gutausgebaute Schnellstraße. Nicht dem Schleichen über einen Feldweg voller Schlaglöcher wie die Ankunft in Deutschland.

Als wir in San Francisco gelandet waren, zogen wir zuerst in zwei möblierte Zimmer in einem Apartmentgebäude in North Beach, das uns eine deutsche Freundin empfohlen hatte. Sara, das Mädchen an der Rezeption, war offenkundig ein wenig irritiert, daß wir die erste Monatsmiete und die Kaution bar bezahlen wollten, weil wir noch keine amerikanischen Schecks besaßen, lächelte aber tapfer, nahm nach kaum merklichen Zögern das Geldbündel, das ich ihr hinhielt, drückte mir den Schlüssel in die Hand und überließ uns unserem Schicksal. Das Apartment war hell, frisch gestrichen, hatte eine offene Küche, wie wir sie aus amerikanischen Filmen kannten, dazu eine Kaffeemaschine, Fernseher und Videorecorder, eine Tiefgarage, mehrere Münzwaschmaschinen im Keller und eine wunderbare Aussicht auf die Bucht. Abends blinkte uns der Leuchtturm von Alcatraz in beruhigender Regelmäßigkeit durch die Panoramascheibe zu, während wir uns im Gewimmel der Fernsehsender zurechtzufinden versuchten. Das war eine der größeren Schwierigkeiten der ersten Tage.

Sind Sie erst einmal im Besitz eines Visums und haben Sie die zunehmend haarigen Einreisekontrollen am Flughafen hinter sich gebracht, braucht es nicht viel, um in Kalifornien anzukommen. Sie beantragen eine Sozialversicherungsnummer, die Ihnen nach zwei, drei Tagen zugeteilt wird, Sie machen – ohne lästige Fahrstunden vorweg – noch einmal den Führerschein, der praktischerweise auch gleich als amtlicher Identitätsnachweis gilt (Personalausweise sind selbst in Zeiten des Terrors noch immer unvereinbar mit Amerikas Verständnis von Freiheit), kaufen ein Auto und melden Ihr Telefon an. Das ist für den Anfang alles. Und es ist unkompliziert, vorausgesetzt man hat ein wenig Geld. Bei der Bank, bei der wir ein Konto eröffneten, saßen wir eine halbe Stunde, dann wurde uns ein vorläufiges Scheckbuch überreicht, und die meiste Zeit verging damit, daß uns die freundliche Dame am Schalter von ihren Verwandten erzählte, die einmal eine Weile bei der U. S. Army in Deutschland stationiert gewesen waren. Unsere Telefonnummer konnten wir uns beim Netzbetreiber »SBC« selbst aussuchen, ohne daß dieser Service einen Cent extra gekostet hätte. Die Leitung wurde innerhalb von vierundzwanzig Stunden freigeschaltet. So ist es mit vielen lebenswichtigen Dienstleistungen. Sie werden nicht als Almosen ausgegeben oder als staatliche Wohltat, sondern als Gegenleistung für Geld. Dank dieser Professionalität hatten wir nach ein paar Tagen, was wir brauchten. Für einen Mitteleuropäer, der im Umgang mit Behörden gestählt ist, hat dieses Ausbleiben von Problemen etwas Verunsicherndes, beinahe Enttäuschendes. Man wartet beständig darauf, daß die Dinge kompliziert werden. Aber meist wartet man vergeblich. Ein Kollege, Beppe Severgnini, hat in seinem hübschen Büchlein »Ciao America!« einmal bemerkt, für einen Italiener gleiche das Ringen mit der amerikanischen Bürokratie dem Kampf eines Toreros mit einer Milchkuh: »Ein Schubser genügt, und Sie haben gewonnen.«

Das heißt nun freilich nicht, daß das Verwaltungsrecht nicht auch in Kalifornien exotische Blüten treiben könnte. So richtig bewußt wurde mir das, als wir nach einiger Sucherei endlich ein Häuschen gefunden hatten und mir meine freundliche Vermieterin zwei Zusätze zum Mietvertrag vorlegte. Beide seien vom Gesetz vorgeschrieben, sagte sie mit einer Mischung aus Bedauern und Peinlichkeit. In dem einen sollte ich mit meiner Unterschrift bestätigen, daß mir mitgeteilt worden war, künftig in einem Haus zu leben, das aus einer Zeit stamme, zu der bei den Bauarbeiten noch schädliche Substanzen wie Blei oder giftige Holzschutzmittel verwendet worden seien, woraus ich aber keinerlei Schadenersatzansprüche gegen die Vermieter oder die Gemeinde ableiten könne. Und in dem anderen Papier hatte ich zu versichern, kein verurteilter Sexualstraftäter zu sein (sollte ich wider Erwarten doch ein Kinderschänder oder Vergewaltiger sein, mußte ich mein Einverständnis dazu geben, daß meine einschlägigen Vorstrafen der Polizei gemeldet und in der Stadt öffentlich bekanntgemacht würden). Meist sind es in Kalifornien aber nicht die staatlichen Regeln, die teils lästig, teils lächerlich sind, sondern die Geschäftsbedingungen der Privatunternehmen, die sich vor Betrug und säumigen Zahlern zu schützen versuchen. Vor der schlichten Unmöglichkeit, als Neuankömmling eine amerikanische Kreditkarte zu bekommen, hatten mich Bekannte schon gewarnt; ich habe daher einfach meine deutsche weiterbenutzt, bis mir die Bank, bei der ich mein Girokonto unterhielt, schließlich nach etwa einem Jahr von sich aus eine Karte anbot – offenbar hatte man dort langsam Zutrauen in meine Kreditwürdigkeit gefaßt.

Hartleibiger zeigte sich hingegen das Unternehmen, bei dem ich einen Vertrag für ein Mobiltelefon abschließen wollte. Anfangs lief alles glatt, mir wurden die hochkomplexen Tarifsysteme erläutert, die neuesten Handy-Modelle vorgeführt und allerlei Zusatzgeräte angepriesen. Als ich meine Wahl getroffen hatte und unterschreiben wollte, ging der Verkäufer zum Computer, um bei den darauf spezialisierten Agenturen rasch meine »credit history« abzufragen, so etwas Ähnliches wie die »Schufa-Anfrage« in Deutschland, eine Übersicht also über alle Kredite, die ich aufgenommen hätte, und über mein Rückzahlungsverhalten. Zu seinem Entsetzen aber fand der gute Mann: nichts. Keine Schulden, keine Altkredite, keine Hinweise, wie getreulich ich das Geld, das ich nicht aufgenommen hatte, abstottere. Ich war ein unbeschriebenes Blatt, ein Mann ohne Vergangenheit. Offenbar kein schöner Anblick. Klar, sagte ich, ich bin ja gerade erst in Amerika angekommen und habe hier noch keine größeren Geschäfte gemacht. Da kann also noch gar nichts verzeichnet sein. Dieses Nichts aber war meinem Betreuer zu wenig. Er brauche eine positive Rückmeldung, Hinweise auf brav abgezahlte frühere Kredite, um den Vertrag mit mir schließen zu können. Mein Einwand, daß ich ja nie eine »Kreditgeschichte« bekommen könne, wenn mir niemand Kredit gewähre, ließ den Handy-Mann unbeeindruckt; er habe halt seine Vorschriften. Immerhin gab er sich Mühe, fragte seine Chefin um Rat, die wiederum bei der Zentrale um Anweisungen für diesen exotischen Fall bat. Schließlich wurde ich vor die Wahl gestellt, entweder einen Bürgen zu benennen (den ich nicht hatte, da ich niemanden in Kalifornien gut genug kannte, um ihn zu bitten, für mich geradezustehen) oder eine Kaution in Höhe von achthundert Dollar zu hinterlegen. »Achthundert Dollar Kaution?« kreischte eine Kollegin meines Beraters, die danebenstand, und brach in schallendes Gelächter aus. Ich aber zückte demütig mein Geldbündel, das nach der Begegnung mit Sara schon stark geschrumpft war, zählte die Scheine hin und nahm das Handy in Empfang, nunmehr stets erreichbar, aber immer noch ohne Kredit. Manche jungen Ehepaare, wurde uns erzählt, verschuldeten sich gleich nach der Hochzeit nur aus dem einzigen Grund, möglichst rasch eine eindrucksvolle »Kreditgeschichte« zu bekommen.

Die »credit history« ist das eine Folterwerkzeug im amerikanischen Serviceparadies, das andere Marterinstrument sind die automatischen Anrufbeantworter der Unternehmen. Elektronische Türsteher, bei denen man nicht einfach eine Nachricht für einen Kundendienstmitarbeiter hinterlassen kann – das wäre zu einfach. Sondern unendlich geduldige, weil automatische Rezeptionisten, die vorgeblich allein dem Wohl des Kunden dienen. Sie sollen, so heißt es, dafür sorgen, daß der Anrufer gleich mit der richtigen Stelle verbunden wird, statt von einem unzuständigen Mitarbeiter zum anderen weitergereicht zu werden. Mich aber hat nie der Verdacht verlassen, daß die Bänder keinen anderen Zweck haben, als lästige Anrufer nach minutenlangem Ausharren in der Warteschleife schließlich zum Aufgeben zu veranlassen – bei mir zumindest hat die Abschreckungsstrategie mehr als einmal funktioniert.

Nehmen wir beispielsweise an, Sie wollten Ihrer Bank mitteilen, daß Sie umgezogen sind. Selbst schuld, wenn Sie nicht zur nächsten Filiale gehen oder einen Brief schreiben – aber unterstellen wir, Sie hätten es eilig und wollten die Sache mit einem Anruf rasch hinter sich bringen (naiv genug, das zu glauben). Sie wählen also die kostenlose Servicenummer Ihrer Bank, die sieben Tage die Woche, vierundzwanzig Stunden am Tag besetzt ist. Zuerst hören Sie einen herzlichen Willkommensgruß, sagen wir: »Welcome to Bank of America«, und dazu optimistische Musik vom Band. Dann fragt eine sonore Stimme, gleichfalls vom Band, ob Sie alle weiteren Ansagen in Englisch hören möchten oder doch lieber auf spanisch – es wird nicht die letzte Frage bleiben, da können Sie sicher sein. Wer englisch bedient werden will, wird aufgefordert, an seinem Telefon die Taste für die 1 zu drücken, die spanischsprechenden Kunden wählen die 2. Es knackt einmal in der Leitung, Sie hören erneut Musik, dann meldet sich wieder der Sprecher. »Please choose one of the following seven options«, fordert er Sie auf, »bitte wählen Sie eine der folgenden sieben Möglichkeiten.« Geht es um Ihre Kreditkarte, drücken Sie bitte die 1, die 2 für Ihr Girokonto, die 3 fürs Sparbuch, die 4 für Geldanlagen, und immer so weiter. Adreßänderungen sind natürlich nicht vorgesehen. Wenn Sie bislang noch nicht ungeduldig geworden sind, werden Sie es jetzt. Sie entscheiden sich also kurzerhand für Möglichkeit 2, Girokonto, denn das verursacht ja ohnehin den meisten Papierkram, da ist die Umzugsmitteilung am wichtigsten. Knack. Knack. Sekunden später werden Sie gebeten, Ihre zwölfstellige Kontonummer einzugeben, dann Ihre Geheimnummer. Und dann noch Ihre Sozialversicherungsnummer, neun Ziffern lang. Die hat jeder Amerikaner von Geburt an im Kopf, aber Sie müssen sie rasch irgendwo heraussuchen, und bis Sie wieder am Telefon sind, ist der Anruf automatisch beendet worden. Aus Sicherheitsgründen natürlich.

Ehe Sie sich neuerlich zu diesem Punkt durchgetastet haben, klingt Ihnen die Stimme des Sprachcomputers so vertraut im Ohr wie die Ihres Ehegatten, und die ersten Ansagen können Sie mittlerweile auswendig mitsprechen. Sie geben also all die erwünschten Zahlen noch einmal ein, und mit ein wenig Glück kann der Rechner Ihren Daten sogar ein Konto zuordnen. Jetzt fragt er Sie, was Sie denn eigentlich wollen: Ihren Kontostand abfragen? Taste 1. Eine Überweisung am Telefon veranlassen? Taste 2. Neue Schecks ordern? Nummer 3. Et cetera. Muß ich erwähnen, daß die Änderung Ihrer Adresse wiederum keine Option ist? Sollten Sie jetzt wütend werden, könnte ich das verstehen. Wenn Sie auflegen wollen – auch dafür hätte ich Verständnis. Aber halten Sie bitte noch ein wenig durch. Drücken Sie die Raute-Taste, und kehren Sie zum »main menue«, dem Hauptmenü, zurück. Klicken Sie ein bißchen hier und dort. Irgendwann wird Ihnen irgendwo, meist als letzte von sechsundfünfzig weiteren Angeboten, denen Sie aufmerksam zuhören, die Chance eröffnet, direkt mit einem »customer representative« zu sprechen, mit einem Kundenberater aus Fleisch und Blut also. Heureka! Da ist er, der lang ersehnte Strohhalm, den Sie sofort fest packen müssen und nicht mehr loslassen dürfen: Die Erlösung ist nah. Weil Sie so hartnäckig waren, wird Ihnen allerdings zur Strafe die Musik gestrichen. Sie hören statt dessen den Hinweis, daß es bis zu drei Minuten dauern könne, bis der nächste Servicemitarbeiter zu sprechen sei. Aber was sind jetzt schon noch drei Minuten? Sie haben ja schon viel länger ausgeharrt und bleiben dran.

Plötzlich knackt es wieder, und es ertönt eine neue Stimme – leider immer noch vom Band. Sie teilt Ihnen mit, daß das Gespräch, das Sie demnächst mit dem »customer representative« führen werden, zum Zweck der Qualitätskontrolle überwacht oder aufgezeichnet werden könne. Sollte Ihnen das nicht recht sein, hätten Sie jetzt Gelegenheit, aufzulegen – ein letzter, verzweifelter Versuch, Sie aus der Leitung zu kriegen, natürlich erfolglos. Dann, endlich, endlich, endlich, meldet sich eine menschliche Stimme. Sie haben schon fast vergessen, wie so etwas klingt: »Good afternoon, this is Danny, thanks for choosing Bank of America, how may I help you today?« Unmöglich zu sagen, wo Danny seinen Arbeitsplatz hat, in derselben Zeitzone wie Sie, irgendwo in der Wüste von Arizona oder in einem satellitengestützten call center am Stadtrand von Bombay? Aber das ist Ihnen sowieso längst egal. Sie rattern noch einmal Ihre Kontonummer herunter, müssen – zur Sicherheit – den Geburtsnamen Ihrer Mutter nennen, erzählen von Ihrem Umzug, geben Ihre alte Adresse an, diktieren Ihre neue – und schon ist alles erledigt. Daß Sie in der Zeit, die Sie jetzt am Telefon gehangen haben, mindestens drei Briefe an die Bank hätten schreiben können, lassen wir lieber unerwähnt. »Vielen Dank für Ihren Anruf«, flötet Danny, »gibt es sonst noch irgend etwas, das ich für Sie tun kann?« Nun ja, denken Sie, nur vorsorglich frage ich doch lieber nach: »Sagen Sie, die Adreßänderung, die ist doch jetzt bei all meinen Konten verzeichnet, nicht wahr, und gilt auch für die Kreditkarte?« Kurzes Schweigen. »Oh, nein, sorry, für Kreditkarten bin ich nicht zuständig«, sagt Danny mit vernehmlichen Bedauern in der Stimme, »wählen Sie doch bitte die Servicenummer unserer Bank. And have a nice day!«

Das Monster im Rückspiegel

Natürlich kann man in Kalifornien auch ohne Auto existieren. Es gibt Überlandbusse für alle, die ohne eigenen Wagen vorankommen müssen, ein paar halbwegs komfortable Eisenbahnlinien und ein dichtes Netz von Inlandsflügen selbst zu kleineren Flughäfen. San Francisco hat die Cable Cars, dazu Straßenbahnen und Elektrobusse. Eine Metro führt unter der Bucht hindurch nach Berkeley, und sogar Los Angeles besitzt eine U-Bahn, obwohl das dort niemand weiß. Zur Not kann man auch zu Fuß gehen, selbst in L. A. Der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom hat das aus Furcht vor dem Verkehrschaos einmal ein paar Tage lang getan und einen amüsanten Essay über die Irritation geschrieben, die er bei den Autofahrern hinter den getönten Scheiben auslöste, über die Begegnungen in den Bussen, in denen er der einzige Weiße unter lauter Immigranten war, und über das veränderte Raumgefühl des Fußgängers in der Riesenstadt. Am Ende aber hat auch Nooteboom sich einen Wagen gemietet.

In Kalifornien ohne Auto zu sein, kommt dem Versuch gleich, in Rom die Kirchen zu ignorieren, in Frankreich dem Wein zu entsagen oder in Spanien um halb sechs zu Abend zu essen. Man kann all das tun, es ist nichts dagegen zu sagen. Nur das Lebensgefühl des Landes wird man so nicht erfassen. Durch Venedig muß man mit dem Wassertaxi fahren oder mit einer Gondel und durch Kalifornien eben mit dem Auto. Nicht nur der enormen Entfernungen wegen: Wer nicht wenigstens einmal, für ein, zwei Stunden, auf dem Pacific Coast Highway gefahren ist, dem berühmten »Highway 1«, die Sonne im Nacken, die atemberaubend kurvige, an der Steilküste klebende Straße vor sich, vom Funkeln des Ozeans ganz berauscht, der war nicht in Kalifornien. Wer nicht in Stau und Smog auf dem Santa Monica Freeway gestanden hat, eingeklemmt auf acht bis zwölf Spuren zwischen Tausenden anderer Autos, der weiß nichts vom Leben in Los Angeles. Und wer nie einen burger hinter dem Steuer seines Wagens aß, der ahnt nicht einmal, wie symbiotisch die Beziehung der Einheimischen zu ihren Fahrzeugen ist.

Wie viele Stunden der durchschnittliche Kalifornier im Auto zubringt, vermag ich nicht zu sagen. Vermutlich hat es irgendein Statistiker längst ausgerechnet, so wie alle Regungen des Lebens in Amerika begierig vermessen und in Zahlenkolonnen zerlegt werden. Aber dem Augenschein nach zu urteilen ist der Fahrersitz der liebste Ort der Menschen hier – vielleicht nach dem Bett und dem Bürostuhl. Es gibt kaum etwas, das sich nicht im Auto erledigen ließe. Die Kalifornier telefonieren während der Fahrt ausdauernd mit ihren cell phones, was, anders als in Deutschland, auch nicht verboten ist. Sie essen und trinken, sobald sie sich angeschnallt haben, mit gutem Appetit, weshalb amerikanische Autos mit allerlei Halterungen und Abstellflächen für milk shakes, fast food oder Wasserflaschen ausgerüstet sind. Es gibt, als Sonderausstattung in den teureren Modellen, Vorrichtungen zur Installation von laptops auf dem Beifahrersitz und für die Kleinen auf der Rückbank DVD-Spieler samt Bildschirmen, die in die Kopfstützen der Frontsitze integriert sind. Ich habe Frauen gesehen, die sich am Steuer virtuos die Wimpern tuschten und den Lippenstift nachzogen, ohne den Verkehr eine Sekunde aus den Augen zu verlieren; Männer rasieren sich schon einmal auf dem Weg ins Büro, und was Männer und Frauen (oder, im Heimatland der sexuellen Revolution: Männer mit Männern, Frauen mit Frauen) sonst noch so im Auto anstellen können, bedarf keiner näheren Beschreibung. Nur öffentlich darf es nicht geschehen, aber davon wird noch zu sprechen sein.

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