Gedankenstriche - Joanna Lisiak - E-Book

Gedankenstriche E-Book

Joanna Lisiak

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Beschreibung

Die hier rund 500 vorliegenden Gedankenstriche sind keine Aphorismen, keine Zitate, keine philosophischen Sprüche oder Lebensweisheiten. Es sind Notate, Beobachtungen, Anregungen, poetische Erfahrungen, Fragestellungen, die weder belehren noch kommentieren wollen, sondern lediglich hinweisen darauf, was möglicherweise weniger offensichtlich ist oder was sein könnte. Vieles mag dem Leser/der Leserin zunächst bekannt erscheinen - denn so manches ist direkt aus dem Leben gegriffen, einer zwischenmenschlichen Szene, einem alltäglichen Bild entnommen. Doch das Altbekannte wird gelegentlich entkernt, kurzerhand anders angeleuchtet, in eine ungewohnte Richtung gerückt. So entstehen subtile Nuancen des vermeintlich Gewohnten. Etwas Unsichtbares kann verstärkt oder aus seinem Kontext ins Abstrakte gehoben werden. Eine gedankliche Analyse auf einmal Flügel bekommen. Dadurch wirken diese Sentenzen neu. Sie vermögen zu verblüffen, zu inspirieren oder den Leser/die Leserin zum Nachdenken zu bringen.

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Seitenzahl: 74

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Ich mag diesen Schnitt zwischen altem und neuem Jahr (selbst, wenn dies nur in meinem Kopf ist). Die Zeit zwischen den Jahren.

Wenn ich mich auf einen warmen Sitz setze, auf dem vorher ein anderer gesessen hat (haben muss), gehen meine Gedanken immer zu ihm, diesem Fremden, seinem Warmen, das ihn zu einem Lebewesen, einem Menschen machenden. Dieser Mensch hat kraft seines Lebendigseins einen Teil seines Lebens in Form von Wärme hier zurückgelassen.

Jemand bemerkt: Oh, ein Flüchtigkeitsfehler. Und man denkt. Es ist keineswegs ein Flüchtigkeitsfehler, sondern ein richtiger Fehler.

Die Wiederbetrachtung der eigenen Ton-/Filmaufnahme und das damit einhergehende Desinteresse. Ob der plötzlichen Fassbarkeit?

Ein Genussmensch – wie vermag er einen, selbst in Zeiten der Unruhe, anzustecken mit seiner Gemächlichkeit und Hang zur Muße. Umgekehrt, ein nervös Herumwuselnder, ist nur indirekt ansteckend, vordergründig stets störend.

Der Tee im Magen möchte zu Hause bleiben. Geht man mit ihm spazieren, will er auch hinaus.

Bildbetrachtung: Farbe auf unzähligen Wegen und die Pfade nicht mehr wahrnehmbar, auch wenn wir sie suchen. Ein Durchdringen ist nur in der Illusion möglich. Das Gemälde an sich paradoxerweise die Entzifferung der Schichtungen verweigernd, die Wege gleichwohl offenlegend, zu diesem ewigen Spiel einlädt.

Eine Frau mit unpassendem Schuhwerk auf Eis gehend. Ihre Bewegungen so, als würde ihre Hüfte aus einem einzigen Kugellager bestehen.

Wie eine Katze in der warmen Sonne liegen und den ganzen Tag aus halb geöffneten Augen nichts anderes tun als registrieren wer kommt, wer geht.

Gerade die ganz ernsthaften Menschen, die sich zudem äußerst akkurat auszudrücken pflegen, amüsieren auf ganz besondere Weise, nämlich durch einen distinguierten, wenn auch häufig ungewollten, Humor.

Worin besteht die perfide, aufwühlende und nachhaltige Provokation? Eine, bei der du auf dich selbst zurückfällst. Indem sie dich in deinen eigenen Assoziationen provoziert.

Ein Läufer, nachts, mit einem LED-Licht auf der Stirn vorwärtstreibend, unbeirrt darüber wie er wirkt: entmenschlicht, einer funktionierenden Kampfmaschine gleich.

Du kaufst dir ein paar neue Schuhe und ziehst sie an. Nach einer Weile vergisst du sie und wenn du an dir herunterschaust, musst du den Gedanken erst konstruieren, dass es deine Füße sind, die darin stecken.

Ein üppiges Buchregal in einer schönen Wohnung. Man sieht den Besitzer mit einem der Bücher und ein ausgedehntes Zeitfenster geht auf: das Buch, der Leser, das Lesen, die Zeit. Die Zeitkapsel, in der sie alle friedvoll vereint sind: Buch, Leser, Lesen, Zeit. Die Kapsel aus Stunden. Stunden der Transformation, Stunden der Stille, der Kontemplation, darin gebändigter Freigeist, subtilste Intimität, Buch um Buch.

Das Lineare, der Wunsch nach linearem Leben: Eine Form von Zurechtlegung und Gliederung von allzu Komplexem, die Vorstellung übersteigerter Dinge in einfachere Dimensionen gebracht: 1 bis 3, manchmal 4, aber kaum darüber hinaus.

Ein kleiner Motor, der in mir nahezu automatisch unmerklich läuft und das Gefühl stetiger Ladung und Entschlackung.

Manchmal hat man sich gerade das Sinnlose verdient: sinnloses TV-Glotzen, sinnloses Löcher-in-die-Luft-Starren, sinnloses Herumwühlen und Suchen nach nichts.

Schreiben und die unweigerliche Selbstdokumentation. Die nicht beabsichtigte Selbstzerlegung als Nebeneffekt.

Eine Kommunikation nach außen noch mitten im Prozess: Störfaktor des Flusses.

Spiegelnde Identifikationsverschiebung: Wenn aufgrund meines Impulses ein anderer etwas macht/sagt/tut, der aber sich meint, doch ich aus dieser Quelle einen Mehrwert für mich schöpfe, den ich ebenfalls als mein deklariere und mich erkenne.

Wer ist es, der unverhohlen fragt: "Wer ist sie? Warum? Was erlaubt sie sich?". Ich antworte ohne Erklärung: "Ich bin es. Ich erlaube mir das."

Sich verheizen, ein treffender Ausdruck. Seine Lebenswärme geben an jene, die erst gar nicht frieren.

Ein lieber Mensch kommt von weit her, nur um dich für sehr kurze Zeit zu sehen. Das ist berührend. Denn nicht nur er kommt. Er bringt alles, was er hat mit: seine Organe, seine gesamte Körperlichkeit inklusive deren Erscheinung (die Grenzen), seine Sinne, alle funktionierenden Dinge rund um sein Sein und Wesen. Erinnerungen, Denkmuster, die verborgenen Träume, seine Sprache.

Von Weitem sehe ich eine Bekannte. Das absolute Wissen um den kommenden Gesprächsverlauf veranlasst mich, eines geduckten Tieres im Wald gleich, unbemerkt zu bleiben und die Begegnung zu verhindern.

Das vermeintlich Triste am Autorendasein.

Nicht aus dem Blues einen Blues machen, sich nicht darin suhlen. Mancher würde staunen wie viel Beschwingtes, Spritziges, Erfrischendes sich leicht aus dem Handgelenk schüttelt, wenn das Innere voller Kummer ist. Dem Schmerz, der bitter ist, muss eine süße Note beigegeben werden. Mindestens diese Note.

Wenn ein grobschlächtiger, vulgärer Mensch mit einem schöngeistigen, feinen Menschen in anständiger, vielleicht intellektueller, Form kommuniziert, hat das Ungestüme des einen vs. das Zumverletztsein-Neigende des anderen etwas Bezauberndes, Niedliches. Das Schöne und das Biest als ästhetische Formel.

Die Hassliebe zum Stundenfresser Fernsehen.

So viele bildende, malende Künstler ohne Brillen.

Mein Betätigungsfeld ist ein Stück weißes Papier, meine Krücke zwischen Gedanke und Schrift ist ein Stift. Auf Papier versuche ich Raum zu schaffen, der zuvor woanders war und später woandershin wandert. Ich arbeite mit der Sprache, ihrer Musikalität und Sprachlosigkeit. Die Sprache ist ein großes Spielfeld; eine Fundgrube für eigenwillige, etymologisch-instinktivassoziativ-phantastische Nachforschungen und Irrungen.

Ein Land, in dem es normal ist, gelegentlich in Toten-Cafés einzukehren: Was machst du heute Abend? Ich gehe wieder mal in ein Toten-Café. Ist etwas Spezielles los? Ich habe gehört, Stendhal soll sich dort aufhalten und ein alter, gewesener Freund von mir ist auch da. Nächste Woche soll Freud ein paar Worte an uns richten wollen und Mozart treibt sich offenbar auch in der Gegend herum diese Tage...

Rohe Wünsche. Nicht immer, aber manchmal, immer wieder, unerlässlich und unbedingt.

Reine Typsache und gewählte Arbeitsmethode bei 95% aufzuhören und nach und nach zu addieren oder mit Schwung bei 120% abzubrechen und nach und nach zu subtrahieren.

Lange Adjektivketten ermüden zuweilen. Manchmal ist ein trocken formales, technisches Substantiv souveräner.

Ein Paar, das sich beim Essen anschweigt und erst im Freien, beim Spaziergang den Dialog aufnimmt.

Auch ohne intellektuelle Familie intellektuell werden. Aber ohne Humor in der Familie Sinn für Humor(bildung) haben? Das Intellektuelle kann isoliert aufgebaut werden und sich dann in alles hineinfügen. Humor ist von vorneherein eingefügt. Humor ist keine Lehre, die abgesondert gelehrt werden kann.

Definition von Luxus: Am Morgen aufstehen und tun können, wozu man Lust verspürt.

Bei Katzen geht es mir wie manchen Männern, die alle Frauen, jede einzelne, die Frau an sich, schön finden.

Ein Schnupfen im Winter und die Sorge sich anzustecken. Der gleiche Schnupfen im Frühling und die blanke Zuversicht, es handle sich hier lediglich um Heuschnupfen.

Aberglauben: aber glauben, ja, nicht denken.

Was möchte kann und darf, was will, soll. Nichts muss.

Ist der Beginn des Größenwahns, wenn man sich in der Größe der Kelle, mit der man rührt, verschätzt?

Nach vielen geschriebenen Seiten hat der Autor erkannt: Empfindungen können nur empfunden werden. Erfahrungen nur erfahren.

Ein gängiger Name wie Peter Klein, Sandra Meier. Damit könnte man sich womöglich blindlings in einen xbeliebigen Kurs setzen, ohne, dass es bemerkt würde.

Der Ecken im Runden: ganz sein Ding.

Die Unvereinbarkeit zu harmonieren; dies die Grundlage für das wachsende Geheimnisvolle.

Langsam nur gärt das Große des Selbst inmitten des sklavischen Daseins; umso heftiger und wie vorprogrammiert entlädt es sich ungestüm.

Der bestimmte Raum aus Ruhe und in dem Spannung ist.

Ein Raum auch, der eben dadurch voller Stimmung ist.

Das Substanzielle verorten. Nicht in jedem Fall oder generell ist es tief geborgen.

Eine Vernissage und die Kraft, die man dazu braucht: Für die Werke, für die Anwesenden, aber am meisten, um den musternden Blicken der anderen standzuhalten.

Die ausgebreiteten Esswaren vor einer Pick-Nick-Gesellschaft in einem Park. Man spaziert vorbei und kann kaum fassen, dass all die bunten Speisen in kurzer Zeit in den hier friedlich sitzenden, harmlos aussehenden Menschen sein werden. Eine Stunde später schlendert man erneut vorbei und tatsächlich: das Essen ist weg und befindet sich in den hier noch immer friedlich dasitzenden, harmlos aussehenden Menschen, in ihnen drin.

Auf dem Weg glauben und darauf schreiten.

Für mich, die aus dem Sozialismus kommt, ist eine Milchschokolade mit ganzen Haselnüssen nach wie vor etwas sehr Westliches.

Welcher ist mehr zu bedauern: der, der bewusst anbiedert oder jener, der keine Ahnung hat, dass er im Begriffe ist sich anzubiedern.

Ein Land, wo man sich zu Lesenden, die sich grün markiert haben, dazusetzen und ihnen zuhören darf, denn: diese grün markierten Lesenden tragen die Texte laut vor.

Gespräche mit Neulingen ermüden oder bereichern, je nachdem, ob die Neulinge wirklich (heiß)hungrig sind oder lauwarm neues Terrain erkunden wollen.

Ein Land, in dem man den Leuten ansieht, ob sie satt sind und gegessen haben oder ob sie das Essen noch vor sich haben.

Man nennt das Sternzeichen, aber kaum einer, der sich mit dem Wesen hinter dem Zeichen wahrlich identifiziert: mit einem Fisch, einem Stier, einem Steinbock, einer Waage, einem Schützen, einer Jungfrau usw.

Wie löst man einen Vertrauensbruch? Gar nicht oder mit Amnesie.