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Seltsame Dinge geschahen im Dorf. Magenhäute wurden als Flaggen gehisst, Vorhäute um Arme gewickelt und die losen Frauen schlackerten mit ihren Kehlen im Wind. Die Großmutter und die Mutter hielten Wache über die Bräuche im Dorf. Sie führten Aufgaben aus, die bald auf eine junge Frau übertragen werden sollten. Was es zu bewachen gilt, bleibt verborgen. Die Protagonistin versucht, den Klauen dieser bizarren Dorfgemeinschaft durch die Flucht in die Stadt zu entkommen, aber auch dort ist sie mit einer Gesellschaft konfrontiert, die heillos um ihren Zusammenhalt ringt. Greta Lauer hat mit Gedeih und Verderb einen Text über Schmerzen geschrieben. Schmerzen, die in der Familie und der Gemeinschaft über Generationen unter der Hand weitergereicht werden und die durch tägliche Riten, durch Sprache und durch Sexualität am Leben bleiben. Das Erinnern und Erzählen der Protagonistin ist der Versuch, diese Gewalt mit Sprache begreifen zu können. Lauers eigene Sprache ist dabei hart und lyrisch und vorwärtsdrängend und erzeugt durch Rhythmus und Musikalität eine Art Bann, der sich erst am Ende auflösen soll.
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Seitenzahl: 93
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Seltsame Dinge geschahen im Dorf. Magenhäute wurden als Flaggen gehisst, Vorhäute um Arme gewickelt und die losen Frauen schlackerten mit ihren Kehlen im Wind. Die Großmutter und die Mutter hielten Wache über die Bräuche im Dorf. Sie führten Aufgaben aus, die bald auf eine junge Frau übertragen werden sollten. Was es zu bewachen gilt, bleibt verborgen. Die Protagonistin versucht, den Klauen dieser bizarren Dorfgemeinschaft durch die Flucht in die Stadt zu entkommen, aber auch dort ist sie mit einer Gesellschaft konfrontiert, die heillos um ihren Zusammenhalt ringt.
Greta Lauer hat mit Gedeih und Verderb einen Text über Schmerzen geschrieben. Schmerzen, die in der Familie und der Gemeinschaft über Generationen unter der Hand weitergereicht werden und die durch tägliche Riten, durch Sprache und durch Sexualität am Leben bleiben. Das Erinnern und Erzählen der Protagonistin ist der Versuch, diese Gewalt mit Sprache begreifen zu können.
Lauers eigene Sprache ist dabei hart und lyrisch und vorwärtsdrängend und erzeugt durch Rhythmus und Musikalität eine Art Bann, der sich erst am Ende auflösen soll.
GRETA LAUER, * 1990 in Klagenfurt, lebt derzeit in Wien. Studium der Germanistik, Philosophie und Psychoanalyse, Regiehospitanzen und -assistenzen an deutschsprachigen Theaterhäusern. Sie schreibt szenische, lyrische und Prosatexte, ist Mitglied der GAV und veröffentlichte bisher in verschiedenen Literaturzeitschriften.
gretalauer.info
Greta Lauer
Luftschacht Verlag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Danksagung
„Schau!“
„Nimm!“
Da liegt es, das Kehlköpflein, reglos und rot. In ihren grobfaltigen Handschalen wiegt sie es und betrachtet es froh. Der fleischfransige Knorpel spiegelt sich in der Schneide, blitzt zu mir am Tischende herüber, ich blinzle. Sie greift nach dem Messer und schabt Fetzchen für Fetzchen vom Köpflein. Das Gewebe windet sich am Dunkelholz. Die Großmutter skalpiert schon das nächste. Sie stupst ein Kehlköpflein an, es rollt über die Tischkante, fällt in meinen Schoß, ich zucke, es zittert. Sie deutet auf das Messer. In ihren furchigen Stümpfen liegt der entschwartete Kopf.
Lose Frauen gibt es im Dorf. Es sind immer die losen Frauen, die singen. Sie treten aus der Haustür und schlackern mit ihren Kehlen im Wind. Das Dorf hört diesen Gesang nicht gerne. Er erinnert an die Tage, als das Meer über das Dorf hereinbrach. Damals herrschten paradiesische Zustände. Doch als hätte Gott die Menschen für dieses Glück bestrafen wollen, zog sich das Meer so rasch, wie es gekommen war, wieder aus dem Dorf zurück.
Aber es gibt niemanden, der über das Schicksal von einem Menschen, einem Dorf oder einer Welt bestimmt, keinen Anderen, der das Glück in Händen hält und es austeilt, wie es ihm gefällt. Es gibt auch kein Glück. Geben tut es überhaupt nichts, außer vielleicht die Ohnmacht, aber die ist nicht zu greifen, nicht mit Sprachfingern und schon gar nicht mit Stümpfen. Und wenn die Worte fehlen, spricht der Körper.
Die Großmutter sitzt mit gespreizten Beinen auf dem Bauch einer losen Frau. Sie kneift ihre Augäpfelein zusammen, krümmt die Wirbelkette, sie hat sich auf eine lange Nacht eingestellt. Unter der Schürze holt sie Messer und Eiskugelformer hervor. Sie beginnt zu tranchieren. Trotz der Stümpfe schneidet sie den losen Frauen geschickt die Halswand auf, holt mit dem Eiskugelformer, professionell wie eine Eisfrau, ein Kehlköpflein heraus und legt es in die vom Großvater angereichte Wanne. Danach werden die Kehlköpflein in Rexgläser eingelegt und im Archiv in die Regale gestellt. Dort warten sie, bis der Winter kommt. Und wenn im Winter das Dorf sich schwärzt schon um fünf, werden die Kehlköpflein an die Menschen im Dorf verteilt und in den kalten Zimmern auf Bäume gehängt. In der heiligen Nacht glühen sie dann, und das Dorf erfreut sich an ihrer Wärme.
Die losen Frauen spüren keine Wärme mehr, aber auch keine Kälte. Sie sitzen unten am Fluss und kratzen sich die Augäpfelein aus den Augenhöhlen heraus. Sie klettern auf die Mauer am Ufer und werfen sie in den Fluss hinein, damit wenigstens ihre Augäpfelein noch einmal in eine Weite gelangen.
Bevor das Dorf den höchsten Festtag im Jahr begeht, gehen die Männer hinunter zum Fluss. Sie tragen die losen Frauen auf das Feld, legen sie auf ihre Rücken und zwängen ihre Schenkel auf. Zwischen die Schenkel legen sich die Männer stracks auf den Bauch. Ihre Finger flattern an den Schenkelkehlen. Die losen Frauen liegen auf ihren Rücken und stellen sich einen Himmel vor und die Wolken, und dass sie daran erkennen würden, dass sich die Erde bewegt, dass Zeit vergeht.
Die Dorfmänner ziehen mit ihren Fingern an den Schenkelkehlen. Sie ziehen und ziehen und ziehen mit jeweils einer Hand ein Läppchen lang und mit der anderen das zweite, und dann befestigen sie die Läppchen in der Erde. Die Schenkelkehlenfestzelte ragen in die Vorsommersonne, die Dorfmänner kriechen hinein, rollen sich ein, stecken einen Daumen in den Mund und fallen in einen tiefen Schlaf.
Die losen Frauen schlafen nicht. Sie haben Schmerzen. Sie denken an ihre Augäpfelein, die nicht mehr weinen, sondern in eine Weite schwimmen, im grünkalten Fluss, wo das Wasser nicht wartet.
Lose Frauen gibt es auch in der Stadt. Es sind immer die losen Frauen, die in den Wänden verschwinden. Irgendwann halten sie jäh den Atem an und gehen einfach in die Wände hinein. Sie leben im Inneren der Altbauhäuser weiter, unaufgeregt, gelassen, gemeinsam und gar nicht mehr lose. In einem Buch von einer, die auch eine lose war, habe ich einmal gelesen, dass niemand wieder aus den Wänden herausfallen kann, dass niemand sie aufbrechen kann, dass aus den Wänden nie etwas laut werden kann. Ich kann die losen Frauen aber spüren, ich kann sie hören und ich kann sie sehen. Irgendwann sterben sie doch, ihre Körper rinnen aus und malen meinen Zimmern Zeichnungen an die Wände. Und leise rieselt ihr Leichenstaub in den Altbauwänden meines Wohnhauses.
Manchmal liege ich tagelang schlaflos auf der Matratze, auf den Flecken vergangener Tage, und lausche dem Rieseln. Manchmal stelle ich mich mit dem Rücken an die Wand und warte. Die Kälte der Altbauziegelwand auf der Rückseite meines Körpers beruhigt meinen Atem. Der Wandverputz kratzt auf meiner Haut. Und ich meine schon, die Putzperlen in meinen Poren prickeln zu spüren, ich hoffe schon, gleich Wand zu werden, ich halte den Atem an –
Aber schon wogt mein Brustkorb erneut, ich atme schnell, fahre die Arme aus, gehe in meinem Zimmer auf und ab und streiche mit den Fingerkuppen über die Spuren der losen Frauen.
Im Mistkübel verrotten Lebensmittel. Es gefällt mir der Anblick, der Geruch. So fing es an. Im Schlafzimmer tummelten sich Tassen, der Schimmel zeichnete ihnen Muster, die Muster werden dichter, wenn die Tage vergehen. Ohne mein Zutun fallen Dinge an, ich mache nichts, aber sie fallen an, weil die Tage vergehen. Ich schreibe Listen mit den zu erledigenden Dingen. Sie stapeln sich zu Türmen in der Wohnung, werden, während ich schlafe, über mir zusammenbrechen. Also werfe ich die meisten Möbelstücke weg. Ich behalte noch meine Matratze, den Herd, einen Topf, einen Eierbecher, einen Löffel, einen Teller, eine Nadel, einen Blechkübel und den Schemel. Ich reiße die Lampen von der Decke, ich reiße die Glühbirnen aus der Decke. Damit sich die Kleidung nicht um meinen Hals wickelt und mich würgt, sich in meinen Mund stopft und mich erstickt, entsorge ich sie, bis auf ein paar wenige Stücke, denen ich vertrauen kann.
Ich stehe vor der Wohnungstür, vor meiner holzfransigen Wohnungstür, fahre mein Bein aus und trete dagegen. Ich lausche. Das Zirpen des Gefrierschranks vom Eisgeschäft im Erdgeschoß hallt zu mir herauf. Die Stadt ist nicht menschlich, sagten die Menschen im Dorf. Aber ist das Geräusch eines Gefrierschranks unmenschlicher als das Zirpen einer Grille? Ich trete über die Türschwelle und lege meine Handflächen an die Hauswand. Ich drehe meinen Kopf. Ich lege meine Wange an die Wand, graukalt, kann das Wohnhaus an den Fingerkuppen, an der Wange spüren, auf meinen Brüsten, die sich an die Wand drücken, die der Atem wieder löst, hebt, an die Wand drückt, senkt, löst, hebt, an die Wand drückt, senkt, löst, und die Erwartung klopft in meiner Kehle. Ich lausche. Leise rieselt es in den Altbauwänden.
Ich wünsche mir, dass die Gelassenheit des Altbauhauses von der Wand auf meine Haut übergeht. So entspannt und erhaben schauen die Altbauhäuser am Straßenrand auf die Stadtmenschen herab, meistens wohlwollend, immer mitwissend. Wie die Gottesmutter in ihrer Dunkelholzküche erhaben, meistens wohlwollend, immer mitwissend und, vor lauter Entspannung, recht debil auf mich herabschaut, wenn ich in der Stube sitze.
„Schau!“
„Nimm!“
Ich blinzle. Und höre, wie Wellen über Jahre Steine schleifen, die Schritte meiner Nachbarin an den Stufenkanten schmieren. Ich löse meine Wange, drehe meinen Kopf, bis die Nackenmuskeln spannen, und die Erwartung klopft in meiner Kehle. Ich sehe, ich sehe, wie sich im Stockwerk über mir das Nylon runzelt in dicksohligen Schlapfen, wie die rotblauen Adern hervortreten unter dem alten, braunen Nylon, auf den Wasserbeinen meiner Nachbarin. Ich sehe einen Schweißtropfen von ihrer Stirn, ihrer Nasenspitze, ihrer Unterlippe perlen, vergrößert, wie die Tautränen märzfrisch auf den Blättern in den Wäldern, wie die Träne, die ich einst in einem Keller tropfen hörte. Ich sehe die Schweißtropfen an ihrem Kinngras hängen, scheinbar ewig, wie eine Achterbahn auf höchstem Punkt, bevor sie in die Tiefe stürzt. Und ich sehe, wie sich die Schweißtropfen von ihrem Kinngras lösen, wie die Mädchenfüße einer höhenängstlichen Schwimmführerscheinanwärterin im Hallenbad vom Sprungbrett eines Zehn-Meter-Turms, spüre die Fallempfindung, während sie das Chlorblau ansteuert – eine bewusste Empfindung von Zeit –, höre den Schwimmerinnenkörper auf das Chlorblau klatschen, die Achterbahn in die Tiefe stürzen, einen weißen Tropfen auf einen Containerboden fallen. Ein Tropfsteinhöhlentropfenhall, eine Tropfsteinhöhle, das Altbaustiegenhaus, eine Kirche, dunkel, kühl und Hall, Hall.
Es ist Sommer. Die Menschen verlassen die Stadt. Sonnenstrahlen stechen ins Autoblech, sie stechen in meine Augäpfelein hinein. Eine Weite gewähren sich die Menschen in der Stadt in diesen Tagen. Sternförmig schieben sie sich in ihren Fahrzeugen hinaus. Ich setze mich auf eine Stufenkante. Die Wohnungstür meiner Nachbarin fällt ins Schloss. Ich habe Angst. Es ist Sommer. Wenn der Vorsommer in die Stadt hineinspaziert, bevölkert er die Gastgärten, die Grünflächen, den Fluss. Wenn der Sommer über die Stadt hereinbricht, ist die Stadt verwaist.
Ich blinzle, ich muss los. Ich nehme mein Fahrrad und fahre, drehe meinen Kopf, dass die Nackenmuskeln spannen. Der Nachbarinnenoberkörper beugt sich aus dem Fenster, und ich wähne noch ihre Schweißtropfen in die Tiefe stürzen, auf der Eisgeschäftmarkise aufprallen, und ich fahre den Hügel hinunter und hinein in die Stadt, in ihr Zentrum.
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