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Fast vier Jahre ist es her, seit Aris Emily verlassen hat, dennoch hat sie nur schwer im Alltag Fuß gefasst. Doch die Vergangenheit will sie nicht loslassen, als sie zu Weihnachten zu ihren Eltern fährt. Ehe sie sich versieht, steht Michael ihr zur Seite und beide geraten in eine Falle, landen in der Welt der Lichtwesen und Emily wird mit Aris konfrontiert. Doch der hat noch weitaus größere Beschwernisse und finstere Geheimnisse am Hofstaat als zuvor. Zwischen Intrigen und Hinterhalten, Flüchen und unerwarteten Feinden liegen auch noch die Trümmer der Vergangenheit, die Emily von Aris trennen. Kann das Band zwischen ihnen dennoch neu geknüpft werden?
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Seitenzahl: 678
Veröffentlichungsjahr: 2020
Prolog
Kapitel eins
Emily
Eleutherius
Emily
Kapitel zwei
Erzengal Michael
Leonidas
Eleutherius
Kapitel drei
Emily
Michael
Emily
Eleutherius
Emily
Kapitel vier
Eleutherius
Emily
Erzengel Michael
Emily
Eleutherius
Kapitel fünf
Emily
Diogenis
Michael
Emily
Erzengal Michael
Eleutherius
Vater von Eleutherius
Oberoffizier perfidulus
Emily
Kapitel Sechs
Michael
Diogenis
Emily
Eleutherius
Emily
Diogenis
Emily
Diogenis
Emily
Kapitel Sieben
Eleutherius
Kapitel Acht
Emily
Kapitel Neun
Eleutherius
Emily
Kapitel Zehn
Lucifer
Emily
Eleutherius
Emily
Kapitel elf
Kapitel Zwölf
Eleutherius
Emily
Kapitel Dreizehn
Michael
Eleutherius
Emily
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Michael
Eleutherius
Emily
Leonidas
Kapitel Sechzehn
Emily
Kapitel Siebzehn
Michael
Emily
Kapitel Achtzehn
Eleutherius
Emily
Eleutherius
Kapitel Neunzehn
Emily
Epilog
Aris
Emily,
ich schäme mich dafür, dir diese Worte schreiben zu müssen, statt sie dir ins Gesicht sagen zu können. Doch die Zeit war knapp und mein Mut, es mir selbst einzugestehen war noch zu gering. Deshalb schreibe ich dir diese Zeilen, Ich habe dir das Leben auf eine sehr seltene weise gerettet, welche dein Leben umstellen könnte. Falls veränderungen auftreten, bitte wundere dich nicht! Doch... das ist nicht der wahre sinn dieses Schreibens. sondern ein ganz anderes Thema. Die Wahrheit ist, dass ich dich geliebt habe. und noch immer liebe. Ich weiß, das erschließt sich für dich nicht, da ich abweisend, desinteressiert und hochmütig war. Allerdings war ich so nur, weil ich wusste, dass du mein Herz schon längst gewonnen hattest. Deine charakterstärke, deine Selbstlosigkeit, dein Mut. Dies alles hat mich an dir so sehr erstaunt und fasziniert, du hast mich in deinen Bann gezogen und ich wehrte mich dagegen mit ganzer Seele. Ich habe dir alles erschwert in der Hoffnung, du würdest dann Abstand zu mir nehmen, deine Gefühle verstecken. Aber ihr Menschen seid so emotional, stimmt's? Als du fortgegangen bist, wurde alles noch schlimmer. Nicht nur, dass ich mich von Beginn unserer Bekanntschaft an zu dir hingezogen gefühlt habe, ich entwickelte das verlangen, dich zu schützen, dir Liebe zu schenken. Doch ich war ein Feigling und habe mich in mein dir gegenüber unverschämtes verhalten hineingesteigert und mir eingeredet, ich täte das Richtige. Mit jeder deiner Märtyreraktionen wurde es schwerer und wie du bemerkt hast, hatte ich manchmal die Kontrolle verloren. Ja, es war ursprünglich, um dich zu umgarnen und gefällig zu machen. Bis du auf einmal für mich den Pfeil abgefangen hattest, als ich nur tatenlos, gefangen im unterbewusstsein, zusehen konnte. Da wurde mir etwas klar, was ich dann immer in mir bewahrt habe. Die Liebe zu dir.
und ich wollte es dir gestehen, doch unter den damaligen umständen hielt ich es für besser, keine schwäche preiszugeben. Noch dazu wollte ich dich damit schützen. Du wärst ein noch größeres Ziel gewesen für die Dämonen, hätten sie über das Ausmaß meiner schwäche für dich Bescheid gewusst. verzeih mir bitte. Ich liebe dich und du hast mein Herz noch immer bei dir. Ich will es auch nicht zurück, es möge dir gehören.
Eigentlich wäre nun Zeit für ein Lebewohl, doch im allergrößten Notfall, egal welcher das ist, Hauptsache er ist übernatürlichen ursprungs, sag diese Zauberformel und dir wird geholfen aus der Quelle des Lichtes:
Lux, mihi ex tenebrae serva
wenn du. dies sprichst, bist du gerettet meine
Liebe, ich verspreche es dir. Doch hoffen wir,
dass dieser Notstand nie eintrifft, also muss
ich dir nun, wohl oder übel Lebewohl sagen.
Lebewohl.
Dein ehemaliger Aris, jetziger König Eleutherius Fedon
Die Tage waren vergangen und es war wieder Zeit, meine Eltern zu besuchen. Am liebsten wäre ich von diesem Ort fern geblieben, doch meine Eltern hätten dies nie verstanden. Noch zehn Minuten Autofahrt und ich wäre da.
In der Straße, wo alles begonnen hatte. Ich bog mit meinem Fiat 500 ein und atmete zitternd aus. Der Schnee glitzerte überall und es tat mir schon fast in den Augen weh. Die beißende Kälte veranlasste mich, selbst für die letzten Meter, mir meinen Schal höher ins Gesicht zu ziehen.
Kaum hatte ich geklingelt, riss meine Mutter schon die Tür auf und ich zwang mich zu lächeln.
„Emily! Wie ich dich vermisst habe, Liebling! Komm rein, wir warten schon alle auf dich." Ich trat ein, klopfte mir meine neu gekauften Halbstiefel auf der Matte ab, zog mir den Mantel aus. Zögerlich ging ich ins Wohnzimmer und zwang mich, einen nicht allzu melancholischen Auftritt hinzulegen.
Mein Vater saß auf dem Sofa, Lennart daneben mit angewinkelten Beinen.
Er schien nicht sonderlich begeistert zu sein, dass wir alle zusammen Weihnachten feiern wollten, da er auf seinem Handy wie wild herumtippte.
„Hallo Lennart", sagte ich demonstrativ laut. Er brummte zur Antwort, worauf er einen Stoß in die Seite von unserem Vater bekam. Da klingelte es erneut an der Haustür und ich wandte mich zu meiner Mutter, die sich gerade einen heißen Schluck Kaffee hatte genehmigen wollen.
„Erwarten wir noch jemanden?"
„Ich habe eine Überraschung für dich. Du wirktest in unseren Telefonaten so trübselig, also habe ich jemanden eingeladen, der sich urplötzlich vor kurzem gemeldet hatte", antwortete meine Mutter, als sie schon auf dem Weg zur Tür war.
„Sie wirkt seit der zehnten Klasse trübselig, Mutti", brummte Lennart abwesend und mein Vater nahm ihm sein Smartphone aus der Hand. Mein Herz klopfte für einen Moment schneller, auch wenn es unmöglich war. Er würde niemals einfach so zu Weihnachten hereingeschneit kommen, nachdem er sich jahrelang nicht gemeldet hatte.
Ich hörte Gemurmel an der Tür und die helle Stimme meiner Mutter.
Neugierig ging ich gucken, wer nun dort stand und blieb überrascht im Türrahmen stehen.
Ein blonder junger Mann mit roten Wangen und verwuschelten Haaren stand da, zog seine Winterjacke aus, grüßte meine Mutter und lächelte nervös. Michael klopfte gerade seine Schuhe vor der Haustür ab und trat dann herein.
Ich hatte ihn seit unserem Abitur nicht mehr zu Gesicht bekommen, was zum größten Teil an mir gelegen hatte. Na gut, eigentlich hatte es ganz an mir gelegen. Ich war auch so schnell, wie nur möglich weggezogen.
Er schien breitere Schultern bekommen zu haben und trug einen engen Rollkragenpulli, was dies nochmals betonte. Wäre ich nicht schon hohe Standards gewohnt, wäre ich wahrscheinlich beeindruckt gewesen.
Nervös knabberte ich auf meiner Unterlippe, während er hinter meiner Mutter ins Wohnzimmer kam, also direkt auf mich zu. Seine hellen Augen fanden die meine und schienen in ihnen nach etwas zu suchen, doch ich sah schnell zu Boden. Auf eine Predigt von ihm konnte ich getrost verzichten.
Er hatte so oft versucht mich aus meinem Trauerschleier heraus zu bekommen, bis ich ihn angefangen hatte zu ignorieren. Das war schon in der Elften gewesen. Nach und nach hatte ich dann sämtlichen Kontakt abgebrochen, weil ich auch sämtliche Verbindungen zu früher hatte kappen wollen.
Nun standen wir beide im Wohnzimmer und wussten nicht so recht, wohin mit uns. Ich war hier, weil meine Eltern mich mindestens hundert Mal angerufen hatten und mich gebeten hatten, zu kommen. Und er war höchstwahrscheinlich hier, um mit mir wieder in Kontakt zu treten, wie es schien. Doch ich konnte es einfach nicht. Ich war nicht bereit, über die Vergangenheit zu sprechen. Immer wenn ich es versuchte, wurde mir kotzübel und ich wünschte mir nichts anderes, als es zu vergessen. Aber dafür waren die Erinnerungen zu eingebrannt.
Dann war da noch dieses verfluchte Stück Papier, das mir das Verarbeiten und Vergessen nicht gerade einfacher machte, obwohl ich diesen Teil nicht vergessen wollte.
Ich hatte eigentlich versucht, durch Arroganz und Desinteresse mein gebrochenes Ich zu verbergen, doch Michael kannte mich einfach zu gut, als dass er mir das Verhalten abkaufen würde. Leider. Also konnte ich mich wahrscheinlich auf ein Therapiegespräch bereit machen. Da er seit Kurzem auf der Warteliste zum Studium der Psychologie stand, wälzte er schon tausende Bücher.
Ich hatte mich für Kriminalistik eingeschrieben und war in meinem ersten Wartesemester, hatte mich aber auch schon ein wenig schlau gemacht, Bücher besorgt und Ähnliches. Alles, was nach Ablenkung aussah, war mir herzlich willkommen.
Michael lächelte mich an, ich versuchte nicht einmal zurück zu lächeln, sondern drehte mich auf dem Absatz um. Doch im Vorbeigehen hörte ich ganz deutlich seine Worte: „Wir reden später."
Ich schnaubte und ging weiterhin in Richtung meines alten Zimmers. Meine Eltern seufzten beinahe synchron. Sie kannten meine Melancholie schon allzu gut. Nur den Grund nicht.
„Ich habe euch doch gesagt, es war eine schlechte Idee, sie einzuladen", beschwerte sich mein kleiner Bruder. Während meine Eltern ihn giftig anfuhren, musste ich ihm ausnahmsweise Recht geben. Die Gespräche veränderten sich zu unklarem Gemurmel, als ich meine Tür schloss.
Mein Bett war in meiner eigenen Wohnung, wo ich jetzt lebte. Ebenso mein Kleiderschrank. Ich würde heute auf dem Sofa in diesem Zimmer schlafen.
Zittrig ging ich durch den Raum. Bilder blitzten vor meinem Auge auf. Vier Jahre alte Bilder. Damals als ich fünfzehn war und hier gelebt hatte. Mein Bruder klein und nervig gewesen war...
Schnell verließ ich den Raum wieder und lief geradewegs ins Gästezimmer hier oben.
Da lag auf einmal Aris auf dem Bett, vertieft in ein Buch aus meinem Regal.
Er blickte auf, lächelte. Mein Herz beschleunigte sich, mein Puls ging locker auf die Zweihundert. Doch kaum hatte ich geblinzelt, war das Bett leer. Ich schloss traurig die Tür.
Seit einem halben Jahr hatte ich wieder mit Gesangsunterricht angefangen, um alles besser verarbeiten zu können. Tagebuch schreiben hatte ich aufgegeben, da ich über nichts anderes geschrieben hatte als ihn. All meine Erlebnisse mit ihm. Das Auf und Ab zwischen uns, das Chaos meiner Gefühle.
Die Erinnerungen an die Schattenwesen und der Welt von Chronestos waren ebenfalls in einem meiner Tagebücher festgehalten. Und zu guter Letzt Diogenis, dem ich das Leben zerstört hatte. Sofort verbannte ich diese Gedanken wieder. Ich schloss sie weg, so wie ich meine Tagebücher ebenfalls außer Reichweite eines Neugierigen verschlossen hielt.
Im Bad sah ich in den Spiegel. Viel war ich in den letzten Jahren nicht mehr gewachsen und damit auf einen Meter achtundsechzig gelandet. Allerdings hatte ich wegen Depressionen zwei bis drei Kilo zugenommen und war schon immer nicht gerade so dünn wie die ganzen Skelette in meiner Klasse gewesen. Meine Eltern hatten mir versichert, ich hätte mich deshalb nicht ins Negative verändert, doch es waren meine Eltern. Daher war keine objektive Bewertung zu erwarten.
Außerdem sah ich es an meinen Klamottengrößen deutlich genug. Ich hatte mir seit kurzem Größe L kaufen müssen und Körbchengröße C. Das waren genug Beweise für mich.
Und jetzt muss mich auch noch ein alter Freund so sehen. Dick, depressiv und nicht gerade gesprächig. Ich riss mich zusammen. Was kümmerte mich das?
Ich hatte mein Bestes gegeben, diese ganze Geschichte zu vergessen, doch es war mir einfach nicht möglich gewesen. Außerdem wusste ich doch gar nicht, ob Michael wegen mir hier zu Besuch war. Am zweiundzwanzigsten Dezember. Natürlich ist er wegen dir hier, Emily! Er macht sich wahrscheinlich seit einem Jahr Sorgen um dich!
„Emily? Wir möchten gerne mit dem Essen anfangen, kommst du runter, Schatz?", ertönte da die Stimme meines Vaters. Ich seufzte.
„Ich komme gleich...Ich habe mich nur kurz hier oben eingerichtet!"
Da meine Tasche noch immer unberührt in meinem Exzimmer stand, ging ich zügig hin und schmiss ein paar Sachen herum.
Dann lief ich schnell die Treppe herunter und setzte mich zu ihnen an den Tisch. Es war nur noch ein Platz frei und der war genau neben Michael. Ich blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen, straffte die Schultern und schritt zügig zum Stuhl. Kaum saß ich, spürte ich alle Blicke auf mir. Ich sah auf. Gegenüber von mir saßen meine Eltern.
„Was ist? Habe ich etwas im Gesicht?", fragte ich gereizt. Sie lächelten matt und eröffneten dann das Abendessen. Ich aß wenig, aber schneller, als es mir gut tat. Doch der Blick von Michael brannte sich mir in die Seite.
Irgendwann hatte ich genug und ließ meine langen Haare vor fallen, damit er mich nicht mehr so direkt anstarren konnte. Als wir fertig waren, bot ich an, den Tisch abzuräumen. Meine Eltern lächelten dankbar, anscheinend froh, dass ihre Tochter doch noch kein vollständiger Zombie war.
Dummerweise hatte ich nicht damit gerechnet, dass Michael sofort anbot, mir zu helfen.
Nun sah ich ihn zum ersten Mal an. Er wirkte überrascht, doch noch einen Blick von mir geschenkt zu bekommen und ich sah schnell wieder weg und machte mich mit dem Geschirr auf den Weg zur Spülmaschine. Meine Eltern unterhielten sich und Lennart verkroch sich nach oben.
„Darf ich fragen, was du hier machst?", zischte ich, bemüht einen neutralen Ton zu behalten, auch wenn ich ihn am liebsten vor die Tür geworfen hätte.
„Wenn du meinst, wie ich hier gerade aktiv tätig bin, dann räume ich den Tisch mit dir ab. Falls du jedoch meinst, wie ich überhaupt hier her bin und warum, ist das eine längere Erklärung." Da ich nichts sagte, fuhr er seufzend fort, während wir das Geschirr Stück für Stück in die Maschine stellten, ich immer bemüht, ihm nicht zu nahe zu kommen. Schließlich war er eigentlich als ein mir Fremder zu betrachten.
„Ich habe jeden Monat bei deinen Eltern angerufen, um mich nach dir zu erkundigen. Da sie mir jedoch mehrfach erklären mussten, dass du dich von ihnen komplett abgekapselt hattest, war ich besorgt." Ich schnaubte und er sah mich mit hochgezogener Augenbraue an.
„Wir waren mal Freunde, falls du dich erinnern kannst", gab er bissig zurück, doch ich presste nur die Lippen fest aufeinander. Er hatte sich gut ausgedrückt. Wir waren Freunde gewesen.
„Und dann hast du dir gedacht, du besuchst meine Familie einfach mal zu Weihnachten?", fragte ich wütend zurück.
„Nun, nicht ganz. Vor einer Woche haben sie mich angerufen und mir fröhlich erzählt, sie hätten dich überredet bekommen, über Weihnachten hierher zu fahren." Ich verdrehte die Augen. War ja klar gewesen, dass meine Eltern sich nicht diskret hatten verhalten können.
„Und da haben sie dich eingeladen." Auch wenn es keine Frage war, nickte er.
„Schön. Das erklärt aber nicht, wieso du dich überhaupt mit meinen Eltern monatlich in Verbindung gesetzt hast!", zischte ich. Dieser Streit kam mir bekannt vor. Sehr bekannt. Und das war das Problem, was ich hatte vermeiden wollen. Aber nein! Alle mussten den Kontakt halten wollen!
„Ich mache mir Sorgen um dich, Emily! Ist das nicht offensichtlich? Du benimmst dich wie ein Zombie, seit Aris mit allen anderen abgezogen ist." Bei seinem Namen ließ ich den Teller fallen, den ich gerade hatte wegstellen wollen.
Scheppernd ging er zu Boden und zerbrach dort mit ohrenbetäubendem Lärm. Oder es kam mir nur so vor. Ich zuckte zusammen und fluchte. Michael holte ein Tuch und begann die Porzellanscherben aufzusammeln.
„Ist bei euch alles in Ordnung, Liebling?", rief meine Mutter von drüben und Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit.
„Ja, alles okay, war nur ein Ausrutscher", beruhigte ich sie. Dann half ich Michael.
„Tut mir leid. Ich kann es noch nicht wieder ertragen, seinen Namen zu hören, nachdem er mich so angelogen und zurückgelassen hat", gab ich mit zittriger Stimme von mir. Michael winkte es mit einer Handbewegung ab.
„Schon vergessen, worüber wir geredet haben. Aber nur, wenn du dich nach Weihnachten nicht wieder komplett von mir abschirmst, verstanden? Auch ich musste du weißt schon wem ein Versprechen geben." Ich musste lachen.
Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit.
„Das klingt so, als würdest du von Voldemort reden, Michael!" Als er mich lachen sah, hellte sich seine Miene auf und er sah fast wieder wie früher aus.
Gut gelaunt, optimistisch. Dieser mürrische Gesichtsausdruck hatte ihm überhaupt nicht gestanden.
„Er hat mir erzählt, dass du dich vielleicht ein wenig nach Jemandem, der das große Geheimnis kennt, sehnen würdest", sprach Michael wieder das Thema an. Doch ich musste ihm zustimmen. Ich hatte nämlich eine Sache dringend zu besprechen.
„Ich weiß nicht wieso, aber hast du dir mal meine Augen angesehen? Ich habe es eine Weile nicht bemerkt, doch dann habe ich es gesehen. Ich habe goldene Sprenkel auf meiner blauen Iris und kann schwören, dass sie erst nach dem Verschwinden von ihm aufgetaucht sind." Michael sah mir nun nachdenklich in die Augen und betrachtete sie. Er wurde blass.
„Ist sonst noch etwas neu?", fragte er und schmiss den Rest der Scherben weg.
„Hat er mit dir darüber gesprochen?", ignorierte ich seine Frage und stellte selbst eine.
„Nein. Nicht direkt. Er... ist noch einmal bei mir erschienen, nach seinem Abschied." Mir klappte die Kinnlade herunter. Aris war Michael noch mal begegnet? Freiwillig?
„Was wollte er?"
„Er hat mir ein Versprechen abgenommen." Ich sah ihn forschend an und wartete, dass er dieses Versprechen näher erläuterte. Doch er verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.
Den ganzen restlichen Abend konnte ich ihn nicht mehr darauf ansprechen, weil Michael sich nun permanent in Hörweite meiner Eltern befand und somit auch ich. Es war schon spät, als ich den Drang verspürte, dringend an die Luft zu müssen.
Eilig stand ich auf, mit der Ausrede, das Essen läge mir schwer im Magen.
Außerdem war mir so schummrig zumute, aber das lag wohl eher an den drei Gläsern Rotwein. Ich war Alkohol nicht gewohnt, da ich weder auf Partys ging, noch auf irgendwelche Veranstaltungen. Ich war eine ziemliche Langweilerin, doch ich hatte meine Gründe.
Als ich meinen Mantel übergezogen hatte und gerade in meine Halbstiefel schlüpfte, sah ich im Augenwinkel, wie sich Michael ebenfalls seine Jacke umwarf und zurecht rückte. Als er meinem verwunderten Blick begegnete, grinste er spitzbübisch.
„Dachtest du, ich lasse dich um die Uhrzeit alleine draußen herum laufen?"
„Ich bin keine fünfzehn Jahre mehr, klar? Außerdem ist es gerade mal um Neun Uhr abends", versuchte ich ihn abzuschütteln. Ich hatte sehr spezielle Pläne und wollte ihn nicht dabei haben.
„Und ich werde dich trotzdem begleiten, weil dein Gesichtsausdruck nichts Gutes ausdrückt", antwortete er gelassen und öffnete die Tür, wobei mir sofort ein eisiger Wind um die Ohren pfiff.
Seufzend trat ich vor die Tür und schloss meine Jacke sofort ganz, indem ich den Reißverschluss komplett hochzog. Es schneite sanft und still vor sich hin, nur unsere Schritte, die durch den flachen Schnee knirschten, waren zu hören.
Nach einer Weile peinlichen Schweigens, räusperte sich Michael.
„Ich hatte gehofft, etwas mehr über deinen momentanen Zustand erfahren zu können, doch nun fehlen mir die Worte", fing er an. Ich sah ihn von der Seite an. Schneeflocken lagen auf seinem Haar und wollten nicht schmelzen.
„Was genau willst du von mir hören? Wie fantastisch es mir geht? Tut mir leid, aber ich kann nicht besonders gut lügen."
„Aber Gefühle zu verstecken, Gedanken geheim halten und Schweigen sind deine Stärken geworden, wie ich sehe. Ich weiß, dass es dir seit seinem Verschwinden dreckig geht, doch ich sehe auch nicht, dass du versuchst etwas dagegen zu unternehmen", erwiderte er scharf.
Ich presste die Lippen fest aufeinander.
„Emily, ich versuche es doch nur milder für dich zu machen", wandte er nun ein.
„Du hilfst mir aber kein Bisschen, wenn du hier auf einmal auftauchst und alles wieder aufkochst! Ich versuche seit vier Jahren ihn so gut wie möglich zu vergessen!", fauchte ich ihn bissiger an, als ich wollte. Dieses Thema machte mich sehr reizbar und nervös. Er seufzte jedoch nur.
„Du wirst dich nie wieder von ihm komplett trennen können." Das verstand ich nicht.
„Wieso glaubst du das? Jeder kommt über seine erste Liebe hinweg, ich muss einfach nur..."
„Du bist aber nicht jeder, Emily", unterbrach er mich in meinem gespielten Optimismus.
„Wollen wir etwas unternehmen?", wechselte ich das Thema und zückte schon mein Smartphone, um meinen Eltern Bescheid zu geben, dass unsere Rückkehr noch andauern würde.
Michael wirkte zuerst überrascht, dann nickte er schließlich.
„Und was schlägst du vor? In die Stadt fahren und sich nach einem Club umsehen?"
„Ich gehe nicht in Discos oder Clubs, das weißt du doch."
„Nein, das konnte ich nicht wissen, weil du mir ja nichts über dich erzählst.
Ich kenne das fünfzehn- bis siebzehnjährige Mädchen, aber nicht die Neunzehnjährige. Das ist es ja, was ich meinte..."
„Schon überredet, wir fahren in die Stadt!", lenkte ich schnell vom Thema wieder ab. Wir liefen zurück und stiegen in Michaels Audi, da dieser weitaus geräumiger war, als mein kleiner Fiat 500er. Es wunderte mich nicht, dass er einen Audi A9 fuhr. Laut seiner Erzählung hatte er das Auto vor knapp zwei Jahren von seinen Eltern geschenkt bekommen.
Seine Eltern waren schon immer sehr wohlhabend gewesen und hatten ihrem einzigen Kind alles in ihrer Macht stehende ermöglicht. Er hatte sogar privates Karatetraining, gelehrt von einem Meister, den seine Eltern extra hatten einfliegen lassen, jahrelang genossen. Bis er dann in einen normalen Verein umgestiegen ist, um sozialen Kontakt zu haben.
Das Radio lief und ich summte die Lieder ein wenig mit, bis ich Michaels Blicke auf mir spürte. Sofort verstummte ich. Wir fuhren eine ganze Weile durch die Stadt und ich sah hinaus, in die Dunkelheit, welche nun von lauter Lichterketten durchbrochen wurde.
Es liefen hier und da noch Pärchen oder Familien herum, wenige Einzelne.
Der Weihnachtsmarkt, an dem wir plötzlich hielten und Michael auf der Straßenseite gegenüber parkte, war noch voll in Betrieb. Ich sah Michael überrascht an.
„Das ist kein Club", gab er schulterzuckend von sich, bevor er ausstieg.
Seufzend stieg ich aus, musste aber gestehen, dass sich meine Laune aufhellte. Bewundernd ging ich auf dieses bunte, laute Leuchtspektakel zu.
Michael wartete vor dem Eingang geduldig auf mich.
„Es muss bestimmt schön sein, mit seinem großen Schwarm hierher zu fahren, gemütlich Zuckerwatte essen und im Riesenrad sich gegenseitige Versprechen über die ewige Treue und ähnliches abzunehmen", träumte ich laut, in Gedanken bei Aris' Brief.
„Dann such dir endlich einen Freund", murrte er und sah zu Boden. Ich blickte ihn an. Er schien dieses Thema nicht gerne anzusprechen und hatte sich einem Schneehaufen zugewandt, den er nun ab und an mit den Schuhen trat. Er schien sich plötzlich unwohl zu fühlen.
„Du bist immer noch in mich verliebt", stellte ich seufzend fest und wurde etwas traurig. Ich wollte ihn nicht verletzen. Für mich war er immer noch mein ehemaliger bester Freund.
„Ich würde dir jedenfalls sofort die ewige Treue schwören", entgegnete er mir mit einem traurigen Lächeln. „Du müsstest nur einen Satz sagen." Stille.
„Ich habe aber einen anderen Schwarm, und das weißt du."
Michael lachte trocken. „Ja, das weiß ich nur allzu gut, Emily. Und du willst anscheinend nicht verstehen, dass er nie dasselbe für dich empfunden hat", fügte er beharrlich hinzu.
„Das ist nicht wahr!", knurrte ich. Eigentlich hatten wir doch vorgehabt, dieses Thema ruhen zu lassen, oder?
„Ich war dabei, Emily, ich habe ihn gesehen, wie er mit dir umgegangen ist!
Das war keine Liebe, er wollte dich von sich fernhalten und hat dich gleichzeitig ausgenutzt. Daran bist du zerbrochen, das ist die Wahrheit." Wütend funkelte ich ihn an, wollte ihm gerade das Gegenteil beweisen, als er weiter sprach. „Und das Schlimmste für mich daran war, zu zusehen, während du durch deine große Liebe so geblendet warst, du hast es durch die rosarote Brille nicht bemerkt und hättest es mir nicht geglaubt.
Als du es dann bemerkt hast, hast du ihm verziehen und erneut verziehen und erneut! Selbst jetzt bist du deswegen noch zerstört." Ich starrte ihn fassungslos an. Er sah mir fest in die Augen. Zum Teil hatte er Recht, zum größten Teil nicht. Meine Laune hatte er jedenfalls geschafft zu ruinieren.
„Ich habe keine Lust mehr. Fahr uns nach Hause, bitte." Nun merkte er, was alles über seine Lippen gekommen war und schien sich erst jetzt zu besinnen, dass wir vorgehabt hatten, nicht mehr über ihn zu sprechen. Ich sah ihn so distanziert, wie möglich an.
„Verdammte Scheiße!" knurrte er und trat gegen einen großen Schneeklumpen, der schon völlig verdreckt war, dieser zersprang.
Vielleicht sollte ich ihm den einzigen Beweis, dafür, dass Aris etwas für mich empfunden hatte, nun zeigen. Besser wäre es jedenfalls.
Außerdem wollte ich keine Geheimnisse vor dem einzigen Menschen haben, der von allem Bescheid wusste. Das wäre ziemlich dumm. Im Auto atmete ich tief ein und gestand, als er neben mir vor dem Steuer platz nahm: „Er hat mir zu meinem siebzehnten Geburtstag alles erklärt." Michael sah mich irritiert an.
„War er bei dir?", fragte er bissig.
„Nein, er hat mir den hier hinterlassen", erwiderte ich und holte den, mittlerweile mitgenommenen Brief hervor, den ich immer bei mir trug.
Einfach um mich jederzeit vergewissern zu können, dass ich mir das alles nicht nur eingebildet hatte. Michael griff nach ihm und ich ließ ihn den Zettel in Ruhe durchlesen. Eine Weile las er still, teilweise mit gerunzelter Stirn, dann wieder entspannt.
Als er mir den Brief zurück gab, stieß er einen tiefen Atemzug aus.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Anscheinend habe ich den Kerl doch ein wenig falsch eingeschätzt. Nun, dieser Brief klärt jetzt ziemlich viel, andererseits deckt es auch wieder Fragen auf." Ich war völlig aufgewühlt und starrte ihn entgeistert an.
„Dieser Brief erklärt gar nichts! Nichts! Er ist so bescheuert geschrieben, dass ich nicht verstehe, was er mit diesen 'Veränderungen' meint! Und wie kommt er darauf, dass ich irgendwann in eine übernatürliche Notsituation gerate?" Michael antwortete nicht sofort.
„Nun, da kann ich vielleicht helfen. Weißt du noch, als du mir die Veränderung deiner Augen gezeigt hast? Da ist mir etwas klar geworden. Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, über mein letztes Gespräch mit Aris zu sprechen." Ich schluckte nervös.
„Es war ungefähr zwei Wochen, nachdem er sich von dir verabschiedet hatte.
Ich kam gerade vom Training und ging in mein Zimmer. Ich war so vertieft in eine SMS, die ich dir gerade schrieb, dass ich ihn zuerst gar nicht bemerkt habe. Erst als er sich räusperte, bin ich herumgefahren und da saß er auf meinem Bett." Ich traute mich nicht, irgendetwas zu sagen. In Angst, Michael könnte sonst vom Thema abschweifen, da man ihm jetzt schon anhören konnte, wie sehr es ihm missfiel, über meinen Schwarm zu reden.
„Er hatte mich begrüßt und die Tür hinter mir sich verschließen lassen.
Dann hat er mich gefragt, wie es dir erginge. Auf diese Frage hin bin ich sauer geworden, da es dir dreckig ging. Das war noch die Zeit, in der du den ganzen Tag in deinem Bett gelegen hast, deine Eltern einen Psychologen schon informiert hatten und dieser dann die Diagnose "extreme Depression" gestellt hatte.
Ich hätte Aris am liebsten eine geknallt, habe mich aber zusammengerissen und ihn nur gefragt, warum er dich das nicht selbst frage. Daraufhin wirkte er ziemlich mitgenommen und begann mir nur zu erklären, warum er gekommen war. Es war wegen deinem Unfall, dem du kurz vor seinem Abschied zum Opfer gefallen warst. Er sagte..." Michael verstummte und schien angestrengt sich zu erinnern.
„Was sagte er?", fragte ich bebend.
„Er erwähnte das Wort Seelenteilung oder so." Verwirrt sah ich ihn an.
„Aris meinte, er habe dir einen Teil seiner Seele geben müssen, damit du überleben konntest, weil die Kugel genau dein Herz durchlöchert und du schon zu viel Blut verloren hattest. Es war kein anderer Ausweg mehr möglich gewesen. Die Konsequenzen waren ihm in dem Moment völlig egal.
Als du wieder geatmet hast, schlugst du die Augen auf und er sah die ersten Veränderungen. Du hattest gelb leuchtende Sprenkel in deiner blauen Iris, in derselben Farbe wie seine Gesamte. Dein Haar wirkte nicht mehr sandfarben, sondern goldig." Er verstummte und krallte sich ins Lenkrad.
Ich starrte ins Leere. Ich war mit Aris tatsächlich innig verbunden.
„Kann...kann er spüren, was ich spüre?", fragte ich zitternd. Michael nickte seufzend.
„Wenn deine Gefühle stark genug sind, ja. Als ich nach dieser Erklärung nichts mehr sagte, sprach Aris weiter und meinte, dass es durchaus zu einer Gefahr kommen könnte, in der du machtlos sein würdest. Daher würde er dir noch einen uralten Zauberspruch hinterlassen. Den habe ich ja jetzt im Brief gesehen. Zuletzt habe ich Aris gefragt, ob er sich nun auch verbunden fühlte, so wie er es bei dir vorausgesagt hatte. Weißt du, was seine Antwort gewesen war?" Ich sah ihn ungeduldig an.
„Sehe ich aus wie ein Hellseher?", knurrte ich drängelnd.
„Er wünschte, er könnte diese Frage verneinen." Mein Herz blieb für einen Moment stehen, Aris hätte genauso gut antworten können, er fände es abscheulich und würde die Zeit gerne zurückdrehen, um mich lieber sterben zu lassen.
Michael startete ohne weiteren Kommentar den Motor und brauste auf die Straße.
„Fahr nicht nach Hause", sagte ich mit sicherer Stimme zu meiner eigenen Überraschung. Schön Aris, du magst es auf die kalte Art? Die sollst du
bekommen. Ich kann unsere Verbindung genauso gut hassen und ignorieren.
„Wo willst du dann hin?"
„Irgendwohin, wo es still ist und ich in Ruhe mit dir spazieren gehen kann.
Ich brauche eine Auszeit", seufzte ich und ließ mich tiefer in den Sitz sinken.
Michael nickte und beschleunigte noch mal. Er war ein sehr guter Fahrer, wie ich nun auf der Autobahn feststellte. Wir fuhren ein ganzes Stückchen durch die Nacht, bis wir letztendlich in der Nähe des Hauses meiner Eltern ankamen.
Michael parkte an der Straße, stieg aus und öffnete mir die Autotür. Ich stand verunsichert aus dem Wagen und sah mich um. Es war so kalt, dass mein Atem kleine Rauchwolken bei jedem Atemstoß verursachte.
„Lass uns spazieren gehen, es dauert ungefähr noch eine Viertelstunde, dann stehen wir vor der Haustür deiner Eltern", meinte er und reichte mir seine behandschuhte Hand. Ich nahm sie und wir liefen gemütlich los.
„Wie fühlst du dich?"
„Gut. Ich habe beschlossen, den Spieß umzudrehen und Aris zu ignorieren", erwiderte ich kühl. Überrascht sah Michael mich an.
„Bin gespannt, wie lange dir das möglich ist. Du musst das nicht wegen mir tun, ich habe mich schon damit abgefunden, dass ich immer auf Platz zwei stehen werde." Er sagte das seelenruhig, ohne Melancholie und ich atmete erleichtert aus.
„Ich tue das nur für mich. Um mich zu schützen, vor Aris." Er sah mich zweifelnd an und schnaubte.
„Du liebst ihn aber noch, da wird es dir unmöglich sein, dich von ihm abzuschirmen", erwiderte er. Ich blickte ihn überrascht an.
„Sieht man mir das so stark an?" Michael sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Soll das ein Scherz sein? Du verkriechst dich jahrelang, selbst nach deinen Therapiegesprächen und nun warst du ganz blass, als ich dir meine letzte Begegnung mit ihm geschildert habe. Also liegt die Antwort wohl auf der Hand." Ich sah betrübt zu Boden.
Er hatte ja Recht, ich machte mir wirklich etwas vor, indem ich mir einredete, ich könnte die Verbindung zu Aris ignorieren.
Aris. Ein wohliger Schauer lief mir über den Rücken, gleichzeitig jedoch pochte mein Herz schneller und ich spürte wieder diesen stechenden Schmerz. Schnell lenkte ich mich ab und sah auf den gefrorenen See hinaus, an dem wir entlang gingen.
Der Schnee, welcher sich schon auf der dicken Eisschicht angesammelt hatte, glitzerte im Mondschein in absoluter Stille vor sich hin und machte den Sternen über uns im klaren Himmel ganz schöne Konkurrenz.
Es war so still, dass ich nur meinen eigenen Atem hören konnte und unsere Schritte, die im Neuschnee knirschten. Mir stellten sich die Nackenhaare auf.
Das war nicht normal, eigentlich müsste es noch irgendein anderes Geräusch geben.
„Michael, hörst du das?", flüsterte ich und klammerte mich nun plötzlich an seinen Arm, denn in mir machte sich Angst breit. Ich kannte dieses Gefühl irgendwoher.
„Nein, ich höre gar nichts", antwortete er lächelnd und nahm meine Hand von seinem Arm, legte sie in seine Hand.
Da fiel mir wieder ein, woher ich diese Totenstille kannte. Mein Herzschlag beschleunigte sich nochmals und mein Atem wurde hektischer. Ich lief zügiger und machte große Schritte.
„Das ist es ja. Es ist zu still", hauchte ich, voller Angst erfüllt eine Oktave höher als sonst. Michael hörte nun genau in die Nacht hinein.
„Ich höre rein gar nichts, aber das muss noch längst nicht bedeuten, dass diese Stille unnatürlich ist. Es ist mitten in der Nacht, Emily. Du machst dir bestimmt etwas..." Weiter kam er nicht, da genau in diesem Moment ein Pfeil angeflogen kam und sich in Michaels Arm bohrte. Ich schrie auf.
Er saß mitten in einer Konferenz, als er plötzlich unruhig wurde. Sein Herzschlag beschleunigte sich kurz, dann wurde er wieder ruhig, doch diese Unruhe, fast schon Angst, blieb. Dieses Gefühl kam nicht von ihm aus, das stand fest. Es war wie ein Echo, welches zu ihm zurückgeworfen wurde. Er unterbrach die Versammlung und bat um eine Pause.
Übelkeit machte sich in ihm breit. Er rief noch Diogenis zu, welcher ihm in den Nebenraum folgte.
„Was ist denn? Ist dir wegen du weißt schon was, schlecht?" Er sprach von dem kürzesten Ereignis. Dem Tod seiner Frau.
Eleutherius schüttelte den Kopf und konzentrierte sich. Das Gefühl hatte sich verändert. Es war nun pure Panik und Hilflosigkeit, die ihn jetzt überfluteten.
Da trat Erzengel Michael ein und verneigte sich. Diogenis trat zu ihm und ihm wurde die Nachricht ins Ohr geflüstert. Diogenis wurde blass.
„Was ist geschehen, könnte mir man das vielleicht mal mitteilen?", fauchte der König. Diogenis trat zur Seite und der Erzengel ergriff das Wort.
„Es sind eine Menge Schattenwesen gerade erneut in die Menschenwelt eingedrungen, mein König", begann er. Die Kopfschmerzen waren fast unerträglich geworden.
„Dann schick doch einfach wieder unsere Krieger wie immer hin und lass mich damit in Ruhe", knurrte er.
Eleutherius hatte wirklich besseres zu tun, noch dazu, weil er nicht an sie denken wollte. Es war noch mitten in der Trauerzeit, da durfte er sich das auf keinen Fall erlauben, an seine heimliche Liebe zu denken. Doch zu spät.
Wie alt sie wohl jetzt sein mag? Bei mir sind acht Jahre vergangen, also müssen es bei ihr vier Jahre und drei Monate sein, überlegte er. Dann war sie jetzt neunzehn. Eine erwachsene Frau. Sein Herz klopfte erneut schneller, dieses Mal jedoch nicht, wegen diesem Angstgefühl, sondern weil er an sie dachte.
Da riss ihn Erzengel Michael aus seinen Gedanken.
„Wir haben es versucht, doch ein Dämon muss eine Barrikade errichtet haben. Niemand kommt in die Nähe des Ortes, wo sich alle hinteleportiert haben", erklärte er. Der König raufte sich durch die Haare. Die Übelkeit nahm zu.
„Wo sind sie alle hin?", fragte er schwer atmend. Diogenis runzelte die Stirn.
„Du glaubst doch nicht, dass die erst nach so langer Zeit versuchen, sie..."
„Sei still!", befahl Eleutherius knurrend und Diogenis schwieg sofort.
„Sie sind ganz in der Nähe von der Lichtung, wo ich Euch damals wieder hergeholt habe, Herr." Dem König gefror das Blut in den Adern, sein Atem ging schneller.
Diese Angst kam nicht von ihm und die Übelkeit war nicht da, weil er noch immer mit dem Schicksalsschlag seiner Frau zu kämpfen hatte. Das kam alles von Emily. Sie war in Gefahr.
Er rannte los, als wäre der Teufel hinter ihm her. Er musste einen Weg finden, diese Schattenwesen zu stoppen.
Sein Vater kam gerade den Gang entlang, musste jedoch zur Seite, damit er den wehenden Umhang von Eleutherius nicht ins Gesicht bekam. Er hatte nicht einmal Zeit, sich zu entschuldigen, so aufgebracht war er. König Eleutherius rannte in die Bibliothek, geradewegs durch zum Professor.
„Ich muss sofort in die Menschenwelt sehen!" rief er aufgebracht und der Professor nickte und holte seinen Spiegel hervor.
Sofort verschwamm die Oberfläche und der König blickte auf einen verschneiten Weg irgendwo im Grünen.
Da erblickte er sie und sein Herz klopfte schneller, bis er bemerkte, dass sie mit einem jungen Mann zusammen war. War das der schmächtige Junge, der mit ihm vor geraumer Zeit noch in die Schlacht gezogen war? Sie rannten in voller Panik, Emily hatte etwas Glänzendes in der Hand. Sie stürzte und als ihr Michael zur Hilfe eilen wollte, tauchten Schattenwesen vor ihm auf und verstellten ihm den Weg. Sie richtete sich auf und drehte sich um. Vor ihr erschienen drei weitere und zwei Bogenschützen traten etwas abseits aus der Dunkelheit hervor, zielten auf sie. Sie starrte sie verhasst an.
„Was wollt ihr?" Ihre Stimme hatte sich auch verändert. Sie klang so melodisch und sanft wie immer, doch es war nicht mehr die Stimme eines kleinen Mädchens. Es war wie Balsam, sie zu hören und er war erstaunt, wie fest die Stimme klang, obwohl er ihre Angst noch immer spürte.
„Vergeltung, Mädchen der Engel. Ab heute beginnt ein neues Zeitalter und du gehörst nicht mehr dazu", erwiderte eines der Schattenwesen, welches nur einen Schritt vor ihr stand.
Wut wallte in Eleutherius auf, er hätte diese Bande so gerne niedergemetzelt.
Doch ihm waren die Hände gebunden, wie jedem anderen auch. Schlau von diesem unbekannten Dämon, eine Barrikade zu errichten.
Da zog Emily zwei Dolche aus ihrer Gürtellasche und knurrte: „Dann kommt doch her."
Blitzschnell griffen die Schattenwesen an und der Spiegel verschwamm wieder und zeigte wieder Eleutherius' Gesicht mit den goldenen Augen, welche vor Wut wie Reptilienaugen funkelten. Er schrie wütend auf, doch am meisten, weil er Angst um sie hatte.
„Stellt eine kurzzeitige Verbindung zu ihr her!", knurrte er den kleinen Professor an, welcher nickte und sich an die Arbeit machte. Zorn loderte heiß im König auf und er ballte die Fäuste. Niemand wühlte nach so langer Zeit wieder alles ungestraft auf. Er würde herausfinden, wer Emily angegriffen hatte und wer hinter dem Angriff als Kopf stand.
Ich zog Michael auf die Beine und er stöhnte.
„Wieso kommt mir das nur so bekannt vor?", knurrte er mit schmerzverzerrtem Gesicht, während er sich den Pfeil herauszog und die andere Hand auf die Wunde presste.
Ich richtete mich auf, griff in meine Tasche und holte einen Revolver heraus.
Michael starrte entsetzt darauf.
„Du hast eine Waffe dabei?", brüllte er, was mir nicht gerade half, die Nerven zu behalten. Ich hörte ein Geräusch in dem Busch schräg neben mir und zielte darauf.
„Ich habe den Waffenschein gemacht. Mit ein paar Kontakten geht das ziemlich schnell, jetzt beweg deinen Hintern, wir müssen laufen, da ich bezweifle, dass hier nur sechs Schattenwesen sind." Er rappelte sich auf und wir rannten los. Ich horchte auf jedes Geräusch, doch eine Weile hörte ich nichts weiter als unseren Atem und unsere Schritte auf dem platt getretenen Schnee, der den Weg damit ziemlich glatt gestaltete.
Und wie wir so rannten, beide schon völlig aus der Puste, musste es ja so kommen und ich rutschte aus. Die Waffe flog mir aus der Hand und rutschte noch ein Stück vorwärts. Michael blieb schlitternd stehen und rannte wieder auf mich zu. Da sprangen auf einmal zwei schwarze Krieger in Kampfrüstung, bewaffnet mit zwei Langschwertern vor ihn. Ich drehte mich um und vor mir erschienen noch mehr. Sogar zwei Bogenschützen erschienen in gewissem Abstand. Ich funkelte sie wütend an, auch wenn ich am liebsten vor Angst nur noch geschrien hätte. Adrenalin machte sich in mir breit.
„Was wollt ihr?", fauchte ich.
„Vergeltung, Mädchen der Engel. Ab heute beginnt ein neues Zeitalter und du gehörst nicht mehr dazu", erwiderte eines der Schattenwesen, welches nur einen Schritt vor mir stand. Blitzschnell zog ich zwei Dolche hervor.
„Dann kommt doch her!", rief ich und gab damit das Startsignal.
Augenblicklich stürzten sie sich auf mich. Dem einen knallte ich meine Faust ins Gesicht, beim anderen stieß ich den Dolch tief in seine Brust. Noch bevor er auf die Erde fiel, war er tot.
Der Dritte bekam meinen Tritt in den Bauch ab und als er sich krümmte, mein Knie gegen die Nase. Die Bogenschützen feuerten gleichzeitig Pfeile ab, doch ich war schon los gerannt, auf meinen Revolver zu, schnappte ihn, drehte mich noch im Sturz um und feuerte auf den Rechten zu erst ab.
Der Schuss bohrte sich direkt in den Schädel und dieser fiel zu Boden. Ich drehte mich ein klein wenig zu langsam weg und bekam einen Pfeil in die Hüfte. Stöhnend lag ich im Schnee, drehte mich auf den Rücken, auch wenn mir die verwundete Seite enorm Schmerzen zufügte.
Ich schoss wild auf den Bogenschützen los und schien ihn auch getroffen zu haben, allerdings kamen die zwei noch lebenden Schattenkrieger auf mich zu.
Ich zielte, doch als ich schießen wollte, war das Magazin leer. Fluchend sprang ich auf die Beine und packte meinen mir verbliebenen Dolch fester.
Da stürzte sich von hinten Michael auf die Beiden und kümmerte sich um sie. Ich drehte mich weg und zog mir den Pfeil aus meiner Hüfte. Dabei musste ich heftig die Zähne zusammen beißen, um nicht aufzuschreien.
Der Schuss hatte tief gesessen. Ich versuchte erst gar nicht, die Blutung zu stillen. Wütend warf ich den Pfeil weg und er löste sich auf. Dann holte ich den Brief von Aris hervor. Ich wollte den Zauberspruch gerade sagen, als ich zu Besinnung kam.
Bist du bescheuert? Aris würde dich zusammenfalten, wenn du wegen dieses kleinen Zwischenfalls seinen Zauber verschwendest! Noch dazu ist er nun garantiert schon verheiratet und liebt dich bestimmt nicht mehr, dachte ich missmutig. Nur weil er es mir vor zweieinhalb Jahren geschrieben hatte, hieß das noch längst nicht, dass er noch immer so empfand. Schnell packte ich den Brief grob in meine Manteltasche. Michael kam zu mir geschritten.
Seinen Arm hatte er mit seinem gerade eben noch um den Hals gewickelten Schal verbunden.
„Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte er besorgt und ich nickte. Zornig blickte er auf die Stelle, wo gerade noch der Kampf stattgefunden hatte.
„Wieso haben die Idioten in ihrer perfekten Welt nicht eingegriffen?",
knurrte er dann mit einem Blick hinauf in den Sternenhimmel, während er sich seine Winterjacke wieder anzog. Wen er meinte, war mir mehr als klar.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil sie es nicht mitbekommen haben", überlegte ich leise. Er schnaubte wütend.
„Lass uns den Rest schnell hinter uns bringen, für heute habe ich genug erlebt." Damit schritten wir das letzte Stück weg zusammen, immer bereit zur Flucht.
„Du hattest gar nicht erwähnt, was für ein Assassine du geworden bist.
Woher du die Dolche hattest, darüber sprechen wir übrigens noch", sagte er nach einer Weile.
„Du klingst ja schon fast wie meine Eltern, könntest du dich bitte abregen?
Ich bin schon etwas länger als du auf der Hut, klar?", knurrte ich.
Der Grund meiner Wut war der Schmerz einer längst vergangenen Narbe, die tief in mir nun wieder aufgegangen war. Ich hatte Sehnsucht nach Aris.
Größere Sehnsucht, als ich sie in den letzten Jahren verspürt hatte.
Dieser dumpfe Schmerz war ein loderndes Feuer in meiner Brust und es schmerzte fast unerträglich. Früher hatte er immer im entscheidenden Moment eingegriffen, mich vor der Dunkelheit beschützt.
Heute musste ich mich selbst schützen. Diese Wut überdeckte auch meine eigene Verwunderung über meine Kampfinstinkte. Ich hatte zwar in letzter Zeit oft trainiert, doch eher simple Hiebe mit den Dolchen. Das, was ich gerade jedoch angewandt hatte, war mir völlig fremd gewesen. Wäre ich nicht so durcheinander gewesen, hätte ich Angst vor mir selbst bekommen.
Den Rest des Weges schwiegen wir, doch in unserer Straße bemerkten wir Silhouetten, die die Gegend durchstreiften und sie trugen alle schwarze Rüstungen und waren bewaffnet. Michael zog mich zurück, doch sie schienen uns wie durch ein Wunder schon bemerkt zu haben. Für mich geschah nun alles wie in Zeitlupe.
Michael trat schräg vor mich und wehrte die ersten Schläge ab, schlug den ersten zu Boden. Ich verteilte genauso Schläge, steckte aber auch eine Menge ein.
Beim gefühlt hundertsten Schattenwesen erwischte ich es zu Anfang noch, doch der Krieger packte meine Hand und brach sie mir, als bestünden meine Knochen aus Streichhölzern. Ich schrie vor Schmerz auf und rammte ihm dafür meine andere Faust gegen den Kehlkopf, wodurch er zurücktaumelte und ich ihm dann meinen stärksten Tritt gegen das Kinn versetzte, wodurch sein Genick brach.
Erschöpft sah ich nach vorn, wo schon die nächsten kamen und dieses Mal, schienen sie eine Erleuchtung bekommen zu haben, zu meinem Pech, denn sie wollten wie es aussah in Gruppen angreifen. Nun wusste ich keinen anderen Ausweg mehr, ich wollte mich einfach nur noch umbringen lassen, als eine Stimme in meinem Kopf rief: Lies den Zauber vor, Emily! Ich riss die Augen auf und sah mich um.
Michael spuckte Blut auf den weißen Schnee und machte sich für den nächsten Angriff bereit. Ich suchte nach ihm.
Diese Stimme hätte ich unter Millionen wiedererkannt. Es war Aris' Stimme gewesen. Zittrig holte ich den Zettel heraus, griff mit meiner gebrochenen Hand, obwohl es höllisch wehtat, als würde ich sie gerade angezündet unter eine Walze schieben, nach Michaels Hand. Mit der anderen hielt ich den Brief und rief laut in die Dunkelheit: „Lux, mihi ex tenebrae serva!" Da brach auf einmal gleißend helles Licht über mich und Michael herein und wir wurden vom Boden gerissen, ein mächtiger Sog entstand. Alle Schattenwesen in unserer Nähe zerfielen in einem Moment zu Staub. Ich schloss meine Augen. Dumme Idee.
Es war, als würde ich Achterbahn mit geschlossenen Lidern versuchen zu fahren. Mir wurde speiübel und ich riss die Augen wieder auf.
Ich erkannte aber nichts, um mich herum war es dunkel, nur ab und an zuckte grelles Licht um uns herum. Und dann war der Moment gekommen, in dem ich in Ohnmacht fiel, meinen Verletzungen unterlegen und völlig entkräftet.
Jemand regte sich neben mir. Es war warm, zu warm, als dass es noch Winter sein konnte. Mein Handgelenk pochte schmerzhaft und meine Seite kündete meinem Gehirn auch große Schmerzen an. Blinzelnd richtete ich mich auf.
Wir befanden uns irgendwo, am Waldrand eines weiten Feldes. Wir? Ich sah neben mich, wo ein riesiger Wolf schlief. Erschrocken sprang ich auf, auch wenn es verdammt schmerzte auch nur einen Schritt zu machen.
Wo war Michael? Ich hielt mir eine Hand über die Augen, um die Sonne abzuschirmen und sah mich um. Weit und breit niemand zu sehen. Das war doch unmöglich? Wo zum Teufel befand ich mich? Noch in meinem Heimatort? Nein, das ist unmöglich, hier ist Frühlingsanfang, Emily! Doch wo war ich dann? Und wo war Michael? Doch die größte Frage, die sich mir stellte: Wieso leckte mir der Wolf ununterbrochen die Hand ab? Das machte alles keinen Sinn! Genervt zog ich die Hand weg. Ich mochte zwar Hunde, aber nicht, dass mir dieser Wolf noch Flöhe oder Ähnliches einbrockte.
Langsam, mit penetrant stechender Seite, machte ich mich auf die Suche nach Michael. Dieser Wolf folgte mir. Mal lief er vor mir, mal neben oder hinter mir. Ich seufzte und drehte mich zu diesem Tier um.
„Verschwinde! Ich will nicht, dass du mir folgst. Reiß ein paar Schafe oder schlaf irgendwo!" Dann drehte ich mich um und ging weiter.
Natürlich folgte mir dieser Wolf weiter, er konnte mich ja nicht verstehen.
Irgendetwas gefiel mir jedoch an diesem Tier, nur was? Er sah nicht aus, wie jeder andere: pechschwarzes Fell, welches einen braunroten Schimmer in der Sonne besaß. Seine Augen waren fast silbern. Aber das war nicht das, was mir ein so sicheres Gefühl gab. Irgendetwas in mir sagte mir, ich hätte nichts vor diesem riesigen Wolf zu befürchten. Der war mindestens achtzig Zentimeter hoch.
Jetzt bemerkte ich erst, dass ich noch meine Tasche in der Hand, welche nicht gebrochen war, fest umklammerte. Ich durchsuchte sie und stellte noch überraschter fest, dass sie nichts verloren hatte. Mein Handy, mein iPod mein Notizheft. Ich suchte die Tasche meines Wintermantels ab, den ich noch anhatte, obwohl ich schon fast Maden darin bekam. Der zerknitterte Brief von Aris war noch darin. Ich hatte auf dieser rasanten Achterbahnfahrt absolut nichts verloren.
„Unglaublich", hauchte ich. „Oder eher gesagt, unmöglich, dass ich noch alles besitze", korrigierte ich mich selbst. Ich richtete meinen Blick wieder nach vorn und sah, wie dieser merkwürdige Wolf geduldig auf mich wartete, indem er einfach nur da stand, die Augen zusammengekniffen und der Sonne entgegen hechelte.
„Bist du eigentlich ein Rüde oder eine Wölfin?" Wie zum Beweis setzte er sich mir entgegen.
„Alles klar!" Schnell setzte ich mich in Bewegung, den Blick nach vorne gerichtet. Der Rüde folgte mir auf Schritt und Tritt. Er trabte gemütlich neben mir, während ich den Blick, immer auf der Suche nach Michael, in der Landschaft schweifen ließ.
Irgendwann brannte meine angeschossene Seite so sehr, dass mein rechtes Bein versagte und ich zu Boden fiel. Ruckartig drehte sich mein vierbeiniger Begleiter um und kam zurück zu mir. Ich setzte mich und schob meinen Pulli hoch, um die Wunde zu begutachten. Sie blutete anscheinend wieder neu.
Und mein gebrochenes Handgelenk war dick angeschwollen.
Tränen stiegen mir in die Augen, als ich meine rechte Hüfte weiter betastete.
Ich war mir sicher, dass da einige gebrochene Knochen waren, zumindest angeknackste. Der Wolf neben mir junkte und legte sich neben mich. Ich streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus und er drückte sich dagegen.
Da war es, als durchzuckte mich Strom und ich konnte für einen Moment seine Unsicherheit und Unruhe spüren. Ich schloss die Augen und versuchte allein durch meine Gedanken Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen.
Tatsächlich legte sich der Wolf irgendwann neben mich und schloss die Augen. Nur seine Ohren waren gespitzt und horchten auf jedes noch so kleine Geräusch um uns herum. Ich zog mir meine Winterstiefel aus und die Socken ebenso. Dann zerriss ich Letzteres und band sie mir um die Hüfte auf die Wunde. Auf einmal ertönte mein Klingelton vom Handy. Es erschreckte mich so sehr, dass mein Wolf auf die Beine sprang und erschrocken auf mich herab blickte. Eilig fischte ich mein Handy aus der Handtasche und ging ran.
„Hallo?", fragte ich irritiert.
„Emily, Liebling, wo bist du?", kreischte meine Mutter panisch in mein Ohr.
„Ich...Michael hat einen spontanen Urlaub mit mir gemacht. Das ist sein frühzeitiges Weihnachtsgeschenk an mich", erfand ich schnell, während der Wolf mich mit schief gelegtem Kopf und aufgestellten Ohren beobachtete.
„Gott sei Dank! Ich dachte schon, euch wäre etwas zugestoßen! Das hättest du mir auch früher sagen können, junges Fräulein", schimpfte sie mit mir, wie in alten Zeiten. Ich seufzte.
„Tja, wir sitzen schon im Flugzeug und ich muss das Handy jetzt leider ausstellen. Aber ich bleibe nicht ewig weg, keine Sorge." Hoffe ich jedenfalls, dachte ich missmutig, da ich mitten in der Pampa mit einem einzelnen Wolf saß, mit dem ich mich besser verstand als mit den meisten Menschen, denen ich sonst so in letzter Zeit über den Weg gelaufen war. Bevor meine Mutter weitere informative Fragen stellen konnte, legte ich kommentarlos auf.
Dann wählte ich Michaels Nummer. Ich ließ es ewig klingeln, doch als seine Mailbox anging, überlegte ich, ob er vielleicht auf dem Weg hier her, wo auch immer das sein mochte, verloren gegangen war. Mir wurde übel bei dem Gedanken, dass ich hier halbwegs vergnügt in dieser Bilderbuchlandschaft bei Sonnenschein umher lief, während er vielleicht gar nicht mehr am Leben war. Grausame Bilder schlichen sich vor mein Auge, wie er in irgendeiner Gasse tot lag oder beim Aufprall aufgeplatzt war, wie ein mit Wasser gefüllter Luftballon, der hart auf den Asphalt aufschlug. Schnell sprang ich auf die Beine und lief weiter.
Ich hatte schrecklichen Durst und Hunger meldete sich auch langsam bei mir, doch das alles rückte in den Hintergrund bei der Sorge, die nun meine Gedanken ausfüllte. Die Sonne ging nun schon tiefer am Horizont und wärmte nur noch meinen Rücken, während sich vor mir ein meterlanger Schatten synchron zu mir bewegte.
Genauso war es bei meinem Wolf. Ich sah ihn von der Seite an und murmelte: „Wie soll ich dich nennen?" Ich war noch nie besonders gut im Namen vergeben gewesen, da ich meist schlechte Einfälle, oder gar keine bekam.
Der Wolf blickte mich an und wir starrten uns eine Weile lang in die Augen.
Ich zog mir meinen Mantel wieder über, da es kalt wurde.
„Nennen wir dich fürs Erste einfach Lupus. Das ist Latein und bedeutet Wolf." Lupus starrte mich noch kurz an, dann schnaubte er und lief weiter.
„Ich habe nicht gesagt, es sei ein kreativer Name!", verteidigte ich mich und holte ihn zügig ein.
Es war schon dunkel und ich hatte das Licht meines Handys seit einer halben Ewigkeit schon an. Lupus schien keinerlei Probleme mit dem schwachen Lichtverhältnis zu haben, doch ich musste mich dennoch bremsen, damit ich nicht zu schnell über das Feld, auf dem wir uns befanden, bewegte.
Ich fror, obwohl ich meinen Mantel vollständig zu hatte und mir war schwindelig vor Durst. Ich wollte gerade meine Suche nach Michael aufgeben, als Lupus auf einmal seine Ohren, die er gerade noch entspannt auseinander gelassen hatte, nach vorn spitzte und auf etwas zu rannte.
„Warte! Ich bin nicht so schnell, Stopp! Bleib stehen!", versuchte ich ihn zu bremsen, doch er war schon sehr weit vorne.
Ich trabte hinterher, da meine Beine einfach mehr nicht mehr hergaben. Ich fühlte mich so elend, dass ich Angst hatte, ich könnte jeden Moment zusammen brechen. Vor allen Dingen wegen meiner Seite, welche zwar vor einigen Stunden aufgehört hatte zu bluten, jedoch noch immer schmerzte, als stecke der Pfeil, welcher mich dort getroffen hatte, noch immer drin.
Endlich hatte ich meinen Begleiter eingeholt, welcher eine zusammen gebrochene Gestalt beschnupperte und aufgeregt mit dem Schwanz wedelte.
Ich kam schwer keuchend näher, völlig erschöpft vom heutigen Tag und stellte mit Erleichterung fest, dass diese Gestalt niemand anderes war als Michael höchstpersönlich. Vor Freude liefen mir sogar die Tränen, vielleicht auch vor Schmerz, jedenfalls ließ ich mich auf ihn drauf fallen und er stöhnte.
„Ich bin es!", schluchzte ich. Ächzend drehte er sich auf den Rücken und ich hielt mein Licht tiefer, damit ich ihn nicht blendete, wir uns jedoch noch sehen konnten. Seine Augen fanden meine und er umschloss mich fest, genauso tat ich es auch. Dann, nachdem ich mich neben ihn gelegt hatte, berichtete er mir, dass er irgendwo in einem Wald dort hinten gelandet war und ich nirgends zu sehen gewesen war. Da musste ich lachen.
„Wir sind solche Idioten! Uns hat nur dieser kleine Waldabschnitt voneinander getrennt und wir sind in zwei entgegengesetzte Richtungen gelaufen!"
„Gelaufen ist noch die reinste Untertreibung! Ich bin los gerannt und habe dich gerufen. Und weißt du, wen ich stattdessen gefunden habe?", entgegnete er mir lachend. Ich schüttelte neugierig den Kopf. Neben mir hatte sich Lupus bereits niedergelegt. Wahrscheinlich war ich länger bewusstlos gewesen, sodass nicht ich ihn gefunden habe, sondern er mich.
Bei Michael schien es umgekehrt gewesen zu sein.
„Ich bin auf diesen Kerl gestoßen", fuhr er fort und pfiff einmal in die Nacht.
Lupus lag auf meiner anderen Seite, sodass Michael ihn noch nicht einmal bemerkt hatte, da mein Wolf mit der Dunkelheit zu verschmelzen schien.
Kurz darauf hörte ich Flügelschlagen und mit einem Mal setzte sich ein riesiger Raubvogel auf den Arm von Michael.
Ein Schrei entrang meiner Kehle und Lupus sprang auf, das Nackenhaar gesträubt und schien um Haaresbreite davor zu sein, diesem Federvieh den Kopf abzubeißen. Michael wich ruckartig zurück, um Abstand zwischen sich und Lupus zu bringen. Dieser knurrte und hatte die Zähne gefährlich gefletscht.
„Ganz ruhig, es ist doch nur der Begleiter von Michael", sprach ich sanft auf Lupus ein, während ich ihm über sein gesträubtes Fell strich, welches ihm zu Berge stand. Langsam beruhigte er sich und legte sich ein wenig später mit einem Stöhnen wieder hin.
„Den hättest du mir auch ruhig früher zeigen können", keuchte Michael, noch immer blass. Sein Vogel schwang sich wieder in den Nachthimmel und war nicht mehr zu sehen.
„Wollte ich ja auch gleich danach", murrte ich. Dann wechselte ich das Thema: „Wo ist deiner hingeflogen?"
„Schon mal erlebt, dass Falken auf dem Boden schlafen?", fragte er mich neckend und ich rollte mit den Augen.
„In der Nähe steht ein vertrockneter Baum. Da sitzt er drauf." Nun sah er mich auf einmal neugierig an. „Wie hast du denn den Wolf getroffen?"
Ich lachte auf. „Nun, er hat eher mich gefunden, denn als ich wach wurde, lag er schon neben mir. Das hat mir einen Riesenschrecken eingejagt, aber ich habe mich schnell an ihn gewöhnt. Auf eine merkwürdige Art und Weise fühle ich mich mit ihm verbunden." Michael runzelte die Stirn.
„Nicht so verbunden, wie ich es bei Aris spüre! Nicht einmal halb so innig", erwähnte ich zügig. „Aber dennoch ist diese Bindung auf irgendeine erdenkliche Art angenehm. Sie gibt mir ein Gefühl der Sicherheit." Den letzten Satz flüsterte ich nur noch und streichelte meinem Wolf kurz übers Fell, welcher ruhig atmete.
„Dann bleibt jetzt nur noch die Frage offen, wieso sich überhaupt zwei Tiere an unsere Fersen geheftet haben und ich dasselbe Gefühl bei diesem Falken merke", gähnte Michael.
„Ist dir auch so schwindelig, wie mir?", wechselte er dann das Thema, bevor ich über seinen vorigen Gedanken nachdenken konnte.
„Nein", antwortete ich verblüfft. „Mir tun nur meine Verletzungen weh und ich habe unglaubliche Kopfschmerzen, wahrscheinlich durch meinen Flüssigkeitsmangel", murmelte ich schläfrig.
„Ich habe, seit wir hier sind, ein bedrückendes Gefühl. Es ist, als wenn mich etwas einengt und von Stunde zu Stunde wird es stärker", flüsterte Michael.
So etwas hatte ich gar nicht. Eigentlich ging es mir mit Ausnahme meiner Verletzungen und Mängel besser, als es mir in den ganzen vergangenen Jahren ergangen war. Dieser dumpfe Schmerz war verschwunden.
„Mir geht es eigentlich besser als in der ganzen letzten Zeit", fasste ich es kurz, da ich hundemüde war. Michael brummte nur noch, also beschloss ich auch zu schlafen. Zwischen Michael und Lupus dürfte mir auch nicht schnell kalt werden. Nur meine Füße froren, da sie nackt in den kalten Stiefeln steckten.
„Gute Nacht", gähnte ich müde und schon sank ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Der mittlerweile unerträgliche Schmerz in meiner Seite weckte mich und als ich mich aufrichtete und mit der linken Hand abstützen wollte, erinnerte sie mich nicht sanfter, dass sie gebrochen war. Es war also ein traumhaftes Weckprogramm.
Ächzend und stöhnend stand ich endlich auf den Beinen, meinen einzigen Gliedern, welche mir noch nicht den Dienst versagt hatten. Da spürte ich einen leichten Schwindel, über den Michael schon gestern Abend geklagt hatte. Ich kniff die Augen zusammen, da ich von zwei Seiten her geblendet wurde. Moment mal! Die Sonne geht im Osten gerade auf, also was blendet mich im Westen?
Ich drehte mich langsam um und kniff die Augen zusammen.
Ganz weit hinten am Horizont leuchteten silbern glänzende Kuppeln aus Glas, die zu einem mächtigen Schloss gehörten. Diese Glaskuppeln mischten sich mit hellem Gestein, woraus vier Wachtürme bestanden und das gigantische Hauptgebäude.
Irgendwoher kannte ich diese Gemäuer, so majestätisch und prächtig sie gebaut waren. So weit weg das Schloss auch noch war, ich konnte schwören, dass ich schon einmal dort gewesen war.
Meine Gedanken rasten, ich ging alle Erinnerungen durch, bis ich bei einer längst vergangenen Zeit innehielt.
Die Erinnerung war wie ein Traum, noch dazu ein ziemlich verschwommener. Doch die Erkenntnis ließ mich wieder auf den Boden sinken, ohne den Blick von dem angestrahlten Gebäude nehmen zu können.
Ich griff nach hinten und rüttelte an Michaels Schulter, der immer noch tief und fest schlief und leise vor sich hin schnarchte.
„Michael! Michael! Werde endlich wach, verdammt noch mal!" Endlich setzte er sich auf, hielt sich dann mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf, dann seinen rechten Arm.
„Was ist denn? Ich fühle mich echt beschissen, Emily. Lass uns doch einfach hier warten, bis uns jemand findet. Ich kann nicht mehr weiter, mir ist so schwindelig, ich sehe dich sogar doppelt", protestierte er in fast nur einem Atemzug und blinzelte mich an. Ich packte ihn grob an der Schulter und deutete auf das Schloss in weiter Ferne.
„Siehst du das Schloss dort hinten? Kannst du das erkennen?", fragte ich aufgeregt und meine Stimme zitterte. Michael blinzelte erneut, kniff die Augen zusammen und sah genau dorthin.
„Ja, ich kann es sehen."
„Weißt du, was das ist?", fragte ich nervös weiter. Adrenalin schoss durch meine Adern. Am liebsten wäre ich trotz Schmerzfaktor Zehn los gesprintet, auch wenn ich diesen Marathonlauf nicht einmal überlebt hätte.
„Ein Schloss, wie du schon sagtest", murmelte er und wollte sich wieder hinlegen, doch mein eiserner Griff krallte sich in seine Schulter, worauf er schmerzhaft stöhnte.
„Das meinte ich nicht! Ich kenne dieses Schloss. Es ist das Schloss aus der Erinnerung, die mir Aris damals gezeigt hatte, weil ich ihm seine Nummer mit dem gefallenen Engel nicht abgekauft hatte." Nun riss Michael die Augen auf und sah mich an.
„Willst du damit sagen, dass wir..."